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Silke Allmann | Denise Dazert (Hrsg.) Auf dem Weg zur Bildung Individuelle Bildungsreisen als Horizonterweiterung Koblenzer Schriften zur Pädagogik

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Silke Allmann | Denise Dazert (Hrsg.) Auf dem Weg zur Bildung

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Koblenzer Schriften zur Pädagogik Herausgegeben von Nicole Hoffmann | Norbert Neumann | Christian Schrapper

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Silke Allmann | Denise Dazert (Hrsg.)

Auf dem Weg zur Bildung Individuelle Bildungsreisen als Horizonterweiterung Festschrift für Winfried Rösler

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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© 2016 Beltz Juventa · Weinheim und Basel Werderstr. 10, 69469 Weinheim www.beltz.de · www.juventa.de Satz: Marion Gräf-Jordan, Heusenstamm ISBN 978-3-7799-2287-2

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Für Winfried Rösler

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Inhalt

Auf dem Weg zur Bildung. Individuelle Bildungsreisen als Horizonterweiterung. Zur Einleitung Silke Allmann, Denise Dazert 9 Teil I Die Bildungsreise als Grenzüberschreitung, Öffnung

von Räumen, Bildungsaufgabe oder Bildungschance

Konfuzius und die Suche nach Ordnung: Eine Reise in die chinesische Vergangenheit Roswitha Grassl 16

Durch das Land der Wilden und Barbaren. Mit Schiller (und Humboldt) von „Bologna“ zu den gebildeten Menschen Rudolf Lüthe 39

Das Jahrhundert der Aufklärung: Bildung und Erziehung des Menschen zu einem „allseitig gebildeten und tugendhaften Individuum“ Claudia di Pianduni 51

„Wär ich nicht träges Fleisch, wär ich nur Geist“ – Das Motiv der Ferne und des Reisen(den)s in Shakespeares Werk Ute Hartmann 68

Denken im Raum – Wohnen, Reisen und Bilden mit Heidegger Patrick Vetter 83

Spiegelungen von Reise- und Bildungswelten. Facetten aus der Koblenzer Geschichte des 18. und 19. Jahrhunderts Nicole Hoffmann 113

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Teil II Die Bildungsreise als Prozess zur innerlichen Reifung, Irritation im Bildungsprozess oder Bildungserlebnis

Kinder, Kreidezeit und Dinosaurier – Literarische Reisen von Kindern in die Urzeit Ekkehard Ossowski 126

Ein Held reist in die Postmoderne: Superhelden, Superkräfte und die Pädagogik im Wandel der Zeit Henning Pätzold 153

Gescheiterte Bildungsbemühungen. Die Lehrerin in Mädchen in Uniform (1931) und Cracks (2009) Norbert Neumann 170

Wenn einer eine Reise tut… oder: Es könnte so authentisch sein. Aber diese Menschen da vorne! Vom Bildungswert des Reisens Franz Josef Witsch-Rothmund 182

Quasi una Sonata – Eine Bildungsreise als Entdeckung der Dialektik Peter Rödler 201

Bildungsreise als Reise zu sich selbst – der moderne Weg der Selbstbildung in Klöstern Inka Engel 226

Der erlaubte Exzess. Über das „Management“ der Gefühle in Festen, Feiern und Events Winfried Gebhardt 241

Die Autorinnen und Autoren 252

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Auf dem Weg zur Bildung. Individuelle Bildungsreisen als Horizonterweiterung Zur Einleitung

Silke Allmann und Denise Dazert

Reisen bildet!? Oder: Reisen kann bilden?

Dass Reiseerlebnisse und -erfahrungen weit mehr bewirken und für den ein-zelnen bedeuten als das bloße Ausschweifen in die Ferne, das Entdecken von Neuem, das Entfliehen aus dem Bekannten und einen Weg nach außen auf-zeigen, ist hinlänglich bekannt (vgl. Herrmann 2000). Der Weg nach außen öffnet nämlich gleichsam den Weg nach innen, setzt Selbstreflexionsprozesse in Gang, lässt den eigenen Blick auf Welt und auf den eigenen Weltbezug und das Verständnis von Welt ins Schwanken geraten, gar vollends verändern o-der sogar erweitern. Der Weg dorthin ist oft ein mühsamer, ein steiniger, ein unangenehmer, ein schmerzhafter, aber letztendlich in der Retrospektive be-trachtet ein bereichernder. Diese Bereicherung beschränkt sich nicht nur auf das Erlebnis, die Erfahrung als Momentaufnahme, sondern wirkt sich auf das gesamte Leben, auf die weitere Biographie des einzelnen Reisenden aus, quasi als Mittel der Horizonterweiterung.

In der Literatur muss man nicht lange suchen, um der Thematik auf die Spur zu kommen. Der fachliche Diskurs erstreckt sich über die Darstellung historischer (so etwa bei Leibetseder 2013), programmatischer (vgl. zum Bei-spiel Schäfer 2011), konzeptioneller (vgl. Pamminger 2001) und pragmati-scher Aspekte (vgl. Hartung 1999). Das Reisen als Bildungsinhalt und in seinem Bildungsgehalt zu betrachten ist Aufgabe sozial- und kulturwissen-schaftlicher Forschung. In der Verkürzung der Reise als Lernveranstaltung im Sinne einer Studienreise (ein Begriff, der gerne mit dem Bildungsreisebe-griff gleich gesetzt wird) darf die Betrachtung des Gegenstandes Bildungsreise freilich nicht stecken bleiben. Bei der Bildungsreise geht es nicht ausschließ-lich um das Lernen von Neuem, das Kennenlernen von Unbekanntem, son-dern um eine Horizonterweiterung mit starkem individual-biographischen Bezug. Die eigene Lebensgeschichte wird um eine Facette des Handelns und Denkens erweitert und enthält somit Reflexionspotential im Sinne der Ver-änderung, Erweiterung des individuellen Betrachtens und Verstehens. Der

