DAS SUPERMIKROSKOP€¦ · HERA-Experimente H1 und ZEUS die Vereinigung von zwei der vier...

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or zehn Jahren ging beim Forschungszentrum DESY das Vgrößte deutsche Forschungs-

instrument in Betrieb, der Teilchen-beschleuniger HERA. Seit zehnJahren lässt HERA im HamburgerUntergrund Elektronen und Protonenaufeinander prallen; seit zehn Jahrenlocken die einzigartigen Forschungs-möglichkeiten an HERA jedes Jahrüber tausend Wissenschaftlerinnenund Wissenschaftler aus aller Weltin die Hansestadt. Hier finden dieForscher einmalige Bedingungen,um zu ergründen, „was die Welt imInnersten zusammenhält“.

Denn HERA ist die einzige Be-schleunigeranlage weltweit, in der diebeiden Bausteine des Wasserstoff-atoms, Elektronen und Protonen, mitbeinahe Lichtgeschwindigkeit aufein-ander prallen. Die Elektronen dringendabei ins Proton ein und tasten dessenInneres regelrecht ab. Damit ist HERAein „Super-Elektronenmikroskop“,mit dem wir den inneren Aufbau desProtons entschlüsseln können. DankHERA verstehen wir, wie das Protonaufgebaut ist – und damit die Materie,wir selber und das ganze Universum.Die Materiebausteine werden ihrer-seits durch Kräfte zusammengehalten,die wir ebenfalls mit HERA unter-suchen können.

Die in den ersten zehn Betriebs-jahren der Beschleunigeranlage ge-sammelten Ergebnisse haben bereitsentscheidend zur Erweiterung unseresWeltbilds beigetragen. Von Herbst2000 bis Sommer 2001 wurde derBeschleuniger umgebaut mit demZiel, die Leistung noch einmal um

das Vierfache zu erhöhen. Genausowie man in einem herkömmlichenMikroskop Überraschendes sieht,wenn man eine stärkere Lichtquelleeinbaut, so erwarten wir, neue Dingezu sehen, wenn wir in den nächstenJahren mit HERA noch weiter inphysikalisches Neuland vorstoßen.

Doch wie funktioniert so ein „Super-mikroskop“ tatsächlich? Da steht eine6,3 Kilometer lange unterirdischeHightechanlage, in der winzige, fürdas menschliche Auge unsichtbareTeilchen aufeinander prallen. Wiekönnen die Physiker diese Teilchenund ihre Zusammenstöße sichtbarmachen? Wie können sie daraus Aus-sagen über Aufbau und Zusammen-halt unseres Universums treffen? Undwas genau konnten sie mit HERA inzehn Jahren herausfinden?

Ziel dieser Broschüre ist es, solcheFragen zu beantworten – und Ihnendamit einen Blick hinter die Kulissenvon HERA zu gewähren: in die täg-liche Arbeit der Teilchenphysiker, dieMotivation der Menschen, die andem Super-Elektronenmikroskoparbeiten, und in die wissenschaftlichenErfolge, die HERA in den letztenzehn Jahren verzeichnen konnte.

Viel Vergnügen beim Lesen!

Hamburg, im September 2002

1Prof. Dr. Albrecht WagnerVorsitzender des DESY-Direktoriums

D A S S U P E R M I K R O S KO P

H E R A

DER LANGE WEG ZU HERA

DESY UND HERA ALS

WIRTSCHAFTS-FAKTOREN

I N H6 TEILCHEN-RENNBAHN IM

HAMBURGER UNTERGRUND 9

12DAS „HERA-MODELL“

DER INTERNATIONALENZUSAMMENARBEIT 14

EIN TUNNEL UNTER HAMBURG 17

HERAUSFORDERUNGSUPRALEITUNG

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HERA AM START

48

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40POLARISIERTE ELEKTRONEN

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WOZU GRUNDLAGEN-FORSCHUNG MIT TEILCHEN-BESCHLEUNIGERN?VON PAUL SÖDING

51EINE KURZE GESCHICHTE DER STREUVERSUCHE

HERA IM BETRIEB

42

UMBAU FÜR MEHR LEISTUNG

HERAsSCHARFE AUGENH1 – ZEUS – HERMES – HERA-B

28

TECHNOLOGISCHEENTWICKLUNG

2420

DAS FORSCHUNGS-ZENTRUM DESY

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���� �� ��� 54DAS STANDARD-MODELL

DER TEILCHENPHYSIK

83HERMES UND DAS

SPINRÄTSEL

90ANZIEHUNGSPUNKT

FÜR 1000 JUNGEMENSCHEN

70DIFFRAKTION –

AKTENZEICHEN EPXUNGELÖST

72DIE WELT MIT

ANDEREN AUGEN: WENN DAS PROTON RUHT

67GEFÄNGNISHAFT

IM PROTON

86BLICK IN DEN ATOMKERN

81HERA-B AUF DER SPUR DESCHARMONIUMS

88 IDEEN FÜR DIE

ZUKUNFT

78DIE SUCHE NACH EXTRA-DIMENSIONEN

75

AUF DER SUCHENACH NEUEN

TEILCHEN UNDKRÄFTEN

61

MIT HERA AUF DEM WEG ZUR VEREINHEITLICHUNG

DER NATURKRÄFTE

WIE GROSS SIND DIE QUARKS ?

58

DAS PROTONUNTER DEM

HERA-MIKROSKOP

64

56EIN WELTBILD MIT LÜCKEN

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Das Forschungszentrum DESY wurde am 18. Dezember 1959 als Stiftungbürgerlichen Rechts in Hamburg gegründet. Es ist ein mit öffentlichen Mittelnfinanziertes Forschungszentrum, dessen Etat zu 90 Prozent vom Bundes-ministerium für Bildung und Forschung und zu 10 Prozent von der StadtHamburg bzw. – für den zweiten Standort von DESY in Zeuthen bei Berlin –vom Land Brandenburg getragen wird. Die jährlichen Zuwendungen belaufensich auf 145 Mio. J bei 1390 Mitarbeitern für DESY Hamburg, der Etat vonDESY Zeuthen beträgt 15 Mio. J bei 170 Mitarbeitern. DESY ist Mitglied derHermann von Helmholtz-Gemeinschaft Deutscher Forschungszentren.

Das Forschungs-zentrum DESY

DESYs Auftrag:Der Auftrag des Forschungszen-trums DESY ist die naturwissen-schaftliche Grundlagenforschungmit den Schwerpunkten: • Entwicklung, Bau und Betrieb

von Beschleunigeranlagen• Untersuchung der fundamen-

talen Eigenschaften der Materie und Kräfte (Teilchen-physik zurzeit an HERA)

• Nutzung der Synchrotron-strahlung in Oberflächen-physik, Materialwissen-schaften, Chemie, Molekular-biologie, Geophysik und Medizin (zurzeit im HASYLAB)

Damit zeichnet sich DESY durchein breites interdisziplinäres Forschungspektrum aus.

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rsprünglich begann das Deut-sche Elektronen-Synchrotron UDESY in der Helmholtz-Ge-

meinschaft seine Karriere als Teilchen-physik-Einrichtung für die bundes-deutschen Hochschulen; inzwischenhat es sich zu einem Forschungszen-trum von internationalem Zuschnittund Rang entwickelt, das seine Anla-gen Forschungsinstituten aus Deutsch-

land und der Welt zur Verfügungstellt. Über 1200 Physikerinnen undPhysiker aus 25 Ländern arbeiten anden vier HERA-Experimenten. ProJahr kommen 2200 weitere Gäste aus33 Ländern zu DESY, um im Ham-burger SynchrotronstrahlungslaborHASYLAB Experimente in verschie-denen Bereichen der Physik, Chemie,Molekularbiologie, Materialforschung

oder Medizin durchzuführen. DennDESY bietet mit HERA nicht nurerstklassige Forschungsmöglichkeitenin der Teilchenphysik, auch die vonden Speicherringen DORIS undPETRA erzeugte Synchrotronstrah-lung hat sich seit Mitte der 1960erJahre zu einem überaus gefragtenForschungswerkzeug entwickelt.

Sie gelten als nüchtern, analytisch,mathematisch und pragmatisch –Physiker in ihrer Formelwelt. Darumsteht „HERA“ auch nicht für dieGöttin auf dem griechischen Olymp,die zänkische und leidenschaftlicheifersüchtige Gemahlin des ZEUS,sondern für Hadron-Elektron-Ring-Anlage, ein Tunnel mit zwei Teilchen-beschleunigern im Hamburger Unter-grund.

ie Welt der kleinsten Teilchen,die HERA erkundet, ist unse-Drem Alltag ebenso fern wie die

fabelhafte Götterwelt der Griechen.Doch sie hat einen höchst realen Be-zug: HERA untersucht Quarks undGluonen im Inneren des Protons;Protonen und Neutronen bildenAtomkerne; Atomkerne und Elektro-nen bilden Atome; Atome bildenMaterie, Mäuse und Menschen.

HERA ist der größte Teilchenbe-schleuniger beim ForschungszentrumDESY, ein über sechs Kilometerlanges „Super-Elektronenmikroskop“.Ganze Schwärme von Elektronenfliegen mit nahezu Lichtgeschwindig-keit durch einen Kreisbeschleuniger.Im gleichen Tunnel kreisen in einemzweiten Beschleuniger in gegenläufi-

ger Richtung die Protonen. An zweiZonen im Ring werden die Teilchen-strahlen aufeinander gelenkt. ZehnMillionen Mal in der Sekunde prallenhier die hochbeschleunigten Teilchenmit so viel Energie aufeinander, dassfuriose Reaktionen im Mikrokosmosablaufen. Stößt ein punktförmigesElektron auf das ungleich schwerereProton, fungiert es als winzige„Sonde“, die das komplexe Wechsel-spiel von Quarks und Gluonen imInneren des Protons abtastet.

Seit 1992 verfolgen Teilchenphysikerdiese Kollisionen in Hamburgs Unter-welt. Dazu haben sie ganz besondere„Hochleistungskameras“ installiert:Detektoren, so groß wie ein drei-stöckiges Haus, halb so schwer wieder Eiffelturm und angefüllt mitHunderttausenden von elektronischenBauteilen. Diese sind in der Lage,zehn Millionen Bilder von Teilchen-kollisionen pro Sekunde zu registrie-ren. Die Auswertung der HERA-Ex-perimente beschäftigt internationaleForscherteams mit jeweils mehrerenhundert Physikern, Technikern, Inge-nieuren und Studenten.

Am HERA-Ring gibt es vier großeunterirdische Hallen – in jederHimmelsrichtung eine. Sieben Stock-

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TeilchenrennbHamburger Un

werke tief unter der Erde stehen hierdie Detektoren: H1 im Norden undZEUS im Süden untersuchen diehochenergetischen Zusammenstößevon Elektronen und Protonen. HERMES im Osten erforscht mitHilfe der beschleunigten Elektronenden Eigendrehimpuls des Protons,und im Westen der Anlage nutztdas Forscherteam von HERA-B denProtonenstrahl des Beschleunigers.

Das HERA-„Mikroskop“ ermöglichtden weltweit schärfsten Blick insProton – bis hinunter zu Strukturen,die noch einmal 2000-mal kleinersind als das Proton selbst, das sind0,000 000 000 000 000 000 5 Meter.Auf dieser unvorstellbar kleinen Skalakönnen auch die Naturkräfte unter-sucht werden, die zwischen den Teil-chen wirken. Und das ermöglicht denForschern ungeahnte Perspektiven inRaum und Zeit: So zeigten dieHERA-Experimente H1 und ZEUSdie Vereinigung von zwei der vierelementaren Naturkräfte zu einereinzigen Kraft und eröffneten damitden Blick zurück in die Entstehungs-geschichte des Universums. Dennkurz nach dem Urknall beherrschteden Theorien zufolge eine einzige„Urkraft“ das kosmische Geschehen.

„Die bisherigen Ergebnisse vonHERA haben entscheidende undneue Erkenntnisse zum Verständnisder Kräfte und Strukturen der Teil-chen gebracht“, resümierte daher auchRobert Klanner, Forschungsdirektorvon DESY, anlässlich des großenUmbaus, den HERA von September2000 bis Juni 2001 erlebte. Das Zielder aufwendigen Umrüstungen wares, die Anzahl der Kollisionen vonElektronen und Protonen um dasVierfache zu erhöhen, um den Expe-

rimenten Zugang zu sehr seltenenProzessen zu verschaffen – unddamit HERAs Blick für unerwarteteEffekte jenseits der gängigen Teilchen-theorie zu schärfen.

Im Jahr 2002 begann für HERAdie zweite Forschungsrunde – Anlassfür eine Rückschau auf die Ergebnisseaus zehn erfolgreichen Jahren undeinen Ausblick auf die Erfolg ver-sprechende Zukunft von Deutsch-lands größtem Forschungsinstrument.

ahn imtergrund

Der „rote DESY-Bericht“, in dem Christopher H. Llewellyn-

Smith, späterer Generaldirektor des CERN, und Bjørn H. Wiik 1977

erstmals ihre Ideen zu einem großen Elektron-Proton-Beschleuniger festhielten.

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o etwas hatte bisher noch keiner versucht. Entweder ließ man beiden Teilchenphysik-Experimen-

ten zwei Strahlen gleich schwererTeilchen in einem einzigen Beschleu-niger im gleichen Vakuumrohr auf-einander prallen, oder man lenkteeinen einzelnen Teilchenstrahl auf einruhendes Ziel. Bewegen sich beideTeilchensorten aufeinander zu, so istdie Energie des Stoßes viel größer, alswenn sich nur einer der Kollisions-partner bewegt. Je höher die Energiebeim Zusammenstoß der Teilchen

ist, desto tiefer können die Physikerin die Materie hineinblicken; destokleiner sind die Abstände, die sie da-bei untersuchen, und desto feiner dieDetails, die sie erkennen können. Da-mals wusste jedoch niemand, ob estatsächlich möglich sein würde, zweiderart unterschiedliche Teilchensortenwie Elektronen und Protonen in zweigetrennten Ringen zu beschleunigen,um sie dann im Flug zusammenstoßenzu lassen ...

Die Idee, Teilchen als Sonden zuverwenden, um die Struktur größe-rer Gebilde zu untersuchen, hat einelange Tradition. „Streuversuch“ heißtdieses Prinzip. Anfang des 20. Jahr-hunderts entdeckte Ernest Rutherfordauf diese Art und Weise den Atom-kern. „Ich hatte den Eindruck, mit

einem Gewehr auf einStück Seidenpapier zuschießen und dass aufeinmal eine der Kugelnnach hinten abprallte.“So soll er angeblich

das von seinen Assistenten Hans W.Geiger und Ernest Marsden durchge-führte Experiment kommentiert ha-ben. Die Gewehrkugeln sind natür-lich symbolisch gemeint. Rutherfordlenkte Alphateilchen auf eine hauch-dünne Goldfolie und beobachtete, inwelche Richtungen die Teilchen abge-lenkt wurden. Die Überraschung, dasseinige Teilchen zurückprallten, konn-te nur eines bedeuten: Im Innerender Atome musste sich etwas Kleines,Hartes befinden – der Atomkern.

Die Methode der Streuversucheentwickelte sich zum erfolgreichenHandwerkszeug. Insbesondere dieelementaren, punktförmigen Elektro-nen erwiesen sich als ideale „Sonden“,um die Struktur komplexerer Gebildeauszuloten. Vierzig Jahre nach Ruther-fords Entdeckung beschoss RobertHofstadter an der Universität Stanfordin den USA die Kerne von Wasser-stoffatomen, also Protonen, miteinem Elektronenstrahl – und stelltefest, dass die Protonen keinesfalls„Punkte“ sind, sondern einen mess-baren Durchmesser besitzen. Diese„Verschmierung“ lieferte den Beweis,dass das Proton eine innere Strukturbesitzen muss. Genaueres konnteHofstadter 1954 allerdings nicht her-ausfinden, dafür reichte die Energieseiner „Sonden“ nicht aus. 1967 be-obachteten die Physiker am DESY-Synchrotron in Elektron-Proton-Streuversuchen ungewöhnlicheReaktionen, die weitere Anzeichen

Als der norwegische PhysikerBjørn H. Wiik 1971 nach sechsJahren in den USA wieder nachDeutschland zurückkehrte, hatte ereine bahnbrechende Idee im Ge-päck. Er wollte ein überdimensiona-les Elektronenmikroskop für Proto-nen bauen: eine Anlage, die denPhysikern die innersten Geheim-nisse des Protons und der Grund-kräfte der Natur offen legen würde.Dazu sollten Elektronen und die fast2000-mal schwereren Protonen inzwei getrennten Beschleuniger-ringen gespeichert und bei höchstenEnergien frontal zum Zusammenstoßgebracht werden – ein völlig neu-artiges Konzept.

DER

Die Tunnelbohrmaschine

„HERAKLES“

LANGE

ZUWEG

HERA

S

10

für eine Substruktur des Protons lie-ferten. Im selben Jahr war die Be-schleunigertechnik schließlich weit ge-nug fortgeschritten, um den Forschernam Beschleunigungszentrum SLACin Stanford eindeutige Aussagen zuermöglichen. Jerome I. Friedman,Henry W. Kendall und Richard E.Taylor ließen einen Elektronenstrahlmit der höchsten verfügbaren Energieauf flüssigen Wasserstoff prallen – undkonnten zum ersten Mal die Existenzharter Streuzentren innerhalb derProtonen beweisen. Sie hatten dieQuarks gefunden, die umstrittenen,von Murray Gell-Mann und George

Zweig postulierten Bausteine der Pro-tonen und Neutronen, die bei denmeisten Physikern damals als reinmathematische Spielereien verpöntwaren. 1990 trug diese Entdeckungden drei Physikern – wie schon Hof-stadter vor ihnen – den Nobelpreisfür Physik ein.

Doch wie lässt sich diese Erfolgsge-schichte fortsetzen? Wie erreicht manden Sprung in der Kollisionsenergie,der nötig ist, um die winzigen Quarksund die weiteren Unterstrukturen desProtons sichtbar zu machen? Hiersetzte Bjørn H. Wiiks Idee an, Elektro-nen und Protonen getrennt zu be-schleunigen und frontal zusammen-prallen zu lassen. Doch bis zu ihrerRealisierung sollte noch einige Zeit insLand gehen. Die Physik mit Elektro-nen und ihren Antiteilchen, denPositronen – DESYs Spezialgebiet –,lieferte damals eine Fülle von spannen-den Ergebnissen, so dass das Proton-Elektron-Konzept schnell wieder insHintertreffen geriet. So stand das „P“von PETRA, der 1973 ausgearbeiteten„Proton-Elektron-Tandem-Ring-An-lage“, schon 1974 wieder für „Positro-nen“. Als sich jedoch Ende der 1970erJahre abzeichnete, dass das Europäi-sche Laboratorium für TeilchenphysikCERN in Genf mit dem großenSpeicherring LEP nun auch auf dieElektron-Positron-Physik umsteigenwürde, entschied man sich bei DESY,in Zukunft auf das neuartige Prinzipdes „Super-Elektronenmikroskops“zu setzen. 1980 folgte die erste Projekt-studie, 1981 war der Vorschlag aus-gearbeitet und positiv begutachtet.Am 6. April 1984 unterzeichnetender Bundesminister für Forschungund Technologie Heinz Riesenhuber

und der Hamburger Wissenschafts-senator Hansjörg Sinn bei DESY inHamburg das Abkommen zum Bau.Die „Hadron-Elektron-Ring-Anlage“HERA war geboren, die weltweit ein-zige Speicherringanlage, in der zweiunterschiedlich schwere Teilchen-arten zur Kollision gebracht werden.

Der „Vater“ von HERA: der

spätere DESY-Direktor Bjørn

H. Wiik im Beschleuniger-

kontrollraum.

DESY und seine Beschleuniger: der unterirdische

HERA-Ring mit den vier Experimentierhallen und

der PETRA-Ring, der das DESY-Gelände umschließt.

Blick in den HERA-Tunnel: Unterhalb des Protonenbeschleunigers mit

seinen supraleitenden Magneten (beige) verlaufen die normalleitenden

Magnete des Elektronenrings.

6. April 1984

19. Oktober 1991

HERAs Lebenslauf• Anfang der 1970er Jahre: erste Ideen für ein

„Super-Elektronenmikroskop“ für Protonen• Ende der 1970er Jahre: erste technische Vor-

arbeiten zum Bau supraleitender Ablenk-magnete bei DESY

• März 1980: erste Projektstudie• Februar 1981: positive Begutachtung durch

den Gutachterausschuss des damaligen Bundesforschungsministeriums BMFT, hohe internationale Beteiligung als Voraus-setzung gefordert

• Juli 1981: detaillierter Projektvorschlag• 22. Februar 1983: BMFT schafft finanzielle

Voraussetzungen für den Bau von HERA• 6. April 1984: Unterzeichnung der Verein-

barung zum Bau von HERA• 15. April 1984: erster Spatenstich• 8. Mai 1985: Schildvortriebsmaschine be-

ginnt mit Tunnelbohrung• 6. März 1987: Aufbau des Elektronenrings

beginnt• 19. August 1987: Schildvortriebsmaschine

erreicht wieder ihren Ausgangspunkt• 20. August 1988: Erster Elektronenstrahl

wird gespeichert• 1. März 1989: Aufbau des Protonenrings

beginnt• 8. November 1990: Fertigstellung von HERA• 15. April 1991: Erster Protonenstrahl wird

gespeichert• 19. Oktober 1991: erste Elektron-Proton-

Kollisionen• 1. Oktober 1992: HERA nimmt mit den

Experimenten H1 und ZEUS den Forschungs-betrieb auf

• 4. Mai 1994: erste longitudinale Polarisation des Elektronenstrahls

• 1995: Inbetriebnahme des dritten HERA-Experiments HERMES

• 1999: Inbetriebnahme des vierten HERA-Experiments HERA-B

• September 2000 bis Sommer 2001: Umbauzur Steigerung der Luminosität (HERA-II)

• 2001-2002: Inbetriebnahme und Optimierung von HERA-II

12

HERA sollte das bis dahin größtewissenschaftliche Projekt in Deutsch-land werden. Doch lässt sich ein sol-ches Unterfangen im nationalenAlleingang bewältigen? Bei DESYsletztem Speicherring PETRA hatte dieBundesrepublik den Bau des Be-schleunigers übernommen, die Ex-perimente dagegen waren von dendaran beteiligten Instituten – deut-schen und ausländischen gleicher-maßen – finanziert worden.

er Gutachterausschuss, der Anfang der 1980er Jahre im DAuftrag des damaligen Bun-

desforschungsministeriums BMFTdas HERA-Projekt unter die Lupenahm, sah die Lage hier jedoch an-ders: „Da mit dem Bau von HERAneben CERN ein zweites internationalkonkurrenzfähiges Laboratorium inEuropa langfristig betrieben wird –und das ist durchaus die Empfehlungdes Ausschusses –, ist es nur folge-richtig, wenn DESY nicht nur inter-national genutzt wird, sondern auchLaboratorien anderer Staaten sich amBau von HERA beteiligen. In seinerEmpfehlung geht der Gutachteraus-schuss davon aus, eine solche Beteili-gung – in welcher Form auch immer(Sachmittel, Bauteile, Personal) – zuerreichen und damit sowohl personellals auch finanziell die von der Bun-desrepublik aufzubringenden Mittelwesentlich zu reduzieren.“

Internationale Zusammenarbeit indieser Form war etwas völlig Neues

– und es war anfangs gar nicht klar,ob eine solche Zusage aus demAusland für ein im Grunde dochdeutsches Beschleunigerprojektüberhaupt möglich war. Nun galt esfür die DESYaner – allen voran denHeidelberger Physikprofessor VolkerSoergel, der am 1. Januar 1981 denVorsitz des DESY-Direktoriums über-nommen hatte –, die ausländischenPartner vom wissenschaftlichen Poten-zial und technologischen Interessevon HERA zu überzeugen – und vonder Notwendigkeit, sich für die Reali-sierung des Projekts zu engagieren.

„Wir haben jedoch nie HERA-Experi-mentierzeit verkauft, um Geld zu be-kommen“, betonte Bjørn H. Wiik,der „Vater“ der HERA-Idee undProjektleiter für den Bau des Proto-nenrings. „Die Leute wussten, wennsie nichts beitragen, dann existiert das

ganze Projekt vielleicht nicht. Dasses uns gelungen ist, derart hohe aus-ländische Beteiligungen einzuwerben,ist ein Beweis für die Qualität desProjekts.“ Die Rechnung ging auf.Ohne dass Staatsverträge abge-schlossen werden mussten oder Be-hörden eingegriffen hätten, steuer-ten namhafte ausländische PartnerSachlieferungen und Dienstleistungenbei – und profitierten ihrerseits da-durch, dass sie Erfahrung und Wisseninsbesondere auf dem Gebiet der er-forderlichen Technologien sammelten.

Auch von DESY-Seite aus unter-nahm man außergewöhnliche An-strengungen, das Projekt im vorge-sehenen Zeit- und Kostenrahmenfertig zu stellen. Der Baubeginn vonHERA fiel in eine von Bundestagund Bundesforschungsministeriumverfügte Phase der Personaleinsparungbei allen 13 Großforschungseinrich-tungen des Bundes. DESY machteda keine Ausnahme, ungeachtet dergerade in Angriff genommenen neu-en Aufgabe. Deshalb entschied manbei DESY, den Elektronenring vonHERA so rasch wie möglich unter derLeitung von Gustav-Adolf Voss durchdie in Bau und Betrieb von Elektro-nenbeschleunigern erfahrene Mann-schaft bauen zu lassen. Der neueProtonenring wurde dagegen vonMitarbeitern aus dem Bereich derTeilchenphysik-Experimente über-nommen – von Physikern und Tech-nikern, die sich unter der Leitungvon Bjørn H. Wiik mit großer Be-

DESY-Direktor Volker Soergel (links)

begrüßt den italienischen Minister-

präsidenten Giulio Andreotti (rechts)

bei DESY; dahinter Antonio Zichichi,

zu der Zeit Präsident des INFN.

Das „HERA-Modell“der internationalen

Zusammenarbeit

geisterung ans Werk machten, vondenen die überwiegende Mehrzahlbisher allerdings noch nie einen Be-schleuniger gebaut hatte. Unterstüt-zung bekamen sie durch zahlreicheausländische Physiker, Techniker undIngenieure, die in Hamburg für einebegrenzte Zeit mitarbeiteten. Dentechnologisch höchst anspruchsvollenProtonenbeschleuniger mit dieserbunt zusammengewürfelten Mann-schaft zu entwickeln und pünktlichfertig zu stellen, zählt zu Wiiks großenLeistungen.

So wurde der Bau vonHERA zum internationa-len Großereignis: Insge-samt elf Länder trugenihren Teil dazu bei.Institute aus Frankreich,Italien, Israel, Kanada,den Niederlanden undden USA lieferten aufeigene Rechnung wesent-liche Teile der Anlageoder führten wichtigeTests durch. Großbritan-nien, Polen, die CSFR,die Schweiz, die Volks-republik China unddeutsche Institute aus derDDR und der Bundes-republik entsandten Fach-kräfte zur Mitarbeit.Zeitweise machte das mitprojektgebundenen Zeit-verträgen angestellte Per-sonal aus dem Auslandfast die Hälfte der HERA-Mitarbeiter aus. „Dasmag eine außergewöhnliche Art undWeise sein, Beschleuniger zu bauen“,meinte Wiik dazu. „Aber es ist gutgegangen, und ich glaube, es war

auch für die Leute positiv. Sie habenviel gelernt und zum Schluss guteStellen gefunden. So war HERA ingewissem Sinne auch ein soziologi-sches Experiment.“

Das Interesse an HERA war sogarso groß, dass der Bundesminister fürForschung und Technologie schonbald in eine gewisse Verlegenheit ge-riet. Das Istituto Nazionale di FisicaNucleare INFN in Rom erklärte seineBereitschaft, alle 422 supraleitendenAblenkdipole des Protonenrings kos-tenlos als Beitrag Italiens zu liefern.

Dadurch ließ sich zwar viel Geldsparen, allerdings wäre auch keinerdeutschen Firma die Gelegenheit ge-geben worden, sich Know-how für

große supraleitende Magnete zu er-arbeiten. Dementsprechend beschiedder Forschungsminister DESY, nur dieHälfte des italienischen Geschenksanzunehmen und die zweite Hälfteder Dipole mit eigenen Mitteln inDeutschland fertigen zu lassen.

Nicht weniger als 45 Institute und320 Firmen (berücksichtigt wurdennur Firmen mit einem Auftragsvolu-men von mehr als 25 500 B) beteilig-ten sich am Bau der Anlage. Insge-samt wurde HERA zu über 20 Prozentaus dem Ausland finanziert.

Bei den Experimentenkann man angesichtseines ausländischenKostenanteils von mehrals 50 Prozent schonkaum mehr von einerinternationalen Be-teiligung sprechen. Siestellen im vollen Wort-sinn internationale Unter-nehmungen dar – Ten-denz steigend: Waren esim Jahr 1992 noch 800Forscher aus 16 Ländern,so beteiligen sich heuteetwa 1200 Wissenschaftleraus 25 Nationen an denvier HERA-Experimenten.Damit trägt HERA we-sentlich zur Vernetzungund Zusammenarbeitin der Wissenschaft bei– über alle nationalenGrenzen hinweg. Das„HERA-Modell“ derinternationalen Zusam-

menarbeit gilt inzwischen als Modellfür die Durchführung großer, inter-nationaler Forschungsprojekte.

13

Etwa 360 Physiker von 51 Instituten aus 12 Ländern

arbeiten an ZEUS, einem der vier Experimente, die der-

zeit am HERA-Ring laufen.

Weltweite Mitarbeit bei HERA:

die international besetzte Crew

der Magnetmesshalle.

14

HERA ist weltweit die einzige Be-schleunigeranlage dieser Größe, diemitten in einer Großstadt betriebenwird. Ein 6,3 Kilometer langer unter-irdischer Tunnel, vier 25 Meter tiefeExperimentierhallen sowie zwei Ver-bindungstunnel zu den bestehendenBeschleunigeranlagen auf demDESY-Gelände – drei Jahre und dreiMonate brauchte die „Arbeitsge-meinschaft HERA“, um das unge-wöhnliche Bauvorhaben zu bewälti-gen. Sechseinhalb Jahre nach demersten Spatenstich lud DESY imNovember 1990 zur symbolischenInbetriebnahme: Die Hadron-Elek-tron-Ring-Anlage HERA war im vor-gesehenen Zeit- und Kostenrahmenfertig gestellt worden.

egonnen hat alles neben der Bahrenfelder Trabrennbahn, auf Beinem Sandplatz hinter den

Ställen der Rennpferde. Heute er-kennt man dort nur noch ein vonBäumen umgebenes Betriebsgebäude.Darunter verbirgt sich ein acht Stock-werke tiefer, von unterirdischen Büro-räumen umgebener Schacht, der sichunten zu einer stattlichen Halle aus-weitet: 25 mal 43 Meter misst die„HERA-Halle Süd“, in der heute derTeilchendetektor ZEUS aufgebaut ist.Vier dieser unterirdischen Hallen galtes rund um den Tunnel auszuschach-ten – ein gewaltiges Unterfangen,denn die Hallen wurden nach Absen-kung des Grundwassers in offenerBauweise erstellt. Der Tunnel selbstwurde dagegen gleich unterirdisch ge-bohrt. Von der Halle Süd ausgehend,fraß sich die eigens für diesen Zweckkonstruierte SchildvortriebsmaschineHERAKLES in 10 bis 25 Meter Tiefe

durch den Hamburger Untergrund:sechs Meter im Durchmesser, etwagenauso lang, ein riesiger Stahlbohrer,wie man ihn sonst für den Bau vonEisenbahn- und U-Bahn-Tunneln ver-wendet.

