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Das Vertraute und das Fremde Kranke Frauen im Spannungsfeld zwischen Tradition und Moderne A. Friedmann Universitätsklinik für Psychiatrie – Wien Spezialambulanz für transkulturelle Psychiatrie und migrationsbedingte psychische Störungen

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Das Vertraute und das FremdeKranke Frauen im Spannungsfeld zwischen

Tradition und Moderne

A. FriedmannUniversitätsklinik für Psychiatrie – Wien

Spezialambulanz für transkulturelle Psychiatrie und

migrationsbedingte psychische Störungen

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Es gibt viele Kategorien von Kultur: Religiöse Kulturen, Mythen und Tabus Folkloristische Kulturen Speisekultur und Esskultur, Wohnkultur, Kleidung Sprachen, Denk- und Kommunikationsweisen Unterschiede in der Haltung zur Familie, zu den Eltern, zu den Kindern, zur Autorität Unterschiede in der Haltung zur Natur Haltungen zu Werten, zu Idealen, zur Sexualität Unterschiede im Umgang mit Krankheit, Sterben, Tod

....und vieles andere mehr...

KULTUR

Kultur verbindet die Einen und macht sie unterscheidbar von den Anderen

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Alle diese Kategorien entstanden in Abhängigkeit vonden Orten, an welchen die betroffenen Menschen-gruppen lebten, dem Klima, den Nahrungsressourcen,den lokalen Gefahren, der Flora und der Fauna, und auchin Abhängigkeit davon, ob die Menschen ortsgebundenlebten, nomadisierten, wanderten oder flüchten mussten,ob sie unter bevölkerungsdichten Bedingungen lebtenoder nicht.

Kultur ist also ein sozioökonomisches Produkt und daher wandelbar.

Daher unterscheiden sich Kulturen nicht nur in Abhängigkeit von der Geographie, sondern auch von der Zeit.

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Kulturbezogene Fragen in der Psychiatrie

1. DIE FRAGE DER PATHOGENESE:

Kommen alle Krankheiten in allen Kulturen vor oder sind manche Krankheiten auf eine Kultur beschränkt? Gibt es Kulturen mit (signifikant) weniger psychi- schen Störungen? Kann Kultur krank machen? Kann Kultur vor Krankheit schützen? Gibt es den „Kulturschock“? Und wenn, ist er pathogen? Welche Rolle spielen Arbeitsmigration, Flucht oder Vertreibung bei der Genese psychischer Störungen?

2. DIE FRAGE DER PATHOPLASTIK:

Sehen die Symptome psychischer Krankheiten in allen Kulturen gleich aus? Formt Kultur das Symptombild von Krankheiten?

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Kulturbezogene Fragen in der Psychiatrie

3. DIE REAKTION DES KRANKEN AUF SEIN KRANKHEITS-ERLEBEN

In manchen Kulturen setzt sich der Kranke intellektuell-rationalisierend mit seinem Erleben auseinander,

in anderen mystisch-religiös, in anderen regredierend bis ins Katatone...

4. DIE REAKTION DER GESELLSCHAFTEN AUF PSYCHISCHE KRANKHEITEN

und vieles andere mehr...

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Anthropologische Aspekte

Das Menschenbild in verschiedenen Kulturen

Dualistisches Menschenbild: Seele und Körper sind etwas gänzlich Verschiedenes und Getrenntes.

Monistisches Menschenbild: Seele und Körper sind zwei Aspekte ein- und derselben Entität (Individuum). Der Tod des Körpers ist (vermutlich) auch der Tod der Seele.

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Judentum : „Der Körper stirbt. Was mit der Seele geschieht, weiß man nicht (ewiger Schlaf im „Sheol“). Am Ende der Zeiten wird es sich entscheiden. Lohn und Strafe erfolgen im Diesseits.“ [frühe monistische und spätere dualistische Strömungen, insbesondere ab der mittelalterlichen Mystik]

Christentum: [Nach Jesu Verkündigung des ewigen Lebens kombiniert es seine jüdisch-ethischen Wurzeln mit den dualistischen Glaubensinhalten der griechischen und römischen Antike:] „Der Körper stirbt, die Seele nicht. Die Seele ist das Gött- liche im Menschen und hat eine Jenseitigkeit vor sich, die mit Lohn und Strafe für das Diesseitige verknüpft ist.“

Islam: [Übernimmt das Menschenbild der frühen Judenchristen:] „Der Körper stirbt, die Seele nicht. Sie gehört aber auch im Jenseits zum Menschen und wird dort belohnt oder bestraft.“

Wissenschaften: Unabhängig von den persönlichen Haltungen der ForscherInnen werden metaphysische Ideen ausgeklammert und „monistisch“ geforscht.