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eigene Bildungsprozess wird qualitativ weiterentwickelt; er entledigt sich sei-ner ursprünglichen Form und bisherige Deutungsmuster werden – wenn nicht gesprengt – zumindest geöffnet, gedehnt, verdreht, angereichert und neu geordnet. Das Moment von Nachhaltigkeit, das unbedingt zum lebens-langen Bildungsprozess gehört, gewinnt durch das Bildungsreisen eine Weg-beschreibung, die jeder selbst zeichnet. Sei die Bildungsreise noch so in ihren einzelnen Stationen geplant, so kann sich diese Vorstrukturierung lediglich auf den äußeren Reiseablauf beziehen und niemals auf den inneren Entwick-lungsprozess. Nach einer Bildungsreise ist der Reisende nicht mehr der, der er einmal war. Jede gewählte Weggabelung, jedes Verlassen des ursprünglich geplanten Weges, jeder Umweg, jede Abkürzung hat Bedeutung für und Aus-wirkung auf den weiteren Verlauf der Reise. Andere Orte werden geöffnet, andere Themen werden angesprochen, andere Begegnungen finden statt. Lieb gewonnene Gewohnheiten und Einstellungen werden erschüttert, sche-matische Denkformen werden auf die Probe gestellt. Mündet die Bildungs-reise dann auch noch in einer Darstellung, in einem Reisebericht, so kann mit Jean Paul (1799/2012) behauptet werden:

„In den besten Reisebeschreibungen interessiert uns doch der Reisende am meisten, wenn er sich nur zeigen mag. Wer eine Reise beschreibt, beschreibt damit sich immer auch selber.“

Mit Herrmann (2000) sei diese Fokussierung Pauls auf das Individuum als aktiver Gestalter seiner Reise in Form einer „Reise ins Innere des Ich“ be-schrieben. Damit konturiert sich dann die Reisewegbeschreibung als Innen-ansicht und der Reiseweg selbst als Bildungsweg. Vor dem Hintergrund die-ser Überlegungen sei die Frage gestellt: Was ist eigentlich eine Bildungsreise? Nun, sie zeichnet sich als historisches Phänomen aus, das je nach Epoche und Weltverständnis eine spezifische Gestalt annimmt. Bereits in der Antike als durchaus bewährtes Bildungskonzept für junge Männer aus den oberen Ge-sellschaftsschichten zur Wissensvermittlung in Rhetorik und Philosophie er-kannt stellt sie im Mittelalter sowie in der frühen Neuzeit in Form der Kava-lierstour oder der Grand Tour (vgl. Leibetseder 2013) eine Möglichkeit der standesgemäßen Ergänzung zum Unterricht des Hauslehrers dar und dient der kulturellen Horizonterweiterung und als Vorbereitung für eine eigen-ständige Lebensführung. Diese geschlechtsspezifische Ausrichtung einer Bil-dungsreise als jungen Adeligen und Patriziern vorbehalten relativiert sich im 18. Jahrhundert in zweierlei Hinsicht:

1. durch eine Zweckerweiterung: Eine Bildungsreise wird zwar wei-terhin zum Wissenserwerb, aber mehr und mehr zur Identitäts-

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suche genutzt. Anschauung und das Streben nach eigenen Er-kenntnissen stehen im Mittelpunkt und verhelfen dem jungen Menschen seine ihm innewohnenden Anlagen und Kräfte zu ent-falten und seine Persönlichkeit zu entdecken und zu entwickeln.

2. durch eine Abgrenzungsbewegung: Die klassische Bildungsreise der bürgerlichen Oberschicht in ihrer Abwendung von dem Er-lernen höfischer Etikette gilt der Fokussierung auf die persönliche Bildung und hat eine wichtige Bedeutung für den individuellen Bildungsprozess.

Somit wird sie auch für Frauen geöffnet, behält allerdings ihre Schichtspezifik in der Voraussetzung, sich eine solche Reise leisten zu können. Es findet also eine Abgrenzungsbewegung in zwei Richtungen nach oben und nach unten statt. Etliche berühmte Schriftstellerinnen und Schriftsteller verfassen vor al-lem im 18. Jahrhundert zahlreiche Bildungsromane, welche den Bildungs-gang und zeitgleich die Entwicklungsgeschichte eines (meist) jungen Prota-gonisten bis ins Erwachsenenalter aufzeigen. Sie thematisieren den Weg/die Reise der individuellen Bildung, der Selbstentfaltung und Selbstfindung und zugleich der sozialen Integration (zum Beispiel Wielands Geschichte des Agathon, Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre, Stifters Nachsommer, Manns Zauberberg; vgl. dazu zum Beispiel Rösler 2012). In der Neuzeit und poten-ziert in der Moderne und der Postmoderne erfährt die Bildungsreise einen weiteren Bedeutungswandel, der sich durch eine heterogene Ausweitung und durch eine Differenzierung zwischen einer äußeren Reise und einem inneren Weg beschreiben lässt. Um nur einige zu nennen:

Die Orte des Lernens stellen Fragen nach der Bildungsaufgabe und der Bildungschance (vgl. Brilli 1997).

Die entfachte Diskussion um lebenslanges Lernen und Nachhaltig-keit eröffnen Möglichkeiten der Horizonterweiterung (vgl. Kroll 2007; Seitter 2000).

In Kontexten von Erziehung, Bildung und Sozialisation wird die Reise – gleichsam als Weg – zum mündigen Menschen gezeichnet (vgl. Beck 1959; Brilli 1997).

Eine Reise ins Ich konturiert den individuellen Entwicklungspro-zess der Reifung und Charakterbildung (vgl. Goethe 1796/1796; Stifter 1857).

Die Reise in die Welt, in die Fremde, stellt zeitgleich eine Reise in sich selbst dar und verdeutlicht kulturelle Bildungs- und Identi-tätsbildungsprozesse (vgl. Herder 1846; Glaubitz 1994; Mütter 2008; Petzold 2012).

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Der Bildungsreisende strebt eine Besinnung auf die eigenen Wur-zeln und ein Sinnen nach neuen Wegen an. Es kann also eine Ver-knüpfung von Tradition und Innovation als Weg wahrgenommen werden (vgl. Hartung 1999; Mütter 2008).

Von Altbekanntem wird sich verabschiedet, der räumlichen und geistigen Enge wird über den Antritt in die Ferne entflohen. Neues, unbekanntes Terrain wird betreten und als Bildungserlebnis aus-geführt (vgl. Elkar 1980).

Die Bildungsreise wird in ihrem Potential, neue Erkenntnisse her-vorzubringen und somit den Horizont zu erweitern immer weiter erkannt. Bekanntes wird veredelt und vervollkommnet (vgl. Beck 1959; Knoll 2006; Freller 2007).