Am Kopf der Bohrmaschine kratztein großes Schneidrad Erdreich undSteine ab und vermischt sie mit Ton-schlamm, der den vorderen Teil derMaschine unter Druck füllt. DiesesGemisch wird durch den schon ge-bohrten Teil des Tunnels an die Erd-oberfläche gepumpt, wo Sand undSteine wieder entfernt werden. DieseArt der Schildvortriebsmaschine hatden Vorteil, dass der Druck vor demSchild liegt, wo sich Menschen nurausnahmsweise aufhalten müssen.Ansonsten konnten die Tunnelbauerohne Druckkammer arbeiten, obwohldie Tunnelröhre zur Hälfte im Grund-wasser verläuft. Direkt hinter derBohrmaschine wurde der Tunnel mitvorgefertigten, mit dicken Gummi-dichtungen versehenen Betonsegmen-ten – so genannten Tübbings – aus-gekleidet, die fest aneinander gepresstwurden, so dass das Grundwasserauch hier keine Chance hatte. DasGanze ging nicht ohne dumpfes Ge-rumpel vonstatten, ansonsten hattendie Anwohner jedoch keine Beein-trächtigungen zu beklagen. Lediglicheine klemmende Tür musste korrigiertwerden. Ohne Gefahr für Haus undHof bahnte sich HERAKLES unterWohngebieten, Gewerbeflächen,Straßen und Grünanlagen seinen Weg.Genau 28 Monate nach ihrem Startdurchbrach die lasergesteuerte Schild-vortriebsmaschine am 19. August 1987die Wand zur HERA-Halle Süd undschloss damit den Kreis. Nur zwei

Ein T

HAM

In die Röhre geguckt: der HERA-Tunnel im

Bau; im Hintergrund die Schildvortriebs-

maschine HERAKLES.

Die vier unterirdischen

HERA-Hallen wurden

in offener Bauweise

erstellt.

Zentimeter war sie von ihrem Soll-punkt entfernt – zehn hätten es maxi-mal sein dürfen. 180 000 KubikmeterErdreich hatte sie auf ihrem Weg unterder Bahrenfelder Trabrennbahn, diver-sen Wohn- und Gewerbegebiete so-wie dem Hamburger Volkspark bei-seite geschafft.

Kaum hatte HERAKLES den erstenTunnelabschnitt zwischen den HERA-Hallen Süd und West fertig gebohrt,rückten die Installationstrupps an.Kabelpritschen, Strom- und Wasser-leitungen, Licht und Lüftung – zu-nächst galt es, die kahle Tunnelröhremit der notwendigen Infrastrukturzu versehen. „In dem Protokoll einesersten Vorgesprächs zur Terminfest-legung der HERA-Montage hieß es,die Ausführung werde mir übertra-gen“, erinnert sich Hannelore Grabe-Çelik, die zu der Zeit in der Gruppe„Experimente- und Beschleunigerauf-bau“ tätig war. „Zum Glück habe ichdamals nicht gewusst, was diesereinfache Satz bedeutet!“ Gitterroste(24 800 Stück), Ankerschienen(10 000 Stück), kilometerweise Kabelund Rohre, Verteilerkästen, Telefone,Lautsprecher, Not-Aus-Anlagen undMagnethalterungen galt es zu montie-ren, Stromschienen zu verschweißen,Magnete, Module und Beschleuni-gungsresonatoren an Ort und Stellezu transportieren und anzuschließen,Hohlleiter zu montieren, Abschirm-steine zu platzieren. Mit ihren Mannenfolgte Frau Grabe-Çelik HERAKLESauf dem Fuß. Lange bevor die Bohr-arbeiten fertig waren, standen schondie ersten Magnete für den Elektronen-beschleuniger bereit. Als HERAKLESim August 1987 an seinen Ausgangs-punkt zurückkehrte, war beinahe die

unnel

BURG

Das Schneidrad des „Tunnel-

bohrers“ HERAKLES

Hälfte des Elektronenrings fertig ge-stellt. Ein Jahr später konnte er inBetrieb genommen werden.

Dann begann der nächste schwieri-ge Teil – der Aufbau des Protonen-beschleunigers, der mit seinen neuensupraleitenden Magneten und deraufwendigen Helium-Kühlung ober-halb des Elektronenrings installiertwerden musste. Insgesamt etwa 650supraleitende Magnete kamen vonden Herstellerfirmen, blieben imDurchschnitt 100 Stunden in der Test-halle bei DESY und wurden schließ-lich im Tunnel aufgestellt. Am 19. Sep-tember 1990 stand der letzte Proto-nenmagnet an Ort und Stelle, am8. November feierte man die Fertig-stellung und Inbetriebnahme desSpeicherrings. In der Nacht vom14. zum 15. April 1991 gelang es, imHERA-Ring zum ersten Mal Proto-

nen zu speichern. Am Nachmittagdes 19. Oktobers 1991 – einem Sams-tag – war es schließlich so weit:HERA lieferte die ersten Elektron-Proton-Zusammenstöße.

16

Die Schildvortriebsmaschine

HERAKLES wird in die HERA-

Halle Süd hinuntergelassen.

DESY-Direktor Volker Soergel (vo.

li.) mit Bundesforschungsminister

Heinz Riesenhuber (vo. re.) bei der

Tunnelbegehung.

17

Die Entscheidung für die Hadron-Elektron-Ring-Anlage HERA war fürDESY in vielerlei Hinsicht ein Auf-bruch zu neuen Ufern. Nicht nur,dass man sich bisher vor allem aufdie Physik mit Elektronen und derenAntiteilchen, den Positronen, kon-zentriert hatte und mit dem Bau vonProtonenbeschleunigern somit keiner-lei Erfahrung besaß. Zwei so unter-schiedliche Teilchensorten wie Elek-tronen und die 2000-mal schwererenProtonen im Flug frontal aufeinanderzu schießen, hatte bisher noch nie-mand versucht.

a Teilchen und Antiteilchen sich in ihren Eigenschaften imDWesentlichen nur durch die

entgegengesetzte Ladung unterschei-den, lassen sie sich hervorragendgleichzeitig in einem einzigen Ring-beschleuniger speichern und zum Zu-sammenstoß bringen. Bei Elektronen

Tieftemperatur im großen Stil: die

2500 m2 große Kältehalle von HERA

aus der Fish-Eye-Perspektive.

Im Kontrollraum der HERA-Kälteanlage

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und Protonen müssen dagegen zweigetrennte, völlig unterschiedliche Be-schleuniger her, die dann in einerausgeklügelten Strahlführung an denKollisionpunkten der Teilchen zu-sammengeführt werden.

Mit Elektronenbeschleunigern ar-beitete man bei DESY schon lange.Obwohl auch hier wesentliche techni-sche Neuentwicklungen anstanden,sollte der Elektronenring von HERAdaher nicht das größte Problem dar-stellen. Anders sah es bei den schwe-ren Protonen aus. Damit diese bei denhohen Energien von HERA im Be-schleunigerring tatsächlich die Kurvekriegen, sind sehr starke Magnetfeldernötig, etwa dreimal höhere Felder,als herkömmliche Elektromagnete mitEisenpolschuhen sie erzeugen können.Solche Felder lassen sich nur sinnvollmit Hilfe der Supraleitung erreichen– also der Eigenschaft bestimmterMaterialien, Strom bei sehr tiefenTemperaturen verlustfrei zu leiten.

Durch supraleitende Drähte könnensehr hohe elektrische Ströme fließen,ohne dass sie warm werden, etwa10 000-mal höhere Ströme als durcheinen Kupferdraht des gleichen Quer-schnitts. Deshalb lassen sich mitsupraleitenden Spulen sehr hoheMagnetfelder erzeugen. Hier mussteDESY sich weit in technisches Neu-land vorwagen, denn als HERA ge-plant wurde, gab es noch keinen su-praleitenden Großbeschleuniger, unddie Magnete für den im Bau befind-lichen Proton-Antiproton-Speicher-ring Tevatron beim Forschungszen-trum Fermilab in Chicago litten untervielen Kinderkrankheiten.

Es galt also nicht nur, für die Proto-nen von der Teilchenquelle über dieVorbeschleuniger bis hin zum supra-leitenden HERA-Ring ein komplettneues Beschleunigersystem aufzu-bauen – die erforderliche Technolo-gie musste überhaupt erst entwickeltwerden. Hier konnten die Beschleuni-gerbauer bei DESY an die Pionier-arbeit ihrer amerikanischen Kollegenanknüpfen: Die HERA-Magneteentstanden aus einer konsequentenWeiterentwicklung der Magnete fürdas Tevatron. Mit diesen Entwick-lungsarbeiten übernahm DESY selbstwieder eine Vorreiterrolle – in zweier-lei Hinsicht. Zum einen erfolgte dieEntwicklung und Produktion dersupraleitenden Magnete erstmalig inenger Zusammenarbeit mit Industrie-firmen und staatlichen Institutenmehrerer Länder, was insbesonderefür die europäische Industrie eine ein-malige Chance darstellte. Denn dieUnternehmen bekamen erstmals dieGelegenheit, großtechnische Erfahrun-gen auf den Gebieten der Supra-

leitung und der Tieftemperatur-Tech-nik zu sammeln. Für HERA wurdenzum ersten Mal alle Magnete in vol-lem Umfang von der Industrie ge-baut. Zum anderen erwies sich dasKonzept dieser Magnete als so über-zeugend, dass es sich inzwischenweltweit durchgesetzt hat. Auch dieMagnete für den nächsten großenProtonenbeschleuniger, den LHC inGenf, beruhen auf dem Prinzip derHERA-Magnete.

Ein HERA-Magnet ist auf denersten Blick kaum als solcher zu er-kennen. Er ist neun Meter lang, wiegtzehn Tonnen und sieht im Wesent-lichen aus wie ein dickes gelbesRohr. Die Form des Magnetfeldswird nicht mehr durch das sonstübliche Eisenjoch bestimmt, sonderndurch die supraleitenden Spulen, diedas Vakuumrohr, in dem der Teil-chenstrahl verläuft, unmittelbar um-geben. Bei supraleitenden Magnetenist der Aufwand für die Kühlung derSpulen ganz erheblich: Die Betriebs-temperatur der HERA-Magnete liegtbei minus 269 Grad Celsius, das sind

Infrarotaufnahme einer Vakuum-

kammer für den HERA-Elektronen-

ring.

19

nur vier Grad über dem absolutenTemperaturnullpunkt. Die Magnetewerden deshalb ständig mit flüssigemHelium gekühlt, und die supraleiten-den Spulen stecken – umgeben vonIsoliervakuum mit Wärmeschutz-schilden und ausgerüstet mit Sicher-heitssystemen für den Fall, dass dieSupraleitung zusammenbricht – ineinem Kryostaten, der den Magneten

ihre äußere Form gibt. Um die Mag-netspulen über die 6,3 Kilometer desHERA-Beschleunigers in ihrem kal-ten – und damit supraleitenden – Zu-stand zu halten, wurde bei DESY 1986die damals größte Kälteanlage Europasgebaut, in der Heliumgas verflüssigtund anschließend über ein ausgeklü-geltes Verteilersystem in den HERA-Ring geleitet wird.

Der größte „Kühlschrank“Europas

2500 Quadratmeter groß ist die Halle, in derHERAs zentrale Kälteanlage aufgebaut ist. Seit1987 ist diese bis dato größte Kälteanlage inEuropa ununterbrochen in Betrieb und kühltdie supraleitenden Magnete im HERA-Ringzuverlässig mit flüssigem Helium. Sie bestehtaus insgesamt drei „Straßen“ mit Kompres-soren, Kältemaschinen und Gasreinigungs-anlagen, von denen für den laufenden Betrieballerdings nur zwei erforderlich sind. BeimAusfall einer Kältestraße übernimmt die dritteStraße die Kühlung.

Im Prinzip arbeitet die Anlage wie ein Kühl-schrank oder das Kälteaggregat einer Klima-anlage – nur mit Helium als Kältemittel. DasGas wird zunächst verdichtet, gereinigt undanschließend in Wärmetauschern und Turbinenexpandiert, gekühlt und verflüssigt. Über zweispeziell isolierte Transferleitungen gelangt dasflüssige Helium schließlich in die nördlicheund die südliche Hälfte des HERA-Rings.

Im warmen Zustand wird das Helium in18 Tanks an der Seite der Halle gespeichert.Zehn von ihnen sind im normalen Betriebszu-stand allerdings nicht gefüllt, sie dienen alsSammelbehälter für den Fall, dass die Supra-leitung im Beschleunigerring zusammenbre-chen und das kalte Helium schlagartig ver-dampfen sollte, sowie in Stillstandsperiodender Anlage. Insgesamt benötigt HERA 15 Ton-nen Helium, das entspricht etwa einer Welt-tagesproduktion.

Ein ausgeklügeltes Ventilsystem verteilt das flüs-

sige Helium an die supraleitenden Magnete des

HERA-Rings.

Blick in den „Kopf“ eines supraleiten-

den Magneten mit seinen technisch

höchst anspruchsvollen Anschlüssen

und Verbindungen.

20

Der supraleitende Protonenringzählt sicherlich zu den schwierigstenAufgaben, welche die HERA-Bauer zubewältigen hatten. Denn supraleiten-de Beschleunigermagnete besitzeneine ganze Reihe von Eigenschaften,die sie von konventionellen normal-leitenden Magneten unterscheidenund größte Sorgfalt bei der Kon-struktion und Herstellung erfordern.Hier ist es nicht mehr möglich, präzi-se bearbeitete Eisenpolschuhe zu be-nutzen, um die Form des Magnet-felds vorzugeben. Diese wird vielmehrvon den supraleitenden Spulen be-stimmt, die mit extrem hoher Ge-nauigkeit gewickelt werden müssen,damit die Feldfehler innerhalb dervorgegebenen Toleranzen bleiben.

ie Spulen selbst bestehen aus haarfeinen Niob-Titan-Filamen-Dten von nur 15 Mikrometern

Durchmesser, jeweils 1200 Stück ineinem 0,8 Millimeter starken Kupfer-draht – eine besondere Herausforde-rung in der Herstellung. 24 dieserDrähte werden zu einem flachenKabel verdrillt, aus denen man schließ-lich die Spulen wickelt. Nur zweihundertstel Millimeter darf die Lageder Stromleiter in der Spule dabeiabweichen, um die Fehler des Magnet-felds innerhalb der vorgeschriebenen

0,01 Prozent zu halten.Hinzu kommt, dass inden supraleitendenSpulen bei den hohenelektrischen Strömengewaltige magnetischeKräfte wirken, welchedie beiden Spulenhälf-ten im Betrieb mit einerKraft von über 100 Ton-nen pro Meter ausein-ander drücken. DieSpulen werden deshalbvon vorgespannten Alu-minium-Stützringen um-klammert, die die hohenKräfte aufnehmen undgleichzeitig die mechani-sche Präzision gewähr-leisten.

Dementsprechend auf-wendig und schwieriggestaltete sich die Ab-nahmeprüfung der fer-tigen Magnete. Überzwei Jahre lang arbeite-ten daran 70 Leute rundum die Uhr, an siebenTagen die Woche in dreiSchichten. Im Durch-schnitt war jeder Mag-net etwa 100 Stundenauf dem Teststand.Wären die Fehler erst

Im HERA-Tunnel: die supraleitenden Resonatoren

des Elektronenrings.

28 000 Filamente enthalten die supraleitenden

Kabel, aus denen die Spulen der Protonen-

magnete gewickelt sind.

TE C H NOLE NT W I C K

Stabile Stützklammern verhindern, dass das hohe

Magnetfeld die Spulenhälften der supraleitenden

Dipole auseinander drückt.

21

im Tunnel bemerktworden, so hätte dasHERA-Team den Be-schleuniger womöglichniemals zum Laufengebracht ... Obwohl alldie einzelnen Kompo-nenten der Magneteund die Magneteselbst bei den unter-schiedlichsten Indus-triefirmen weltweitgefertigt wordenwaren, erfüllten dieHERA-Magnete dieErwartungen hervor-ragend. Von den ins-gesamt 422 supralei-tenden Dipolen und224 Quadrupolenwurden nur acht zu-nächst als unbrauch-bar zurückgewiesenund repariert – weit-aus weniger, als nachden amerikanischenErfahrungen auf die-sem Gebiet zu er-warten war. Die indu-strielle Serienfertigungder HERA-Magnetewar ein voller Erfolg.Alle Magnete übertref-fen deutlich die vor-

gesehene Feldstärke von 4,7 Tesla.Seit 1998 beschleunigt HERA dieProtonen nicht mehr auf die ur-sprünglich vorgesehenen 820 Giga-elektronenvolt (GeV), sondern sogarauf 920 GeV. Dazu müssen die Mag-nete über die ursprünglich vorgese-hene Feldstärke hinaus auf 5,3 Teslahochgefahren werden. Die Umstellunggelang problemlos, ohne dass ineinem der Magnete aufgrund derhohen elektrischen Ströme die Supra-leitung zusammengebrochen wäre.

Für den Elektronenspeicherring vonHERA konnte DESY auf die Erfah-rungen mit dem Elektron-Positron-Speicherring PETRA zurückgreifen,der jetzt als Vorbeschleuniger fürHERA dient. Doch auch hier führteman wesentliche technische Neuerun-gen ein, zum Beispiel die Modulbau-weise der Magnete. Ein Dipol-, einQuadrupol- und ein Sextupolmagnetbilden jeweils eine mechanische Ein-heit, die bereits vor der Aufstellungim Tunnel zusammengebaut wurde.Dies erleichterte den Aufbau und dieJustierung des Elektronenrings ganzbeträchtlich. Die Vakuumkammerndes Strahlrohrs, in dem die Teilchenihren Rundkurs durchfliegen, wurdenerstmals nicht aus Aluminium, son-dern aus Kupfer hergestellt, das einebessere Wärmeableitung und eine

Abnahmekontrolle der supraleitenden Protonen-

magnete in der eigens eingerichteten Magnet-

messhalle.

Blick ins Innere eines supraleitenden Resonators.

O G I S C H E L U N G E N

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bessere Strahlungsab-schirmung bietet. DieMehrzahl der Beschleu-nigungsstrecken imElektronenring sind nor-malleitende „Resonato-ren“, in denen eine elek-tromagnetische Wellevon 500 Megahertz dieTeilchen in Fahrt bringt.Auch hier griff man aufdie Supraleitung zurück,um die Elektronen mitvertretbarem Aufwandan elektrischer Leistungauf die Nennenergievon 30 GeV bringen zukönnen. Die in Ham-burg unter der Feder-führung von DESY ent-wickelten supraleitendenBeschleunigungsresona-toren aus Niob erreichten eine maxi-male Feldstärke von 5 Megavolt proMeter (MV/m), während herkömm-liche Kupferresonatoren zu der Zeitmaximal etwa 1 MV/m lieferten.HERAs Elektronenbeschleuniger ent-hält inzwischen 16 dieser Niobreso-natoren.

Zwei Beschleunigerringe von 6,3Kilometern Länge – das sind insge-

samt 12,6 Kilometer Strahlrohr, die esauf einen Druck von 10-8 bis 10-13 Milli-bar zu evakuieren gilt. Dann wird es inden Beschleunigerrohren von HERAso luftleer wie auf dem Mond: DieserDruck entspricht weniger als einemBilliardstel des Luftdrucks an der Erd-oberfläche. Dazu musste HERA nichtnur mit einem umfangreichen Systemvon Vakuumpumpen ausgerüstet

werden, sondern auchmit einem ausgeklü-gelten Vakuumkon-trollsystem, um vorallem die Dichtigkeitder vielen Schweiß-nähte überwachen zukönnen. Einen Be-schleuniger von sol-chen Ausmaßen zubetreiben, bedeutet,Tausende von Kompo-nenten zu steuern undzu beherrschen, Datenüber kilometerlangeKabel zu übertragenund in einem zentra-len Kontrollraum zuverarbeiten. DieKomplexität einer sol-chen Anlage ist kaummehr vorstellbar – und

doch funktioniert sie. Am 8. Novem-ber 1990 feierte man die Inbetrieb-nahme und, wie Hamburgs Wissen-schaftssenator Ingo von Münchhervorhob, eine finanzielle „Punkt-landung“. Denn trotz der enormentechnischen Herausforderungen warHERA innerhalb des vorgegebenenTermin- und Kostenrahmens fertiggestellt worden.

Test der supraleitenden Protonenmagnete für HERA. Erforderte größte Sorgfalt: die Verbindung

zwischen zwei Protonenmagneten.

8. November 1990: Per Knopfdruck gibt Bundesforschungs-

minister Heinz Riesenhuber das Signal zur Inbetriebnahme

von HERA (rechts im Bild DESY-Direktor Volker Soergel).

Wirbelströme und „Flusskriechen“

Das Feld von supraleitenden Magneten im Griff zu halten, ist nicht immer ganz einfach.So entstehen beim Hoch- oder Herunter-

fahren des Felds in supraleitenden Spulen Wirbel-ströme, die wie jeder elektrische Strom von magne-tischen Feldern begleitet sind. In normalleitendenSpulen führt das nicht zu Problemen, da solcheWirbelströme durch den elektrischen Widerstand derSpulen schnell abklingen. Anders jedoch in supralei-tenden Kabeln, in denen die Wirbelströme beständigweiterexistieren. Die resultierenden Störfelder verformendas Hauptfeld – zwar nur geringfügig, bei einer soempfindlichen Anlage wie HERA jedoch mit unterUmständen unangenehmen Konsequenzen. Deshalbist jeder der 646 supraleitenden Magnete von HERAmit einer unmittelbar auf das Strahlrohr geklebtenKorrekturspule ausgestattet, die es erlaubt, die Stör-felder erfolgreich auszugleichen.

Das Schwierige ist nur: Die Wirbelstromfelder bleibennicht konstant. Während einer mehrstündigen Be-triebsphase des Beschleunigers „wandern“ dieMagnetfelder im Protonenring, sie ändern ihre Stärke.Diese Veränderung wird durch eine Besonderheit derSupraleiter ausgelöst, das „Flusskriechen“. Die Ge-schwindigkeit, mit der dieses Flusskriechen stattfindet,unterscheidet sich erheblich, je nachdem, aus welcherProduktion die supraleitenden Spulen stammen.Deshalb wurden für HERA zwei zusätzliche Magnete– je einer aus der deutschen und der italienischenProduktion – als Referenzmagnete mit den Magnetendes Protonenrings in Serie geschaltet. Ihre Felderwerden während des Betriebs ständig durch hochempfindliche Sonden gemessen, so dass den Ver-änderungen im gesamten Ring sofort durch entspre-chendes Ansteuern der Korrekturspulen entgegenge-wirkt werden kann. Auch dieses für HERA entwickelteSystem hat Schule gemacht: Bei CERN in Genf hatman das Prinzip für den im Bau befindlichen LHC-Beschleuniger übernommen.

Die supraleitenden HERA-Magnete

Die supraleitenden Magnete für den Protonenringvon HERA erinnern nicht mehr an herkömmlicheMagnetkonstruktionen, da das Eisenjoch zur

Bündelung der Feldlinien nur noch eine untergeordneteRolle spielt. Stattdessen steht der Aufwand für die Helium-kühlung im Vordergrund, die die supraleitenden Spulender Magnete auf ihrer Betriebstemperatur von minus269 Grad Celsius hält. Bei den hohen elektrischen Strö-men, mit denen die HERA-Magnete betrieben werden,wirken in den Spulen gewaltige Kräfte: Im Betrieb stoßensich die Spulenhälften mit einer Kraft ab, die dem Gewichteines Schwertransporters entspricht. Die Spulen werdendeshalb durch stabile Stützklammern zusammengehalten.

Die HERA-Magnete sind eine konsequente Weiterent-wicklung der supraleitenden Magnete für den Tevatron-Beschleuniger, der 1987 am Fermilab bei Chicago inBetrieb ging. Die Tevatron-Magnete sind vom so ge-nannten Warmeisentyp, d.h., ihr Eisenjoch liegt außer-halb der mit flüssigem Helium gekühlten supraleitendenSpulen. Der Vorteil dieser Konstruktion liegt darin, dasshier nur die Spulen selbst abgekühlt werden müssen, dasEisen jedoch nicht. Befindet sich das Eisenjoch dagegenin unmittelbarer Nähe der Spulen und mit diesen aufHeliumtemperatur, so spricht man von einem Magnetenvom Kalteisentyp.

Die HERA-Magnete sind als Kalteisenkonstruktion sokonzipiert, dass sie die Vorteile beider Typen in sich ver-einen. Zwar ist der Kühlungsaufwand höher als beimTevatron, doch die HERA-Magnete erreichen eine höhereFeldstärke. Auch die Betriebssicherheit ist bei den HERA-Magneten größer, da die Dioden, die beim Zusammen-bruch des Magnetfelds den in den Spulen fließendenStrom ableiten, mit in den kalten Bereich eingebaut wer-den konnten und somit einen besseren Schutz bieten.Das Grundkonzept der HERA-Magnete erwies sich als soerfolgreich, dass es sich inzwischen allgemein durchge-setzt hat.

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Der zentrale Beschleunigerkontroll-raum bei DESY steht der Brücke vonRaumschiff Enterprise in nichts nach.Ein Bildschirm reiht sich an den an-deren, bunte Diagramme wechselnab mit Tabellen und Zahlenkolonnen,Schaltknöpfen, Tastaturen und „Track-balls“, so weit das Auge reicht. Hierpulsiert das Herz von HERA: Nichtnur die beiden Beschleunigerringevon HERA, auch die insgesamt siebenVorbeschleuniger werden von hier ausgesteuert. Denn bevor die Teilchen indie eigentlichen HERA-Ringe einge-schossen werden, durchlaufen sie einganzes „Anlassersystem“ von klei-neren Beschleunigern, die denTeilchenstrahl in die richtige Formund auf die richtige Energie bringen.

n den beiden großen, jeweils 6,3 Kilometer langen Beschleuni-Igerringen von HERA erreichen die

Teilchen dann ihre Endenergie. An-schließend werden sie „gespeichert“:Sie durchfliegen über Stunden hin-weg mit beinahe Lichtgeschwindig-keit ihren Rundkurs. An den vonden haushohen Detektoren H1 undZEUS umschlossenen Wechselwir-kungspunkten treffen sich die beidenTeilchenstrahlen frontal, dabei pralleneinige Elektronen und Protonen mitvoller Wucht aufeinander. Die aus

der Kollision entstehenden Teilchenstieben in alle Richtungen auseinan-der und werden schließlich von denNachweisgeräten registriert.

Was sich hier auf dem Papier soeinfach beschreiben lässt, grenzt inWirklichkeit an ein technischesWunder. Zweimal 6,3 Kilometer Be-schleuniger – das sind über 800 Ab-lenkmagnete, 1340 Fokussierungs-magnete, 1200 Netzgeräte,1500 Vakuum-

pumpen, die alle über kilometerlan-ge Kabel angesteuert werden. Ist derBetrieb erst einmal Routine, so wissendie Physiker im Kontrollraum genau,welchen Wert die einzelnen Magnet-felder haben müssen, welche Netz-geräte welche Eigenheiten haben undwie man einen verloren gegangenenTeilchenstrahl wieder auf die rechteBahn bringt.

HERA am Start

Das System von Vorbeschleunigern und Speicherringen bei DESY.

Ist die Anlage jedoch neu – und,wie im Fall von HERA, noch dazueine technologische Neuentwicklung –,so gilt es, die passenden Einstellungenerst einmal geduldig herauszufinden.Ein Teilchenstrahl ist kein zusammen-hängendes Gebilde. Er besteht viel-mehr aus einzelnen „Paketen“, auch„Bunche“ genannt, die Milliarden vonElektronen oder Protonen enthalten.

Der Verantwortliche im Kontroll-raum muss also dafür sorgen, dassdie Bunche zusammengehalten wer-den, dass er sie genau auf der vor-geschriebenen Bahn um die Kurvelenkt, dass die Teilchen nicht durchZusammenstöße mit Restgas imVakuumrohr gestört werden, dassElektronen- und Protonenstrahl inden Wechselwirkungspunkten aufBruchteile von Millimetern genauaufeinander zufliegen und dass dieeinzelnen Elektronen- und Protonen-pakete auch tatsächlich gleichzeitigdort eintreffen! Wenn man dann nochbedenkt, dass die Teilchenstrahlenan den Kollisionspunkten nur Bruch-teile von Millimetern Durchmesserbesitzen, also so fein sind wie einmenschliches Haar, so erscheint dieseAufgabe praktisch unlösbar.

„Bei HERA sorgt nichts in der Weltdafür, dass sich die Teilchen auchwirklich treffen“, stellt Bernhard Hol-zer fest, einer der beiden Koordina-toren, die für den Betrieb von HERAverantwortlich sind. „Wir beschleuni-gen hier zwei völlig unterschiedlicheTeilchensorten in komplett getrenn-ten Ringen. An zwei Stellen werdendie Teilchen über ausgeklügelteMagnetsysteme zusammengeführt.Anders sieht es bei Anlagen aus, indenen Teilchen und Antiteilchen

beschleunigt werden. Da diese sichnur in ihrer elektrischen Ladungunterscheiden, können sie in einemeinzelnen Strahlrohr umlaufen, siespüren die gleichen Kräfte und treffenautomatisch im gleichen Momentam gleichen Ort ein. Wir dagegenmussten die Maschine erst mühsamauf ihre Aufgabe trimmen.“

Um die beiden Teilchenstrahlenüberhaupt beherrschen zu können,füllt die HERA-Crew den Beschleuni-ger in zwei Schritten: Zuerst wird derProtonenstrahl in den Ring einge-schossen, beschleunigt und optimiert.Sind alle Protonenmagnete einge-stellt, alle Strahlparameter auf ihremSollwert, werden die Protonen vor-übergehend „geparkt“: Der Strahlläuft dann einige Millimeter oberhalbder Umlaufbahn, die er im Kollisions-betrieb hat, durch den Ring. Dies lässtder HERA-Mannschaft Zeit, in einemzweiten Schritt den Elektronenring zufüllen. Dieser Vorgang bleibt jedochnicht ohne Auswirkungen auf denProtonenstrahl, denn dieser fliegt vorund hinter den Kollisionspunktenebenfalls durch die Elektronenmag-nete – jene Magnete, die den Elektro-nenstrahl bündeln und ihn gleichzeitigauf die Bahn des Protonenstrahlslenken. Dabei wirken die Felder derElektronenmagnete auch auf die Pro-tonen, und diese Störungen reichenaus, um den Protonenstrahl binnenkürzester Zeit aus der Bahn zu werfen.Während die Elektronen in HERAeingeschossen und beschleunigtwerden, müssen die Magnetfelderdes Protonenrings also ständig kor-rigiert werden, um die Störungen zukompensieren. Sind beide Teilchen-strahlen optimiert, wird der Protonen-

HERA-Bau• Bauzeit: 6 1/2 Jahre, von Mai 1984 bis

November 1990• Gesamtkosten: 700 Millionen B• Internationale Beteiligung am Bau:

11 Länder• Tunnelumfang: 6336 m• Innendurchmesser: 5,2 m• Tiefe unter der Erde: 10-25 m• Dicke der Tunnelwände: 30 cm

HERA-Ring• Teilchenpakete (Bunche) im Elektronen-

ring: 189• Teilchenpakete im Protonenring: 180• Protonen pro Bunch: 100 Milliarden• Elektronen pro Bunch: 50 Milliarden• Ein Teilchenpaket durchfliegt den HERA-

Ring etwa 47 000-mal in der Sekunde• Alle 96 milliardstel Sekunden treffen

zwei Teilchenpakete aufeinander • Elektronenring: 84 normal-, 16 supra-

leitende Beschleunigungsstrecken (Resonatoren), 416 Dipolmagnete(0,16 Tesla), ca. 600 Quadrupole und Sextupole

• Protonenring: 4 normalleitende Reso-natoren, 416 supraleitende Dipolmagnete (4,7 Tesla), ca. 600 Quadrupole und Sextupole

Technische Daten• Energie der Elektronen:

27,5 Milliarden Elektronenvolt (GeV)• Energie der Protonen: 920 GeV• Kollisionsenergie: 320 GeV• Luminosität: geplant: 1,5 x 1031 cm-2 s-1

erreicht 2000: 2,0 x 1031 cm-2 s-1

geplant ab 2002: 7,5 x 1031 cm-2 s-1

• Strahlgröße am Kollisionspunkt:2000: horizontal: 200 �m, vertikal: 50 �mab 2002: horizontal:120 �m, vertikal: 30 �m

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strahl auf Kollisionskurs herunterge-fahren und der Betrieb „eingerastet“.„Dieses Problem war lange ein Spezi-alfall von HERA, und wir haben Jahregebraucht, das Verfahren zu opti-mieren. Heute ist es Routinesache“,erläutert Holzer. „Inzwischen hat un-ser Vorgehen Schule gemacht: Anneueren Beschleunigern in Japanund den USA, die ebenfalls getrennteRinge besitzen, hat man dieses Opti-mierungsverfahren übernommen.“

Bei der ersten Inbetriebnahmeeiner solch komplexen Anlage kommtso eines zum anderen. Oft vergehenWochen und Monate des Tüftelns,des Herumprobierens, der Rück-schläge und Fortschritte, bevor dannalles stimmt: jedes Magnetfeld ge-nau sitzt, jede Vakuumpumpe durch-hält, jedes Netzgerät die richtigeSpannung liefert. Am 17. August 1988war der Elektronenstrahl von HERAzum ersten Mal „durch“. Im Herbst1990 wurde der letzte Protonenmag-net eingebaut, in der Nacht vom14. zum 15. April 1991 speicherte dieHERA-Mannschaft den ersten Proto-nenstrahl. Am 19. Oktober 1991 hießes dann „HERA läuft!“: Zum erstenMal stießen in den beiden Wechsel-wirkungszonen Elektronen und Proto-nen frontal zusammen.