Anthropologische Aspekte

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Anthropologische Aspekte

Das heißt:

Der Umgang mit dem „Seelischen“, die Bereitschaft, seelische Probleme wahrzunehmen, hängen davon ab, wie „dualistisch“ das Menschenbild einer Kultur ist.

Das bedeutet aber auch:

Je dualistischer und metaphysischer eine Kultur orien- tiert ist, umso eher werden seelische Störungen ent- weder als Lohn der Sünde, als fremdverschuldet oder als „wertminderndes Stigma“ angesehen. Daher ist in solchen Kulturen das „Seele-Thema“ ein TABU.

Konsequenz:

Je dualistischer und metaphysischer, desto alexithymer.

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Anthropologische Aspekte

In allen patriarchalischen und seelentabuisierenden Kulturenmuss das „innere Ungleichgewicht“ ein Tabus umgehendesAusdrucksventil finden.

Dieses kann sich im einfachen Verhalten (Regression) im komplexen Verhalten (Verweigerung oder Ideologisierung) im körperlichen Ausdruck (Kranksein, Schmerzen haben)durchsetzen.

Die Auswahl des Ventils hängt von verschiedenen Faktoren ab,unter anderem von der Machtposition des/der Betroffenen inIhrem gesellschaftlichen Milieu.

Verweigerung oder Ideologisierung setzen ein Minimum an Macht voraus, sie sind in patriarchalischen Gesellschaften den Männern vorbehalten, in gerontokratischen den Alten.

Jüngere Frauen sind auf Regression oder Körpersprache beschränkt, ältere auf Körpersprache.

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Anthropologische Aspekte

Junge türkische Frauen, in Ö. aufgewachsen:

zu Hause: Schülerin/Lehrling: Berufstätig: Essstörungen Suizidversuche Depression Fugue Fugue Hypotonie

Junge türkische Frauen, in der Tü. aufgewachsen:

Konversive Störungen Regressive Symptome („Anfälle“, Dämmerzustände)

Türkische Frauen, mittleres und höheres Alter:

Somatoforme und Schmerzstörungen, Schwindel, Kollapse

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Anna Freud Lise MeitnerLaureenBacall Rosa Luxemburg

Womit wir beim Thema wären...

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Diagnostizierte Störungen (n=1.391, i.e. 56%/ntotal)

DIAGNOSEN ICD-10: %Demenzen, OPS F0 4,0%

Süchte F1 7,0%

Schizophrene Störungen F2 1,3%, davon:

Vorübergehende akute Psychosen F23 0,5%

Wahnhafte Störungen F22 3,0%

Affektive Störungen F3 68,0%, davon:

Manie+ Bipolare Störungen F30, 31 7,0%

Gemischte F38 4,0%

Depression F32,33 40,0%

Dysthymie F34.1 17,0%

Angststörungen F40, 41 72,5%

Zwangsstörungen F42 3,5%

Akute Belastungsreaktionen F43.0 10,0%

Posttraumatische Belastungsstörungen F43.1, F62.0 13,0%

Anpassungsstörungen F43.2 11,5%

Dissoziative und Konversionsstörungen F44 8,5%

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Diagnostizierte Störungen (n=1.391, i.e. 56%/ntotal)

DIAGNOSEN ICD-10: %Somatoforme Störungen F45 39,0%, davon:

Somatisierungsstörung F45.0 19,5%

Hypochondrie F45.2 1,0%

Herz-Kreislauf F45.30 3,0%

Magen F45.31 4,0%

Darm F45.32 1,0%

Atmung F45.33 1,0%

Chronische Schmerzstörung F45.4 4,5%

Neurasthenie F48.0 5,0%

Sonstiges 39,0%

Essstörungen F50.0 1,0

Sexualstörungen F52.0 0,5%

Persönlichkeitsstörungen F60 4,5%

Impulskontrollstörungen F63.0, .2 1,5%

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27 %

39 %

14 %10 %

6 %3 %

<1 %

STATUS DER PATIENTINNEN:

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Am Beispiel türkischer Frauen (n=240):

Kriterien:

Verheiratet Alter: >18a, <60a Hauptwohnsitz in Wien Aufenthaltsdauer >5 a oder hier geboren. Diagnosen: Ausschluß von F0, F1, F2, F3

10,5%

18-25 26-35 36-45 46-55 56-60

14,5%16,5%33,5%25%

Jahre alt

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Geschlechtsverteilung, Beschäftigungssituation und Sprachkompetenz

männlich

weiblich

sehr gutesDeutsch

gutesDeutsch

geradeausreichend

kaumverständlich

keinerleiDeutschkenntnisse

35 %-

25 %-

20 %-

10 %-

%

Beschäftigte%85%

90%

85%

85%

70%

50%

65%

7% 3%

65%

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Religiöse Observanz im Vergleich:

11% 64% 25%

Sehr hohe Teilweise Geringe/Keine

40% 17% 43%

35% 40% 25%

45% 35% 20%

Einheimische

Zuwanderer

Alle Muslime

TürkischeMuslime

In der Regel sind Zuwanderer religiöser, als Einheimische.Unter ihnen sind Muslime insgesamt nicht signifikant religiöser.Aber: Türken sind religiöser, als die anderen muslimischen Zuwanderer,Türkinnen in noch deutlicherem Ausmaß, als ihre Männer.

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Religiöse Observanz im Vergleich:

Generell ist festzustellen, dass das Maß der religiösen Observanzgegenüber jenem in der Ursprungsheimat umso geringer wird, jelänger die Aufenthaltsdauer in Österreich ist. Der bloße Aufenthalt in einer säkulären Gesellschaft wirkt sich assimilatorisch aus. Ein Integrationsindiz ist das nicht.

In Österreich gilt dies nur für jene Türken, die aus dem türki-schen urbanen Raum stammen, nicht aber für die zugewanderteLandbevölkerung.

Da dies im hohen Maß auch für andere muslimische Zuwan-derergruppen (Bosnier, Kosovaren, Maghreb) gilt, besteht keinZusammenhang mit dem Islam.

Feststellbar ist weiters eine signifikant höhere Observanz bei türkischen Frauen, als bei Männern.

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Religiöse Observanz im Vergleich:

Berücksichtigt man die Religiosität bei türkisch-muslimischen Frauen im Hinblick auf ihren Lebensalltag, so zeigt sich, daß die Deutschkenntnisse unter diesenFrauen signifikant niedriger sind, als unter den Männern dieser Ethnie, und zwar -im Längsschnitt gesehen- auch über längere Aufenthaltsdauer in Österreich. 

Gute Deutschkenntnisse erlangen Frauen erst in der zweiten Zuwanderer-generation (Schulpflicht), es sei denn, sie verbringen die Pflichtschulzeit in ihrer Heimat. 

Befragungen der Ehemänner der betroffenen Frauen ergeben, daß es an ihnen liegt, zu entscheiden, ob ihre Frauen Deutsch lernen und/oder einem Erwerb nachgehen und damit, ob sie Zugang zum österreichischen Lebensalltag bekommen. In die Tiefe gehende Interviews mit diesen Männern ergeben, daß die „Freigabe der Ehefrau“ zu integrativen Schritten direkt und signifikant davon abhängt, wie ausgeprägt das Selbstwertgefühl („Selbstrespekt“) und die Alltagszufriedenheit des Ehemannes ist. Ein Zusammenhang mit der religiösen Observanz des MannesBesteht nicht.  Je mehr sich der Mann von der Gastbevölkerung akzeptiert und respektiert fühlt und je besser es ihm gelingt, seine positiven Erwartungen von der Zuwanderung zu verwirklichen, umso weniger erlebt er die Mehrheitskultur als identitätsbedrohend und umso weniger neigt er zu restriktivem Verhalten seiner Frau gegenüber.

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