Auf eine Bildungsreise haben sich auch die Autorinnen und Autoren dieses Bandes begeben, freilich motiviert durch Winfried Rösler. Der Professor für Allgemeine Pädagogik an der Universität Koblenz-Landau am Campus Kob-lenz inspiriert seit Jahrzehnten Menschen allen Alters dazu, sich auf einen Weg des Querdenkens, des Neu-Interpretierens, des Horizonterweiterns zu begeben. Der Bildungsbegriff ist für ihn nicht nur ein Relikt alt hergebrach-ten Denkens und somit umdeutungswürdig oder gar durch Begriffe wie Qua-lifikation und Kompetenz ersetzbar, sondern behält seine volle basale Kraft. Bildung als Weg des Individuums, sich immer wieder neu zu entdecken, sich geistig weiter zu entwickeln, die eigenen Kräfte zu veredeln. Die Bildungsreise als Mittel der Horizonterweiterung findet sich bei Winfried Rösler in zahl-reichen Bildungsangeboten für andere wieder: universitäre Lehrveranstal-tungen, persönliche Gespräche, Forschungskolloquia und Klavierkonzerte. Damit ist der Rahmen dieser Festschrift zur Würdigung Winfried Röslers ab-gesteckt und verpflichtet die Herausgeberinnen in einem besonderen Maße den von Winfried Rösler seit mehr als zwei Jahrzehnten (Silke Allmann) und seit neun Jahren (Denise Dazert) begleiteten Bildungsweg quasi als Bildungs-reise weiter zu beschreiten.

Literatur

Beck, Hanno (1959): Alexander von Humboldt: Von der Bildungsreise zur Forschungsreise 1769–1804. Wiesbaden: F. Steiner.

Brandt, Peter (2013): „Stichwort: »Reise und Bildung«“. www.die-bonn.de/zeitschrift/32013/ bildungsreise-01.pdf (Abfrage: 19.10.2015).

Brilli, Attilio (1997): Als Reisen eine Kunst war: Vom Beginn des modernen Tourismus: Die "Grand Tour". Berlin: Wagenbach.

Elkar, Rainer S. (1980): Reisen bildet. In: Krasnobaev, Boris I./Robel, Gert/Zeman, Herbert (Hrsg.): Reisen und Reisebeschreibungen im 18. und 19. Jahrhundert als Quellen der Kul-turbeziehungsforschung. Berlin: Camen. S. 51–82.

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Freller, Thomas (2007): Adlige auf Tour: die Erfindung der Bildungsreise. 1. Auflage. Ostfil-dern: Jan Thorbecke.

Glaubitz, Gerald (1994): Historische und politische Bildung auf Reisen. Goethes ‚Italienische Reise' als Identitätsbildungskonzept. In: Neue Sammlung. Vierteljahres-Zeitschrift für Er-ziehung und Gesellschaft, Jg. 34, S. 315–325.

Goethe, Johann Wolfgang von (1795/1796): Wilhelm Meisters Lehrjahre. Berlin: Unger. Hartung, Olaf (1999): „Pädagogische Überlegungen zu einer Geschichtsdidaktik des Reisens“.

oops.uni-oldenburg.de/593/1/626.pdf (Abfrage: 19.10.2015). Herder, Johann Gottfried (1846): Journal meiner Reise im Jahr 1769. Erlangen: Emil G. Herder. Herrmann, Ulrich (2000): Von der Bildungsreise in fremde Länder zur bildenden Reise ins In-

nere des Ich. In: Bildung und Erziehung, 53, H. 2, S. 151–169. Knoll, Gabriele M. (2006): Kulturgeschichte des Reisens. Von der Pilgerfahrt zum Badeurlaub.

1. Auflage. Darmstadt: Primus. Kroll, Norina (2007): Reise und Bildung. Der Urlaub als informeller Lernort. 1. Auflage. Saar-

brücken: VDM Verlag Dr. Müller. Leibetseder, Mathis (2013): „Kavalierstour – Bildungsreise – Grand Tour: Reisen, Bildung und

Wissenserwerb in der Frühen Neuzeit“. www.ieg-ego.eu/de/threads/europa-unterwegs/ka valierstour-bildungsreise-grand-tour/mathis-leibetseder-kavalierstour-bildungsreise-grand-tour (Abfrage: 19.10.2015).

Mütter, Bernd (2008). HisTourismus. Geschichte in der Erwachsenenbildung und auf Reisen. Oldenburger Schriften zur Geschichtswissenschaft. Band 8. Oldenburg: BIS-Verlag der Carl von Ossietzky Universität.

Pamminger, Daniela (2001): Reisen und globales Lernen. Wien: ÖFSE-Forum. Paul, Jean (1799/2012): „Bemerkungen über uns närrische Menschen. Viertes Bändgen“.

www.delphiclassics.com (Abfrage: 19.10.2015). Petzold, Klaus (2012): Das hat mich verändert: Gruppenfahrten in die Gedenkstätte Auschwitz-

Birkenau und nach Kraków in den Jahren 1979–2010. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt. Rösler, Winfried (2012): Spiegelverkehrte Bildungswelten. Zu Adalbert Stifters Nachsommer

und Thomas Manns Zauberberg. Ein Essay. Würzburg: Königshausen & Neumann. Schäfer, Alfred (2011): Irritierende Fremdheit. Bildungsforschung als Diskursanalyse. Pader-

born: Schöningh. Seitter, Wolfgang (2000): Lesen, Vereinsmeiern, Reisen. (Vergessene) Elemente einer Theorie

lebenslangen Lernens. In: Zeitschrift für Pädagogik 46, H. 1, S. 81–96. Stifter, Adalbert (1857): Der Nachsommer. Eine Erzählung. Leipzig: C. F. Amelang.

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Teil I Die Bildungsreise als

Grenzüberschreitung, Öffnung von Räumen, Bildungsaufgabe oder Bildungschance

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Konfuzius und die Suche nach Ordnung: Eine Reise in die chinesische Vergangenheit

Roswitha Grassl

„Sei dir bewußt, was du weißt. Was du hingegen nicht weißt, das gib zu. Das ist das richtige Verhältnis zum Wissen.“ (Gespräche 2.17, Moritz.)

1. Reisepläne – oder: Warum wir Meister Kong besuchen

Mit dem Reisen ist das so eine Sache. Wir reisen an fremde Orte und nehmen uns selbst – unsere Geschichten und Geschichte – dabei stets mit. Was immer wir sehen und wem immer wir begegnen: Wir ordnen das Neue in diese Ge-schichte ein. „Hier sieht es aus wie im Schwarzwald“, ist auf der Busfahrt durch die Ardennen zu hören, und die Singapur-Touristin berichtet der Fa-milie zu Hause: „Die Durian hat eine Konsistenz wie Großmutters Vanille-pudding.“ Dabei illustriert zumindest das Beispiel der olfaktorisch fragwür-digen Gleichsetzung der ostasiatischen Stinkfrucht mit der Süßspeise der Kindheit, dass unsere Analogien mitunter fehlgehen können. Die Kategorien des Eigenen reichen offenbar nicht immer hin, um dem Fremden gerecht zu werden. Dann müssen wir unsere Ordnungsmuster erweitern. Diese Einsicht ist freilich weder neu noch besonders originell: Reisende aller Jahrhunderte haben diese Erfahrung gemacht, sobald sie ihren bisherigen Horizont über-schritten haben.