HERA läuft! Ins Logbuch trägt Wiik ein: „Erste e-p-Kollisionen in HERA,

19.10.1991 um 18.50 Uhr“.

Spätschicht im Beschleunigerkontrollraum am 19. Oktober 1991,

Bjørn H. Wiik stellt letzte Berechnungen an.

T atort DESY, Beschleuniger-kontrollraum. Nach derjährlichen Winterunter-

brechung soll HERA wieder an-laufen. Vor Wochen schon wur-den die Netzgeräte, die denBeschleuniger mit Spannungversorgen, eingeschaltet undgetestet. Sie laufen am bestenim Dauerbetrieb, weshalb mansie in der Zwischenzeit garnicht mehr ausgeschaltet hat.Im Kontrollraum bereiten die„Operateure“ – die Physiker,Techniker und Ingenieure, diefür die Funktion des Beschleu-nigers zuständig sind – die„Füllung“ von HERA mit Elek-tronen und Protonen vor.Beide Teilchenstrahlen werdennicht etwa in HERA von Nullauf Lichtgeschwindigkeit ge-bracht. Die Beschleunigunggeschieht vielmehr Schritt fürSchritt, in einem komplexenGeflecht von Vorbeschleuni-gern, in dem nahezu alle Be-schleuniger vertreten sind, dieim Laufe der 40-jährigen DESY-Geschichte gebaut wurden.

Die Operateure beginnen mitden Protonen, denn diese las-sen sich aufgrund ihrer hohenEnergie weniger beeindrucken,wenn später der Elektronen-strahl hinzukommt. Zunächstdurchlaufen die Teilchen denLinearbeschleuniger LINAC III,der sie auf eine Energie von50 Millionen Elektronenvoltbringt. Daraufhin schießt mansie in das Synchrotron DESY IIIein und transferiert sie dannmit 8 Milliarden Elektronenvolt(d.h. 8 Gigaelektronenvolt,GeV) in den PETRA-Ring, indem sie auf 40 GeV hochge-fahren werden. Zehn der 60 Teilchenpakete

aus PETRA sollen nun in HERAeingebracht werden, um denProtonenring zu optimieren. Soeinfach geht das jedoch nicht,denn die supraleitenden Mag-nete des HERA-Protonenringssind schwer zu beherrschen: Siebrauchen eine Sonderbehand-lung, bevor sie auf 0,5 Promillegenau das gewünschte Magnet-feld liefern. 20 Minuten langwerden die supraleitendenMagnete deshalb noch ohneTeilchenstrahl „massiert“, d.h.durch einen bestimmten Proze-durenkreislauf gefahren – dannerst können die Operateuresicher sein, dass der Protonen-strahl bei seiner „Injektion“ inHERA auch wirklich die richtigenMagnetfelder vorfindet.

Nun werden die zehn Proto-nenpakete in HERA eingeschos-sen. Mit ihnen optimieren dieOperateure den Beschleuniger,prüfen die Parameter desStrahls und minimieren – auchmit Hilfe der Experimente – dieStrahlverluste. Dann erst wirdder HERA-Protonenring kom-plett gefüllt – mit drei PETRA-Füllungen à 60 Teilchenpakete– und der Strahl auf seine End-energie von 920 GeV beschleu-nigt. Bei maximaler Energiestellen die Operateure denProtonenstrahl beiseite; er wirdwenige Millimeter nach obengefahren, wo er ungestört wei-ter umlaufen kann, währenddie Elektronen in HERA einge-bracht werden.

Auch der Elektronenstrahldurchläuft verschiedene Vor-beschleuniger – vom LINAC IIüber das Synchrotron DESY IIzu PETRA II –, bevor er schließ-lich in Form von 189 Teilchen-paketen in HERAs Elektronen-

ring eingefädelt wird. Läuftalles glatt, dauert das nur Mi-nuten, denn die normalleiten-den Magnete des Elektronen-rings brauchen keine Spezial-behandlung.

In einem letzten Schritt müs-sen die Operateure den zeit-lichen Durchlauf der Teilchensynchronisieren – es nütztschließlich wenig, wenn einProtonenpaket am Wechsel-wirkungspunkt eintrifft, wäh-rend sich die Elektronen ganzwoanders befinden. Dazu wirdder Protonenstrahl auf dieInnenkurve gelenkt – er fängtan, die Elektronenpakete „ein-zuholen“. Laufen die Paketesynchron, wird der Protonen-strahl zurück auf die Sollbahngebracht, der Betrieb „rastetein“: An den Wechselwirkungs-punkten kollidieren die Teil-chen. Zunächst sind es nur we-nige. Bis alle vier Experimenteideale Bedingungen vorfinden,vergeht noch etwa eine Viertel-stunde des Optimierens. DieStrahlen werden nochmals ver-kleinert, der Betrieb auf dieBedürfnisse eines jeden Expe-riments abgestimmt. Hier sindFingerspitzengefühl und Er-fahrung des Operateurs ge-fragt und eine gute Koordina-tion zwischen den Beschleuni-gerexperten und den Vertreternder Experimente. Denn HERAist keine Maschine, die aufKnopfdruck funktioniert – manmuss sie kennen und wissen,wie man das Beste aus ihrherausholt. Dementsprechenddauert es etwa zwei Jahre, bisein Neuling alle Prozedurenbeherrscht und den Beschleu-niger im Griff hat.

Der Weg der Teilchen durch die Beschleunigerkette

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Die ersten Teilchenkollisionen ineinem Speicherring haben etwas vonden ersten Worten eines kleinenKindes: Die Eltern jubeln, die Ver-wandten applaudieren entzückt – bisdas junge Nachwuchstalent ganzeSätze zu ausgefeilten Texten zusam-menfügen kann, geht jedoch nocheinige Zeit ins Lande. Ähnlich ist esbei den großen Beschleunigern. Mitden ersten Teilchenzusammenstößenist der Grundstein gelegt. Jetzt stehtfest, dass die Maschine tatsächlichfunktioniert. Doch dann folgt die Zeitdes Lernens, des Einarbeitens. Biseine technisch derart anspruchsvolleAnlage wie HERA mit ihren zweigetrennten Beschleunigerringen aufKnopfdruck so funktioniert, dass dieExperimente optimale Bedingungenfür ihre Untersuchungen vorfinden,vergehen einige Jahre.

chließlich gilt es hier nicht nur, den Beschleuniger selbst zum SLaufen zu bringen. Der Betrieb

muss genau auf die Bedürfnisse der

einzelnen Experimente abgestimmtwerden, die mit den Teilchenstrahlenarbeiten. Ist eine Anlage mit gleich-artigen Experimenten ausgerüstet,wie es zum Beispiel beim Large Elec-tron-Positron Collider LEP beim For-schungszentrum CERN in Genf derFall war, so sind die Randbedingungender Experimente im Wesentlichengleich. HERA ist jedoch der einzigeBeschleuniger weltweit, an dem zweiKollisionsexperimente und zweiStrahl-Target-Experimente gleichzeitigbetrieben werden. Letztere nutzen je-weils nur einen der beiden Teilchen-strahlen, der auf ein ruhendes Ziel(englisch: target) gelenkt wird. DieRandbedingungen der Experimenteunterscheiden sich damit ganz wesent-lich voneinander. „Alle vier Experi-mente in den laufenden Betrieb zuintegrieren, hat eine Menge Nervengekostet“, erzählt Bernhard Holzer,der 1991 als Nachwuchswissenschaft-ler zu HERA kam und heute denBetrieb der Anlage koordiniert. „Eswar ein Üben und Lernen auf beiden

Seiten, denn auch die Experimenta-toren brauchen Zeit, bis dort idealeBedingungen herrschen. So etwasfunktioniert nur, wenn sich die Ex-perimentiergruppen und die HERA-Crew genau absprechen. Das ist nichtimmer leicht; es macht allerdings auchgroßen Spaß, den Problemen ge-meinsam auf den Grund zu gehen.“

Als HERMES eingebaut wurde,war der Untergrund an störendenReaktionen zunächst so hoch, dasskeines der drei zu der Zeit installiertenExperimente vernünftige Messungendurchführen konnte. Damals setztensich die Experten aus der HERA-Gruppe mit den Koordinatoren vonHERMES zusammen, um den Ur-sachen der Störungen auf den Grundzu gehen. Gemeinsam benutzten sieden HERMES-Detektor dazu, Art,Energie und Richtung der störendenEreignisse zu bestimmen – nachwenigen Wochen war das Problemgelöst. Als das vierte ExperimentHERA-B in den Betrieb integriertwerden sollte, lagen die Dinge ähn-

HERA IM BETRIEB

lich. Um der Teilchen Herr zu werden,die nach dem Zusammenstoß mitden Target-Drähten von HERA-Bdurch den Beschleuniger vagabun-dierten und in den anderen dreiDetektoren störende Signale aus-lösten, rief man schließlich eine„Taskforce“ auf den Plan: Täglich tra-fen sich die Experten der vier Expe-rimente mit der HERA-Mannschaft,um zusammen zu ergründen, werwas verändert hatte und welcheAuswirkungen diese Veränderungenauf Detektoren und Beschleunigergehabt hatten. Auch hier führte daskonsequente gemeinsame Vorgehenzum Erfolg – was der „Taskforce“auch über DESY-Kreise hinaus zueiniger Berühmtheit verhalf.

Seit 1992 ist HERA in Betrieb. Indieser Zeit konnte die Beschleuniger-crew die Leistung und Effizienz desSpeicherrings jedes Jahr weiter stei-gern. In einigen Parametern – wieder so genannten Luminosität, der„Trefferrate“ der Elektronen undProtonen – übertrifft HERA sogar

die ursprünglich vorgesehe-nen Werte. „Zunächst habenwir sehr vorsichtig angefan-gen“, erinnert sich Holzer,„mit kleinen Intensitätenund damit auch kleinerLuminosität. Schließlichmussten wir erst lernen, mitder hohen Protonenenergievon 820 Gigaelektronenvoltumzugehen.“ Schrittweiseverringerte die Mannschaftden Querschnitt der Teil-chenstrahlen und füllte denRing mit immer mehr Teil-chenpaketen.

Während der jährlichenWinterunterbrechungenwurde HERA kontinuier-lich verbessert. So erwieses sich zum Beispiel langeZeit als Problem, den Elek-tronenspeicherring auchwirklich mit Elektronen undnicht nur mit ihren Anti-teilchen, den Positronen, zubetreiben: Die Lebensdauer

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des gespeicherten Elektronenstrahlswar unerwartet gering. Ursprünglichsorgten so genannte Ionen-Zerstäu-berpumpen für das Vakuum imElektronenstrahlrohr. Diese Pumpenkönnen jedoch positiv geladeneStaubpartikel produzieren, die wahr-scheinlich von den negativ gelade-nen Elektronen eingefangen wurdenund so den Teilchenstrahl störten.Um dieses Problem zu umgehen,wurde HERA 1994 auf den Betriebmit Positronen, den Antiteilchen derElektronen, umgestellt, wodurch sichdie Lebensdauer des Strahls etwaauf das Doppelte erhöhen ließ. UmHERA „elektronenverträglicher“ zumachen, ersetzte man während derWinterpause 1997/98 sämtlicheVakuumpumpen des Elektronen-speicherrings durch Absorptions-pumpen, die ohne Hochspannungauskommen und damit keine stören-den Staubteilchen in das Vakuum-rohr hineinbringen. Insgesamt fünfKilometer Vakuumkammern mussten

dazu aus-, um- und wieder einge-baut werden. Doch nun fliegen auchdie Elektronen ausreichend langedurch den Ring.

Schrittweise verbesserte das HERA-Team auch die Zuverlässigkeit undBenutzerfreundlichkeit der Anlage.So wurde das umständlich zu hand-habende Kontrollsystem von HERAbis 1998 komplett auf PCs umgestellt.Das neue System nimmt dem Ver-antwortlichen im Kontrollraum vieleHandgriffe ab und vereinfacht ganzwesentlich den Betrieb mit vier Ex-perimenten. Zum Beispiel können dieBeschleunigerelemente im Nordenund Süden des HERA-Rings – dort,wo sich die beiden Kollisionsexperi-mente H1 und ZEUS befinden – jetztgleichzeitig eingestellt werden, wasmit dem alten System nicht möglichwar. Durch den Einbau weitererKomponenten ist der HERA-Betriebauch insgesamt stabiler geworden.Der Aufwand zahlte sich aus: 1997übertraf die über eine Messperiode

integrierte Luminosität – ein Maßfür die „Trefferrate“ der Teilchen, alsodie Anzahl der Teilchenkollisionen,die der Beschleuniger liefert – erst-mals den vorgesehenen Designwert.1999 erreichte HERA im Elektronen-betrieb die gleiche Trefferrate wie1997 mit Positronen, obwohl manzwischenzeitlich die Energie der Pro-tonen von 820 auf 920 Gigaelektronen-volt erhöht hatte – eine Umstellung,die trotz größerer Belastung derKomponenten der Anlage problem-los gelang. Nach einem hervorragen-den Betriebsjahr 2000, in dem HERAso viele Teilchenkollisionen liefertewie in keinem Jahr zuvor, standen vonSeptember 2000 bis Sommer 2001umfassende Umbauten zur Steigerungder Luminosität an. Das Ziel: HERAsLeistung um das Vierfache zu erhö-hen und die Experimente H1 undZEUS mit polarisierten Elektronen zuversorgen.

Fünf Kilometer Vakuumkammer mussten ausgebaut werden, um HERA für den Betrieb mit Elektronen umzu-

rüsten. Die gelbe „HERA-Tram“ transportiert die schweren Beschleunigerkomponenten an Ort und Stelle.

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HERA selbst, das sind an sichschon zweimal 6,3 Kilometergeballtes Hightech. Hinzu kom-

men sieben Vorbeschleuniger von eben-falls mehreren Kilometern Länge – ins-gesamt ein riesiger Komplex von tech-nischen Anlagen, die mit einer Genau-igkeit von besser als einer milliardstelSekunde synchron laufen müssen,sollen die Teilchen zur rechten Zeitam richtigen Ort eintreffen. In Bruch-teilen von Sekunden müssen hiertechnische Komponenten abgefragt,kontrolliert und eingestellt werden, diesich manchmal Kilometer weit wegbefinden, dort aber größtenteils unab-hängig voneinander betrieben werden.

„Mit einem zentralen Rechner undvielen langen Kabeln lässt sich dieKontrolle einer Anlage dieser Größenicht mehr bewerkstelligen“, erläutertReinhard Bacher, Leiter der Gruppe„Software und Technik zur Kontrollevon Beschleunigern“. „Stattdessen setztman bei HERA auf ein dezentrales,weitgehend PC-gestütztes System, dassich in drei Ebenen gliedert.“ Direktam Beschleuniger übernimmt eineReihe von Einzelrechnern die Kontrollevon lokalen Systemen: FECs werdensie genannt, Front End Computer, diein unmittelbarer Nähe „ihrer“ Kompo-

nente stehen und sich selbstständigum deren korrektes Funktionierenkümmern – also Netzgeräte ansteuernoder Messinstrumente auslesen. Überdas Beschleuniger-Intranet vermittelndie FECs ihre Informationen an dieübrigen Rechner des Kontrollsystems.Auf den Rechnern der mittleren Ebenelaufen allgemeine, übergreifende Pro-zesse, hier werden z.B. Alarmmeldun-gen gesammelt und Daten archiviert.Die Rechner der letzten Ebene schließ-lich bilden die Schnittstelle zum Men-schen – hier werden die verschiedenenProzesse dargestellt, Einstellungen ver-ändert, die technischen Subsystemekontrolliert und die Daten analysiert.

Das Kontrollsystem von HERA ist da-mit modular und lokal intelligent auf-gebaut. „Fällt einer der Rechner aus,so bricht nicht gleich das kompletteSystem zusammen, wie es bei einemZentralrechner passieren kann“, erklärtReinhard Bacher. „Auch lässt das de-zentrale System den Physikern undIngenieuren die größtmögliche Freiheit,die Komponenten des Beschleunigersoptimal anzusteuern – hier kann jedergenau jene Hard- und Softwareele-mente auswählen, die für die zu er-ledigende Aufgabe am besten ge-eignet sind.“ Während auf den

Rechnern der unteren Ebene deshalballe gängigen Betriebssysteme zu fin-den sind, laufen die Computer auf derDarstellungsebene unter Windows.Schließlich lohnt es sich nicht, ständigneu zu erfinden, was der Massenmarktbilliger und in großer Vielfalt anbietet;hier zahlt es sich aus, von den Produk-ten und den Standards des kommer-ziellen Softwaremarkts zu profitieren.

Das Kontrollsystem von HERA ist dasgrößte PC-gestützte Beschleuniger-kontrollsystem weltweit. Es kann vonjedem Büro bei DESY aus erreichtund bedient werden, im Prinzip sogarvon jedem beliebigen Ort der Welt.„Eine große Herausforderung bestehtbei einem solchen System allerdingsdarin, die reibungslose ‚Kommunika-tion‘ zwischen den verschiedenstenProzessen auf unterschiedlichen Rech-nern mit unterschiedlichen Betriebssys-temen zu garantieren“, hebt Bacherhervor. Speziell zu diesem Zweck habendie DESY-Wissenschaftler in den ver-gangenen zehn Jahren die Kommu-nikationssoftware „TINE“ entwickelt,die es erlaubt, alle bei HERA benutz-ten Softwaresysteme miteinanderreden zu lassen – einen Service, derin seiner Leistung allen kommerziel-len Produkten bisher weit überlegen ist.

Alles unter Kontrolle

ie in den unterir-dischen HERA-DHallen aufgebau-

ten Detektoren wirkenwie riesige Hochleis-tungskameras: Sie sind groß wie eindreistöckiges Haus, halb so schwerwie der Eiffelturm und angefüllt mitHunderttausenden von elektroni-schen Bauteilen. Um möglichst jedesder in alle Richtungen davon-fliegenden Teilchen einfangen zukönnen, umgeben die Einzelkompo-nenten der KollisionsexperimenteH1 und ZEUS den Wechselwirkungs-punkt, an dem die Elektronen undProtonen zusammenstoßen, wie dieSchalen einer Zwiebel. Bei den Strahl-Target-Experimenten HERMES undHERA-B sind die einzelnen Nach-weisgeräte dagegen in Schichtenhintereinander angeordnet. Denn hierprallt nur ein Teilchenstrahl auf ein

ruhendes Ziel (englisch: target), sodass die während des Zusammen-stoßes produzierten Teilchen ineinem engen Kegel in Flugrichtungdes einfallenden Strahls weiterfliegen.

In ihrem Zusammenspiel dienendie Komponenten des Detektors da-zu, neutrale Teilchen von elektrischgeladenen und schwere von leichtenTeilchen zu unterscheiden und jenach der Stärke ihrer Wechselwirkungmit dem nachweisenden Materialdes Detektors zu klassifizieren. JedeDetektorkomponente hat dabei ihreeigene Funktion: Einige zählen diehindurchfliegenden Teilchen, anderemessen deren Spuren, halten einigeTeilchen sogar ganz auf und gebendie Energie der eingefangenen Teil-chen an. Auch der Zeitpunkt derAnkunft der Teilchen wird mit gro-ßer Präzision registriert – schließlichmüssen die gemessenen Signale demrichtigen Elektron-Proton-Zusammen-

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HERAsSCHARFEAUGEN

14 000 goldbeschichtete Drähte: die

Driftkammer des H1-Experiments,

in der die Spuren der hindurchflie-

genden Teilchen vermessen werden.

Vier große unterirdische Hallen gibt es am HERA-Speicherring –in jeder Himmelsrichtung eine. Sieben Stockwerke tief unter derErde stehen hier die Detektoren, mit denen die internationalenForscherteams die kleinsten Bausteine der Materie untersuchen.1992 gingen die ersten zwei Experimente in Betrieb: H1 in derHERA-Halle Nord und ZEUS im Süden. Beide Experimente beob-achten die hochenergetischen Zusammenstöße von Elektronenund Protonen, die Aufschluss über das Innenleben des Protonsund die Grundkräfte der Natur geben. In der Halle Ost steht seit1995 das Experiment HERMES, das den Elektronenstrahl vonHERA benutzt, um dem Eigendrehimpuls – dem „Spin“ – derProtonen und Neutronen auf die Spur zu kommen. Im Westender Anlage macht sich HERA-B seit 1998 den Protonenstrahl desSpeicherrings zunutze, um die physikalischen Geheimnisseschwerer Quarks zu lüften.

ei den Kollisions-experimenten H1 und ZEUS prallen

die in HERA kreisen-den Elektronen genauim Mittelpunkt derDetektoren frontal aufdie ihnen entgegen-fliegenden Protonen.Bei diesem Zusammen-stoß wirkt das punkt-förmige Elektron wieeine winzige Sonde, diedas Innere des Protonsabtastet: Es dringt indas Proton ein, trifftdort auf einen von des-sen Bausteinen – einQuark – und „spricht“mit diesem über denAustausch eines Kraft-teilchens. Das Quarkwird dabei aus demProton herausgeschla-gen; es bildet sich einganzes Bündel neuerTeilchen, die mit demElektron und den Pro-ton-Bruchstücken in alleRichtungen auseinanderfliegen. Aus den Spu-ren, welche die Teil-chen in den Detekto-

ren hinterlassen, lassen sich schließ-lich Rückschlüsse darauf ziehen, wasdenn nun im Inneren des Protonswirklich passiert. Hierbei geht es nichtetwa nur um die einzelnen Bestand-teile des Protons, sondern auch umdie Grundkräfte der Natur, die zwi-schen den Teilchen wirken. BeiHERA fungiert das Proton als„Mikrolabor“, an dem sich die unter-schiedlichsten Fragestellungen derheutigen Teilchenphysik gezielt un-tersuchen lassen. Die dafür verfüg-bare Energie ist etwa zehnmal grö-ßer als bei früheren, ähnlichenExperimenten. HERA wirkt also wieein „Super-Elektronenmikroskop“,das den weltweit schärfsten Blick insProton ermöglicht: Zehnmal genau-er als bisher können H1 und ZEUSdie Details des Protons unter die Lupenehmen. Bis hinunter zu Strukturen,die noch einmal 2000-mal kleinersind als das Proton selbst – das sind0,000 000 000 000 000 000 5 Meter.

stoß zugeordnet werden. Über Tausen-de von Kabeln und Lichtleitern werdendie Informationen an die weiterverar-beitende Elektronik geleitet.

Pro Sekunde erfassen die riesigenApparaturen so zehn Millionen Bildervon Teilchenkollisionen – den so ge-nannten Ereignissen. Unmittelbar nachder Aufnahme wählt die Elektroniknach den Vorgaben der Physiker ausden zehn Millionen Bildern eigen-ständig die viel versprechenstenKandidaten aus – Sekunde für Se-kunde etwa zehn Ereignisse. In ei-nem normalen Betriebsjahr vonHERA entstehen so allein bei denExperimenten H1 und ZEUS über100 Millionen Bilder von Teilchen-kollisionen. Diese werden anschlie-ßend von den großen internationalenForscherteams, die die Detektorenbetreiben, auf verschiedene physikali-sche Fragestellungen hin analysiertund ausgewertet.

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H1 und ZEUS – Elektronen sondieren das Proton

Dünn wie ein Viertel des Durch-

messers eines menschlichen Haars:

die Anschlussdrähte eines Silizi-

um-Streifendetektors für die

HERA-Experimente.

B

Als Detektoren bezeichnet man all-gemein Nachweisgeräte für Teilchenoder Strahlung. In der Teilchenphysikversteht man darunter auch ein gan-zes Experiment, eine oft voluminöseApparatur aus vielen Einzeldetektoren,mit der die Endprodukte von teilchen-physikalischen Reaktionen nachge-wiesen, identifiziert und vermessenwerden.

Die HERA-Experimente mit kolli-dierenden Teilchenstrahlen, H1 undZEUS, setzen Universaldetektoren ein,die möglichst viele der stattfindendenReaktionen erfassen und möglichstalle Reaktionsprodukte nachweisenkönnen. Dementsprechend ist derWechselwirkungsort, an dem die Teil-chenstrahlen zusammenstoßen, fastlückenlos von Schichten hochempfind-licher Nachweisgeräte umgeben.

In der innersten Lage werden derWechselwirkungsort der Strahlteilchenund der Zerfallsort kurzlebiger Teil-chen in Nachweisgeräten aus Halb-leiterplättchen mit hoher Genauigkeitbestimmt. So genannte Driftkammernvermessen die Spuren, die elektrischgeladene Teilchen hinterlassen. EinMagnetfeld krümmt ihre Bahnen, sodass sich ihr Impuls bestimmen lässt.

Die nächste Lage bilden so genann-te Kalorimeter, mit denen die Energievon einzelnen Teilchen oder ganzen

Teilchenbündeln („Jets“) gemessenwird. Typischerweise vermisst derinnere, elektromagnetische Teil desKalorimeters „Teilchenschauer“, dievon Elektronen oder Lichtteilchen(Photonen) in Materialien mit hoherAtomzahl wie etwa Blei erzeugt undin verschiedenen Zählern registriertwerden. Die äußere Kalorimeterschichtweist die verbleibenden Hadronennach, d.h. Teilchen, die über die starkeKraft mit dem Material des Kalori-meters reagieren. Diese erzeugen inPlatten aus sehr dichtem Materialdurch Kernreaktionen Lawinen auselektrisch geladenen Sekundärteilchen,die ebenfalls in Zählern zwischen denPlatten nachgewiesen werden.

Myonen, die schweren Partner derElektronen, sind häufig einHinweis auf interessanteReaktionen. Sie durch-dringen dicke Materie-schichten, ohne absorbiertzu werden, was sievon anderen Teil-chen unterscheidet.Da man zur Rück-führung des Magnetfeldsin die Spule ohnehin einEisenjoch braucht, nutzt mandieses oft gleichzeitig als Ab-sorber und weist mit groß-flächigen Nachweisgeräten zwischen

den Eisenplatten die Spuren der hin-durchfliegenden Myonen nach.

Einige Teilchen hinterlassen imDetektor keine Spuren, so z.B. dieNeutrinos. Umschließt der Detektorden Wechselwirkungspunkt jedochlückenlos, so ist es möglich, aus derEnergie- und Impulsbilanz indirektauf die Existenz solcher Teilchen zuschließen.

Bei den Experimenten, die nur einenTeilchenstrahl auf ein ruhendes Zieloder Target richten (HERMES undHERA-B), laufen die meisten Reakti-onsprodukte kegelförmig in Flugrich-tung des eintreffenden Strahls weiter.Deshalb umschließen die Detektoren– die „Spektrometer“ – in diesem Fall

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Stichwort: Detektor

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nicht den Wechselwirkungspunkt; siebestehen vielmehr aus hintereinanderangeordneten Kammern zum Nach-weis des gesamten „Spektrums“ anTeilchen hinter dem Wechselwirkungs-

punkt. Die Detektorkomponentenfunktionieren nach den gleichen Prin-zipien wie die der Experimente mitkollidierenden Teilchenstrahlen.

Um interessante Reaktionen von be-reits bekannten Prozessen zu trennenund von unerwünschten Störprozessenzu unterscheiden, müssen die Signaleder Detektoren innerhalb von Sekun-denbruchteilen auf ihre Eigenschaftenhin untersucht werden. Die Zähler-

signale gelangen deshalb zunächst ineine elektronische Verzögerungslei-tung, die „Pipeline“, während eineschnelle Elektronik herausfindet, obsich darin Hinweise auf interessante

Reaktionen finden lassen.Diese Analyse wird inner-halb weniger tausendstelSekunden in mehrerenStufen mit immer schärfe-ren Auswahlkriteriendurchgeführt, bis gegebe-nenfalls die Entscheidungzur endgültigen Speiche-rung einer bestimmtenReaktion fällt. So sortiertdie Elektronik aus 10 Milli-onen „Anwärtern“ pro Se-kunde die etwa zehn vielversprechendsten Ereig-nisse heraus.

Die akzeptierten Reakti-onen werden im zentralen

Rechenzentrum von DESY in kom-primierter Form gespeichert. Die an-schließende Analyse führt man zumgroßen Teil extern bei den an denExperimenten beteiligten Institutendurch. In mehreren Durchgängenwerden die Ereignisse je nach Frage-stellung selektiert, bis schließlich dieReaktionen des physikalischen Pro-zesses, der untersucht werden soll,herausgefiltert sind.

Die Experimente der Teilchenphysiksind so komplex und aufwendig, dasssie sich nur in internationaler Zu-sammenarbeit realisieren lassen. DieDetektoren werden deshalb vongroßen, international zusammenge-setzten Teams geplant, gebaut undbetrieben. Bei H1 umfasst die Gruppeetwa 330 Physiker, Techniker undIngenieure von 37 Instituten aus12 Ländern, bei ZEUS sind es an die360 Mitglieder von 51 Instituten aus12 Nationen. Die Experimente unter-scheiden sich in ihrem Aufbau und inihrer Vorgehensweise, sie bearbeitenallerdings ähnliche Forschungsfragen.Dies hat seinen Sinn und liegt anHERAs Einzigartigkeit: Nirgendssonst auf der Welt werden Elektronenund Protonen bei so hohen Energienaufeinander gelenkt. Mit zwei Expe-rimenten lässt sich die Ausbeute anseltenen Prozessen in diesem wissen-schaftlichen Neuland verdoppeln.Darüber hinaus ist man gut beraten,Messungen von zwei unabhängigenForscherteams durchführen und be-stätigen zu lassen und so die Ergeb-nisse zu erhärten. In diesem Sinneergänzen sich H1 und ZEUS undkontrollieren sich gleichzeitig.

H1 und ZEUS: Zwei Detektoren

sehen mehr!

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1 und ZEUS untersuchen mit unterschiedlichen Nachweis-Htechniken ähnliche Forschungs-

fragen. „Wir bestimmen die gleichenphysikalischen Größen, leiten sie aberaus unterschiedlichen Messgrößenab“, erklärt Eckhard Elsen, Sprecherder H1-Gruppe. Der Unterschiedliegt vor allem in den „Kalorimetern“,jenen Detektorkomponenten, die dieerzeugten Teilchen abbremsen undihre Energie messen. Das Kalorimetervon H1 besteht aus Blei- und Stahl-platten, deren Zwischenräume mitflüssigem Argon gefüllt sind. Damitlassen sich Teilchen, die über die elek-tromagnetische Kraft wechselwirken– also insbesondere das gestreuteElektron –, besonders gut messen.