Auch die Reise, zu der die folgenden Ausführungen einladen, überschrei-tet Grenzen. Ihren Ausgang nimmt sie in der Begegnung der Autorin mit chinesischen Managerinnen und Managern, die sie im Rahmen eines trinati-onalen MBA-Programms1 über längere Zeit als Lehrende begleitete. Dabei

1 Der in Rede stehende Masterstudiengang der Carl Benz Academy wird von der Deutschen Universität für Weiterbildung, Berlin, in Zusammenarbeit mit der PKU – Peking Univer-sity/Guanghua School of Management und der Woodbury University, Los Angeles, durchge-führt.

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lässt sich die Erfahrung dieser Lehr-Lern-Prozesse für die Autorin zunächst nur als eine andere fassen. Sie ist nur in Abgrenzung vom Umgang mit „west-lichen“ Lernenden zu beschreiben, weil angemessene fremde Kategorien feh-len. Solche Kategorien lassen sich indes unschwer im Rückgang auf die inter-kulturelle oder vergleichende (Hoch-)Schulforschung finden: Das andere Lernen chinesischer Studierender, so heißt es dort, könne in seiner Eigenge-artetheit verständlich gemacht werden, indem es in den Ordnungsmustern der Confucian Heritage Culture begrifflich bestimmt werde (vgl. exempla-risch Watkins/Biggs 1996; Watkins/Biggs 2002; Chan/Nirmala 2010).

Nun scheint es in der Tat naheliegend zu sein, das Lernen chinesischer Studierender in Verbindung zu bringen mit dem kulturellen Einfluss des Konfuzius, dessen Name zum „Symbol des traditionellen Chinas“ insgesamt geworden ist (Moritz 2014, S. 161). Bei näherer Hinsicht erweist sich das Deutungsmuster allerdings selbst als deutungsbedürftig: Es stellt sich die Frage, was die Qualität eines konfuzianisch geprägten Lernens überhaupt ausmacht. Denn rasch zeigt sich: Den Konfuzianismus gibt es nicht einmal aus ideengeschichtlicher Perspektive. Vielmehr hat sich eine große Band-breite philosophischer Ansätze entwickelt, die sich zwar alle mehr oder min-der in jener Denkrichtung verorten (lassen), die ihren Ausgang mit Konfu-zius nimmt. Jedoch haben diese Ansätze im Laufe von beinahe 2.500 Jahren sehr unterschiedliche Aspekte der ursprünglichen Lehre entfaltet und sind zudem teilweise stark unter den Einfluss anderer Strömungen, insbesondere des Daoismus oder des Buddhismus, geraten. Obwohl sie nicht zuletzt des-halb inhaltlich mitunter sogar im Widerspruch zueinander stehen, werden sie aus „westlicher“ Perspektive unter einer Sammelbezeichnung vereint, für die es im Chinesischen erst seit dem 20. Jahrhundert überhaupt eine wörtli-che Entsprechung gibt. (Vgl. van Ess 2003, S. 8.) Hinzu kommt, dass sich die vielfältigen konfuzianischen Theorien über die Jahrhunderte hinweg in recht unterschiedlichem Ausmaß in den verschiedenen Aspekten der chinesischen Kultur im Allgemeinen und in der didaktischen Praxis im Besonderen aus-geprägt haben (vgl. Biggs 1998, S. 729). Werden diese Einflüsse auf ihren ge-meinsamen Kern reduziert, so rückt das vermeintlich konfuzianische Ord-nungsmuster vielfach in die Nähe kultureller Normen und Standards, wie sie sich typischerweise in vormodernen Gesellschaften insgesamt finden lassen (vgl. van Ess 2003, S. 114 ff.), was schließlich wiederum seine Aussagekraft im Hinblick auf das spezifisch Chinesische infrage stellt.

Diese Gemengelage gibt uns Anlass, selbst dorthin zu gehen, wo die kon-fuzianische Kultur – zumindest dem Namen nach – ihren Ursprung hat: zu-rück zum „Obersten Weisen und Ersten Lehrer (zhisheng xianshi)“, zu Kong Qiu, so der Geburtsname des uns unter dem latinisierten Namen bekannten Meisters Kong (kong fu-zi). „Vor Ort“ wollen wir etwas über sein Leben und

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Werk erfahren, von denen es noch heute heißt, dass sie den kulturellen Hin-tergrund des „chinesischen“ Lernens bestimmten. Dabei sind wir uns be-wusst, dass die konstitutive Standortgebundenheit unseres Denkens einen solchen Quantensprung in die chinesische Vergangenheit genau genommen gar nicht zulässt (vgl. Hall/Ames 1987, S. 8). So reisen wir denn auch in ex-plorativer Absicht. Es geht uns nicht darum, ein vollständiges und authenti-sches Abbild des Konfuzius zu erhalten, geschweige denn, von diesem aus eine direkte Brücke wieder hinein in die chinesische Gegenwart zu schlagen (wenngleich dies im Sinne einer Praxisreflexion auf jene anderen Lehr-Lern-Prozesse letztlich wünschenswert wäre). Auf unserer Entdeckungsreise geht es uns – sehr viel bescheidener – darum, Konfuzius und seine Ideen über-haupt erst einmal kennenzulernen. Wir wollen einen eigenen Eindruck ge-winnen vom Ausgangspunkt der Confucian Heritage Culture. Insofern ein solcher Eindruck immer im Prozess der An-Eignung des Fremden entsteht, gilt – eine großzügige Lesart der klassisch-neuhumanistischen Pädagogik ei-nes Herder, Goethe oder Wilhelm von Humboldt vorausgesetzt – auch für unsere Unternehmung, was der Volksmund weiß: Reisen bildet.

Unsere Reise in die chinesische Vergangenheit beginnt mit der Erkun-dung der zeitgeschichtlichen Hintergründe des Konfuzius (2), um anschlie-ßend sein lebens- und textgeschichtliches Umfeld zu durchmessen (3). Von hier aus nehmen wir seinen Entwurf von Kultur und Gesellschaft näher in den Blick (4), von dem wir auf der letzten Reiseetappe sehen wollen, wie Kon-fuzius ihn umzusetzen versuchte (5).

2. Eine unwirtliche Umgebung – oder: In welcher Zeit Meister Kong lebt

Auf unserer Zeitreise zu Konfuzius landen wir in einer sehr unwirtlichen Umgebung. Als Meister Kong, vermutlich 551 v. Chr., in Qufu im Staat Lu geboren wird, befindet sich der Stammesverbund der chinesischen Mittel-lande „chronisch im Zustand des Aufruhrs“ (van Ess 2003, S. 37). Im Reich der Zhou bekämpfen sich die einzelnen Clans und militärischen Machthaber bereits seit langen Jahren gegenseitig. Dabei übernahm die Dynastie im 11. Jahrhundert v. Chr. einst selbst mit militärischer Stärke die Herrschaft von den Shang und setzte deren König ab. Ihre Machtübernahme legitimierte sie dabei mit dem „Entzug des himmlischen Mandats (ge ming)“. So nahm sie an, dass der Himmel (tian) dem König ein Mandat zur Herrschaft zu-sprach. Allerdings sollte ihm dieses Mandat nur solange zukommen, wie er gut regierte, wozu wiederum der pflichtgemäße Vollzug der (Opfer-)Riten durch den König und seine Helfer, die Priester und Schamanen, gehörte.

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Wenn der Sohn des Himmels (tianzi) schwerwiegend fehlte – was der Him-mel etwa durch Naturkatastrophen kundtat –, konnte ihm das Mandat zur Herrschaft wieder entzogen werden. (Vgl. Moritz 2014, S. 168 f.)

Als die Zhou um 770 v. Chr. ihre Ländereien im Westen an „Barbaren-stämme“ verloren, begann ihr Niedergang. Sie mussten ihre Hauptstadt nach Osten verlegen (weshalb gemeinhin die Zeit der Westlichen und die Zeit der Östlichen Zhou unterschieden werden), wo sie „in einem kleinen Lehen“ un-terkamen (Bauer 2009, S. 52). Ihr Machtverlust führte allerdings nicht zur Herausbildung einer neuen Dynastie. Vielmehr haben sich in der Folge die starken Feudalherren gegenseitig blockiert und sich ihrerseits selbst immer wieder bedroht gesehen von den von ihnen belehnten Vasallen oder aufstän-dischen militärischen Anführern. In dieser Ära werden Loyalitäten je nach strategischem Bedürfnis aufgekündigt; Lehen gehen in Privatbesitz über und werden zu „De-facto-Staaten“ (Moritz 2014, S. 171). Mehr als 170 solcher Staaten werden gezählt (vgl. Schmidt-Glintzer 2008, S. 32), in denen die politische Macht beständig absinkt (vgl. Wei 1993, S. 130). Während die Zentralmacht der Zhou zerfällt, träumen die noch verbliebenen legitimen Herrscher – und vermutlich auch die tatsächlich Machthabenden – „alle ins-geheim auf diese oder jene Weise“ von der Wiedereinsetzung einer „Herr-schaft über das gesamte Reich“ (Bauer 2009, S. 53). Damit wird die Ordnung der chinesischen Welt zur drängendsten Frage der Zeit. Diese Frage ist nicht mehr mit den überkommenen Mustern zu beantworten möglich: Verband ehedem die „Zentralfigur“ des Königs das Hier und Jetzt mit dem Reich der Ahnen sowie dem Reich der Natur (Bauer 2009, S. 51), so spaltet sich dieses Weltbild nun unübersehbar immer weiter auf: Auf der einen Seite stehen fak-tische Herrscher, denen es nicht an Macht, wohl aber an Legitimation durch ein himmlisches Mandat fehlt. Auf der anderen Seite steht ein zwar legiti-miertes, aber weitgehend ohnmächtiges Königtum. Macht und Kult, die sich vormals gegenseitig stützten, werden immer weiter getrennt und damit aus gesellschaftlicher Sicht schließlich dysfunktional: Macht wird zur Anarchie (vgl. Nivison 1999, S. 747) und Kult wird zur Farce (vgl. Bauer 2009, S. 52).

Vor diesem Hintergrund entwickelt sich eine Auseinandersetzung mit Herrschaft, Moral und Gesellschaft, die – zumal angesichts schwerer Erdbe-ben und eines dadurch weiter erschütterten Glaubens an die Macht des Him-mels (vgl. Moritz 2014, S. 169) – zunehmend ins Diesseits verlagert und von der Sphäre des Metaphysischen getrennt wird. In der Endphase der Früh-lings- und Herbstperiode (770–476 v. Chr.) schlägt schließlich die Geburts-stunde der chinesischen Philosophie. An der Wiege der Philosophie steht die Politik Pate, und gemeinsam antworten sie auf den „neue[n] Bedarf an poli-tischem Know-how, an Wissen über die Voraussetzungen und Methoden er-folgreichen Regierens“ (Moritz 2014, S. 173) mit dem hehren Ziel, das Land im übertragenen wie vor allem auch im tatsächlichen Sinn wieder zu einen.

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3. Auf der Suche nach Konfuzius – oder: Wo wir Meister Kong finden