„Hinzu kommt, dass unser Kalori-meter sehr fein in etwa 45 000 Seg-mente aufgeteilt ist“, erläutert Elsen.„Damit können wir die Struktur derTeilchenschauer genau auflösen undsogar auf die Flugrichtung der Teil-chen schließen. Es stehen uns alsomehrere Methoden zur Verfügung,um auf den Verlauf des Reaktions-prozesses zu schließen.“ Bei H1 um-fasst die große supraleitende Spule,deren Magnetfeld die Flugbahnen derTeilchen krümmt, auch das Kalori-meter. „Die Teilchen müssen also keinweiteres, ‚inaktives‘ Material durch-queren, bevor sie auf das Kalorimetertreffen“, erklärt Elsen. Dadurch wirdverhindert, dass die Teilchen imMaterial der Spule Energie verlieren

– was Korrekturen der Energiemes-sung nach sich ziehen würde.

H1 – Universaldetektor inder HERA-Halle Nord seit 1992 in Betrieb12 m x 10 m x 15 m; 2800 Tonnen;von innen nach außen: Silizium-Mikrovertex-Detektor,Drahtkammersystem, Flüssig-Argon-Kalorimeter, supraleitende Spule, Myonkammern im instrumentiertenRückflusseisen, Myon-Spektrometer, Luminositätsmonitor, Proton-Detektor in Vorwärtsrichtung

Im Bau: der H1-Detektor in der HERA-Halle Nord ...

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ährend der Schwerpunkt bei H1 auf der VermessungWder Elektronen liegt, kon-

zentrieren wir uns bei ZEUS auf dieTeilchen, die über die starke Kraftwechselwirken, die Hadronen“, er-klärt Wolfram Zeuner vom ZEUS-Experiment. Diese bilden sich ausden beim Zusammenstoß aus demProton herausgeschlagenen Quarks;sie verlassen den Kollisionspunkt alsenge Teilchenbündel, so genannteJets. Das Kalorimeter von ZEUS be-steht aus abwechselnden Lagen vonabgereichertem Uran und Szintilla-torplatten, in denen die hindurchflie-genden Teilchen Lichtblitze auslösen.Das Besondere daran: In dem Kalori-meter erzeugen Elektronen die glei-

chen Signale wie Hadronen. „Im Ge-gensatz zu H1 müssen wir also nichterst bestimmen, was das für ein Teil-chen war, das wir gestoppt haben,bevor wir seine Energie ausrechnenkönnen“, meint Zeuner. „Wir könnendie Energie des jeweiligen Teilchensquasi direkt ablesen.“ Darüber hin-aus ist die Energieauflösung fürHadronenjets bei ZEUS besondersgut, weshalb die ZEUS-Physiker dieMessgrößen dieser Jets in der Analysestärker bewerten. „Um sicherzugehen,dass wir keine Fehler machen, über-prüfen wir die Ergebnisse auch immermit der Methode des anderen Experi-ments. Die genauesten Werte erhal-ten wir allerdings mit unserer eigenenVorgehensweise“, so Zeuner.

ZEUS – Universaldetektor inder HERA-Halle Süd seit 1992 in Betrieb12 m x 11m x 15 m; 3600 Tonnen;von innen nach außen: Silizium-Mikrovertex-Detektor,Drahtkammersystem, supraleitende Spule,Uran-Szintillator-Kalorimeter,Strahlrohrkalorimeter,Myonkammern,instrumentiertes Rückflusseisen,Myon-Spektrometer,Luminositätsmonitor,Proton-Detektor in Vorwärtsrichtung

... und der ZEUS-Detektor in der HERA-Halle Süd.

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n der HERA-Halle Ost steht das Experiment HERMES, das die Physiker auf die Spur des „Spins“

der Nukleonen führen soll. Wie die-

ser Spin der Nukleonen – also vonProton und Neutron – genau zustandekommt, ist bisher ungeklärt: Zunächstschien es, als ließen sich fast alle Eigen-schaften der Nukleonen (wie Ladung,Spin und magnetisches Moment) mitden drei Hauptbestandteilen der Nu-kleonen – den so genannten Valenz-quarks – erklären. Seit Ende der1980er Jahre hat sich jedoch heraus-gestellt, dass die Valenzquarks zu-sammengenommen nur etwa einDrittel des Gesamtspins liefern. Dochwo kommen die restlichen zwei Drittelher? „Heutzutage geht man davon aus,dass nicht nur die drei Valenzquarkszum Spin des Nukleons beitragen,sondern auch die anderen Teilchen,aus denen sich das Nukleon zusam-mensetzt: kurzlebige Quarks und

Antiquarks, die aus dem Nichts auf-tauchen und wieder verschwinden, so-wie die zwischen den Quarks ausge-tauschten Gluonen“, erläutertManuella Vincter, ehemalige Koor-dinatorin der Physikanalyse beiHERMES. „Außerdem erzeugen dieBewegungen all dieser Teilchen imInneren des Nukleons zusätzlicheinen Bahndrehimpuls, der ebenfallsmit berücksichtigt werden muss.“ DieZusammensetzung der fehlenden zweiDrittel vom Spin ist jedoch weiter-hin offen; die Bestimmung der Einzel-beiträge stößt derzeit noch an experi-mentelle und theoretische Grenzen.

Bei HERMES wird der hochener-getische Elektronenstrahl von HERAauf eine mit Gas gefüllte Zelle gelenkt,in der die Elektronen mit den Nukle-onen in den Atomkernen des Gaseszusammenstoßen. Das Besondere da-ran: Sowohl die Elektronen vonHERA als auch die Gasatome sindausgerichtet, d.h., ihr Spin zeigt ineine bevorzugte Richtung. Im Fach-jargon spricht man von „polarisierten“Teilchen. „Die Art und Häufigkeitder Teilchenzusammenstöße hängtvon dieser Polarisation ab“, so Vincter.„Vergleicht man die Teilchenreaktio-nen, die bei verschiedenen Polarisa-tionsrichtungen der Gasatome auftre-ten, so lassen sich die unterschied-lichen Beiträge zum Spin der Nukle-onen bestimmen.“

Im Gegensatz zu älteren Experimen-ten, die den Spinanteil der Quarkslediglich als Ganzes ermitteln konnten,verwendet HERMES neue Techno-logien, die es ermöglichen, die ver-

schiedenen Beiträge zum Nukleonen-spin einzeln aufzuschlüsseln. Hierzuzählt zum einen das gasförmige Tar-get, auf das der polarisierte Elektro-nenstrahl von HERA trifft. Im Gegen-satz zu den sonst üblichen festenTargets enthält das Gastarget vonHERMES keine störenden Fremd-atome, so dass sehr hohe Polarisati-onsgrade erreicht werden können.Hinzu kommt, dass der HERMES-Detektor im Gegensatz zu anderenExperimenten nicht nur das im Zu-sammenstoß gestreute Elektron, son-dern auch die dabei erzeugten Teil-chen nachweisen und identifizierenkann. So lässt sich die Spinverteilungdes Nukleons in die Einzelbeiträgeder verschiedenen Sorten von Quarkszerlegen. Auch der Spin der Gluonenbleibt HERMES nicht verborgen:Weltweit konnte HERMES zumersten Mal einen direkten Hinweisauf den Beitrag der „Klebeteilchen“zwischen den Quarks zum Spin desNukleons liefern.

HERMES und der Spin der Nukleonen

HERMES – Spektrometer in der HERA-Halle Ost seit 1995 in BetriebNutzung des longitudinal polarisiertenElektronenstrahls von HERA3,50 m x 8 m x 5 m; 400 Tonnen;polarisiertes Gastarget,Spektrometer-Magnet,Cherenkov-Zähler (seit 1998 als RingImaging Cherenkov (RICH)-Detektor),planare Driftkammern,Übergangsstrahlungsdetektor,Bleiglas-Kalorimeter

Spin: der innere Drehimpuls der Teilchen.Anschaulich kann man sich den Spinder Teilchen am ehesten wie die Dreh-bewegung eines Kreisels vorstellen –das Bild hat jedoch seine Grenzen, daTeilchen wie Elektronen, Quarks undGluonen nach heutigem Verständnispunktförmig sind und sich deshalbnicht wirklich um ihre Achse drehenkönnen. Das mit dem Spin verbundenemagnetische Moment bewirkt, dasssich die Teilchen in einem Magnetfeldwie kleine Magnete verhalten und sichentsprechend ausrichten.

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as jüngste Mitglied in der Rie-ge der HERA-Experimente istHERA-B im Westen der

Speicherringanlage. Der 20 m langeDetektor umgibt das Protonenstrahl-rohr von HERA wie ein riesigerTrichter, der den gesamten in derHalle West zur Verfügung stehendenExperimentierbereich ausfüllt.HERA-B benutzt nur den Protonen-strahl von HERA, der auf ein Targetaus feinen Drähten prallt. Dabei ent-

steht eine Kaskade von Teilchen, dieim Detektor registriert werden – da-runter in ganz seltenen Fällen auchPaare von Teilchen aus schwerenQuarks, die so genannten B-Meso-nen, die dem Experiment seinenNamen gaben. „HERA-B wurdespeziell zur Untersuchung von be-stimmten Zerfällen dieser B-Mesonengebaut“, erklärt Bernhard Schmidt,DESY-Gruppenleiter bei HERA-B.Diese Prozesse treten allerdings nochviel seltener auf als die Teilchenselbst: „Unter 100 Milliarden Ereig-nissen findet sich nur eine der ge-suchten Reaktionen. Der Detektormuss also eine gewaltige Flut vonTeilchenspuren verarbeiten, ehe abund zu ein solcher Prozess auftritt“,so Schmidt. Die Datenflut, dieHERA-B dabei pro Sekunde zu be-wältigen hat, entspricht dem ge-samten Informationsfluss im Netz

der Deutschen Telekom! „Dieserhohe Teilchenfluss stellt äußerste tech-nische Anforderungen an die Strah-lungsbeständigkeit der Detektorkom-ponenten und an das elektronischeDatennahmesystem“, betont Schmidt.

Für solch extreme Messbedingungengab es Mitte der 1990er Jahre, als dasExperiment genehmigt wurde, keineerprobten Nachweismethoden – fürdas HERA-B-Team galt es also, völligneue Technologien zu entwickeln, umaus der riesigen Datenmenge die ge-suchten Prozesse herauszufiltern. Dazumusste die internationale Forscher-gruppe sowohl Teilchendetektorenmit einer bisher unerreichten Strahlen-resistenz als auch elektronische Ver-fahren der schnellen Datenverarbei-tung konzipieren und realisieren. Inbeiden Bereichen hat die HERA-B-Gruppe Pionierarbeit für zukünftigeExperimente geleistet, bei denen ähn-lich harte Bedingungen herrschenwerden: so z.B. die am Large HadronCollider LHC, dem im Bau befindli-chen Beschleuniger beim Forschungs-zentrum CERN in Genf.

Ursprünglich sollte HERA-B derFrage nachgehen, warum das Univer-sum im Wesentlichen nur aus Materiebesteht, obwohl im Urknall Materieund Antimaterie zu gleichen Teilenerzeugt wurden. Dieses Rätsel lässtsich an besagten B-Mesonen studie-ren. Von Anfang an war jedoch klar,dass das Experiment ausgesprochenschwierig ist, insbesondere, was diezu entwickelnden Detektoren anging.Bei der Entwicklung traten unerwar-tete Schwierigkeiten auf, die zu Ver-

zögerungen führten. Gleichzeitigwurden in Japan und in den USAspezielle Elektron-Positron-Speicher-ringe mit jeweils einem Experimentgebaut, die 2001 bereits erste Ergeb-nisse zum Rätsel um Materie undAntimaterie vorstellen konnten. Da-mit stellte sich für die internationaleHERA-B-Gruppe Ende 2000 die Fra-ge, in welcher Form das Experimentfortgeführt werden sollte. Seit 2001verfolgt das HERA-B-Team nun eingeändertes Physikprogramm, dasdie vorhandenen Kapazitäten desDetektors möglichst gut ausnutzt.Auf dem Programm stehen Fragenrund um die „starke Kraft“ – eine dervier Naturkräfte –, so z.B., wie Teil-chen aus charm-Quarks im Innerenvon Atomkernen produziert werdenund wie sie mit dieser Kernmateriewechselwirken.

HERA-B – Messen unter Extrembedingungen

Target (engl.: Zielscheibe):ein Objekt, an dem durch Beschussmit Teilchen Reaktionen ausgelöst wer-den, die danach beobachtet werden.

HERA-B – Spektrometer in der HERA-Halle Westseit 1999 in BetriebNutzung des Protonenstrahls von HERA8 m x 20 m x 9 m; 1000 Tonnen;internes Drahttarget, Silizium-Vertexdetektor, Spurenkammern,Ring Imaging Cherenkov (RICH)-Detektor,Kalorimeter, Myonkammern

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Ein besonderes technisches Bonbondes HERA-Speicherrings ist die „Pola-risation“ des Elektronen- bzw. Posi-tronenstrahls, auf der das HERMES-Experiment beruht. Anschaulich kannman sich die Teilchen des Mikrokos-mos wie winzige Kreisel vorstellen –wenn auch der Vergleich hinkt, denndie punktförmigen Elementarteil-chen können sich nicht wirklich umihre Achse drehen. Im Fachjargonspricht man vom „Spin“ der Teilchen.Auch so komplexe, aus kleinerenBausteinen zusammengesetzte Ge-bilde wie die Nukleonen – dieProtonen und Neutronen – besitzeneinen Spin. Wie dieser genau zu-stande kommt, ist bisher nichtgeklärt.

öchte man dieses Spinrätsel ergründen, so genügt es Mnicht, einfach Teilchen auf

Teilchen prallen zu lassen: Bei HERMES müssen die Kollisionspart-ner – die Elektronen aus dem HERA-

Speicherring und die Atome des Gas-targets – polarisiert sein, d.h., ihreSpins müssen in eine bevorzugte Rich-tung zeigen. „Bevor das HERMES-Experiment überhaupt genehmigtwerden konnte, galt es also nachzu-weisen, dass der Elektronenstrahl vonHERA tatsächlich polarisiert werdenkann – und zwar longitudinal, alsoparallel zur Flugrichtung der Elektro-nen“, erklärt Marc Beckmann, Nach-wuchswissenschaftler bei HERMES.

Mitte der 1960er Jahre erkannten diebeiden russischen Physiker ArseniiA. Sokolov und Igor M. Ternov,dass sich die Elektronen in einemSpeicherring im Prinzip automatischin eine bevorzugte Richtung ausrichten,nämlich antiparallel zu den Magnet-feldern, die sie auf ihrer Kreisbahnhalten, und damit senkrecht zur Flug-richtung der Teilchen. Dieser Effektkonnte auch bei HERA kurz nach derInbetriebnahme beobachtet werden.„Für das HERMES-Experiment be-nötigte man allerdings Elektronen,

deren Spins parallel zur Flugrichtungausgerichtet sind“, so Beckmann. „Esgalt also, die Spins der Elektronenvor der HERA-Halle Ost, in der dasExperiment aufgebaut werden sollte,aus der vertikalen Richtung in Flug-richtung der Elektronen umzuklappen– und sie kurz hinter dem Detektorwieder zurück in ihre Ausgangsposi-tion zu bringen.“ Dazu entwickelteder DESY-Physiker Klaus Steffenzusammen mit Jean Buon aus demfranzösischen Orsay einen 60 Meterlangen „Spinrotator“: ein System ausacht hintereinander geschalteten Ab-lenkmagneten, die den Elektronen-strahl auf eine Art „Korkenzieher-bahn“ lenken. Dabei vollführt derSpin der Teilchen eine komplizierteTorkelbewegung, um schließlich amAusgang des Spinrotators in die ge-wünschte Richtung zu zeigen. Hinterdem Experiment steht eine spiegel-bildliche Anordnung, welche dieSpins wieder zurück in die Senk-rechte klappt.

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Polarisier te E lektronen

Die transversale Polarisation desElektronenstrahls stellt sich über denSokolov-Ternov-Mechanismus inHERA zwar im Prinzip von selbst ein,der Effekt ist allerdings winzig klein:Erst nach über einer halben Stunde– das entspricht ca. 85 Millionen Um-läufen der Teilchen, in denen sie über500 Millionen Kilometer zurücklegen– ist der Elektronenstrahl etwa zu 50 %polarisiert, zeigen also dreimal mehrSpins nach oben als nach unten. Zu-dem reagieren die Teilchenspinsäußerst empfindlich auf jede Störungim Speicherring. Die störendenEffekte nehmen mit zunehmenderEnergie des Teilchenstrahls zu; siesind äußerst schwer zu bestimmen,weshalb es sehr schwierig ist, dasVerhalten der Spins zu berechnen.

Dass sich ein longitudinal polarisier-ter Elektronenstrahl bei den hohenEnergien des HERA-Speicherrings tat-sächlich realisieren lässt, bewies dieHERA-Crew im Mai 1994: Währendder Unterbrechung des HERA-Betriebsim Winter 1993/94 waren die ausge-klügelten Magnetsysteme der Spinrota-toren vor und hinter der HERA-HalleOst eingebaut worden. Am 3. Mai 1994optimierte die HERA-Crew die trans-versale Polarisation ohne Spinrotatorenauf 65 %. Am nächsten Morgen fuhrman die Rotatoren in Position, und amfrühen Nachmittag knallten im Kontroll-raum die Korken: Auf Anhieb hatteman eine longitudinale Polarisation von55 % erreicht – einen sehr hohen Wertund überhaupt das erste Mal, dass einin einem Speicherring umlaufender,

hochenergetischer Elektronenstrahllongitudinal polarisiert werden konnte.Bei jedem Umlauf der Teilchen klapp-ten die Rotatoren die Spins aus derSenkrechten in die Horizontale und wie-der zurück – 47 000-mal in der Sekunde.Damit war der Weg frei für das Expe-riment HERMES, das seitdem vonHERA zuverlässig mit polarisiertenElektronen versorgt wird. Die Polarisa-tion des Teilchenstrahls erreicht dabeiroutinemäßig 60 %, Spitzenwerte liegenbei 70 %. Während des großen Umbausvon HERA von September 2000 bisJuni 2001 wurden im Norden undSüden der Anlage weitere Spinrota-toren eingebaut, so dass in Zukunftauch die Kollisionsexperimente H1und ZEUS den Spin der Elektronenfür ihre Fragestellungen nutzen können.

Im Betrieb von HERA wird der grüne Laserstrahl innerhalb des Strahlrohrs gegen den Elektronenstrahl

geführt, um zu ermitteln, wie gut die Elektronen polarisiert sind. Hier befindet sich der Laserstrahl für

Justierungsarbeiten außerhalb des Strahlrohrs.

Wie hoch die Polarisation des HERA-Elektronenstrahls tatsächlichist, ist für HERMES von größter Bedeutung: Nicht nur, dassdie Güte bestimmter Messungen vom Quadrat der Polarisa-

tion abhängt, bei halb so großer Polarisation also viermal so lang ge-messen werden muss. Die präzise Bestimmung des Polarisationsgradsist für die Auswertung der HERMES-Daten unentbehrlich. Um ganzsicher zu sein, bauten die Physiker am HERA-Ring deshalb gleich zweiSysteme ein, anhand deren sie die Polarisation des Elektronenstrahls un-tersuchen können: ein transversales und ein longitudinales „Polarimeter“.

Das ältere der beiden Systeme steht im Westen der HERA-Anlage.Es misst die transversale Polarisation, die sich im Speicherring auto-matisch aufbaut. Das longitudinale Polarimeter wurde 1996 einge-baut, es untersucht die Polarisation zwischen den Spinrotatoren direktam HERMES-Experiment. In beiden Fällen wird ein Laserstrahl überferngesteuerte Spiegel durch ein bis zu 200 Meter langes Rohrsystemnahezu frontal auf die heranfliegenden Elektronen gelenkt. Einige derLichtteilchen (oder Photonen) werden dabei mit voller Wucht zurück-geschleudert und schließlich in einem Nachweisgerät aufgefangen.

Je nach Polarisationszustand der Lichtteilchen im Laserstrahl und derElektronen im Beschleunigerring unterscheiden sich diese Mess-Sig-nale: Beim transversalen Polarimeter verschiebt sich das Signal nachoben oder unten, beim longitudinalen verändern sich Energie und An-zahl der zurückgestreuten Photonen. Aus dieser Differenz lässt sichdirekt ablesen, zu welchem Grad die Elektronen polarisiert sind.

Ein Vorteil dieser Methode liegt in der Geschwindigkeit der Messungen.Jede Minute schicken die Polarimeter einen Messwert an den Be-schleunigerkontrollraum, der Aufbau der Polarisation lässt sich also quasi„online“ verfolgen und optimieren. Während das transversale Polari-meter bislang für alle im Ring umlaufenden Teilchenpakete oderBunche nur einen durchschnittlichen Wert angeben konnte, kann daslongitudinale Polarimeter sogar die Polarisation jedes einzelnen Paketsermitteln. Und das sorgte gleich für eine Überraschung: Denn diePolarisation der Elektronenbunche ist unterschiedlich, je nachdem, obsie mit entsprechenden Protonenpaketen zusammenstoßen oder obes sich um nicht kollidierende „Kontrollbunche“ handelt – ein Effekt,der bei HERA zum ersten Mal beobachtet wurde.

Wie wird Polarisation gemessen?

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Auf das Jahr 2000 kann DESYsBeschleunigercrew stolz sein. Diesteil ansteigenden Kurven der jähr-lich erzielten „Trefferrate“ zeigen esganz klar: Seit der Inbetriebnahmevon HERA im Jahr 1992 ist dieLeistung der Beschleunigeranlageunaufhaltsam gestiegen – eine Ent-wicklung, die in der 2000er Mess-

periode ihren krönenden Abschlussfand. Insgesamt verbrachte dieHERA-Crew seit dem Beginn derMessperiode am 17. Januar 2000 nur18 Tage mit Wartungsarbeiten undMaschinenstudien. Nahezu alle Para-meter des Beschleunigers erreichtendie ursprünglich vorgesehenen De-signwerte, andere übertrafen sie so-

gar. Insbesondere lag die integrierteLuminosität – ein Maß für die Treffer-rate der Elektronen und Protonen imSpeicherring, d.h. ein Maß für dieAnzahl der Zusammenstöße, welchedie Experimente beobachten können– in der Messperiode 2000 weit überden Werten der Jahre davor.

UMBAU FÜR MEHRLEISTUNG

Luminosität:Die Luminosität ist ein Maß für die

Leistungsfähigkeit eines Beschleuni-

gers: Sie gibt die Zahl der

Ereignisse einer bestimmten

Reaktion an, die beim Zusammen-

stoß der Teilchen in jeder Sekunde

stattfinden. Bei gegebener

Reaktionswahrscheinlichkeit (dem

„Wirkungsquerschnitt“ des unter-

suchten Prozesses) finden damit um-

so mehr Reaktionen statt, je größer

die Luminosität des Beschleunigers

ist. Da die Wirkungsquerschnitte der

heute untersuchten Prozesse extrem

klein sind, muss die Luminosität ent-

sprechend hoch sein, um die Mess-

zeiten in Grenzen zu halten. In der

Praxis addiert man die Luminosität

oft über einen bestimmten Zeitraum,

z.B. eine Betriebsperiode des Be-

schleunigers; man spricht dann von

der integrierten Luminosität, die einer

gewissen Menge an erzeugten Er-

eignissen entspricht.

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Lagebesprechung im Tunnel: Genaue Planung

und Durchführung sind für den reibungslosen

Ablauf eines solchen Großprojekts unerlässlich.

on September 2000 bis Juli 2001 wurde HERA umgebaut:VDer „Lumi-Upgrade“ stand an.

Ziel dieses umfassenden Umbaupro-gramms war es, die Luminosität desSpeicherrings um das Vierfache zuerhöhen, um den Experimenten Zu-gang zu extrem seltenen Prozessenzu verschaffen und damit HERAsBlick für Teilchen und Kräfte jenseitsder gängigen Theorie weiter zu schär-fen. Damit können die HERA-Expe-rimente auch die Struktur des Protonsund die Grundkräfte der Natur bei

noch kleineren Abständen untersu-chen, als es bisher möglich war.

Um die Luminosität derart zu er-höhen, mussten die Querschnitte derElektronen- und Protonenstrahlen vordem Zusammenstoß auf ein Drittelihrer vorherigen Fläche verkleinertwerden, d.h. von sowieso nur einemhunderstel Quadratmillimeter aufwinzige drei tausendstel Quadrat-millimeter. Dieser Kraftakt erforderteeine aufwendige Neugestaltung derWechselwirkungszonen, in denen dieTeilchenstrahlen aufeinander gelenkt

werden – also genau jener Stellen, dieohnehin zu den technisch anspruchs-vollsten der Anlage gehören. Insbe-sondere mussten die „Magnetlinsen“zur Fokussierung des Elektronen-strahls, die ursprünglich 5,80 Metervon den Kollisionspunkten im Zen-trum der Detektoren entfernt waren,bis auf 1,90 Meter an die Kollisions-punkte heran verlegt werden. DieMagnete befinden sich nun innerhalbder Detektoren, die dazu erheblichumgebaut werden mussten. Außer-dem wurde der Elektronenring von

Die tonnenschweren neuen Magnete werden

mit Hilfe der „HERA-Tram“ im Tunnel transportiert

und aufgestellt.

Ein Quadrupolmagnet wird an seine Position

gebracht. Er bündelt den im Beschleuniger um-

laufenden Protonenstrahl.

Aufbau der Stützen für die Spinrotatoren: Wie

auf einer Hebebühne kann der Beschleuniger

in diesem Bereich auf und ab gefahren werden.

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Umbau abgeschlossen: 25 m vor dem Kollisions-

punkt verlaufen die Vakuumkammern für die Teil-

chenstrahlen bereits in gemeinsamen Magneten.

HERA mit zwei weiteren Systemenvon Spinrotatoren ausgerüstet, so dassneben HERMES nun auch H1 undZEUS den Spin der Elektronen fürihre Fragestellungen nutzen können.

Die Luminositätserhöhung vonHERA stellte somit nicht nur für denHERA-Beschleuniger selbst, sondernauch für die Experimente H1 undZEUS eine enorme technische Heraus-forderung dar: Die ersten Magnete,welche die Teilchenstrahlen vor derKollision zusammenführen und hin-terher wieder auseinander lenken,

wurden direkt in die Detektoren H1und ZEUS hineingebaut. In den ho-hen Feldern dieser Magnete sendendie leichten Elektronen Synchrotron-strahlung aus, die die Datennahmedurch die Detektoren stark behindernoder gar unmöglich machen kann.Um dieses Problem zu lösen, wurdeeine Reihe unkonventioneller Kompo-nenten entworfen, die während des„Lumi-Upgrades“ in die Anlage ein-gebaut wurden – z.B. extrem kleinesupraleitende Magnete, die in dieDetektoren H1 und ZEUS integriert

wurden, sowie schlüssellochförmigeVakuumkammern. Neun Monatelang dauerten die Umbauten imTunnel. Mitte 2001 ging HERA wieder an den Start – zur Routinewird der Betrieb mit hoher Lumino-sität und polarisierten Elektronendann nach Abschluss der komplexenInbetriebnahme- und Optimierungs-phase im Laufe des Jahres 2003.

Das Aufstellen der schweren Magneten ist

Präzisionsarbeit. Auf wenige zehntel Millimeter

genau muss hier alles zueinander passen.

Die Magnete, die dem Kollisionspunkt der

Teilchen am nächsten sind, müssen direkt in die

Detektoren eingebaut werden.

Neu eingebaute Spinrotatoren erlauben es auch

den Experimenten H1 und ZEUS, den Spin der

Elektronen für ihre Untersuchungen zu nutzen.

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Oft wird die – berechtigte – Fragegestellt, ob wir uns so große und teu-re Anlagen wie die Beschleunigerder Teilchenforschung wirklich leistensollen. Nun ist es keineswegs so,dass Großgeräte für die Forschungeine Erscheinung unserer Tagewären. So stellte etwa die dänischeKrone dem Astronomen Tycho Braheim 16. Jahrhundert eine ganze Inselsowie nahezu unbegrenzte Ressourcenan Menschen und Kapital für ein gro-ßes astronomisches Observatoriumzur Verfügung. Die Ergebnisse vonBrahes präzisen Messungen derSternpositionen öffneten in der Handdes genialen Johannes Kepler nichtnur die Tür zur modernen Astronomieund Kosmologie – reinen Erkenntnis-wissenschaften –, sondern auch zurMechanik Galileo Galileis und IsaacNewtons und damit zu einer eminentpraktischen Wissenschaft, ohne die eskeine Autos, keine Maschinen – jaüberhaupt unsere Technik nicht gäbe.

eute werden Großgeräte in vielen Bereichen der Wissen-Hschaft benötigt. Am Beispiel

der Forschungsschiffe wird die Moti-vation der großen Forschungsunter-nehmen besonders deutlich: Aufbruchzu neuen Ufern des Erforschbaren, dieFaszination des Unvorhersehbaren,schließlich die Zuversicht, dass Kos-ten, Mühen und Risiken sich am Endefür die Gesellschaft auszahlen.

Man mag es beklagen, dass dieForschungsgeräte zunehmend größerund teurer, die Experimente lang-

wieriger und die Forschungsarbeitenmehr und mehr wie industrielleProjekte geführt werden. Der Grundhierfür ist nicht etwa die Megalo-manie der Forscher, sondern das Fort-schreiten der Wissenschaft, ihr Vor-dringen in tiefere Strukturen derMaterie oder bisher unzugänglicheRegionen des Kosmos, allgemeinihre Beschäftigung mit zunehmendkomplexeren Fragestellungen. Dazusind große Instrumente und Anlagenund der Einsatz anspruchsvollsterTechnologie vielfach zwingend – dieNaturgesetze lassen uns keine andereWahl. Dies ist besonders sinnfälligetwa in der Astronomie, die für ihrenBlick in die entlegensten Regionendes Kosmos zunehmend größereTeleskope erfordert und damit immerneue überraschende Erkenntnisseüber unsere Welt liefert, je weiter sie

in die Tiefe des Universums vordringt.So haben Instrumente wie das Rönt-genstrahlungsteleskop ROSAT oderdas Hubble-Weltraumteleskop einenwahren Erkenntnisschub ausgelöst.In der Elementarteilchenforschungist es ähnlich: Je tiefer wir in dieinnersten Schichten der Materie ein-dringen, desto mehr erkennen wirdie Zusammenhänge im Funktionierender Natur. Desto größer sind aberauch die Ressourcen – an Ideen, anInstrumenten und an Arbeitseinsatz –,die wir dafür benötigen. Insbesonderebrauchen wir immer leistungsfähigere„Mikroskope“ – nämlich die Teilchen-beschleuniger.

Was aber „bringt“ solche Forschung?Nun, die Anstrengungen und Mittel,welche die Menschheit in die Er-forschung der Natur investiert hat,haben sich letzten Endes stets bezahlt

gemacht. Tycho Brahes astronomi-sches Großprojekt ist dafür ein her-ausragendes Beispiel. Welchen Rang

Wozu GrundlagenforsTeilchenbeschleunige

die Erkenntnisse der Teilchenfor-schung unter den Errungenschaftender Menschheit einmal einnehmenwerden, das wissen wir noch nicht.Doch über die Teilchenbeschleunigerkönnen wir heute schon eines sagen:Erfunden, entwickelt und gebaut, umherauszufinden, „was die Welt imInnersten zusammenhält“, dienen siein abgewandelter Form bereits auchder Diagnose und Therapie vonKrankheiten und erzeugen Synchro-tronstrahlung und Neutronen für dieForschung in den verschiedenstenWissensdisziplinen, von der Physiküber die Chemie, Geologie, Material-forschung, Biologie und Medizin bishin zur Kriminologie. Ihr volles Po-tenzial dürfte wohl erst von künftigenGenerationen ausgeschöpft werden.Auch die von den Teilchenphysikernfür ihre Experimente entwickelten viel-fältigen neuen Technologien habensich auf anderen Gebieten, etwa inder Medizin, als segensreich erwiesen– ja sie haben sogar, in der Gestalt

des World Wide Web (WWW), eineRevolution in der weltweiten Vernet-zung von Information und Wissenausgelöst.

Wenn auch die Wissensinnovationund Wertschöpfung, die sich auseinem bestimmten Forschungsprojektergeben, in ihrer ganzen Breite er-fahrungsgemäß nicht vorhersehbarsind, so haben die Entwicklungenneuer großer Forschungsgeräte in derVergangenheit in aller Regel bedeu-tende Meilensteine im Erkenntnisfort-schritt gesetzt. Größere Entwicklungenin den Naturwissenschaften und dieEröffnung und Erschließung neuerForschungsgebiete hingen meist engmit der Schaffung neuer, spezifischerInstrumente zusammen.

Der HERA-Beschleuniger ist so einneuartiges Instrument. Und in derTat kann bereits nach dem Abschlussder ersten Phase der Forschungsarbei-ten festgestellt werden, dass HERAuns zu einem wesentlich tieferenEinblick in den Aufbau der Materie,hier speziell des Protons und Neu-trons, verholfen hat. Immer deutlicherwird die komplexe dynamischeStruktur aus Quarks, Antiquarks undGluonen „sichtbar“, die das Innereunserer Materie bildet. Damit steigtauch die Aussicht, Struktur und Auf-bau der Materie besser verstehen zulernen – wobei „verstehen“ nicht nurbedeutet, das Funktionieren und dasZusammenspiel der kleinsten Teilchen

zu kennen, sondern auchzu durchschauen, wes-halb die Natur geradeso ist, wie sie ist, undnicht anders. Auf die-sem Weg wird unsHERA auch in derZukunft weiter voran-bringen. Wir dürfengespannt darauf sein,welche Einsichten undÜberraschungen unsbei dieser Entdeckungs-reise in das Innersteder Materie noch be-vorstehen.

Prof. Dr. Paul SödingForschungsdirektor von DESY, 1982-1991Leiter des Forschungsbereichs DESY Zeuthen, 1992-1998

chung mitrn? VON PAUL SÖDING

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Wie der Betrieb von DESY – und ins-besondere seiner SpeicherringanlageHERA – die deutsche Wirtschaft beein-flusst, hat das Institut für Allokationund Wettbewerb der Universität Ham-burg genauer untersucht. Im Februar2000 veröffentlichten Wilhelm Pfählerund Christian Gabriel die Ergebnisseeiner Studie zum „WirtschaftsfaktorGrundlagenforschung: Das DESY inHamburg“. Ziel dieser Untersuchungwar es, Informationen über die regi-onalwirtschaftliche Bedeutung desForschungszentrums zu sammeln, auf-zubereiten und der Leitung und denGeldgebern von DESY sowie den par-lamentarischen Entscheidungsträgernund der Wirtschaft zur Verfügung zustellen. Dazu untersuchten die Autorendie Umsatz-, Einkommens-, Beschäfti-gungs- und fiskalischen Effekte – dieso genannten Nachfrageeffekte –,die sich aus dem laufenden Betriebvon DESY im Jahr 1997 ergaben, so-wie die Nachfrageeffekte, die durchden Bau von HERA in den Jahren1984 bis 1990 verursacht wurden.

ei der Analyse dieser Nachfra-geeffekte werden zunächst die B„direkten“ Effekte berücksich-

tigt, die unmittelbar durch die Aus-gaben des DESY-Budgets entstehen,wie Einkommen und Beschäftigung

der DESY-Mitarbeiter und Umsätzeder DESY-Lieferanten. Durch dieGeschäftsverbindungen – die „Vor-leistungsverflechtungen“ – der DESY-Zulieferer mit anderen Lieferantenund deren Beschäftigung von Arbeits-kräften entstehen weitere, „indirekte“Effekte. Diese direkten und indirek-ten Effekte sind DESY-spezifisch: IhreHöhe und ihre Struktur werden un-mittelbar durch die Höhe und Struk-tur der Ausgaben des Forschungs-zentrums sowie seiner direkten undindirekten Lieferanten bestimmt.Darüber hinaus werden die direktund indirekt verdienten Einkommenanschließend wieder ausgegeben:Dadurch ergeben sich wiederumUmsatz-, Einkommens- und Beschäf-tigungseffekte, die als „induzierte“Effekte in die Analyse eingehen.Schlussendlich ist auch der Staatdank gewachsener Steuerbemessungs-grundlagen an diesem Prozess be-teiligt.

Wie die Autoren der Studie fest-stellen, ist DESY mit seiner Speicher-ringanlage HERA „ein bedeutenderWirtschaftsfaktor nicht nur für dieStandortregion Hamburg, sondernauch für die benachbarten LänderSchleswig-Holstein, Niedersachsenund Bremen sowie für die übrigeBundesrepublik“:

Will man die durch den laufendenDESY-Betrieb im Jahr 1997 entstande-nen Gesamtausgaben bestimmen, somuss man die im Wirtschaftsplan desForschungszentrums vorgesehenen133,8 Mio. B an Personal- und Sach-mitteln durch weitere 9,6 Mio. B er-gänzen, die zusätzlich von den exter-nen DESY-Nutzern (Gastwissen-schaftlern, Doktoranden und Diplo-manden) ausgegeben wurden. DieseGesamtausgaben von 143,4 Mio. Bführen bundesweit über direkte, in-direkte und induzierte Effekte zu198,6 Mio. B an Einkommen – damitwerden insgesamt 4244 Arbeitsplätzegesichert, rund 70 Prozent davon(2862) außerhalb von DESY.

Was die Auswirkungen des DESY-Betriebs 1997 auf die verschiedenenRegionen betrifft, so sind von deninsgesamt 4244 Arbeitsplätzen 1340(31,6 %) in Hamburg angesiedelt,1346 (31,7 %) in Schleswig-Holstein,Niedersachsen und Bremen, die rest-lichen 1558 Arbeitsplätze (36,7 %)kommen der übrigen Bundesrepublikzugute. In Pro-Kopf-Größen gerech-net, ist der DESY-Standort Hamburgder größte regionale Nutznießer deslaufenden DESY-Betriebs. Jeder Er-werbstätige in Hamburg verdanktdem laufenden DESY-Betrieb imDurchschnitt 93 B pro Jahr. Im übrigen

DESY und HERA als Wirtschafts

EINE STUDIE DES INSTITUTS FÜR ALLOKATION UND WETTBEWERB

Nord-West-Deutschland sind es 12 B,in der übrigen Bundesrepublik 2,60 Bpro erwerbstätiger Person.

Betrachtet man die wirtschaftlichenSektoren, so profitieren die BereicheDienstleistungen und Handel mit Ab-stand am meisten vom DESY-Betrieb,da die direkt verdienten und die in-duzierten Einkommen zum größtenTeil in den Konsum fließen. Danachfolgen der Energiesektor und – etwaim gleichen Ausmaß – die SektorenChemie, Fahrzeug- und Maschinen-bau sowie Elektrotechnik. Sie profi-tieren vor allem von den Sachaus-gaben des Forschungszentrums undden Vorleistungsverflechtungen derDESY-Lieferanten.

Ähnliche Betrachtungen lassen sichfür den Bau und die Ausstattung vonHERA in den Jahren 1984 bis 1990anstellen. Dafür wurden in dem an-gegebenen Zeitraum insgesamt 279Mio. B Sach- und 78,2 Mio. B Per-sonalmittel aufgewendet (Preise von1984). Über die direkten, indirektenund induzierten Nachfrageeffekteführte dies zwischen 1984 und 1990bundesweit zu insgesamt 416,8 Mio. B

Einkommen (Gegenwartswert von1984) – das entspricht 14 205 Arbeits-plätzen, die für die Dauer der Inves-titionsphase insgesamt gesichertwurden. Am HERA-Bau konnte

Hamburg insbesondere dadurchprofitieren, dass rund 90 Prozent derBauausgaben direkt in die Hanse-stadt flossen.

All diese Effekte führen über Ein-kommen- und Verbrauchssteuern zuzusätzlichen Steuereinnahmen. Fürden laufenden DESY-Betrieb 1997ergibt eine grobe Abschätzung dieses„fiskalischen“ Effekts Steuereinnahmenvon bundesweit wenigstens 49 Mio. B,von denen der Bund etwas mehr alsdie Hälfte einnimmt. Für die Bundes-republik insgesamt macht dieserEffekt fast 40 Prozent der laufendenPersonal- und Sachausgaben vonDESY aus, so dass die Nettobelastungdurch die Finanzierung von DESYfür den Steuerzahler effektiv um etwa40 Prozent sinkt. „Zusammenfassendkann festgestellt werden, dass derzu 90 Prozent mit Bundesmittelnfinanzierte Betrieb von DESY / HERAsich zu etwa 40 Prozent selbst finan-ziert, seine wirtschaftlichen Wirkungenhauptsächlich (d.h. zu 65-70 Prozent)außerhalb der Standortregion Ham-burg und in einem breiten Spektrumvon Wirtschaftssektoren entfaltet“,schließen die Autoren.

faktoren

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Bilanz im Jahr 2000: HERA steuert

bedeutende Erkenntnisse zu unserem Weltbild bei.

Das Prinzip ist einfach. Wahrschein-lich ist einer unserer Vorfahren schonin der Steinzeit auf die Idee gekom-men, zwei Dinge gegeneinander zuschlagen und nachzusehen, was dieBruchstücke ihm über deren Innen-leben verraten. Inzwischen sind Jahr-tausende vergangen. Die Technolo-gien sind komplexer geworden, dieObjekte immer kleiner, der Aufwandentsprechend größer. Doch das Prin-zip bleibt gleich: Wollen wir heraus-finden, was sich im Innersten derMaterie abspielt, ob die kleinstenBausteine unserer Welt womöglichaus noch kleineren zusammengesetztsind, so lassen wir zwei Teilchen zu-sammenprallen und sehen uns an,was bei der Kollision passiert. ImFachjargon klingt der Prozess geho-bener: Man spricht von „Streuver-suchen“, in denen ein Teilchen, dasals Sonde fungiert, an einem anderenTeilchen – der zu untersuchenden Probe– gestreut wird. Die Art und Weise,

wie das Sondenteilchen von derProbe abprallt – in welche Richtunges gestreut wird, welche Energie esdabei besitzt, ob die Probe beimZusammenstoß auseinander brichtoder nicht –, verrät uns, wie dasProbenteilchen beschaffen war.

in solches Streuexperiment war es, das Anfang des 20. Jahrhun-Ederts das Weltbild der Physik

revolutionierte. Damals lenkten HansW. Geiger und Ernest Marsden, dieAssistenten von Ernest Rutherford,Alphateilchen auf eine hauchdünneGoldfolie. Zu ihrer großen Über-raschung stellten sie fest, dass einigeTeilchen mit großer Wucht zurück-geworfen wurden. „Ich hatte denEindruck, mit einem Gewehr auf einStück Seidenpapier zu schießen unddass auf einmal eine der Kugelnnach hinten abprallte“, soll Rutherforddas Geschehen kommentiert haben.Erst Wochen später, im Jahr 1911,

kam Rutherford auf die Erklärungdes erstaunlichen Phänomens. DieHäufigkeit, mit der die Alphateil-chen um einen bestimmten Winkelgestreut wurden, lieferte ihm denentscheidenden Hinweis: Dass diemeisten Teilchen einfach durch die

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Eine kurzeGeschichte derStreuversuche

Alphateilchen treffen auf eine Gold-

folie: Stoßen sie auf einen Atom-

kern, werden sie zurückgeworfen;

die anderen durchqueren die Folie

mehr oder weniger ungehindert.

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Folie hindurchflogen, ohne abgelenktzu werden, ließ darauf schließen, dassdie Goldatome im Wesentlichen leersind. Diejenigen Teilchen, die mitWucht zurückgestreut wurden, alsogroße Abprallwinkel aufwiesen,mussten dagegen auf einen kleinen,schweren Kern gestoßen sein, der fastdie gesamte Masse der Goldatomein sich konzentriert. Damit war das da-mals vorherrschende Bild des Atoms– eine positiv geladene Kugel miteingebetteten negativen Elektronen –passé: Der Atomkern war entdeckt.

Obwohl die Atome viel zu kleinsind, als dass der Mensch in sie hin-einsehen könnte, lassen sich diesewinzigen Teilchen also mit Streuver-suchen „durchleuchten“ – ihr Innereswird indirekt sichtbar gemacht. Sokonnte Rutherford nicht nur feststellen,dass sich im Inneren der Goldatomekleinere Objekte befinden, er konnteauch einiges über die Eigenschaftendieser Objekte herausfinden. Anhandvon grundlegenden physikalischenBetrachtungen gelang es ihm, eineFormel zu finden, mit der er die Stöße

Je energiereicher die Projektile,

desto mehr verraten sie über den

Aufbau eines Objekts: Aus der

Ablenkung der Bälle kann man auf

die Form des Sacks schließen; die

Pfeile lassen die Kugeln in seinem

Inneren erkennen; die hochenerge-

tischen Geschosse lassen die Kugeln

zerplatzen und offenbaren so deren

innere Struktur.

zwischen sehr kleinen, elektrisch ge-ladenen Teilchen beschreiben konnte;dabei hängt die Häufigkeit verschiede-ner Abprallwinkel von der Ladungder Teilchen ab. Durch Versuche mitFolien aus verschiedenen Metallenkonnte nun gezeigt werden, dass dieAtomkerne verschiedener Elementeunterschiedliche Ladungen besitzen.Den Schlüssel zu diesem Erfolg liefer-ten die Beobachtungen von Geigerund Marsden, die geduldig im dunk-len Labor hinter dem Messmikroskopsaßen und zählten, wie viele Teilchenin welche Richtung gestreut wurden.

Mit der Weiterentwicklung der Teil-chenbeschleuniger wurden die „Ge-schosse“ kleiner und die Zusammen-stöße heftiger. Mit steigender Teil-chenenergie sondierten die Streuex-perimente immer kleinere Abstände,sie offenbarten immer feinere Details.1954 wurde deutlich, dass die Proto-nen keinesfalls „Punkte“ sind, sonderneinen messbaren Durchmesser besit-zen; Ende der 1960er Jahre entdeckteman die Bausteine der Protonen undNeutronen, die Quarks. Die Experi-mente H1 und ZEUS an der Speicher-

ringanlage HERA schreiben die Er-folgsgeschichte der Streuversuche fort.Auch hier prallen Elektronen aufProtonen, und der Winkel und dieEnergie der gestreuten Elektronengeben Aufschluss über die Vorgängeim Proton. Da die Protonen bei denHERA-Experimenten nicht ruhen,sondern ebenfalls auf hohe Energienbeschleunigt werden, ist die Energie,die den Elektronen während derKollision zur Verfügung steht, etwa2600-mal größer als bei dem SLAC-Experiment von 1969 – und 9 000 000-mal höher als die der Alphateilchenvon Rutherford. Damit ermöglichtHERA heute den weltweit schärfstenBlick ins Proton – bis hinunter zuStrukturen, die nur den milliardstenTeil eines milliardstel Meters großsind, d.h. 2000-mal kleiner als dasProton selbst.

Die Versuchsanordnung von Rutherford

Kleine Energie entspricht großer Wellenlänge.

Große Energie entspricht

kleiner Wellenlänge.

Im Jahr 1924 brachte der junge französischePhysiker Louis V. de Broglie in seiner Doktor-arbeit eine revolutionäre Idee vor: Genauso wieLichtwellen sich – den Erkenntnissen von Einsteinnach – unter bestimmten Umständen wie Teil-chen verhalten, sollten Teilchen in gewissenSituationen als Wellen auftreten.

Bis dato galten Elektronen als harte, undurch-dringliche, geladene Kügelchen. Der de Brog-lie'schen Theorie zufolge sollten sie – genau wieLichtwellen – nun ebenfalls Beugungs- oder Inter-ferenzeffekte zeigen. Dass dem tatsächlich so ist,konnten Clinton J. Davisson und Lester H.Germer drei Jahre später beweisen, als sieeinen Elektronenstrahl an einem Kristallgitterstreuten: Für bestimmte Streuwinkel ergabensich Interferenzmaxima, die sich nur als Inter-ferenzerscheinungen von Wellen – in diesemFall „Materiewellen“ – deuten ließen.

Um die Analogie komplett zu machen, ord-nete de Broglie jedem Teilchen eine Wellen-länge zu, die umgekehrt proportional zu seinemImpuls ist. Je größer also der Impuls eines Teil-chens – und damit seine Energie –, desto kleinerseine Wellenlänge. Und genauso wie man mitLichtwellen Strukturen von der Größe der Wellen-länge des Lichts untersuchen kann, so lassen sichmit Teilchenstrahlen Abstände im Bereich derWellenlänge der Materiewelle sichtbar machen.Betragen die kleinsten unter einem Lichtmikros-kop noch sichtbaren Abstände etwa einenMikrometer (10-6 m), so lassen sich mit Röntgen-strahlen mit Wellenlängen um 10-10 m schon ein-zelne Atome untersuchen. Die Teilchenstrahlenbei HERA haben dagegen eine so kleine Wellen-länge, dass die Physiker mit ihnen 10-18 m kleineStrukturen erkennen können.

Mit hochenergetischenTeilchen kleine Abständeerkennen

Anfang des 20. Jahrhunderts wurdenoch jeder Entdecker eines neuen Teil-chens mit dem Nobelpreis geehrt.Doch damit war in den 1950er JahreSchluss: Damals nahmen die erstenmodernen Teilchenbeschleuniger ihrenBetrieb auf, und plötzlich kündigte sichalle paar Monate ein neues Teilchenan. Bis 1960 war aus dem zuvor soübersichtlichen Feld ein undurch-dringlicher Dschungel geworden, be-völkert von an die Hundert Teilchen,die sich nirgends so recht einordnenließen. Ähnlich hatte die Lage in derChemie ein Jahrhundert zuvor aus-gesehen, bevor Dimitrij I. Mendele-jew und Julius L. Meyer den chemi-schen Elementen mit dem Perioden-system ihre Ordnung gaben. Dochauch in der Teilchenphysik entstandbald Ordnung aus dem Chaos. Überdie letzten 50 Jahre hinweg nahm daszugrunde liegende System immerpräzisere Konturen an. Heutzutagefasst man die gewonnenen Erkennt-nisse im „Standard-Modell der Teil-chenphysik“ zusammen. Der un-scheinbare Name täuscht: Dahinterverbirgt sich eine elegante mathe-matische Theorie, die mit großemErfolg alle gesicherten experimen-tellen Ergebnisse der Teilchenphysikbeschreibt. Die Grundannahmen desStandard-Modells lassen sich inwenigen Zeilen aufschreiben – einebeachtliche Leistung der Teilchen-physik.

ls Bausteine der Materie kenntdas Standard-Modell sechs Quarks und sechs Leptonen.

Sie treten in drei Familien zu jeweilszwei Quarks und zwei Leptonen auf.Die uns bekannte „gewöhnliche“Materie besteht ausschließlich ausTeilchen der ersten Familie: den up-und down-Quarks, aus welchen alleAtomkerne zusammengesetzt sind,und den Elektronen, die zu denLeptonen der ersten Familiegehören. Im Frühstadium desUniversums unmittelbarnach dem Urknall„lebten“ die Teilchenaller drei Familiengleichberechtigtnebeneinan-der. Dieheutenichtmehr vor-kommendenTeilchenartenkönnen in Be-schleunigern erzeugtwerden, sie sind jedochallesamt instabil, d.h., sie„leben“ nur sehr kurz, bevor siezerfallen. Zu jedem der zwölf Teil-chen gibt es ein entsprechendes Anti-teilchen, zum Elektron beispielsweisedas Positron. Teilchen und Antiteilchenhaben entgegengesetzte Ladungen,ansonsten besitzen sie jedoch genaudie gleichen Eigenschaften, z.B. die

54

Das Standard-Modell der Teilchenphysik

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Morgens beim Frühstück: Sie streuen Zucker inden Kaffee, rühren um und beobachten, wie dieZuckerkristalle langsam verschwinden. SosehrSie es auch versuchen, mit dem bloßen Augewerden Sie den Zucker in der Tasse nicht mehrfinden. Viel zu klein sind die Moleküle, in diesich die Zuckerkristalle aufgelöst haben, zehnMillionen Mal kleiner als die ursprünglichenKristalle. Um sie zu sehen, müssten Sie schonmit einem extrem guten Mikroskop in IhreKaffeetasse hineinschauen.

Was passiert mit dem Zucker in Ihrer Tasse?Jedes einzelne Zuckermolekül besteht aus etwazehnmal kleineren Einzelbausteinen, den Ato-men. Betrachtet man die Atome genauer, ent-deckt man die für alle Atomsorten gleichenBausteine: Die Elektronen bilden die Atomhülle,der Atomkern setzt sich aus Neutronen undProtonen zusammen.

Verglichen mit dem Atom ist der Kern un-glaublich klein: Wäre das Atom so groß wieein Fußballplatz, entspräche der Kern höchstenseiner Erbse. Doch selbst die im Kern enthaltenenProtonen und Neutronen sind noch nicht diekleinsten Teilchen. Sie sind aus mindestenstausendmal kleineren Bausteinen aufgebaut:den Quarks.

Eindrucksvoll reiht sich Null an Null, wennman die „Größe“ der Quarks aufschreibt:Quark (kleiner als ein Attometer) = weniger als0,000 000 000 000 000 001 m Zum Vergleich: Stecknadelkopf (etwa 1 Milli-meter) = 0,001 m

Die Quarks aus dem Inneren des Atomkernsund die Elektronen der Atomhülle sind nach demheutigen Stand des Wissens punktförmig ohneräumliche Ausdehnung – und damit vielleicht diekleinsten Bausteine unseres Universums.

gleiche Masse. Treffen Teilchen undAntiteilchen aufeinander, so könnensie sich gegenseitig vernichten: Übrigbleibt nur Strahlungsenergie, ausder wiederum neue Teilchen entste-hen können.

Die Materieteilchen unterliegen vierfundamentalen Kräften: der Gravita-tion, der elektromagnetischen, derschwachen und der starken Wechsel-wirkung. Die Gravitation lässt denApfel vom Baum fallen und die Pla-neten um die Sonne kreisen, sie hältuns auf der Erde fest. Die elektromag-netische Kraft verbindet Elektronen

und Protonen zu Atomen undsorgt für Strom aus der Steck-

dose. Die schwache Kraft er-möglicht die Kernfusion in

der Sonne und denradioaktiven Zerfallvon Atomkernen. Die

starke Kraft hältQuarks und

Gluonen im Pro-ton sowie Protonen

und Neutronen imKern zusammen und lie-

fert der Sonne die Energie,die sie zum Leuchten braucht.

Das Standard-Modell kennt nebenden Materieteilchen eine zweite Artvon Teilchen, die als Botenteilchenzwischen den Materieteilchen ausge-tauscht werden und Kräfte und In-formation übertragen. Diese Aus-tauschteilchen sind für jede Kraftartspezifisch: Die als Lichtquanten be-kannten Photonen vermitteln die elek-tromagnetische Kraft; die Gluonendie zwischen Quarks wirkende starkeKraft; das neutrale Z-Teilchen, dasnegativ und das positiv geladene W-Teilchen die schwache Kraft. Für dieSchwerkraft werden die so genann-ten Gravitonen postuliert – aller-dings ist die Gravitation im Stan-dard-Modell bisher nicht enthalten.

Die dritte Art von Teilchen desStandard-Modells sind die so ge-nannten Higgs-Bosonen, die für dieErzeugung der Teilchenmassen sorgen.Im Standard-Modell sollten Materie-und Austauschteilchen zunächstmasselos sein – im offensichtlichenWiderspruch zu dem, was man inder Natur beobachtet. Eine Lösungdieses Problems bietet der nach demschottischen Theoretiker Peter W.Higgs benannte „Higgs-Mechanis-mus“. Diesem zufolge ist das ge-samte Universum – also auch dasVakuum – mit einem Hintergrund-feld angefüllt, dem Higgs-Feld, unterdessen Einfluss jedes Teilchen seineMasse erhält. Der Theorie nach ge-hören zu diesem Feld ein oder meh-rere Higgs-Teilchen, die trotz inten-siver Suche bislang allerdings nochnicht beobachtet werden konnten.Erst die Entdeckung dieser Higgs-Bosonen wird endgültig Klarheit da-rüber schaffen, wie die Teilchen zuihrer Masse kommen.

Die Bausteine der Materie und die

Kräfte, die sie zusammenhalten: Heute

kennt man insgesamt 12 Materieteilchen, 6

Quarks und 6 Leptonen. Das Higgs-Teilchen

(H) ist für die Masse der elementaren Teil-

chen verantwortlich. Die Teilchen auf einer

„Stufe“ spüren jeweils auch die Kräfte der

unteren „Stufen“.

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Das Universum in der Kaffeetasse

56

Das Standard-Modell ist eine der er-folgreichsten naturwissenschaftlichenTheorien überhaupt. Dennoch lässtes viele Fragen offen – Fragen, dieeine allumfassende „Weltformel“eigentlich beantworten sollte. Allge-mein geht man heute davon aus,dass das Universum im Urknall auseinem allumfassenden Zentrum ent-stand. Daher sollten auch die heutevorhandenen Kräfte einer gemein-samen „Urkraft“ entstammen undsich einheitlich beschreiben lassen.Zwar führt das Standard-Modell dieelektromagnetische und die schwacheKraft auf eine einzige „elektro-schwache“ Kraft zurück, die starkeKraft lässt sich im Rahmen desStandard-Modells jedoch nicht mitden anderen Kräften verbinden.Auch die Schwerkraft widersetzt sichhartnäckig allen Vereinheitlichungs-versuchen.

as Standard-Modell enthält zudem zahlreiche scheinbar Dwillkürlich vorgegebene „Na-

turkonstanten“. Diese können zwarexperimentell bestimmt werden, dieFrage aber, warum diese Zahlen ge-rade so groß sein müssen, wie sieim Experiment zu finden sind, bleibtunbeantwortet. Offen bleibt zumBeispiel auch, warum die Materie-teilchen gerade in drei Familien auf-treten oder warum die elektrischeLadung des Elektrons – eines punkt-förmigen Elementarteilchens –, so-weit die Messungen reichen, genauderjenigen des Protons entspricht,das ein aus Quarks zusammenge-setztes, komplexes Gebilde ist.

Auch auf die Frage, wie die „Ur-suppe“ aus Quarks und Gluonen kurznach dem Urknall ausgesehen hatoder warum die Quarks niemals alsfreie Teilchen in Erscheinung treten,sondern in den Protonen und Neu-tronen „eingesperrt“ zu sein scheinen,gibt das Standard-Modell keine be-friedigende Antwort. Hier gehen diePhysiker allerdings davon aus, dassdie Antworten in den Formeln desStandard-Modells bereits enthaltensind – und es bisher nur an den rich-tigen „Rechentricks“ mangelt, dieseProbleme zu lösen.

Das Standard-Modell stellt offen-sichtlich eine gute Näherung für nichtzu hohe Energien und Teilchendichtendar, letztendlich muss es jedoch durch

eine bessere, umfassendere Beschrei-bung ersetzt werden. Dies ist bishertrotz größter experimenteller An-strengungen allerdings noch nichtgelungen. Mit ihrem einzigartigenForschungsprogramm können auchdie HERA-Experimente entscheidendeHinweise auf eine solche Theoriejenseits des Standard-Modells geben.In so genannten Großen Vereinheit-lichten Theorien, die eine einheitlicheBeschreibung aller drei Grundkräftedes Standard-Modells anstreben,könnten z.B. Zwitterteilchen ausQuarks und Leptonen, so genannteLeptoquarks, auftreten. Da HERAals einzige Anlage weltweit hochener-getische Zusammenstöße zwischenzwei unterschiedlichen Teilchensorten

„Schattenpartner“: Die Theorie der Supersymmetrie ordnet jedem

Teilchen ein supersymmetrisches Partnerteilchen zu.

Ein Weltbild mit Lücken

57

liefert – den Elektronen aus der Gat-tung der Leptonen und den ausQuarks zusammengesetzten Proto-nen –, ist der Beschleuniger besondersgut dazu geeignet, die Beziehungenzwischen Quarks und Leptonen aus-zuloten. Insbesondere könnten be-stimmte Leptoquarks an HERA leichterzeugt und untersucht werden.

Eine Idee, wie man die fundamen-talen Naturgesetze aus einem grund-legenden Prinzip ableiten könnte,liefert die Theorie der Supersymmetrie,kurz SUSY. Sie verknüpft die imStandard-Modell strikt unterschiede-nen Materieteilchen und die Kraft-teilchen und führt zu einem tieferenZusammenhang zwischen drei dervier Naturkräfte. Dies geschieht aufeine so elegante Weise, dass diePhysiker geneigt sind, die Super-symmetrie als einen entscheidendenSchlüssel zum Innersten der Materieanzusehen. Falls die Supersymmetriegilt, muss es eine ganze Reihe zusätz-licher Teilchenarten geben, die alleim frühen Universum vorhanden ge-wesen sein sollten. Einige von ihnenkönnten heute noch existieren, ohnedass sie entdeckt wurden, denn siehaben völlig andere Eigenschaftenals die uns vertraute Materie. Solangekeines dieser „Schattenteilchen“ ge-funden ist, bleibt SUSY allerdings

unbewiesen. Auch zur Suche nachder Supersymmetrie trägt HERA ent-scheidend bei.

Noch exotischer mutet die Perspek-tive an, mit HERA die Anzahl undGröße von möglichen zusätzlichenRaumdimensionen zu erkunden. Die-ser Gedanke scheint direkt einemSciencefiction-Roman zu entspringen– und doch handelt es sich hier umeine der aktuellsten Entwicklungenauf dem Gebiet der theoretischenTeilchenphysik und Kosmologie. Sogenannte String-Theorien z.B. vereini-gen die Gravitation mit den anderendrei Naturkräften, indem sie die Teil-chen nicht als punktförmige Objektebeschreiben, sondern als winzig kleineSaiten. Diese schwingen nicht etwa inden uns bekannten drei Raumdimen-sionen, sie „leben“ vielmehr in bis zuzehn räumlichen Dimensionen. DieseExtra-Dimensionen können wir nichtsehen, da sie auf extrem kleinen Ab-ständen „aufgerollt“ sein müssten.Ihre Auswirkungen könnten in denTeilchenkollisionen von HERA je-doch zu spüren sein. Mit einem sol-chen Beitrag könnten die HERA-Ex-perimente nicht nur die Grenzen desStandard-Modells aufzeigen, sondernauch entscheidende Hinweise aufeine neue, umfassende Theorie jen-seits des Standard-Modells geben.

Teilchen und Strings: Zwei Teilchen kommunizieren über den Austausch

eines Kraftteilchens (links). Die gleiche Wechselwirkung im „String“-

Bild (rechts): Zwei „Saiten“ schließen sich zu einer einzigen zusammen

und trennen sich anschließend wieder.

Eine Zeitreise an den Anfang

des Universums: Die Skala zeigt

das Alter des Universums vom

Urknall bis heute sowie die ent-

sprechende mittlere Energie

von Strahlung und Materie-

teilchen.

58

Im Prinzip ist HERA ein Mikroskop.Ein ziemlich großes zwar, doch diegrundlegende Idee hinter den Teil-chenkollisionen bei HERA ist tatsächlichdie logische Fortsetzung dessen, wasvon den klassischen Lichtmikroskopenher geläufig ist. Denn bei der Unter-suchung von Objekten gilt folgendeGrundregel: Je kleiner die Strukturen,die sichtbar gemacht werden sollen,desto kürzer muss die Wellenlängedes benutzten Lichts sein. Mit Licht imRöntgenbereich, das eine Wellenlängevon wenigen millionstel Millimetern,also der Größe von Atomen, aufweist,lässt sich die Struktur von Molekülenauflösen. Noch kleinere Strukturensind damit nicht mehr zu sehen – dazumüsste man zu noch kürzeren Wellen-längen greifen.

öchte man Objekte unter-suchen, die noch wesentlichMkleiner sind als die Atome

– ein Proton zum Beispiel ist etwa 10-15 Meter groß –, so lässt sich diesmit „normalem“ Licht nicht mehr be-werkstelligen. Hier kommen diegroßen Teilchenbeschleuniger insSpiel: Trifft im HERA-Speicherringein Elektron frontal auf ein Protonbeziehungsweise auf eines von des-sen Bausteinen, so „kommunizieren“die beiden Teilchen miteinander, in-dem sie zum Beispiel ein Photon, alsoein Lichtteilchen, austauschen. Jewuchtiger der Zusammenstoß, destomehr Impuls überträgt das ausge-tauschte Lichtteilchen zwischen denStoßpartnern. Desto kleiner ist auchdie Wellenlänge des ausgetauschtenLichts – womit sich der Kreis zumMikroskopie-Prinzip schließt: Je hef-

tiger die Teilchen inHERA zusammen-stoßen, desto kleinersind die Abstände,die man damit unter-suchen kann; destowinziger also auch dieStrukturen, die dabeisichtbar gemacht werdenkönnen.