In die Geschicke dieser Zeit greift Konfuzius zunächst in eher bescheidener Stellung ein. Er gehört vermutlich jener niederen Stufe der Aristokratie (shi) an, die typischerweise mit Verwaltungsangelegenheiten befasst ist (vgl. Mo-ritz 2014, S. 170). Meister Kong betritt die Bühne, nach allem, was wir wissen, als Aufseher über die Getreidespeicher (wei li) der Qi, der mächtigsten der drei Huan-Familien, die die Stellung des legitimen Herrschers in Lu schließ-lich erfolgreich untergraben sollten (vgl. Flanagan 2011, S. 29 ff.). Er wird Leiter der Viehhaltung der Qi (vgl. Flanagan 2011, S.29 ff.) oder Aufseher der öffentlichen Weiden (sheng tian li) (vgl. Moritz 2014, S. 164), bevor er lang-sam Karriere in der öffentlichen Verwaltung macht und zum Statthalter eines Ortes namens Zhong-du ernannt wird. Möglicherweise hagiografisch ge-färbte Texte wissen von einer so mustergültigen Amtsführung zu berichten, dass es Konfuzius in der Folge sogar bis zu „einer Art Arbeitsminister“ (si-kong) (Moritz 2014, S. 164) sowie zum obersten Justizbeamten (da si-kou) (vgl. Moritz 2014, S. 166) und/oder zum Justizminister bringen sollte (vgl. van Ess 2003, S. 17; Legge 1893/1971, S. 74). Unter seinem Einfluss, so will es die Überlieferung, blüht Lu solchermaßen auf, dass Neid und Furcht des ri-valisierenden Nachbarstaats Qi geweckt werden. Daraufhin ersinnt dessen Herrscher eine List: Er schickt seinem Kontrahenten in Lu 80 schöne Tänze-rinnen vor die Stadttore. Der aufrechte Konfuzius warnt vor der Annahme dieses Danaergeschenks, doch vergebens: Drei Tage lang werden die Staats-geschäfte vernachlässigt. Konfuzius geht daraufhin fort. (Vgl. G 17.4, Mo-ritz.)2 Er zieht von Staat zu Staat, wie so viele shi seiner Zeit, die ihre Kennt-nisse im Hinblick auf Kriegskunst und Diplomatie sowie in ökonomischen und politischen Fragen an die Herrschenden weitergeben (vgl. Jäger 2008, S. 107) oder ihnen im Hinblick auf (Opfer-)Rituale zur Seite stehen (vgl. Lee 2000, S. 43). Dabei sollten die Bemühungen des Meisters Kong um das Ohr der Mächtigen allerdings weitgehend erfolglos bleiben. Dies ändert sich auch nach seiner Rückkehr in seinen Heimatstaat Lu im Jahr 484 v. Chr. nicht mehr grundlegend. So stirbt Konfuzius 479 v. Chr. als ein „Mann, der stets auf der Suche war und selbst nie ankam“ (Moritz 2014, S. 161). Das zumin-dest legen die Historischen Aufzeichnungen (Shi-ji) aus dem späten 2. Jahr-hundert v. Chr. nahe. Allerdings gilt der Autor dieser ersten uns bekannten Biografie des Meisters Kong, der Historiograf Sima Qian (um 145 bis um 86

2 Belegstellen aus dem Buch der Gespräche werden wie folgt angegeben: G Kapitelnummer. Di-alog, z. B. G 17.4. Es folgt ein Hinweis auf die Übersetzung, der das jeweilige Zitat entnommen ist, sofern diese Angabe zur inhaltlichen Präzisierung erforderlich erscheint.

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v. Chr.), als Gegner der konfuzianischen Schule; ihm konnte kaum an der Darstellung von politischen Erfolgen gelegen gewesen sein (vgl. van Ess 2003, S. 11 ff.). So muss die Frage nach dem persönlichen Wirken des Konfuzius für uns letztlich offen bleiben; gesicherte Zeugnisse liegen bislang nicht vor (vgl. Moritz 2014, S. 163).

Wir wissen indes, dass die Lehre des Konfuzius die nächsten fast 2.500 Jahre der chinesischen Geistes- und Kulturgeschichte so umfassend prägen sollte, dass heute von einer Confucian Heritage Culture als Inbegriff des „Chinesischen“ die Rede ist (vgl. zu dieser Verbindung exemplarisch Chang 2000). Dieser weitreichende Einfluss gab uns Anlass zu unserer Reise in die chinesische Vergangenheit. Doch worin besteht diese einflussreiche Lehre des Meisters Kong? Bevor wir uns aufmachen, um nach ihr zu suchen, müs-sen wir uns vergegenwärtigen, dass Konfuzius in einer Zeit lebt, in der Ge-dankengut weithin mündlich überliefert wird. Erst viele Jahre, mitunter Jahr-hunderte nach dem Tod des Meisters Kong werden „seine“ Ideen schriftlich festgehalten. Dabei stehen sie freilich in Konkurrenz zu zahlreichen anderen Denkrichtungen der Zeit. In diesem Wettstreit entwickelt sich in der chine-sischen Geistesgeschichte schon früh eine kreative Rezeptionsstrategie, die das Eigene in den Worten des Fremden zu präsentieren und sich so Gehör zu verschaffen weiß (vgl. Bauer 2009, S. 34 ff.). Insofern ist mitunter nur schwer zu entscheiden, wobei es sich um originäres, um weiterentwickeltes oder eben um verfremdetes und damit seines ursprünglichen Sinns entklei-detes Gedankengut des Konfuzius handelt (vgl. Haupt 2006). Während der Qin-Dynastie (221–206 v. Chr.) wird die mit seinem Namen verbundene „Schule“ zeitweilig verboten. 213 v. Chr. werden ihre Aufzeichnungen wahr-scheinlich offiziell verbrannt (fenghu kengru) und ihre Mitglieder sogar le-bendig begraben; die Überlieferung wird auf drastische Weise unterbrochen. (Vgl. Wei 1993, S. 122.) Als sich das Blatt wendet und Konfuzius über die Jahrhunderte gar bis zum Heiligen „aufsteigt“ (vgl. Feng/Shi 2001, S. 107), wird nicht nur seine Biografie, sondern auch die zwischenzeitlich rekonstru-ierte Lehre des Meisters Kong in zunehmendem Maße von Legendenbildung und Ideologie überformt (vgl. Flanagan 2011, S. 25). Auf diese Weise hat im Grunde jede Zeit ihre eigene Lehre des Konfuzius (vgl. Moritz 2014, S. 161), und wer auf Übersetzungen in europäische Sprachen angewiesen ist, für den setzt sich dieses Problem noch einmal weiter fort. Denn diese Übersetzungen dechiffrieren die chinesischen Texte vielfach in den Begriffen der eigenen Weltanschauung. So stellen beispielsweise Übersetzungen und Kommentare jesuitischer Missionare, die die Lehre des Konfuzius seit dem 17. Jahrhundert einem breiteren Publikum in Europa bekannt machen, Meister Kong als hu-manistischen Propheten in eine christliche Traditionslinie (vgl. van Ess 2003, S. 79), und die noch heute wichtige, vielfach rezipierte deutschsprachige

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Übersetzung Richard Wilhelms (1873–1930) ist „getränkt von einem protes-tantischen Grundverständnis“ (van Ess 2008, S. 39). (Allgemein zum Pro- blem der kulturellen Verortung der Konfuzius-Übersetzungen vgl. Hall/ Ames 1987, S. 7.) Auf unserer Reise in die chinesische Vergangenheit werden wir demnach allenfalls Spiegelungen der Lehre des Konfuzius begegnen.