Genau dieses Prinziphat es den Physikernerlaubt, in den letzten50 Jahren immer tiefer insInnere der Materie vorzudringen.1954 lenkte Robert Hofstadter an derUniversität Stanford Elektronen auseinem Beschleuniger auf Protonen ineinem Wasserstoff-Target. Er unter-suchte, wie häufig die Elektronen inwelche Richtung zurückgeworfenwurden. Dabei stellte er fest, dasssich das beobachtete Streubild vondemjenigen unterschied, das sich beidem Zusammenstoß von zwei punkt-förmigen Teilchen ohne messbarenDurchmesser ergeben sollte. DieseAbweichung von der theoretischenKurve ließ sich nur dadurch erklären,dass das Proton „verschmiert“ ist –also eine messbare Größe besitzt. Da-mit hatte das Proton seinen Statusals „elementares“ Teilchen verloren,denn diese werden im Standard-Modell als reine „Punkte“ ohne Aus-dehnung angesehen. Fünfzehn Jahrespäter war die Energie der Elektro-nen am SLAC so groß, dass sie denPhysikern den Blick ins Proton hin-ein ermöglichten. Plötzlich entsprachdas aufgenommene Streubild wiederdem von punktförmigen Teilchen –im Proton musste es also winzige

Bausteine geben, an denen das Elek-tron abprallte: Die Physiker hattendie Quarks entdeckt, die punktför-migen Bausteine der Protonen undNeutronen.

HERA erlaubt es nun, die Quarksgenau unter die Lupe zu nehmen: DerBereich, den HERA dabei zugänglichmacht, ist 100-mal größer als beifrüheren Experimenten, die Auflösungder Teilchenzusammenstöße zehnmalso groß (siehe Kasten). So kannHERA die Geschehnisse im Mikro-kosmos bei Abständen bis hinunterzu 5 x 10-19 Metern untersuchen – unddamit Strukturen sichtbar machen,die noch 2000-mal kleiner sind als dasProton selbst. Auch hier vergleichendie Physiker das gemessene Streu-bild der Kollisionen mit demjenigen,das die Theorie für punktförmige Teil-chen vorhersagt, beziehungsweisemit dem für Quarks mit einer mess-baren Ausdehnung. Was die Elektro-nen betrifft, so weiß man aufgrundder Ergebnisse von anderen Experi-menten, dass sie noch viel kleinersind als die kleinsten mit HERA er-reichbaren Dimensionen.

Wie groß sind dieQuarks?

Vom Kollisionsbild zum ErgebnisDer Detektor spuckt reihenweise Bilder von Teilchenzusammenstößen aus. Auf denBildschirmen der Experimente sehen sie aus wie Schnappschüsse von einemFeuerwerk. Doch was lesen die Teilchenphysiker daraus ab? Wie kommen sievon den bunten Linien zu einem greifbaren, bezifferbaren Ergebnis?

Was bei den Elektron-Proton-Zusammenstößen an HERA gemessen wird, ist –genau wie bei Rutherfords erstem Streuexperiment – die Häufigkeit, mit der dasvom Proton aus der Bahn geworfene Elektron um einen bestimmten Winkelabgelenkt wird; außerdem die Energie, die es nach dem Zusammenstoß hat.Auch die „Bruchstücke“ des Protons werden analysiert: In welche Richtung fliegensie davon, und welche Energie tragen sie mit sich fort? Aus diesen Messgrößenlassen sich so genannte kinematische Variablen berechnen, die für die Stoßpro-zesse charakteristisch sind. Betrachtet man die Streuung eines Elektrons aneinem Quark im Proton, so gibt es davon genau zwei: „x“ und „Q2“.Anschaulich bezeichnet x den Bruchteil des Protonenimpulses, den das Quarkträgt, mit dem das Elektron zusammenstößt. Q2 ist ein Maß für die Heftigkeitdes Zusammenstoßes, es bezeichnet das Quadrat des Impulses, der bei derKollision zwischen den Stoßpartnern übertragen wird, also das Quadrat des Impul-ses, den das Austauschteilchen trägt. Damit ist Q2 auch ein Maß für die Auflösungdes HERA-Mikroskops: Je größer Q2, desto kleinere Strukturen werden sichtbar.

Beobachtet man eine ausreichende Anzahl von Teilchenzusammenstößen, sokann man in einem Diagramm auftragen, wie häufig diese Ereignisse ineinem bestimmten Intervall von x bzw. Q2 aufgetreten sind. Dieses Diagramm –die „Strukturfunktion“ – verrät, wie sich das Proton aus Quarks zusammensetzt.Eigentlich sollte das Standard-Modell das Ergebnis der Messungen vorhersa-gen. Dies ist bisher jedoch nicht der Fall, da die mathematischen Gleichungen,welche die starke Kraft beschreiben, nicht gelöst werden können. Was bishergelang, ist die Vorhersage, wie die Strukturfunktion vom Impulsübertrag Q2 ab-hängt: Hat man sie bei einem bestimmten Wert von Q2 gemessen, so kann mansie für entsprechend größere Werte von Q2 voraussagen.

Stimmen die theoretischen und die experimentellen Werte überein, wird dies alsErfolg für das Standard-Modell gefeiert: Die Voraussetzungen der Theorie sinddann wahrscheinlich richtig. Wenn die experimentelle Kurve dagegen von dertheoretischen abweicht, wird es spannend. Dann muss genau überprüft werden,ob alle möglichen experimentellen Fehler ausgeschlossen werden können undob es sich bei der Abweichung womöglich um einen statistischen „Ausreißer“handelt. Erst dann weiß man – und das entscheidet sich oft erst nach Jahren,wenn die Menge an experimentellen Daten groß genug ist, um eine ausreichendeGenauigkeit zu gewährleisten –, ob die Abweichung auf etwas grundlegendNeues hindeutet und die Theorie entsprechend revidiert werden muss.

Aus den Analysen der HERA-Mes-sungen ergibt sich, dass die Quarksunvorstellbar winzig sind: Zumindestist ihr Durchmesser nicht größer alsein Tausendstel des Protonendurch-messers, also etwa 10-18 Meter. Bishinunter zu diesem Wert lässt sichfür die Quarks keine messbare Größefeststellen. Damit gibt es auch keiner-lei Anzeichen dafür, dass die Quarksaus weiteren, noch kleineren Baustei-nen zusammengesetzt sein könnten.So weit der Blick von HERA reicht,sind die Quarks tatsächlich Materie-punkte – genau wie es das Standard-Modell voraussetzt. Sind wir damitvielleicht am Ende der Kette aus immerweiter teilbaren Materieteilchen ange-langt, die vom Kristall über das Mole-kül, das Atom, den Atomkern unddas Proton und Neutron bis hin zumQuark und Elektron reicht?

Aus dem Vergleich zwischen Experiment (rote Punkte) und Theorie

(blaue Kurve für einen Quarkradius von 8 x 10-19 m) lassen sich

Grenzen für die Ausdehnung der Quarks bestimmen.

Oben: Überträgt das ausgetauschte Licht-teilchen (Photon) zwischen den Stoß-partnern nur wenig Impuls (Q2 klein),dann besitzt es eine große Wellen-länge. Ist diese größer als die Aus-dehnung des Protons, so „sieht“ dasPhoton das Proton nur als einenPunkt: Das von den Physikern ge-messene Streubild entspricht demZusammenstoß von zwei punktför-migen Teilchen.

Mitte: Der Zusammenstoß zwischen Elek-tron und Proton wird heftiger, dieAuflösung Q2 größer. Dementspre-chend wird die Wellenlänge desPhotons kleiner, bis sie dem Durch-messer des Protons entspricht. Fürdas Photon nimmt das Proton nunKonturen an, es „sieht“ das Protonals ein ausgedehntes Objekt. Even-tuelle Strukturen innerhalb des Pro-tons lassen sich mit diesem Photonallerdings noch nicht ausmachen.

Unten: Bei Zusammenstößen mit höchsterEnergie ist die Wellenlänge des Pho-tons so klein, dass das Proton alsGanzes irrelevant wird. Das Photondringt in das Proton ein und machtdort die winzigen Unterstrukturensichtbar – die Quarks. Das gemes-sene Streubild entspricht – so weitHERA blicken kann – wieder demZusammenstoß von punktförmigenTeilchen.

Energiereiche Teilchen sehen mehr Je höher die Energie, mit der die Elektronen und Protonen im HERA-Ring aufeinander prallen, desto größerwird die Auflösung des HERA-Mikroskops. Links in der Grafik: Elektron (e) und Proton (p) tauschen ein Lichtteilchen (Photon �) aus; rechts: Je nachdem, wie heftig der Zusammenstoß war, „sieht“ das Photon das Proton unterschiedlich.

60

Als „Super-Elektronenmikroskop“ istHERA ein Multitalent. Denn mit derSpeicherringanlage lassen sich nichtnur winzige Teilchen sichtbar machen– auch die „Kommunikation“ zwischenden Teilchen bleibt den Physikernnicht verborgen. Vier Kräfte regierenheute die Welt: die Gravitation, dieelektromagnetische, die schwacheund die starke Kraft. Die Gravitation,die unser Leben am unmittelbarstenbeeinflusst, spielt im Reich der kleins-ten Teilchen nur eine untergeordneteRolle, da sie weitaus schwächer alsdie anderen drei Grundkräfte ist. Dieelektromagnetische, die schwache

und die starke Kraft können mit HERAjedoch eingehend untersucht werden.Das Proton stellt hier gewissermaßenein „Mikrolabor“ dar, in dem dieForscher das Wesen der drei Natur-kräfte gezielt erkunden können.

aum jemand zweifelt heute da-ran, dass das Universum vor Krund 15 Milliarden Jahren im

Urknall aus einem alles umfassendenZentrum entstand. Zusammen mit Er-gebnissen von Teilchenphysikexperi-menten legt dies die Vermutung nahe,dass auch die heute vorhandenenKräfte einer gemeinsamen „Urkraft“

entstammen; sie wären dann letztlichnur verschiedene Erscheinungsformendieser einen Kraft. Damit sollten sichdie Naturkräfte auch einheitlich ineinem gemeinsamen theoretischenRahmen beschreiben lassen. Tatsäch-lich ist es inzwischen gelungen, dieelektromagnetische und die schwacheKraft zur „elektroschwachen Kraft“ zu-sammenzufassen. Genau diese Ver-einigung der beiden Kräfte lässt sichbei HERA „live“ im Experiment mit-verfolgen.

Wenn in den HERA-ExperimentenH1 und ZEUS ein Elektron auf einProton prallt, dann können die Teil-

61

Mit HERAauf dem Weg zurVereinheitlichungder Naturkräfte

chen auf unterschiedliche Weise mit-einander in Wechselwirkung treten:entweder über die elektromagnetischeoder über die schwache Kraft. Im erstenFall tauschen die Stoßpartner ein Pho-ton, ein Lichtteilchen, aus. Kommuni-zieren die Teilchen über die schwacheKraft miteinander, so ist das ausge-tauschte Kraftteilchen entweder einelektrisch neutrales Z-Teilchen oder einelektrisch geladenes W-Teilchen. BeimAustausch eines W-Teilchens passiertetwas Bemerkenswertes: Das Elektronverwandelt sich in ein Neutrino, dasden Detektor unbeobachtet verlässt.

Bei HERA treten also zwei ver-schiedene Sorten von Teilchenreak-tionen auf: ■ Ein Elektron trifft auf ein Proton, da-

raus entstehen ein Elektron und weitere Teilchen. Diese Reaktion wird sowohl durch das Photon alsauch durch das Austauschteilchen Zvermittelt – hier treten also die elektromagnetische und die schwa-che Kraft auf. Da sowohl das Pho-ton als auch das Z-Teilchen elek-trisch neutral sind, spricht man in diesem Fall von einer „Neutraler-Strom-Reaktion“.

■ Ein Elektron trifft auf ein Proton, daraus entstehen ein Neutrino und weitere Teilchen. Das Neutrino ist elektrisch neutral, spürt ausschließ-lich die schwache Kraft und wird nur über das Austauschteilchen W erzeugt. Die Häufigkeit, mit der diese Reaktion auftritt, ist somit ein Maß für die Stärke der schwachenKraft. Da das W-Teilchen elektrischgeladen ist, spricht man in diesemFall von einer „Geladener-Strom-Reaktion“.

Verglichen wird nun die Häufigkeit,mit der beide Reaktionen als Funktion

62

Die elektroschwache Vereinigung – ein wichtiges Ergebnis der HERA-Experimente. Die Grafik zeigt die

Häufigkeit von Teilchenreaktionen der elektromagnetischen und der schwachen Kraft als Funktion des Mini-

malabstands beim Stoß. Nach rechts hin werden die Abstände kleiner. Bei Abständen, die größer als die

Reichweite der schwachen Kraft (2 x 10-18 m) sind, tritt die elektromagnetische Reaktion wesentlich häufiger

auf als die schwache. Bei kleineren Abständen sind beide Reaktionen etwa gleich häufig – aus der Messung

lässt sich also direkt die elektroschwache Vereinheitlichung ablesen, wie sie auch theoretisch vorhergesagt

wurde (durchgezogene Linien). Im unteren Teil der Abbildung ist die Vereinheitlichung der vier Naturkräfte

symbolisch dargestellt.

Die Vereinheitlichung der Kräfte

des Minimalabstands der Teilchenbeim Zusammenstoß in den HERA-Detektoren auftreten. Hierbei ent-sprechen die kleinsten erreichbarenAbstände den höchsten Impulsüber-trägen (siehe Seite 53), die HERAliefert. Bei größeren Abständen trittdie elektromagnetische Reaktionwesentlich häufiger auf als dieschwache, da die elektromagnetischeKraft bei diesen Abständen viel stärkerwirkt als die schwache Kraft. Bei klei-neren Abständen (und entsprechendhohen Energien) dagegen sind beideReaktionen etwa gleich häufig, d.h.

beide Kräfte gleich stark. Aus derMessung lässt sich also direkt ablesen,wie sich die beiden Naturkräfte zurelektroschwachen Kraft vereinigen.

Warum die elektromagnetische unddie schwache Kraft bei großen Ab-ständen so unterschiedlich stark wir-ken, wird klar, wenn man die Masseder entsprechenden Botenteilchen be-trachtet: Das Photon ist masselos undkann deshalb seine „Botschaft“ – dieelektromagnetische Kraft – viel weiterübermitteln als die schweren Boten-teilchen der schwachen Kraft, die W-und Z-Bosonen. Bei Energien, die

der Masse der W- und Z-Teilchen ent-sprechen, verschwindet dieser Unter-schied – die Kräfte werden gleich stark.

Mit dieser Demonstration der elek-troschwachen Vereinigung erlaubtHERA faktisch einen Schritt zurückin der Zeit in Richtung Urknall, alsdie Kräfte und Materieteilchen imfrühen Universum bei ähnlich hohenEnergien agierten, wie sie heute imTeilchenbeschleuniger erzeugt werden.

63

Zwei Arten von Kollisionen: Trifft ein Elektron auf ein Proton, so kann es mit einem Quark (q) in dessen

Innerem reagieren – entweder über ein neutrales Austauschteilchen (Photon � bzw. Z-Teilchen) oder über ein

geladenes W-Teilchen. Im ersten Fall wird das Elektron abgelenkt und im Detektor sichtbar (Neutraler-Strom-

Reaktion, links). Im zweiten Fall verwandelt es sich in ein Neutrino (�), das die Apparatur spurlos durchquert

(Geladener-Strom-Reaktion, rechts). Das getroffene Quark wird aus dem Proton herausgeschlagen und

erzeugt ein Bündel von Teilchen.

Geladener-Strom-ReaktionNeutraler-Strom-Reaktion

e p e p

Das Innenleben des Protons mithöchster Präzision zu messen – daswar eine wesentliche Motivation fürden Bau von HERA. Denn wenn inden Detektoren H1 und ZEUS dieElektronen und Protonen aufeinanderprallen, dann wirkt das Elektron wieeine winzige Sonde, die über denAustausch eines Botenteilchens dasInnere des Protons regelrecht „ab-tastet“. Je nachdem, was demElektron im Inneren des Protonswiderfährt – auf welche Bausteine estrifft, welchen Anteil am Protonen-impuls diese Bausteine tragen –,unterscheiden sich die vom Detektoraufgenommenen Reaktionen. Dochwie gelangt man von diesen Reaktions-bildern zu einer konkreten Aussageüber das Innenleben des Protons?Wie können die Physiker aus denbunten Bildern herauslesen, was imProton tatsächlich vorgeht?

en Schlüssel zum Innenleben des Protons liefert die so ge-Dnannte Strukturfunktion. Eine

typische Teilchenreaktion in HERAläuft folgendermaßen ab: Ein Elektronfliegt auf ein Proton zu, wird über denAustausch eines Kraftteilchens ge-streut und fliegt anschließend aus derWechselwirkungszone wieder heraus.Das Proton dagegen bricht bei demStoß auseinander, seine „Bruchstücke“verlassen den Kollisionspunkt als ein

odermehrereBündel vonTeilchen. DiemathematischeBeschreibung desElektrons und der Aus-tauschteilchen sind aus derTheorie bekannt, dieser Teil derReaktion lässt sich präzise vorher-sagen. Schwieriger wird es mit demProton, dessen komplexe Zusammen-setzung aus Quarks und Gluonenweit gehend unbekannt war. Diese –unbekannte – Struktur wird durchdie Strukturfunktion beschrieben.Über diese Funktion weiß man zu-nächst nur wenig, da die komplizier-ten Gleichungen, die die starke Kraftim Standard-Modell beschreiben, bis-

hernur zum

Teil lösbarsind. Wie die Struktur-

funktion konkret aussieht, muss des-halb experimentell bestimmt werden.Genau dieses Aussehen – der Verlaufder Strukturfunktion – ist es, das denPhysikern schließlich verrät, was sichim Inneren des Protons verbirgt(siehe Kasten Seite 66).

Als HERA 1992 an den Start ging,wusste keiner so recht, was in denTiefen des Protons zu erwarten war.Dass die Quarks im Proton Gluonen

64

Das Proton unter demHERA-Mikroskop

Weltweit einzigartig: H1 und ZEUS zeigen,

dass die Anzahl der Quarks und Gluonen im

Proton bei kleinem Impulsanteil dramatisch

ansteigt (bei verschiedenen Auflösungen Q2

des HERA-Mikroskops).

aussenden (die Klebeteilchen zwischenden Quarks) und dass diese wiederumGluonen oder Paare von Quarks undAntiquarks erzeugen, war bekannt.Zumeist ging man jedoch davon aus,dass sich neben den drei Quarks, diefür die Ladung des Protons verant-wortlich sind – den „Valenzquarks“–, nur wenige Quark-Antiquark-Paareund Gluonen im Proton befinden.

Dank der hohen Energie des HERA-Mikroskops dringen die ExperimenteH1 und ZEUS in einen Bereich vor,der weit über das hinausgeht, was infrüheren Experimenten gemessenwerden konnte – hin zu immer klei-neren räumlichen Abständen und zuimmer kleineren Impulsanteilen. WasH1 und ZEUS dort fanden, kam als

große Überraschung: Die HERA-Messungen zeigen, dass das Inneredes Protons eher einer dicken, bro-delnden Suppe gleicht, in der Gluo-nen und Quark-Antiquark-Paare un-aufhörlich abgestrahlt und wiedervernichtet werden. Je kleiner die Im-pulsanteile der Quarks und Gluonensind, auf die das HERA-Mikroskopeingestellt ist, desto mehr Bestand-teile gibt es im Proton.

Anschaulich bedeutet das: Betrachtetman das Proton mit einer Brille, durchdie sich nur solche Bestandteile er-kennen lassen, die mehr als zehnProzent des Protonimpulses tragen,so sieht man vor allem nur die dreiValenzquarks, die für die Ladung desProtons verantwortlich sind. Benutzt

man hingegen eine Brille, die nur Be-standteile zeigt, welche weit wenigerals zehn Prozent des Protonimpulsestragen, so sieht man plötzlich enormviele Quarks und Gluonen. Diesehohe Dichte der Gluonen und Quarksstellt einen völlig neuen, bisher nochnicht untersuchten Zustand der star-ken Kraft dar – jener Kraft, die dieQuarks und Gluonen im Proton so-wie die Protonen und Neutronen imAtomkern zusammenhält. DieserZustand ist wahrscheinlich dafür ver-antwortlich, dass die Quarks undGluonen im Proton „eingesperrt“ sind,also niemals als freie Teilchen beob-achtet werden können. 65

Oben: Überträgt das zwischen Elektron (e) und Proton

(p) ausgetauschte Lichtteilchen (�) nur wenig Impuls

(Q2 klein), so „sieht“ das Photon nur die Hauptbe-

standteile des Protons, die einzelnen Valenzquarks.

Unten: Bei höherem Impulsübertrag Q2 wird die Auf-

lösung des HERA-Mikroskops größer – das hochener-

getische Photon enthüllt die brodelnde „Suppe“ von

Quarks, Antiquarks und Gluonen im Proton.

Elektron-Proton-Wechselwirkung bei kleinen Quarkimpulsen und unterschiedlich heftigen Stößen:

66

Besteht das Proton aus nur einem Quark,so nimmt die Strukturfunktion die Formeines Strichs bei x = 1 an, denn das eineQuark trägt den gesamten Impuls desProtons. (x ist der Bruchteil des Protonen-impulses, den das Quark trägt.)

Bei einem Proton aus drei unabhängigenQuarks verschiebt sich der Strich zu x = 1/3,denn jedes der Quarks trägt in diesem Fallein Drittel des Protonenimpulses.

Kommunizieren die drei Quarks über denAustausch von Gluonen, so übertragen siedabei Impuls aufeinander. Die Quarks könnenalso auch höhere oder niedrigere Impulsan-teile besitzen – die Strukturfunktion verbreitertsich. Die Gluonen selbst übernehmen etwadie Hälfte des Impulses. Da die Struktur-funktion nur die von den Quarks getragenenImpulsanteile angibt, verschiebt sich ihrMaximum von 1/3 zu niedrigeren Impuls-anteilen hin.

Je mehr Quark-Antiquark-Paare und Gluonenim Proton zu finden sind, desto weiter wächstdie Strukturfunktion zu niedrigen Impulsan-teilen hin an – so messen es die HERA-Ex-perimente H1 und ZEUS, die damit erstmalsdie brodelnde „Suppe“ von Quarks undGluonen im Proton enthüllten.

Was die Strukturfunktion verrät ...

Niemand hat je ein einzelnes Quarkgesehen. Ganz gleich, bei welchhohen Energien die Teilchen in denBeschleunigern aufeinander prallen– einzelne Quarks wurden dabei nochnie gesichtet. Dabei sollten sie an ihrerdrittelzahligen elektrischen Ladunggut zu erkennen sein. Die Quarksscheinen immer in Verbänden mitganzzahliger Ladung aufzutreten: Sobestehen Protonen und Neutronenz.B. aus drei Quarks, die so genanntenMesonen aus einem Quark-Anti-quark-Paar. Auch wenn bei HERA einElektron auf ein Quark im Protontrifft und dieses mit voller Wucht ausdem Proton herausschlägt, tritt diesesQuark niemals allein in Erscheinung.Im Detektor findet sich ein ganzesBündel von neuen Teilchen, die umdas herausgeschlagene Quark ent-standen sind. Es hat ganz denAnschein, als seien die Quarks inden Teilchen wie dem Proton ge-fangen. Doch warum?

ür den Zusammenhalt der Quarksim Proton ist die starke Kraft Fzuständig, die von den Gluonen

übertragen wird. Sie lässt sich in denElektron-Proton-Zusammenstößenbei HERA besonders gut studieren– schließlich wimmelt das Proton nur

so von Teilchen, die über die starkeKraft miteinander kommunizieren. ImGegensatz zur elektromagnetischen

Kraft, deren Auswirkungen teilweiseauf über zehn Nach-Komma-Stellengenau berechnet werden können, ist

Gefängnishaft im Proton

Die starke Kopplungskonstante gibt die Stärke der Kraft zwischen den

Quarks an. Sie ist eigentlich keine Konstante: Wie H1 und ZEUS mit hoher

Präzision messen konnten, wächst sie mit größer werdenden Abständen an.

es viel schwieriger, die starke Kraftmathematisch zu erfassen. Dies liegtan einem fundamentalen Unterschiedzwischen den beiden Kräften: Wäh-rend die Photonen – die Lichtteilchen,welche die elektromagnetische Kraftübermitteln – elektrisch neutral sindund damit nicht untereinander kom-

munizieren können, verhält es sich beiden Gluonen, den Botenteilchen derstarken Kraft, anders. Sie könnennicht nur mit den Quarks, sondernauch untereinander in Wechselwirkungtreten – eine Eigenschaft, die drastischeAuswirkungen auf das Wesen derstarken Kraft hat.

Experimentellzeigt sich, dass sich dieFeldlinien zwischen zweielektrischen Ladungen immerweiter ausbreiten, wenn man dieLadungen voneinander wegbewegt:Die elektromagnetische Kraft zwischenihnen wird immer schwächer. Bei der

starken Kraft dagegen werden dieFeldlinien durch die „Selbst-Wechsel-wirkung“ der Gluonen zusammenge-halten. Entfernt man zwei Quarks von-einander, so verhalten sich die Feld-linien zwischen ihnen wie Gummi-bänder. Das Ganze wirkt wie eine Art„Teilchen-Expander“ – je weiter die

Teilchen sich voneinander entfernen,desto mehr Kraft muss man aufwen-den, um sie noch weiter zu trennen.Irgendwann enthält das System genugEnergie, um ein Quark-Antiquark-Paar aus dem Nichts zu erschaffen.Als würde das Gummiband reißen,fliegen die ursprünglichen Quarks

68

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Bewegt man zwei elektrische Ladungen ausein-

ander, so wird auch die elektromagnetische Kraft

zwischen ihnen schwächer; die Feldlinien breiten

sich immer weiter aus.

Umgekehrt verhält es sich bei der starken Kraft:

Sie wird immer stärker, je weiter sich die Quarks

voneinander entfernen – bis die Feldlinien „reißen“

und ein neues Quark-Antiquark-Paar entsteht.

auseinander – allerdings nicht einzeln,sondern jeweils in Begleitung einesanderen Quarks, mit dem zusammensie ein neues Teilchen bilden.

Sowohl die Stärke der elektromag-netischen Kraft als auch die der starkenKraft hängen vom Abstand zwischenden Teilchen ab. Während die elektro-magnetische Wechselwirkung beigrößerem Abstand immer schwächerwird, verhält es sich bei der starkenKraft genau andersherum. Nur wennsich die Quarks besonders dicht bei-

einander befinden – wie zum Bei-spiel im tiefsten Inneren eines

Protons –, ist die Kraft

zwischen ihnen schwach: Danngenießen sie das, was im Fachjargon„asymptotische Freiheit“ genannt wird.In diesem Regime nahezu freier Teil-chen feiert die Theorie ihre Erfolge,denn nur bei schwachen Kräften lassensich die Wechselwirkungen zwischenden Teilchen mathematisch im Rah-men der so genannten Störungstheo-rie berechnen. Wird die Kraft zu stark,so verliert das angewendete mathe-matische Verfahren seine Gültigkeit –bei großen Abständen zwischen denQuarks sind die Theoretiker bishermachtlos. Im Rahmen der „Gittereich-theorie“ versucht man, dem Problem

mit Hilfe von Großrechnern zu Leibezu rücken. Zwar liefert dieses Ver-fahren erste bemerkenswerte Erfolge,bis zur endgültigen Lösung haben diePhysiker allerdings wohl noch einenweiten Weg vor sich. So ist zum Bei-spiel nicht klar, ob die starke Kraft im-mer weiter ansteigt – damit wären dieQuarks für immer unzertrennlich –oder ob die Stärke der Kraft bei gro-ßen Abständen wieder abfällt. Dannwäre es eine Frage der Energie der Teil-chenbeschleuniger, bis die ersten freienQuarks beobachtet werden könnten.

Um den Ursachen für die „Gefäng-nishaft“ der Quarks im Proton weiterauf den Grund zu gehen, ist man der-zeit auf experimentelle Untersuchun-gen angewiesen, wie sie bei HERAdurchgeführt werden. So konntenneben anderen Experimenten auch H1und ZEUS die Stärke der starkenKraft in Abhängigkeit vom Abstand

mit hoher Präzision vermessen unddadurch die „starke Kopplungs-

konstante“ – ein Maß für dieStärke der Kraft – in Ab-

hängigkeit vom Abstand

zwischen den Teilchen bestimmen.Dazu benutzen die Physiker zumBeispiel Teilchenkollisionen, in de-nen neben dem gestreuten Elektronund einem von dem getroffenenQuark stammenden Teilchenbündel

– einem so genannten Jet – noch einzusätzliches Teilchenbündel auftritt.Dieses wird durch ein Gluon erzeugt,das während der Kollision abgestrahltwurde. Die Wahrscheinlichkeit füreine solche Gluonabstrahlung ist di-rekt proportional zur starken Kopp-lungskonstante, also zur Stärke derKraft zwischen den Quarks. Aus derAnzahl der beobachteten Ereignissemit einem Gluon als Funktion desImpulsübertrags während der Kolli-sion lässt sich daher die Abstands-abhängigkeit der starken Kopplungs-konstante messen. Für Werte zwischen10-16 und 10-18 Metern bestätigen dieErgebnisse eindrucksvoll das von derTheorie der Quantenchromodynamikvorhergesagte starke Anwachsen zugrößeren Abständen hin. Dass diegroße Zahl von Messungen der star-ken Kopplungskonstanten in verschie-denen Teilchenreaktionen an verschie-denen Beschleunigern übereinstim-mende Werte liefert, ist ein großerTriumph des Standard-Modells.

Gleichzeitig stärkt es das Vertrauen,dass man sich mit der

Quantenchro-modynamiktatsächlich aufdem richtigenWeg zur Be-schreibungder starkenKraft be-findet.

69

Mit dem Start von HERA erwartetedie Physiker eine Überraschung: Beiden gewaltigen Kollisionen im Be-schleuniger – besonders bei höchstenImpulsüberträgen – sollten die Proto-nen eigentlich in eine Unzahl neuerTeilchen zerbersten. In etwa 15 Pro-zent der Fälle bleibt das Proton je-doch völlig unversehrt, obwohl dieWechselwirkung überaus heftig war.Das ist ungefähr so, als hinterließen15 Prozent aller Frontalzusammen-stöße keine Schrammen an Autos. Beider Kollision wird schließlich mit allerWucht ein Quark aus dem Proton her-ausgeschlagen, und dabei sollte es auf-grund der besonderen Eigenschaftender starken Kraft viele weitere Teilchenabstrahlen – wie kann das Proton denZusammenstoß dann unbehelligtüberstehen?

och ringen Theoretiker und Experimentalphysiker um dasNVerständnis dieses Phänomens,

das in Anlehnung an die Optik„Diffraktion“ genannt wird. Man istnoch weit davon entfernt, den rätsel-haften Effekt im Rahmen der Theorieder starken Wechselwirkung erklärenzu können, auch wenn es inzwischenModelle gibt, die die Messungen gutbeschreiben. In einem dieser Modellewird angenommen, dass es im Pro-ton ein mysteriöses Objekt namens„Pomeron“ gibt, benannt nach demrussischen Physiker Isaac J. Pomerant-schuk. Damit lassen sich die Messun-gen zwar gut beschreiben – aber ver-standen hat man sie deshalb nochlange nicht. Letztendlich ist die Ur-sache für die Diffraktion wohl in derAbstrahlung einer ganzen Kette vonGluonen zu suchen, die schlussend-lich dazu führt, dass das Proton un-behelligt aus dem Zusammenstoßherauskommt. Es ist anzunehmen,dass diese außergewöhnliche Eigen-schaft der starken Kraft auch denSchlüssel zur Antwort auf die funda-mentale, bisher noch ungeklärte Frageliefert, warum wir in der Natur keinefreien Quarks finden bzw. warumdie Quarks im Proton wie in einemGefängnis eingesperrt sind.