4. Der Ordnungsentwurf des Konfuzius – oder: Was Meister Kong am Herzen liegt

Diese Spiegelungen der Lehre des Konfuzius sind nirgendwo schärfer kontu-riert als im Buch der Gespräche (Lunyu). In ihm haben Schüler, möglicher-weise bis in das 2. Jahrhundert v. Chr. hinein, Worte (yu) des Meisters zusammengetragen und geordnet (lun).3 Anders als etwa im Fall der Sokra-tischen Dialoge ist dabei allerdings kein linearer Text entstanden, in dem sich die Lehre des Konfuzius systematisch entfaltete. Vielmehr stehen einzelne Aussprüche und Anekdoten im Buch der Gespräche weitgehend fragmenta-risch nebeneinander und selbst seine Gliederung erschließt sich „westlich“ geprägten Lesenden nicht immer auf den ersten Blick (vgl. Flanagan 2011, S. 2). (Zur philologischen Analyse des Textes vgl. exemplarisch Moritz 2014, S. 174 ff.) Für uns bedeutet dies, dass wir uns auf unserer weiteren Reise zum Ursprung der Lehren des Meisters Kong sinnvollerweise „ortskundiger“ Führung anvertrauen. Diese ist sich – wie könnte es in einer hermeneuti-schen Wissenschaft anders sein? – zwar auch nicht immer einig darüber, wel-cher Pfad uns dem Denken des Konfuzius am nächsten bringen wird. Doch kann sie uns zumindest bei unserem Versuch anleiten, den vorgefundenen Versatzstücken eine Be-Deutung zu geben, um sie so zu unserer eigenen Mo-mentaufnahme zusammenzufügen.

3 Die Schulgespräche des Konfuzius (Kongzi jianyu) könnten weitere und damit gleichsam apokryphe Aussagen des Meisters Kong enthalten. Lange Zeit galt diese Schrift als eine Fäl-schung aus dem 2. Jahrhundert (vgl. Wei 1993, S. 124). Inzwischen wurde in einem Grab der archäologischen Fundstätte Shuanggudui ein Inhaltsverzeichnis entdeckt, das den zugehöri-gen, verlorengegangenen Text in die Nähe des Buchs der Gespräche rückt (vgl. Shaughnessy 2014, S. 190). Da das Grab vermutlich bereits 165 v. Chr. versiegelt wurde, scheint mit diesem Fund die These einer späteren Fälschung der Schulgespräche widerlegt. Auf die Sinologie war-tet noch viel Arbeit.

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4.1 Ren – oder: Wie Meister Kong die „Menschlichkeit“ entdeckt

Folgen wir also der Konfuzius-Forschung, so werden wir auf einen Begriff verwiesen, der im Buch der Gespräche auffallend häufig genannt wird und vielen Interpretationen – nicht nur deshalb – als ein zentrales Element der Lehre des Meisters Kong gilt: auf den Begriff ren (vgl. Wei 1993, S. 124 ff. sowie die Übersicht in Reich/Wei 1997, S. 30 ff.). Allerdings geht aus dem Buch der Gespräche nicht hervor, was Konfuzius genau mit diesem Begriff meint. Es findet sich darin keine Definition im aristotelischen Sinn. Vielmehr scheint Konfuzius ren in den einzelnen Dialogen immer wieder anders zu fassen. Dies mag auch damit zusammenhängen, dass das chinesische Den-ken, sehr vereinfachend ausgedrückt, einem anderen Muster folgt als das „westliche“, das zwischen dem Ding und seiner Erscheinung trennt. Wenn wir beispielsweise von einem Baum sprechen, so meinen wir immer den Baum als solchen, mag er auch sein Aussehen für uns im Wechsel der Jahres-zeiten und im Laufe der Zeit verändern. Der Baum selbst bleibt dem „westli-chen“ Denken immer mit sich identisch, er ist für uns, von uns unabhängig, stets derselbe. Dabei werden der Baum – das Ding – und beispielsweise seine Form und Farbe – seine Erscheinungen – in einem rational-logischen Ver-hältnis zueinander gedacht, das wiederum in einem vielfach als allgemein-gültig betrachteten (Natur-)Gesetz gefasst werden kann. Im chinesischen Denken hingegen bilden das Ding und seine Erscheinungen eine Einheit, in-nerhalb derer sie in einem Wechselverhältnis zueinander stehen. Der „chine-sische Baum“ wird hiernach in der Gesamtheit seiner unterschiedlichen Er-scheinungen ästhetisch konstituiert. Das seinen Wandlungen zugrunde liegende Gesetz ist das Gesetz der Zeit. (Vgl. Flanagan 2011, S. 93f.; ausführ-lich zu den hiermit angesprochenen erkenntnistheoretischen und ontologi-schen Unterscheidungen vgl. Hall/Ames 1987; zur Bedeutung des Buchs der Wandlungen (Yijing) für die Entstehung der chinesischen Philosophie vgl. Bauer 2009, S. 46 ff.)

Um nun vor diesem Hintergrund zu verstehen, was mit ren gemeint ist, verweisen uns unsere „ortskundigen“ Reiseführer zurück zu der Zeit der Shang. In ihrem Weltbild war der Mensch harmonisch mit dem Reich der Ahnen und dem Reich der Natur zu einer Einheit verbunden. Mit der Tren-nung der Sphären von Kult und Macht wurde dieses Weltbild infrage gestellt und mit ihm die Ordnung der realen Welt. Diese Ordnung kann, wie wir gesehen haben, nicht länger von metaphysischen Instanzen wie dem Himmel her gedacht werden. Stattdessen kehrt sich die Blickrichtung nun gleichsam um: In diesen Anfangstagen der chinesischen Philosophie verlagert sich der Fokus des Denkens vom Reich der Ahnen und der Natur hin zum Menschen. Er rückt in den Mittelpunkt des Weltbilds, das fortan um ihn herum geordnet

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wird. Konfuzius gehört zu den Ersten, die eine solche „kopernikanische Wende im umgekehrten Sinne“ vollziehen (Bauer 2009, S. 57).