70

Diffraktion– Aktenzeichen epX ungelöst

Farbige QuarksIm Standard-Modell der Teilchen-physik wird jede Kraft durch einecharakteristische Ladung verur-sacht: So hängt die elektromag-netische Kraft zum Beispiel mitder elektrischen Ladung der Teil-chen zusammen. Bei der starkenKraft spricht man von einer „Farb-ladung“ – die allerdings nichtsmit den herkömmlichen Farben zutun hat. Bei der Farbladung han-delt es sich lediglich um einenanschaulichen Namen für eineabstrakte Teilcheneigenschaft.

Die Quarks zum Beispiel kom-men in den „Farben“ rot, grün undblau vor, die Antiquarks in antirot,antigrün und antiblau. Beobachtetwerden allerdings nur „farbneu-trale“ Verbände: Teilchen ausdrei Quarks mit den drei Farbenrot, grün und blau, wie z.B. dasProton, oder Quark-Antiquark-Kombinationen mit einer Farbeund der jeweiligen Antifarbe.Nur solche farblosen Verbändeexistieren als freie Teilchen – nochnie wurde ein einzelnes farbigesTeilchen wie ein Quark oder einGluon gesichtet. Die Physikernennen diese Eigenschaft derstarken Kraft Confinement, aufDeutsch in etwa „Gefängnishaft“.Warum die Quarks in Teilchen wiedem Proton „gefangen“ sind, zähltzu den grundlegenden ungelöstenFragen der Teilchenphysik.

Tatort HERA. Ein Elektron stößt bei höchsten Ener-gien mit einem Proton zusammen und schlägt einQuark heraus. Das Elektron prallt zurück, das ge-

streute Quark erzeugt ein Bündel aus weiteren Teilchen,die Überreste des Protons ebenso. Sowohl das Elektronals auch die beiden „Jets“ hinterlassen ihre Spuren inden Detektoren H1 und ZEUS. Charakteristisch für diese„tiefunelastische Streuung“ ist, dass zwischen den bei-den Teilchenjets ebenfalls Teilchen zu finden sind: Wirddas getroffene Quark aus seinem Verband im Protonherausgeschleudert, so wirkt die starke Kraft zwischenden Quarks immer stärker, je weiter sich das getroffeneQuark entfernt. Wie „Gummibänder“ hält die starke Kraftden Verband zusammen. Irgendwann jedoch reißt diesesBand, und aus der darin gespeicherten Energie entstehennach Einsteins berühmter Formel E = mc2 weitere Teil-chen. Diese finden sich in den Detektoren zwischen demTeilchenbündel, das direkt von dem gestreuten Quarkstammt, und dem Protonenrest wieder.

Bei den mysteriösen „diffraktiven Ereignissen“, die beiHERA entdeckt wurden, klafft genau hier eine Lücke.Ein Elektron und ein Proton fliegen in den Detektorhinein; heraus kommt das gestreute Elektron (e), einenges Teilchenbündel von dem aus dem Proton heraus-geschleuderten Quark (X) – und das unversehrte Pro-ton (p). Sonst nichts. Kein Anzeichen für irgendwelcheÜberreste aus den „Gummibändern“ der starken Kraft,kein Anzeichen für eine Veränderung im Proton. Dieslässt darauf schließen, dass das Elektron ein farbneu-trales Objekt getroffen hat, ein Teilchen, das nicht überdie Gummibänder der starken Kraft mit dem Rest desProtons zusammenhing. Was das sein könnte, darüberstreiten sich bisher die Geister.

Im Fachjargon werden die sonderbaren Ereignissenach ebendieser Teilchenlücke benannt: Sie heißenrapidity gap-Ereignisse, kurz „RapGap“.

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RapGap bei HERA

Ein Ereignis der „tiefunelastischenStreuung“ bei ZEUS (rechts: Teilchenspuren im Detektor,links: die gemessene Energie inAbhängigkeit von der „Rapidität“,einem Maß für den Winkel, unterdem die Teilchen erzeugt werden).Aufgrund der besonderen Wirkungder starken Kraft erscheinen zwi-schen den Bruchstücken des Pro-tons (p) und dem Teilchenbündelvon dem herausgeschlagenenQuark (X) zahlreiche weitereTeilchen.

RapGap – ein „diffraktives“ Ereignisbei ZEUS (rechts: Teilchenspuren imDetektor, links: gemessene Energiein Abhängigkeit von der „Rapidität“).Hier ist der Protonenrest (p) im lin-ken Teil der Grafik nicht mehr zusehen – er sollte bei einem Wert vonca. 7 liegen. Außergewöhnlich ist,dass zwischen dem Teilchenbündelvon dem herausgeschlagenenQuark (X) und dem Protonenrestkeine weiteren Teilchen zu findensind. Diese „Lücke“ in der Rapidität(„RapGap“) ist ein Merkmal derDiffraktion.

erzeugte Teilchen

Rapidität

Rapidität

X p

e (gestreutes Elektron)

keine weiteren Teilchen

X

p bei Rap = 7

e

Ein grundlegendes Postulat derPhysik besagt, dass die Gesetze derPhysik im gesamten Universum gelten– egal, unter welchem Blickwinkel wirdas Geschehen betrachten. Zwar än-dert sich mit dem gewählten Bezugs-system das Bild, das der Betrachtervon einem Ereignis wahrnimmt; dochdie physikalischen Beobachtungenund die Ergebnisse, die man letzt-endlich erhält, sind unabhängig vondem Blickwinkel, unter dem derProzess beschrieben wird. So kannman bei HERA die Teilchenkollisionenzum Beispiel vom „Laborsystem“ ausanalysieren. Wie der Name verrät,sitzt der Betrachter dabei in seinemLaborstuhl und beobachtet, wie Elek-tron und Proton aufeinander zurasen,um dann im Mittelpunkt der DetektorenH1 und ZEUS zu kollidieren. In vielenFällen ist es jedoch günstiger, im„Ruhesystem des Protons“ zu arbeiten

– jenem Bezugssystem, das sich mitdem Proton mitbewegt. Dabei analy-siert der Betrachter das Geschehen,als würde er auf dem Proton sitzenund mit ihm mitfliegen. Das Protonerscheint dabei unbewegt, währenddas Elektron praktisch mit Lichtge-schwindigkeit auf das Proton zufliegt.

n diesem Bild trägt das Proton keine Bewegungsenergie. Die ge-Isamte Kollisionsenergie wird viel-

mehr durch das heranbrausende Elek-tron geliefert: Während das Elektronim Laborsystem nur 27,5 Gigaelektro-nenvolt (GeV) an Energie besitzt unddas Proton mit 920 GeV durch denHERA-Ring fliegt, wirkt es im Ruhe-system des Protons so, als würde dasElektron mit mehr als 50 000 GeVauf ein Proton mit einem Impuls von0 GeV treffen. Dieser zunächst schein-bar banale Unterschied hat jedoch tief

greifende Auswirkungen aufdas Bild, das sich dem Be-trachter beim Zusammenstoßder Teilchen bietet.

Den Schlüssel zum weiteren Verlaufder Dinge liefert die Heisenberg'scheUnschärferelation. In der Welt derQuanten kann sich ein Teilchen fürsehr kurze Zeit in weitere Teilchenaufspalten. Wie lange diese so ge-nannten Quantenfluktuationen existie-ren, gibt die Unschärferelation vor: Jeenergiereicher das ursprüngliche Teil-chen, desto langlebiger die Quanten-fluktuationen. So kann sich ein Photonzum Beispiel für kurze Zeit in einPaar aus Quark und Antiquark auf-spalten; diese können sich wiederumin weitere Teilchen aufteilen – bis so-zusagen die von der Unschärferela-tion vorgegebene Zeit abgelaufen istund alle Fluktuationen ihren Wegwieder in Form des ursprünglichenPhotons fortsetzen. Im Ruhesystemdes Protons besitzt das Elektron beiHERA eine derart hohe Energie, dassseine Quantenfluktuationen sehr lang-lebig sind. Etwa ein billiardstel Meterkann das Photon unter bestimmtenUmständen in Form von Quarks undGluonen zurücklegen; das ist 1000-malso weit wie die Größe des Protons.

Beim Zusammenstoß eines Elektronsund eines Protons im HERA-Ringsendet das Elektron ein Photon, einLichtteilchen, aus. Im Ruhesystem desProtons betrachtet, kann sich dasPhoton dank seiner hohen Energiein eine ganze Kaskade aus Quarks,Antiquarks und Gluonen verwandeln.Was dann schließlich mit dem Protonin Wechselwirkung tritt, ist nicht mehrdas ursprüngliche Photon, sondernein „Hadron“: ein aus Quarks zusam-mengesetztes Teilchen, das im Gegen-satz zum Photon nicht über die elektro-magnetische, sondern über die starkeKraft mit dem Proton kommuniziert.

Die Welt mit anderen Wenn das Proton ruht

Unter diesem Blickwinkel be-trachtet, erhält so manches physi-kalische Ergebnis eine alternativeErklärung. So wird der Anstieg derStrukturfunktion des Protons beikleinen Werten des Impulsanteils x(siehe Seite 64) in diesem Bild nichtetwa auf eine immer komplexer wer-dende innere Struktur des Protons zu-rückgeführt – dieses sitzt weiterhinunverändert in seinem Ruhesystem.In diesem Fall ist es vielmehr dasPhoton, das sich bei kleinen Wertenvon x in eine immer dichtere Wolkeaus Quarks und Gluonen verwandelt,die sich als Anstieg in der gemessenenStrukturfunktion niederschlägt. BeideBilder sind komplementär: Die Be-trachtungsweise ist verschieden;das erhaltene Ergebnis jedochbleibt dasselbe.

Auch die rätselhafte Diffrak-tion (siehe Seite 70) lässt sichim Ruhesystem des Protonserklären. In diesem Bild trifftnicht etwa das Photon auf ein farbneu-trales Teilchen im Proton, sondern esist das Photon selbst, das sich in ein(farbneutrales) Hadron verwandeltund schließlich als Hadron am Protonstreut. Die Wechselwirkung kann da-bei so „weich“ sein, dass das Protonganz bleibt und schließlich mit demElektron und dem gestreuten Hadronin den Detektoren als diffraktives Er-eignis nachgewiesen wird. Damit solltedie Reaktion zwischen Elektron undProton, die ursprünglich als elektro-magnetische Streuung begann, de factoeiner Hadron-Hadron-Streuung ent-sprechen (auch das Proton gehört zurFamilie der Hadronen) – was der Ver-gleich mit anderen Hadron-Hadron-Streuexperimenten bestätigt.

Die physikalischen Ergebnisse solcherHadron-Hadron-Streuungen lassensich bisher durch Modelle ganz gutreproduzieren. Eine Erklärung, wiediese Ergebnisse im Rahmen dergrundlegenden Theorie der starkenKraft, der Quantenchromodynamik,zustande kommen, bieten diese Mo-delle jedoch nicht. Hier könnten dieHERA-Experimente eine Schlüssel-rolle spielen. Mit den Parametern desExperiments lässt sich nämlich dieBeschaffenheit der Fluktuationen vari-ieren, in die sich das Photon verwan-delt: Misst man Reaktionen mit hohenImpulsüberträgen (Q2 groß), so istdie Quantenfluktuation sehr schmal.Im Extremfall besteht sie aus einemeinzelnen Quark-Antiquark-Paar.

Je kleinerder Impuls-

übertrag Q2

der Reaktion ist,desto breiter ist das

aus dem Photon ge-bildete Hadron, desto

mehr Quarks und Gluo-nen enthält es. Bei HERA

lässt sich quasi aus einemPhoton ein immer komplexe-

res Hadron bauen – bei durch-stimmbarer Komplexität der ge-

bildeten Quark-Gluon-Kaskade.Der Mechanismus, der hinter die-

sem Übergang vom einzelnen Quark-Antiquark-Paar zum komplexen Ha-dron steckt, ist ein rein von der starkenKraft beherrschter Prozess. SeineUntersuchung erlaubt es, die Quanten-chromodynamik in ihren elementa-ren Grundlagen zu testen. Letztend-lich kann dieser Prozess uns verraten,wie die starke Kraft die Quarks undGluonen in den Hadronen genauzusammenhält – und uns damit er-lauben, das Geheimnis um dieGefängnishaft der Quarks im Protonzu lüften.

73

Augen:...

Die kinematischen Variablenx und Q2:x: Anteil des Protonenimpulses, dendas Quark trägt, mit dem das Elektronzusammenstößt; Impulsübertrag Q2: Quadrat des Im-pulses, der bei der Kollision zwischenden Stoßpartnern übertragen wird;ein Maß für die Auflösung des HERA-Mikroskops (Q2 = 1 GeV2 entsprichteiner Auflösung von einem Fünfteldes Protonenradius)

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Im Ruhesystem des Protons Im Ruhesystem des Protons betrachtet, sieht die Welt anders aus – die physikalischen Ergebnisse jedoch bleibengleich: In diesem Fall ist es nicht ein einfaches Photon (�), das mit einem höchst komplexen Proton zusammen-stößt (vergleiche Seite 65). Es erscheint vielmehr so, als würde das Photon sich in ein komplexes Teilchen ausQuarks, Antiquarks und Gluonen (ein „Hadron“) verwandeln, das schließlich auf das Proton trifft.

Ist der Impulsübertrag Q2 klein (oben), so bildet dasPhoton ein großes, komplexes Hadron. Bei größeremQ2 ist das Hadron einfacher, es kann sogar aus nureinem einzelnen Quark-Antiquark-Paar bestehen (unten).

Mit dem Impulsübertrag lässt sich also die Komplexitätdes gebildeten Hadrons einstellen: So können dieHERA-Physiker im Detail untersuchen, wie solche Teil-chen gebildet werden und welche Eigenschaften derstarken Kraft dabei eine Rolle spielen. Womöglich er-laubt dies auch zu klären, warum die Quarks im Proton„gefangen“ sind.

Mit der Entdeckung des top-Quarks1994 und dem direkten Nachweis desTau-Neutrinos im Sommer 2000 beiFermilab, Chicago, ist der Teilchen-zoo des Standard-Modells beinahekomplett. Was noch fehlt, ist dasHiggs-Teilchen, das für die Erzeu-gung der Teilchenmassen verantwort-lich sein soll. Bis heute beschreibtdas Standard-Modell die Gescheh-nisse im Reich der kleinsten Teilchenmit überaus großem Erfolg. Dennochsind die Physiker mit dem Modellnicht zufrieden. Es lässt viele Fragenoffen, die Schwerkraft findet darinkeinen Platz, und zu viele scheinbarwillkürliche Naturkonstanten müssenexperimentell bestimmt und in dieBerechnungen hineingesteckt werden.Letztendlich suchen die Physikernach einer umfassenderen Theorie –einer „Weltformel“, die über dasStandard-Modell hinausgeht undunsere Welt anhand nur wenigerAnnahmen und Konstanten erklärt.

nwärter für eine solche um-fassendere Theorie gibt es Aeinige (siehe Seite 56). Bisher

fehlt jedoch ein experimenteller Hin-weis darauf, welcher dieser Theoriendie Natur den Vorzug gibt. Deshalbwird an den Beschleunigerzentrenweltweit nach Effekten „jenseits“ desStandard-Modells gefahndet: DieEntdeckung eines neuen Teilchensoder einer neuen Kraft würde schließ-lich den wohl deutlichsten Fingerzeig

auf eine Erweiterung des Standard-Modells liefern.

Ausschlaggebend dafür, ob ein Teil-chen an einem Beschleuniger direkterzeugt werden kann, sind sowohldie Art der aufeinander prallendenTeilchen als auch die Kollisionsenergie:die „Schwerpunktsenergie“ des Be-schleunigers. Sie beträgt bei HERAetwa 320 Gigaelektronenvolt (GeV).Teilchen, die leichter als diese Schwer-punktsenergie sind, können dankE = mc2, Einsteins berühmter Äqui-valenz von Masse und Energie, direktproduziert werden. Zu erkennen sindsie einerseits an ihrem charakteristi-schen „Fußabdruck“ – ihrer Art, inbestimmte weitere Teilchen zu zer-fallen, die sich an dem Bild der Teil-

chenspuren bei der Kollision direktablesen lässt. Trägt man außerdemdie Häufigkeit der beobachteten Er-eignisse gegenüber der Energie desSystems Elektron/getroffenes Quarkauf, sollte sich ein neues Teilchen als„Spitze“ in dieser Verteilung bemerk-bar machen: Bei der Energie, die derMasse des neuen Teilchens entspricht,steigt die Rate der gemessenen Ereig-nisse an; sie zeigt eine „Resonanz“ –ein untrügliches Zeichen dafür, dashier etwas Neues entstanden ist.

Da HERA weltweit der einzige Elek-tron-Proton-Speicherring ist, sind dieExperimente H1 und ZEUS für dieEntdeckung bestimmter Teilchen-sorten besonders geeignet. In man-chen Theorien jenseits des Standard-Modells treten zum Beispiel so ge-nannte Leptoquarks auf, Zwitterteil-chen, welche die Eigenschaften vonLeptonen und Quarks in sich vereinen.Da bei HERA ein Lepton (das Elek-tron) auf die Quarks im Proton trifft,könnten solche Leptoquarks hierdirekt aus einem Zusammenschlussbeider Teilchen entstehen. AndereBeschleuniger müssten dagegen ge-nügend Energie zur Verfügung haben,um die Leptoquarks paarweise zu er-zeugen. Auch nach supersymmetri-schen Teilchen, die im Rahmen derTheorie der Supersymmetrie vorher-gesagt werden, wird bei HERA nachKräften geforscht – bisher allerdingsebenso vergeblich wie an anderenBeschleunigern.

75

Auf der Suche nachneuen Teilchen undKräften

Eine „Resonanz“ in der Häufigkeit

der beobachteten Ereignisse: Hier

ist ein neues Teilchen entstanden.

Die direkte Suche nach neuen Teil-chen ist durch die Schwerpunkts-energie des Beschleunigers begrenzt;ein Trick erlaubt es den Physikernjedoch, mit ihren Experimenten quasi„um die Ecke“ zu blicken, in einenBereich hinein, der weit jenseits derzur Verfügung stehenden Energieliegt. Dieser Trick hat sich in der Ver-

gangenheit bereits bestens bewährt:So konnten die Botenteilchen W undZ der schwachen Kraft, bevor sie 1983bei CERN in Genf entdeckt wurden,auf der Grundlage experimentellerErgebnisse mit guter Genauigkeit vor-hergesagt werden.

Das Prinzip beruht auf dem Kon-zept der „Kontaktwechselwirkung“.

Wenn die Energie des Beschleunigerszu niedrig ist, um einen bestimmtenProzess aufzulösen, dann wirkt dieWechselwirkung zwischen den Teil-chen so, als fände sie an einem Punktstatt: Zwei Teilchen treffen an einemPunkt zusammen, zwei Teilchen stre-ben danach auseinander; was genauan diesem Punkt passiert ist, lässt sich

Der Vergleich zwischen Messung

(rote Punkte) und Theorie (blaue

Linie) erlaubt es, die Existenz von

neuen Teilchen wie Leptoquarks mit

einer Masse oberhalb der Schwer-

punktsenergie von HERA auszu-

schließen (blaue Linie für ein Lepto-

quark mit einer Masse von 900 GeV

bei starker Kopplung).

Ein Neutron zerfällt in ein Proton, ein Antineutrino und ein Elektron: Bei niedrigen Energien wirkt die

Wechselwirkung, als finde sie an einem Punkt statt. Erhöht sich mit der Energie die Auflösung, bei der man

den Zerfall betrachtet, so erkennt man, dass er tatsächlich über den Austausch eines W-Teilchens stattfindet.

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bei den erreichbaren Energien nichterkennen. Hier könnte zum Beispielein besonders schweres – neues –Botenteilchen ausgetauscht wordensein, das eine bisher unbekannte Kraftvermittelt. Der Einfluss solcher hoch-energetischen, unerreichbaren Pro-zesse bleibt allerdings auch bei nie-drigeren Energien nicht unbemerkt:Sie interferieren mit den bekanntenProzessen und verändern dadurchdie Häufigkeit der gemessenen Reak-tionen. Weisen die experimentellenDaten also eine Abweichung gegen-über der theoretischen Vorhersage desStandard-Modells auf, so könnte diesauf einen hochenergetischen Prozessjenseits der Energie des Beschleunigershinweisen. Anhand solcher Analysen

der HERA-Daten lässt sich bisher aus-schließen, dass es zusätzliche Funda-mentalkräfte zwischen Elektronen,Quarks oder Gluonen gibt, derenReichweiten größer als etwa ein Fünf-tausendstel des Protonenradius sind.

Die durch neue Effekte verursachtenVeränderungen sollten sich insbeson-dere bei der höchsten Auflösung,also bei hohen Impulsüberträgen Q2,zeigen – genau in jenem Bereich, indem sowieso nur sehr wenige Reak-tionen auftreten. Entsprechend lang-wierig gestaltet sich die Suche. Soverzeichneten die HERA-ExperimenteH1 und ZEUS im Februar 1997 inihren Datensätzen einen unerklär-lichen Überschuss an hochenerge-tischen Ereignissen. Darüber, ob

diese Abweichung nur eine statisti-sche Fluktuation ist oder tatsächlichauf etwas Neues hindeutet, wurdedamals auch in der Presse wild spe-kuliert. Endgültig geklärt werdenkonnte der Effekt jedoch nicht – dieDatenmenge reichte dafür nicht aus.In der inzwischen siebenfach größerenDatenmenge ist die Abweichungnoch vorhanden, sie hat allerdingsan Signifikanz verloren. Wodurchgenau sie verursacht wird, kann wahr-scheinlich erst abschließend geklärtwerden, wenn den Experimenten nachdem Umbau von HERA die vierfacheLuminosität des Beschleunigers zurVerfügung steht.

Im Februar 1997 registrierten H1 und ZEUS einen unerklärlichen Über-

schuss von Ereignissen, der auf „neue Physik“ hinzuweisen schien. Was

den Effekt verursacht, kann erst nach der Luminositätserhöhung von

HERA abschließend geklärt werden.

Links – rechts, vorne – hinten, oben –unten. Der Raum, in dem wir uns be-wegen, hat offensichtlich drei Dimen-sionen. Hinzu kommt die Zeit als vierteDimension. Dabei bleibt es in denmeisten Sciencefiction-Romanen aller-dings nicht. Kaum geraten die Helden– in den üblichen vier Dimensionen –in eine ausweglose Situation, tut sichprompt eine fünfte auf, durch dieebenso prompt die Rettung heran-naht. Tatsächlich ist der Gedanke,unsere Welt könne über die bekanntendrei Raumdimensionen hinaus in einenhöher dimensionalen Raum einge-bettet sein, weit mehr als eine bloßeSpekulation von Sciencefiction-Autoren:Auch einige Theorien jenseits desStandard-Modells postulieren dieExistenz von mehr als nur drei Raum-dimensionen. String-Theorien zum Bei-spiel ersetzen die punktförmigen Teil-chen des Standard-Modells durchwinzige Saiten, die in bis zu zehn räum-lichen Dimensionen schwingen. Dassuns diese zusätzlichen Raumdimen-sionen verborgen bleiben, wird da-durch erklärt, dass diese Dimensionenauf kleinsten Abständen „aufgerollt“sind – ähnlich wie ein Strohhalm, deraus der Ferne wie eine eindimensio-nale Linie erscheint, während dieAmeise sehr wohl auf seiner zwei-dimensionalen Oberfläche herum-krabbeln kann.

intergrund dieser Überlegun-gen ist die Vereinigung der HNaturkräfte zu einer einzigen

Urkraft (siehe Seite 62). Während dieelektromagnetische und die schwacheKraft schon bei den heutzutage er-reichbaren Energien von 100 Giga-elektronenvolt (GeV) gleich stark

werden, findet die Vereinigung derdaraus entstehenden elektroschwachenKraft mit der starken Kraft erst beietwa 1016 GeV statt – weit jenseitsder Reichweiteeines jeden er-denkbaren irdi-schen Teilchenbe-schleunigers. DieSchwerkraft ist beiunseren alltäg-lichen Energiensogar soschwach,dass sie erstbei 1019 GeVdie Stärke deranderen Kräfteerreicht. DieseEnergieskala – diePlanck-Energie – ent-spricht Abständen vonnur 10-35 Metern, Planck-Länge genannt. Erst beidiesen gigantischenEnergien, so nahmendie Physiker bisheran, würde sich diegroße Vereinigungder Gravitationmit den übrigenKräften in einer„Weltformel“ offen-baren. Zwischen derEnergieskala der elektro-schwachen Vereinigung undder Zusammenführung mit derSchwerkraft lägen damit gewaltige17 Größenordnungen – ein ausgespro-chen unbefriedigender Unterschied,der auch die Theoretiker vor schwie-rige Probleme stellt. Außerdem wäredie vereinheitlichte Theorie damit inabsehbarer Zukunft hoffnungslos

außer Reichweite einer direkten ex-perimentellen Überprüfung.

Im Jahr 1998 jedoch warteten NimaArkani-Hamed, Savas Dimopoulosund Georgi Dvali an der UniversitätStanford in Kalifornien mit einer radikal

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Die Suche nach Extra-

neuen Idee auf.Was wäre denn, wenn die Planck-Skalanicht bei 1019 GeV, sondern effektivschon im Bereich von 1000 GeV läge?Dieser Ansatz rückt die große Ver-einheitlichung aller Naturkräfte unddamit die „Theorie für Alles“ in dieReichweite der nächsten Beschleuni-ger wie dem LHC bei CERN in Genfund dem von DESY vorgeschlagenenTESLA-Beschleuniger. Die Idee ist

ausgesprochen attraktiv und stehterstaunlicherweise in keinerlei Wider-spruch zu bisherigen Beobachtungen.Die Vereinheitlichung bei der her-kömmlichen Planck-Skala von 10-35 Me-tern beruht nämlich auf der Annahme,dass Newtons Gravitationsgesetz –das die Schwerkraft im Fall vonSonnensystemen, fallenden Äpfelnund Menschen perfekt beschreibt –auch bei kleinsten Entfernungen gültigist. Tatsächlich ist es bisher jedochnur bis zu Entfernungen oberhalbvon 0,2 Millimetern experimentellüberprüft worden. Dass das Gravita-tionsgesetz universell gültig ist, wurdebisher allgemein angenommen – be-wiesen ist es allerdings nicht. Undimmerhin muss man über 32 Größen-ordnungen extrapolieren, um daraufzu schließen, dass die Schwerkraft erstbei der Planck-Länge von 10-35 Meternstark wird.

Führt man nun zusätzliche Dimen-sionen ein, die auf Abständen unter-halb von 0,2 Millimetern „aufgerollt“sind, so ändert sich das Gravitations-gesetz bei diesen kurzen Abständen;bei den bisher experimentell über-prüften Entfernungen oberhalb von0,2 mm bleibt dagegen alles beimAlten. Ein Effekt dieser Änderung istjedoch, dass die Schwerkraft bei im-mer kleineren Abständen, also mitwachsender Energie, viel schnellerstark wird als bisher angenommen.Mit der richtigen Anzahl und Größeder Extra-Dimensionen könnte die„effektive“ Planck-Skala somit tatsäch-lich in den Bereich um 1000 GeVrücken. Damit würde zumindest einTeil der String-Theorien, nämlich derhöher dimensionale Rahmen, in demsie sich bewegen, einer experimentellenÜberprüfung an bestehenden oder ge-planten Beschleunigern zugänglich.

79Gibt es zusätzliche Raumdimensionen? Auch zu dieser Frage kann der

Vergleich der HERA-Daten (rot) mit der Theorie (blaue Kurve für eine

effektive Planck-Skala von 800 GeV) Entscheidendes beisteuern.

Dimensionen

Wenn diese zusätzlichen Dimensio-nen so groß sind, dann stellt sich dieFrage, warum man sie bisher nochnicht gesehen hat. Die Antwort isteinfach und seltsam zugleich: Alle ex-perimentell bisher untersuchten Teil-chen sind weiterhin auf die üblichendrei Raumdimensionen beschränkt,ähnlich wie auf einer Wand oderMembran, die in die zusätzlichenDimensionen eingebettet ist. Alleindie Gravitonen – die hypothetischenBotenteilchen, welche die Schwerkraftübertragen – können sich frei in denExtra-Dimensionen bewegen. Die zu-sätzlichen Dimensionen machen sichalso ausschließlich über die Gravita-tionskraft bemerkbar.

Damit könnte das Konzept der gro-ßen Extra-Dimensionen einige Rätselder Teilchenphysik und der Kosmo-logie lösen; so zum Beispiel die Frage,woraus die „dunkle Materie“ besteht.Mehr als 90 Prozent der Masse desUniversums ist unsichtbar und nichtaus Quarks und Elektronen aufge-baut, sie macht sich ausschließlichdurch ihre Schwereanziehung be-merkbar. Womöglich hält sich dieseMaterie in Paralleluniversen auf, dievon unserem durch zusätzlicheDimensionen getrennt sind. SolcheMaterie würde unser Universum nurdurch die Schwerkraft beeinflussen,

deren Botenteilchen sich frei durch dieExtra-Dimensionen bewegen können.Die Photonen, Gluonen und W- undZ-Teilchen dagegen, mit denen diePhysiker experimentieren, wären un-widerruflich in unserem Universumgefangen und könnten die dunkleMaterie deshalb nicht offenbaren.

Schon jetzt können die Teilchen-beschleuniger-Experimente solchgroßen Extra-Dimensionen auf indi-rekte Weise auf die Spur kommen –so auch H1 und ZEUS bei HERA.Wieder wird hier der Einfluss ver-schiedener Dimensionen auf dieHERA-Daten theoretisch berechnetund anschließend mit den gemessenenWerten verglichen. Bisher zeigen sichin den Ergebnissen keine Anzeichenfür zusätzliche Dimensionen überdie uns vertrauten drei Raumdimen-sionen hinaus. Daraus können dieHERA-Experimente bestimmen, dassdie effektive Planck-Skala oberhalbvon 800 GeV liegen muss; nach demUmbau von HERA werden die Experi-mente in der Lage sein, das Terrainauf der Suche nach der effektivenPlanck-Skala bis etwa 1200 GeV zusondieren.

80

Unser Universum existiert möglicherweise auf einer Wand oder Membran, die in den Extra-Dimensionen liegt.

Die Linie auf dem Zylindermantel (unten rechts) und die flache Ebene stellen unser dreidimensionales Univer-

sum dar, das alle bekannten Teilchen und Kräfte gefangen hält – mit Ausnahme der Gravitation: Die Schwer-

kraft (rote Linien) breitet sich in allen Dimensionen aus.

Schwerkraft

Schwerkraft

Extra-Dimension

unser dreidimensionalesUniversum

Zwei Extra-Dimensionen, auf-

gerollt in Form einer Kugel.

81

Das Experiment HERA-B ist ein Spezia-list. Gebaut, um eine ganz bestimmteNadel im sprichwörtlichen Heuhaufenaufzuspüren: jenen „Goldenen Zer-fall“ von B-Mesonen, der in 100 Milli-arden Teilchenreaktionen von Proto-nen und Atomkernen nur ein einzigesMal auftritt und an dem sich dieUrsache für das Ungleichgewicht vonMaterie und Antimaterie im Univer-sum besonders gut studieren lässt.Das Wettrennen um die B-Mesonenhat die internationale HERA-B-Gruppe zwar gegen die so genann-ten B-Mesonen-Fabriken bei SLAC,USA, und KEK in Japan verloren – zugroß waren die Verzögerungen, dieder gewaltige, für das Experimentnotwendige Vorstoß in technologi-sches Neuland mit sich gebracht hat.Doch haben sich andere Wege aufge-tan, die die spezifischen Stärken desDetektors nutzen und dem Spezia-listen aus der HERA-Halle West neueEinsatzmöglichkeiten bieten.

as Proton rast mit beinahe Lichtgeschwindigkeit durch Ddas Strahlrohr. Eine lang ge-

zogene Linkskurve, dann die Zielge-rade, noch 20 Meter bis zum Targetvon HERA-B – Treffer! Für das Protonsind die haarfeinen Drähte, die ihmdie Physiker von HERA-B in den Wegstellen, allerdings fast durchsichtig:Zwischen den Atomkernen im Metallbefindet sich hauptsächlich – nichts.Fast ungestört braust das Teilchen

durch den Draht hindurch. Doch dannkommt es zum Aufprall. Frontal fliegtdas Proton auf einen Atomkern zuund trifft mit voller Wucht einen vondessen Bausteinen. Beide bersten aus-einander, in einem Feuerwerk ausQuarks und Gluonen. Die Materie-bausteine mischen sich neu – es ent-stehen neue Teilchen, die, vom Elandes einfliegenden Protons mitgeris-sen, aus dem Draht hervorbrechen,um ihren Weg in den Komponentendes Detektors zu beenden.