Nun ergibt sich die Stellung des Menschen in einem Weltbild aus seiner Relation zu dessen Gliedern, so, wie wir unseren Aufenthaltsort auf einer Landkarte bestimmen können, indem wir uns an unserer Umgebung – an Städten, Gebirgszügen oder Flussläufen – orientieren. Für Konfuzius sind diese Beziehungen des Menschen zur Welt als solche zu allererst menschlich. In ihnen prägt sich für ihn Menschlichkeit aus, die umgekehrt ihrerseits – dem ästhetischen Muster des chinesischen Denkens entsprechend – in der Ge-samtheit solcher menschlichen Beziehungen wird. Diese umfassende Mensch-lichkeit bezeichnet Konfuzius als ren. In ren unterscheidet sich der Mensch insofern von den Ahnen oder der Natur, als er sich menschlich zu ihnen in Beziehung setzt. Genau gelesen ist ren damit keine vorranging ontologische oder anthropologische Kategorie. Konfuzius geht es nicht darum, zu bestim-men, was der Mensch ist, und schon gar nicht um eine Festlegung der menschlichen Natur. Menschlichkeit ist für ihn – so, wie wir noch heute das Wort verwenden – vor allem eine Frage der Moral. Denn der Mensch setzt sich in Beziehung zur Welt, das heißt, er kann seine Beziehungen zur Welt gestalten. Er kann ihnen in seinen und durch seine Handlungen ein spezifi-sches, eben ein menschliches Gesicht geben. So können wir auch sagen: Die Menschlichkeit des Menschen prägt sich für Konfuzius in menschlichen Handlungen aus, und sie wird zugleich in der Gesamtheit der Handlungen, die der Menschlichkeit des Menschen entsprechen. Ren ist mithin die fort-währende praktische Manifestation dieses Werdens der Menschlichkeit (vgl. Dawson 1993, S. xviii), oder kurz: Ren ist die „Tugend der Menschlichkeit“ (van Ess 2003, S. 21), „die Seele aller Tugenden“ (Jaspers 1957/1988, S. 168).

Das Menschenbild des Konfuzius ist demnach von Anfang an auf ein Ge-genüber hin angelegt. Insbesondere wird ren zum Inneren einer idealen Ge-meinschaft, wenn sich Menschlichkeit in einer ihr entsprechenden Gestal-tung der Beziehungen aktualisiert, die damit im Wortsinne zu zwischen-menschlichen Beziehungen werden. So kommt in ren die Gemeinschaftsbe-zogenheit des Menschen – genauer: der Menschlichkeit – zum Ausdruck (vgl. Wei 1993, S. 216). Dies ist auch daran abzulesen, dass das chinesische Schrift-zeichen für ren wörtlich Mensch und zwei bedeutet (vgl. Reich/Wei 1991, S. 5; eine historische semiotische Deutung findet sich bei Bauer 2009, S. 57). Al-lerdings ist es voreilig, in der Tradition der Aufklärung nun von einer sol-cherart uneingeschränkten Humanität auf eine egalitäre Struktur der menschlichen Gesellschaft zu schließen. Denn der Hinweis auf eine erschöp-fende Menschlichkeit der Beziehungen des Menschen zu seinesgleichen sagt zunächst noch nichts über ihre konkrete Ausgestaltung aus. Nur weil sie al-lesamt menschlich sein und umgekehrt in ihrer Gesamtheit Menschlichkeit konstituieren sollen, werden die einzelnen Beziehungen der Menschen damit

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noch nicht zwingend gleichartig. Oder anders formuliert: Aus ren lässt sich weder logisch noch geltungssystematisch überhaupt eine konkrete Ord-nungsstruktur ableiten. Aus rationaler Sicht bleibt der Begriff ren diesbezüg-lich unterbestimmt (vgl. Reich/Wei 1997, S. 40).

Erinnern wir uns vor diesem Hintergrund noch einmal an unseren Baum: Dem chinesischen Denken erscheint der Baum in Bezug zu seinen Betrach-terinnen oder Betrachtern – und dabei auch immer wieder anders –, um in der Gesamtheit seiner Erscheinungen zu werden. Wenden wir diesen Gedan-ken auf den Begriff ren an, so ist Menschlichkeit für Konfuzius bis zu seiner Zeit nur in Beziehungen geworden, die hierarchisch gestaltet worden sind. Denn welche historischen Alternativen kennt Meister Kong? Da ist, erstens, die Zeit der Shang, die den Menschen zumindest in ihrem Weltbild noch har-monisch mit allen anderen Wesen verband. In seiner Einheit war dieses Weltbild zwar geordnet, doch stellte sich gerade aufgrund seiner umfassen-den Ordnung die Frage nach der Menschlichkeit überhaupt (noch) nicht. Dieser Ära der Großen Gemeinschaft (datong) gegenüber steht am anderen Ende des Spektrums, zweitens, die Umbruchsituation der eigenen Zeit des Konfuzius. In ihr führt die fortwährende Umverteilung des Landeigentums zur Auflösung der Lehensordnung. Es entsteht eine arbeitsteilige Gesell-schaft, mit der sich wiederum eine neue und von höfischer Kontrolle unab-hängige Schicht der Handwerker und Kaufleute herauszubilden beginnt. Mit alledem verbindet sich eine soziale Mobilität, die Meister Kong vielleicht auch deshalb vornehmlich als „Autoritäts- und Wertkrise“ erlebt, weil sie jene Schicht des niederen Adels weitgehend entwurzelt, der auch er angehört (Moritz 2014, S. 172). Nicht ohne Grund ziehen die shi durch die Lande und vermarkten die Kenntnisse, die sie als Teil ihrer aristokratischen (Aus-)Bil-dung erworben haben (vgl. Lee 2000, S. 43). Die Beziehungen der Menschen zueinander und zur Welt jedenfalls erscheinen als beliebig; die Zeit trägt das Signum der Unordnung. Und schließlich ist da, drittens, die Zeit der Westli-chen Zhou, in der etwa jene Adelsschicht einen zwar nachgeordneten, aber eben festen Platz in einer abgestuften Sippenstruktur einnahm. Lu, der Hei-matstaat des Meisters Kong, soll ehedem eine Bastion dieser Gesellschafts-ordnung gewesen sein (vgl. Hsu 1999, S. 584). In Zeiten des „bedingten Land-besitzes“ hatte sie dem Reich insgesamt innere Stabilität verliehen (Moritz 2014, S. 169) und zu einer Ära des Kleinen Wohlstands (xiaokang) geführt. (Zur Geschichtsvorstellung des Konfuzius insgesamt vgl. exemplarisch Wei 1993, S. 129 f.; Reich/Wei 1997, S. 34 ff.)

In diesem ideen- und realgeschichtlichen Horizont kann nur das patri-moniale System der Westlichen Zhou als überhaupt menschlich geordnet gel-ten. Nur ihm kommen, wenn wir so wollen, beide Attribute zu. Deshalb kann diese Gesellschaftsordnung für Konfuzius in normativer Wendung zum Vor-bild werden: Ren erscheint für ihn zwar in jeder konkreten Beziehung anders.