Bei den Zusammenstößen der Pro-tonen aus dem Beschleuniger mit denDrähten des HERA-B-Targets habenes die Physiker auf eine besondereSpezies abgesehen: die Gattung derCharmonium-Teilchen, die aus einemcharm-Quark und einem charm-Anti-quark bestehen. Diese Teilchen wer-den beim Aufprall des Protons imInneren des getroffenen Atomkernsgebildet. Bevor sie den Atomkern ver-lassen und ihren Weg in die Detektor-komponenten fortsetzen, müssen siealso ein Stück durch den Kern hin-durchfliegen. Dabei werden sie inihrem Fortkommen durch die Bau-steine des Kerns – die Protonen undNeutronen, die ihrerseits wieder ausQuarks und Gluonen aufgebaut sind– gehindert. Nun gibt es von denCharmonium-Teilchen verschiedeneVersionen, die unterschiedlich losegebunden sind: Am engsten hängencharm-Quark und -Antiquark in denso genannten J/�-Teilchen (sprich

„J/Psi“) zusammen, die ihren unro-mantischen Doppelnamen ihrer Ent-deckung durch zwei unabhängigeForschergruppen verdanken. Losergebunden sind zum Beispiel das �’(sprich „Psi-Strich“) oder das �c(„Chi-C“) – im Fachjargon heißt es,die Teilchen besitzen unterschiedlicheBindungsenergien. Je loser die Char-monium-Teilchen gebunden sind,desto leichter „zerbrechen“ sie, wennsie auf ihrem Weg durch den Atom-kern mit der Kernmaterie wechsel-wirken. Und je größer der Atomkern– je länger also der Weg, den die Teil-chen im Kern zurücklegen müssen –,desto höher ist auch die Wahrschein-lichkeit, dass die Charmonium-Teil-chen nicht unbehelligt wieder ausdem Kern herauskommen. Je nachGröße des Kerns finden also unter-schiedlich viele Charmonium-Teilchenihren Weg aus dem Atomkern her-aus – ein Phänomen, das die Physi-ker als „Charmonium-Unterdrückung“bezeichnen.

Bei HERA-B können gleich vierTarget-Drähte aus verschiedenenMaterialien auf einmal in den Proto-nenstrahl von HERA gebracht werden.Damit lässt sich die Erzeugung vonCharmonium-Teilchen gleichzeitigan unterschiedlich schweren Atom-kernen studieren, was Ergebnisse mitdeutlich kleineren Messfehlern garan-tiert, als wenn man die Messungennacheinander durchführt. Da die B-Mesonen, für deren Untersuchung

HERA-Bauf der Spur desCharmoniums

HERA-B ursprünglich gebaut wurde,ebenfalls in J/�-Teilchen zerfallen, istder Detektor – trotz oder vielmehr auf-grund seiner speziellen Ausrichtungauf ebendiese Teilchen – besondersgut zum Studium des Charmoniumsgeeignet. Das Phänomen der Char-monium-Unterdrückung sollte über-wiegend bei jenen Teilchen auftreten,die im Atomkern besonders langsamlaufen, da sich diese am längsten imKern aufhalten. Erkennen kann mandiese Teilchen daran, dass sie einenkleinen Vorwärtsimpuls besitzen unddeshalb relativ zum Protonenstrahlunter großen Winkeln in den Detektorhineingestreut werden. Frühere Ex-perimente bei CERN in Genf undFermilab in Chicago mussten sich beider Untersuchung des Charmoniumsauf kleine Winkel beschränken.HERA-B dagegen deckt auch den bis-her unzugänglichen Bereich großerStreuwinkel ab – also gerade jenenBereich, in dem sich die verschiedenentheoretischen Modelle für die Produkti-on und Absorption von Charmonium-Teilchen besonders gut testen lassen.

Die Wechselwirkung des Charmo-niums mit der Materie des Kerns, indem es entsteht, gibt Aufschluss übereine Reihe von offenen Fragen in derKernphysik. Doch auch für die Teil-

chenphysiker und die Kosmologensind diese Ergebnisse von großemInteresse: Seit geraumer Zeit suchenExperimente weltweit nach dem sogenannten Quark-Gluon-Plasma, der„Ursuppe“ des Universums. Theore-tischen Überlegungen zufolge existier-ten die Quarks und Gluonen wenigemillionstel Sekunden nach dem Ur-

knall als freie Teilchen, bevor sie imZuge der Abkühlung des Universumszu „normaler“ Materie kondensierten.Ein solches Plasma aus freien Quarksund Gluonen könnte heutzutage nochin extrem dichten Neutronensternenvorkommen. Im Labor versuchen die

Forscher bei CERN in der Schweizund beim Brookhaven National Labo-ratory in den USA, durch den Zu-sammenprall von hochbeschleunig-ten, schweren Atomkernen die für einQuark-Gluon-Plasma notwendigenEnergiedichten zu erzeugen. Der Nach-weis, ob tatsächlich ein Quark-Gluon-Plasma produziert wurde, ist aller-dings nur indirekt möglich – ein Wegist genau jene Charmonium-Unter-drückung, deren Details HERA-Bunter die Lupe nimmt. Denn die Rate,mit der die J/�-Teilchen in Teilchen-kollisionen gebildet werden, wirddurch ein Quark-Gluon-Plasma eben-falls merklich herabgesetzt: Bevor diecharm-Quarks und -Antiquarks einJ/� bilden, wechselwirken sie mit denQuarks des Plasmas und stehen da-

mit für die Teilchenbildung nichtmehr zur Verfügung. Das Prinzip derCharmonium-Unterdrückung in her-kömmlicher Kernmaterie genau zu ver-stehen, ist die Voraussetzung für diephysikalische Interpretation der Ex-perimente zum Quark-Gluon-Plasma.

82

5 Meter hoch und 6 Meter breit: das

elektromagnetische Kalorimeter

von HERA-B, in dem die Teilchen

gestoppt und nachgewiesen werden.

Die „Ursuppe“ des Universums: Im Atomkern sind die Quarks innerhalb

der Protonen und Neutronen „gefangen“ (li.). In einem Quark-Gluon-

Plasma dagegen treten Quarks und Gluonen als freie Teilchen auf (re.).

Je genauer man in dasProton hineinblickt, so ver-raten die Messungen derHERA-Experimente H1 undZEUS, desto mehr Teilchenscheint es zu enthalten: Diedrei Valenzquarks, die demProton seine Identität verleihen,schwimmen in einem ganzen„See“ aus kurzlebigen Quarks, Anti-quarks und Gluonen. Doch die Kom-plexität geht noch einen Schritt weiter.Denn all diese Teilchen besitzeneinen Eigendrehimpuls, den „Spin“.Und alle bewegen sie sich – vergleich-bar mit einem Karussell auf dem Jahr-markt, bei dem sich die Mitfahrerzusätzlich wahllos auf ihren Sesselndrehen. Dennoch fügt sich diese bro-delnde, wirbelnde „Suppe“ zu einemGebilde zusammen, das ebenfallseinen klar definierten Spin trägt. Wiekommt dieser Spin des Protons zu-stande? Dies herauszufinden, istForschungsschwerpunkt des HERA-Experiments HERMES.

DasRätsel um

den Spin der Nukleonen– also der Protonen und Neutronen– beschäftigt die Teilchenphysikerschon geraume Zeit. In den einfachs-ten Modellen ging man Mitte der1960er Jahre zunächst davon aus, dassder Spin des Nukleons aus denender drei Valenzquarks entsteht: ZweiQuarks „drehen“ sich in eine Richtung,das andere entgegengesetzt, so dasssich zwei der Spins aufheben. Was

übrig bleibt, gibt den Spindes Nukleons vor – eine

einfache, elegante und befriedigende

Erklärung, diekaum in Fragegestellt wurde.Seit Ende der1980er Jahrehat sich je-doch heraus-gestellt, dassdie Quarkszusammenge-

nommen we-niger als ein

Drittel des Nukle-onenspins liefern.

Diese Erkenntnis kam so überraschend,dass man zunächst von einer wahren„Spinkrise“ sprach. Inzwischen ist klar,dass nicht nur die Valenzquarksihren Beitrag zum Spin des Nukleonsleisten. Auch die Spins der Seequarksund der Gluonen sowie die Bahndreh-impulse, die durch die Bewegung derTeilchen entstehen, steuern ihren Teilbei. Herauszufinden, wie genau diesgeschieht, ist jedoch alles andere alseinfach. Da HERMES im Gegensatzzu älteren Experimenten die Beiträgeder verschiedenen Quarktypen ge-trennt bestimmt, konnte das HERA-Experiment hierzu in den letzten Jahrenentscheidende Beiträge erbringen.

83

HERMES und dasSpinrätsel

Bei HERMES trifft der polarisierteElektronenstrahl von HERA auf einGas, dessen Atomkerne ebenfallspolarisiert wurden – z.B. Wasserstoff,dessen Kern aus einem Proton be-steht, oder Deuterium mit einem

Kern aus einem Proton und einemNeutron. Über den Austausch einesPhotons, das die Polarisation der Elek-tronen zum Teil übernimmt, streuendie Elektronen an einem Quark imInneren der Protonen oder Neutro-

nen in den Atomkernen. Sie tretendabei allerdings nur mit Quarks derentgegengesetzten Spinrichtung inWechselwirkung. Diese werden ausdem Nukleon herausgeschlagen undbilden neue Teilchen, die wie das ge-streute Elektron in den Detektorkom-ponenten des Experiments nachge-wiesen werden. Je nachdem, wie mandie Polarisationsrichtung der Elektro-nen und Gasatome relativ zueinandereinstellt, treten die Streuereignisseunterschiedlich häufig auf; aus diesergemessenen Asymmetrie lässt sichschließlich der Beitrag aller Quarksim Nukleon zum Gesamtspin be-stimmen. Dadurch, dass HERMESnicht nur das gestreute Elektron,sondern auch die vom gestreutenQuark stammenden Teilchen nach-weist und identifiziert, können dieBeiträge der verschiedenen Quark-sorten zum Nukleonenspin einzelnaufgeschlüsselt werden.

So konnte HERMES die Polarisa-tion der up- und down-Quarks so-wie der Seequarks im Proton mithoher Genauigkeit bestimmen. Es zeigt

84

Präzise vermessen: die Polarisation der up- und down-Quarks sowie

der Seequarks im Proton. Die Spins der up-Quarks zeigen bevorzugt in

Richtung des Protonenspins, die down-Quarks entgegengesetzt. Die See-

quarks tragen kaum zum Spin des Protons bei. (Die schwarzen Bänder

geben die systematischen Fehler der Messung an.)

sich, dass die Spins der up-Quarksbevorzugt in die gleiche Richtung wei-sen wie der Gesamtspin des Protons,während sich die down-Quarks bevor-zugt entgegengesetzt ausrichten. DieSeequarks tragen im Mittel offenbarnur einen geringen Anteil zum Proto-nenspin bei – bei den bisher analy-sierten Daten ist der Messwert sogarnoch mit Null verträglich. Mit der Aus-wertung der sehr erfolgreichen Mess-periode 2000 werden die HERMES-Physiker den Beitrag der Spins derSeequarks voraussichtlich noch er-heblich genauer bestimmen können.

HERMES konnte weltweit denersten direkten Hinweis auf den Bei-trag der Gluonen zum Spin des Nukle-ons geben. Diese Untersuchung istäußerst schwierig, da die einfliegenden

Elektronen die starke Kraft nichtfühlen und somit die Gluonen – imGegensatz zu den elektrisch geladenenQuarks – nicht direkt „sehen“ können.Zwar ist es möglich, die Polarisationder Gluonen indirekt aus der polari-sierten Strukturfunktion des Nukleonsherauszurechnen, die Spanne der welt-weiten Daten reicht für eine präziseBestimmung bisher jedoch nicht aus.So griff man bei HERMES zu einerdirekten, wenn auch nahezu ebensokniffligen Methode, dem Prozess der„Photon-Gluon-Fusion“. Hierbeiwechselwirkt das von dem Elektronausgesandte Photon über ein Quark-Antiquark-Paar mit dem Gluon. Diegemessene Asymmetrie der Streu-prozesse deutet auf eine positiveGluonpolarisation hin: Die Spins derGluonen scheinen in Richtung desNukleonenspins zu zeigen und da-mit zumindest einen Teil des fehlen-den Spins beizutragen. Dieser experi-mentelle Hinweis liefert einen erstenAnhaltspunkt für die Überprüfung derverschiedenen theoretischen Modellezum Nukleonenspin, die sich selbstüber das Vorzeichen der Gluonpolari-sation nicht einig sind.

Der Bahndrehimpuls der Teilchenim Nukleon entzog sich bislang jederexperimentellen Überprüfung. Neuestetheoretische Überlegungen scheinenjedoch einen Weg aufzuzeigen, wieman den Beitrag dieser Bahndreh-impulse zum Gesamtspin des Nukle-ons tatsächlich experimentell bestim-men könnte. Bislang ist das Ganzenoch Zukunftsmusik – doch dieHERMES-Physiker sind sich sicher,dass sie an der vordersten Front da-bei sein werden, sollte sich dieserneue Weg als gangbar erweisen.

85

Nukleon:Oberbegriff für Protonen und Neu-tronen, die aus drei Quarks zu-sammengesetzten Bausteine desAtomkerns

Spin: der innere Drehimpuls der Teilchen.Anschaulich kann man sich den Spinam ehesten wie die Drehbewegungeines Kreisels vorstellen – das Bild hatjedoch seine Grenzen, da Teilchen wieElektronen, Quarks und Gluonen nachheutigem Verständnis punktförmig sindund sich deshalb nicht wirklich umihre Achse drehen können. Das mitdem Spin verbundene magnetischeMoment bewirkt, dass sich die Teil-chen in einem Magnetfeld wie kleineMagnete verhalten und sich den Feld-linien entsprechend ausrichten.Der Wert des Nukleonenspins beträgtin Einheiten des elementaren Drehim-pulses 1/2 – man spricht deshalb vonSpin-1/2-Teilchen. Die Quarks undElektronen, aus denen sich die Materieaufbaut, sind ebenfalls Spin-1/2-Teilchen.Anders ist es mit den Botenteilchenwie dem Photon und den Gluonen:Ihr Spin hat den Wert 1.

Der HERMES-Detektor in der HERA-

Halle Ost: im Vordergrund der Be-

reich des Gas-Targets, dahinter der

große Spektrometer-Magnet (blau).

Hauptaugenmerk von HERMES istund bleibt der Spin des Nukleons.Doch schon in den ersten Betriebs-jahren wurde klar, wie vielseitig sichdieses HERA-Experiment auch darüberhinaus einsetzen lässt. Insbesonderekann die Speicherzelle, durch die derpolarisierte Elektronenstrahl von HERAhindurchfliegt, mit einer ganzen Reihevon unpolarisierten Gasen relativhoher Dichte gefüllt werden. Damitlassen sich bei hoher Ereignisrateunter anderem zahlreiche Unter-suchungen zur Struktur von Kern-materie durchführen.

m Zentrum einer dieser Studien steht zum Beispiel die Frage, wie ITeilchen, die aus Quarks bestehen

– die so genannten Hadronen –, ge-nau gebildet werden. Unterscheidetsich der Erzeugungsprozess, je nach-dem, ob die Teilchen in einem ein-zelnen, freien Proton entstehen odervielmehr in einem Nukleon, das alsKernbaustein in einem Atomkern „ein-gebaut“ ist? Um diesen Erzeugungs-prozess zu untersuchen, messen diePhysiker die Anzahl der Teilchen einer

bestimmten Energie, die sich nach derKollision im Detektor wiederfinden:Wenn das Elektron mit einem Quarkim Inneren eines Atomkerns zusam-menstößt, so bewegt sich das ge-troffene Quark zunächst durch denKern und bildet nach einer kurzenWegstrecke ein Hadron. Bei kleinenKernen wie dem Proton geschiehtdies praktisch schon außerhalb desKerns, bei schwereren Atomkernendagegen entsteht das Hadron imInneren, so dass es auf seinem Wegaus dem Kern heraus auf weitereKernbausteine stößt. Bei jeder dieser„Begegnungen“ im Atomkern verliertdas Teilchen Energie. Misst man nundie Anzahl der Teilchen einer be-stimmten Energie, so sollte sich dieBildung der Hadronen im Kern direktverfolgen lassen.

Der Atomkern stellt damit gewisser-maßen eine Art „Minilabor“ dar, indem sich die Wechselwirkung vonHadronen mit den Kernbausteinenuntersuchen lässt. Von besonderemInteresse ist dabei die Bildungsdauerder Hadronen, also die Zeit, die not-wendig ist, um ein solches aus Quarks

und Gluonen zusammengesetztesTeilchen in physikalischen Reaktionenbei hohen Energien zu erzeugen. Er-kenntnisse über diese Bildungsdauersind insbesondere für jene Experimen-te wichtig, bei denen sehr schwereKerne – wie z.B. Blei oder Gold – auf-einander gelenkt werden, um dem„Quark-Gluon-Plasma“ auf die Spurzu kommen: jener „Ursuppe“, ausdem unser Universum wenige milli-onstel Sekunden nach dem Urknallbestand. Für die Interpretation die-ser Experimente sind die präzisenMessungen von HERMES von großerBedeutung.

Wird das Hadron in einem Atom-kern erzeugt, so kann es auf seinemWeg aus dem Kern heraus mit dessen

Hadron, Nukleon: Hadron: Oberbegriff für Teilchen, dieaus Quarks zusammengesetzt sind;Nukleon: Oberbegriff für Protonenund Neutronen, die aus drei Quarkszusammengesetzten Bausteine desAtomkerns

86

Blickin den Atomkern

Bausteinen wechselwirken und dabeiEnergie verlieren – und das umsoöfter, je schwerer und größer derAtomkern ist. Die Anzahl der Hadro-nen, die man im Detektor beobachtet,sollte bei schweren Kernen also kleinersein als bei einzelnen Protonen. DieseVerminderung sollte zudem umsostärker sein, je früher das Hadron ge-bildet wird, da die Wahrscheinlichkeitfür einen Zusammenstoß mit denKernbausteinen auf dem längerenWeg durch den Kern steigt. Genausozeigen es die HERMES-Daten. Uner-wartet kommt jedoch die Erkenntnis,dass die Bildungsdauer der Hadronenoffensichtlich von deren Geschwindig-keit abhängt: So belegen die Messun-gen von HERMES, dass schnelleHadronen eine kurze Bildungsdauerhaben und deshalb verhältnismäßigstark abgeschwächt werden. DieseErgebnisse stehen im Widerspruchzu älteren theoretischen Modellenzur Beschreibung des Erzeugungs-prozesses von Hadronen.

Die HERMES-Daten zeigen außer-dem, dass positiv geladene Hadro-nen sehr viel weniger abgeschwächtwerden als negativ geladene, alsodeutlich weniger oft an Kernbaustei-nen streuen. Daraus lässt sich schlie-ßen, dass positiv geladene Hadronen– im Durchschnitt – später gebildet

werden als negativ geladene. Da dieBildungsdauer für positiv und negativgeladene Teilchen, die aus einemup- und einem down-Quark bestehen– so genannte Pionen –, ähnlich ist,muss dieses unerwartete Ergebnisauf einen größeren Beitrag der Pro-tonen unter den positiv geladenenHadronen zurückzuführen sein: DieProtonen haben vermutlich eine sehr

viel größere Bildungsdauer als diePionen. Ob diese Annahme stimmt,wird die HERMES-Gruppe nach Ana-lyse der mit Hilfe des „RICH-Detek-tors“ gewonnenen Daten feststellenkönnen. Diese im Jahr 1998 einge-baute Komponente des HERMES-Experiments erlaubt es, Teilchen wiePionen und Protonen direkt vonein-ander zu unterscheiden.

87

Das Photon schlägt ein Quark aus einem Nukleon.

Das Quark fliegt durch den Atomkern, verliert

womöglich Energie und verlässt den Kern als Hadron.

Dieser Prozess gibt Aufschluss über die Bildung von

Hadronen.

Das international zusammen-

gesetzte HERMES-Team vor dem

Detektor.

Mit dem Umbau zur Luminositäts-erhöhung eröffnen sich für HERAneue Forschungsmöglichkeiten, diefür die nächsten Jahre spannendeAussichten versprechen – speziell,was die Präzisionsmessung der star-ken Kopplungskonstanten, die ge-naue Untersuchung der Diffraktion,das Studium der elektroschwachenWechselwirkung und die Suche nachKräften und Effekten jenseits desStandard-Modells der Teilchenphysikbetrifft. Diese Untersuchungen werdendas aktuelle Physikprogramm vonHERA abschließen. Die längerfristigeZukunft der Anlage hängt eng mitder Realisierung des TESLA-Projektszusammen, das in internationalerZusammenarbeit bei DESY in Ham-burg entwickelt und geplant wird.

ESLA steht für TeV-Energy Superconducting Linear Acce-Tlerator, also supraleitender

linearer Beschleuniger für Tera-Elek-tronenvolt-Energien. Das Besonderean der 33 Kilometer langen Anlage:Neuartige supraleitende Beschleunigerermöglichen Kollisionen von Elektro-nen und Positronen höchster Energieund dienen als Quelle für intensivesRöntgenlicht mit Lasereigenschaften.Damit eröffnet TESLA sowohl für die

Grundlagenforschung als auch für an-wendungsnahe Forschungen in ver-schiedenen Naturwissenschaften neuePerspektiven. Eine Entscheidung zudem Projekt wird ab 2003 erwartet.

In Verbindung mit dem geplantenTESLA-Linearbeschleuniger bietetsich die Möglichkeit, Elektronen ausTESLA auf Protonen aus HERA pral-len zu lassen. Die dabei erreichbareKollisionsenergie könnte bis zu fünf-mal so hoch sein wie bei der jetzigen

88

Ideen für dieZukunft

HERA-Anlage. Diese Kombinationbeider Beschleuniger – die in derFachwelt unter dem Kürzel „THERA“firmiert – würde es erlauben, dasPhysikprogramm von HERA bis weitin bisher unerreichbare kinematischeBereiche hinein auszudehnen. DasForschungsprogramm von HERMESließe sich dadurch fortsetzen, dassman die Elektronen von TESLA aufein festes Target lenkt – eine unterdem Namen „TESLA-N“ bekannteOption. Ein Teil des linearen Elektro-nenbeschleunigers von TESLA könnteauch als leistungsfähiger Teilchenbe-schleuniger für den HERA-Elektro-nenring eingesetzt werden. Damitließe sich ein so genanntes Stretcher-

Ring-Konzept verwirklichen: eine An-lage, die einen nahezu kontinuierlicherElektronenstrahl liefert, wie man ihnfür Strahl-Target-Experimente in derKernphysik benötigt. Durch dieseVerbindung von TESLA und HERAkönnte ein Teilchenstrahl mit außer-gewöhnlichen Eigenschaften erzeugtwerden, wie sie keine der bisher aufdiesem Gebiet existierenden oder ge-planten Anlagen erreicht. Damitkönnte in Hamburg ein europäischesZentrum für Grundlagenforschungentstehen, in dem die Forscher insbe-sondere den Grenzbereich zwischenTeilchen- und Kernphysik unter dieLupe nehmen könnten – eines derinteressantesten wissenschaftlichenGebiete, das die moderne Kernphysikderzeit zu bieten hat.

DESYs ForschungsdirektorRobert Klanner zieht BilanzZehn Jahre Betrieb von HERA – das sind zehnJahre internationale Zusammenarbeit von For-schergruppen aus 25 Ländern mit dem gemein-samen Ziel, den Geheimnissen der fundamenta-len Teilchen und Kräfte auf die Spur zu kommen.Die zahlreichen Ergebnisse und neuen Erkennt-nisse, von denen einige in dieser Broschürevorgestellt werden, verdanken wir dem uner-müdlichen Einsatz, dem Ideenreichtum und derfachlichen Kompetenz zahlloser Techniker, Inge-nieure und Physiker in ihren Heimatinstitutenund bei DESY. Ebenso wichtig ist dabei aller-dings der Geist der internationalen Zusammen-arbeit und das gemeinsame Ziel, die Geheim-nisse der Natur weiter zu lüften. Einen besonderenAnteil an diesem Erfolg tragen die 200 Diplo-manden und 600 Doktoranden, die mit HERAihren eigenen Weg in die Welt der Forschunggefunden haben.

Seit Sommer 2001 ist der Umbau von HERAund den Experimenten abgeschlossen – ein ehr-geiziges Projekt mit vielen Risiken, das erneutden vollen Einsatz aller Mitarbeiter forderte.Welche neuen Erkenntnisse werden wir mitHERA-II, dem bis zur Inbetriebnahme des LHC-Beschleunigers bei CERN im Jahr 2007 einzi-gen laufenden HochenergiebeschleunigerEuropas, gewinnen können? Einige – wie z.B.Präzisionsmessungen zu den Eigenschaften derstarken Kraft, Neues zur Struktur des Protonsoder zum Verhalten der elektroschwachen Kraftbei kleinsten Abständen – können wir klar vor-aussehen. Wir hoffen, mit HERA-II zu neuenDimensionen, Kräften oder Teilchen jenseits desStandard-Modells der Teilchenphysik vorzudrin-gen. Sicher ist auf jeden Fall, dass die HERA-Ergebnisse auch weiterhin einen entscheiden-den Teil zu unserem Weltbild beitragen werden.

Prof. Dr. Robert KlannerDESY-Forschungsdirektor

Hamburg, im Oktober 2002

90

An den DESY-Forschungen beteiligensich heute 3400 Wissenschaftle-rinnen und Wissenschaftler aus 35Nationen. Mit dabei sind über 1000junge Menschen – etwa die Hälfte vonihnen aus dem Ausland –, die das viel-fältige Angebot an Aus- und Weiter-bildungsmöglichkeiten zu DESY lockt.Das beginnt beim „Schnuppern“ alsPraktikant oder Exkursionsteilnehmer,erstreckt sich über das erste Mit-machen als Sommerstudent, über viel-seitige Themen für Diplomarbeitenund Dissertationen bis hin zur eigen-ständigen Forschung als Post-Dokto-rand. Wer Eigeninitiative, Begeisterungund Verantwortungsbewusstsein mit-bringt, hat das richtige Rüstzeug fürdie Mitarbeit in den international zu-sammengesetzten DESY-Gruppen – undgenießt bei DESY eine erstklassigeSchulung für den Start ins Berufsleben.

erade in Zeiten, in denen der Ruf nach einer schnellen Nutz-Gbarmachung von Forschungs-

ergebnissen immer lauter wird, indenen Arbeitsplätze knapp und vor-wiegend anwendungsorientiert sindund in denen die Arbeitswelt sich zu-nehmend global orientiert, zeigt sichder Wert einer Aus- und Weiterbil-dung in einem internationalen Zen-trum der Grundlagenforschung wieDESY. Denn hier geht es nicht nurdarum, sein Fachwissen zu vertiefen.

Anziehungspunkt für Nachwuchswissenschaftler

an einem Messplatz

im HASYLAB.

Die Wissenschaftler der Zukunft:

DESYs Sommerstudenten.

Die Mitarbeit in den DESY-Gruppenbietet eine hervorragende Gelegen-heit, sich jene „Softskills“ anzueignen,die in der Arbeitswelt inzwischen un-entbehrlich sind. Dazu gehören:■ das eigenverantwortliche Arbeiten

in internationalen Teams■ das zeit- und budgetorientierte

Projektmanagement■ die Durchsetzungsfähigkeit beim

„Verteidigen“ der eigenen Arbeit■ das schnelle Umdenken und Kon-

zentrieren auf neue Fragestellungen.Sowohl in der Teilchenphysik als auchin der Forschung mit Synchrotron-strahlung erwarten die Diplomanden,Doktoranden und Nachwuchswissen-schaftler konkrete Einzelaufgaben, diesie selbstständig lösen und deren Er-gebnisse in das komplexe Forschungs-thema mit einfließen. In einem von

internationaler Zusammenarbeit ge-prägten Klima lernen die jungenMenschen, ihre eigene Arbeit inner-halb eines Teams zu koordinierenund zu vertreten. Ausgerüstet miteinem hohen Qualitätsbewusstseinund der Fähigkeit, für scheinbar un-lösbare Probleme Lösungen zu finden,sind die jungen Wissenschaftlerinnenund Wissenschaftler bestens daraufvorbereitet, auch in der Industrie Ver-antwortung zu übernehmen. Häufiglanden sie dabei auch in ganz „un-physikalischen“ Branchen. So sindheute zahlreiche DESY-Absolventenzum Beispiel als Unternehmensbe-rater, in Banken, in der Entwicklungkomplexer Softwaresysteme oder inder Prozessleittechnik tätig. 91

1000 junge Menschen

Schüler der gymnasialen Oberstufe

bei einer DESY-Besichtigung.

Wir danken allen, die an der Entstehung dieser Broschüre mitgewirkt

haben, für ihre konstruktive und unermüdliche Unterstützung – besonders

Allen Caldwell (Columbia University, NY, USA), Bernhard Holzer (DESY),

Robert Klanner (Universität Hamburg und DESY) und

Hans-Ulrich Martyn (RWTH Aachen).

Herausgeber: Deutsches Elektronen-Synchrotron DESY in der Helmholtz-GemeinschaftNotkestraße 85 · D - 22607 Hamburg

Tel.: 040/8998-0, Fax: 040/[email protected]://www.desy.deDESYs KworkQuark – Teilchenphysik für alle!: http://kworkquark.desy.de

Autoren:Ilka Flegel, Textlabor, JenaPaul Söding, Zeuthen (Seite 46)

Realisation und Redaktion:Ilka Flegel, Textlabor, JenaRobert Klanner, DESY (verantwortlich)

Gestaltung:Britta Liebaug, DESY

Grafiken:Bohm und Nonnen, Büro für Gestaltung GmbH, DarmstadtCERNDESYDirk Günther, HamburgH1-KollaborationHERMES-KollaborationBritta Liebaug, DESYZEUS-Kollaboration

Fotos:DESYIlka Flegel, JenaPeter Ginter, LohmarH1-KollaborationHERA-B-KollaborationHERMES-KollaborationDavid Parker / Science Photo Library, LondonSand und Schiefer – büro für neues lernen, HamburgManfred Schulze-Alex, HamburgHeike Thum-Schmielau, HamburgZEUS-Kollaboration

Weitere Illustrationen und Fotos mit freundlicher Genehmigung von:Istituto e Museo di Storia della Scienza, Florenz (Seite 47)Kepler-Gesellschaft e.V. Weil der Stadt, Postfach 1120, 71263 Weil der Stadt, und Kepler-Museum im Geburtshaus Keplers in Weil der Stadt (Seite 47)Sternwarte Kremsmünster, Stift Kremsmünster (Seite 47)The Living Archive (Seite 51)James Gitlin, STScI (Seite 61)Chris Cozzone, Albuquerque (Seite 67)AUTO BILD, Hamburg (Seite 70)„Gravitation“ von M.C. Escher, © 2002 Cordon Art B.V., Baarn, Holland. Alle Rechte vorbehalten. (Seite 78-79)

Druck:Dierk Heigener Druckerzeugnisse GmbH, Hamburg

Nachdruck, auch auszugsweise, unter Nennung der Quelle gerne gestattet.

Redaktionsschluss: Oktober 2002

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