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03.03.2020 1 03.03.2020 1 Viele Fragen und die Suche nach Antworten – Auswirkungen ethischer Entscheidungen in Grenzsituationen De Dr. med. Susanne Hirsmüller MSc. Palliative Care (Uni Freiburg), M.A., QPÄ [email protected] 03.03.2020 2 1. Ich habe im Hinblick auf diesen Vortrag keinerlei Interessenkonflikte 2. Bei der Nennung von weiblichen oder männlichen Bezeichnungen sind stets auch alle anderen Geschlechter mitgemeint 3. Bei der Nennung von „Patientinnen“ sind stets auch Gäste oder Bewohner mitgemeint 4. Bei der Nennung von „Begleitenden“ sind stets alle Berufsgruppen sowie die Ehrenamtlichen mitgemeint, soweit es nicht explizit anders erwähnt wird Allgemeines vorweg: 1 2

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Viele Fragen und die Suche nach Antworten –Auswirkungen ethischer Entscheidungen

in Grenzsituationen

De

Dr. med. Susanne HirsmüllerMSc. Palliative Care (Uni Freiburg), M.A., QPÄ

[email protected]

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1. Ich habe im Hinblick auf diesen Vortrag keinerlei Interessenkonflikte

2. Bei der Nennung von weiblichen oder männlichen Bezeichnungen sind stets auch alle anderen Geschlechter mitgemeint

3. Bei der Nennung von „Patientinnen“ sind stets auch Gäste oder Bewohner mitgemeint

4. Bei der Nennung von „Begleitenden“ sind stets alle Berufsgruppen sowie die Ehrenamtlichen mitgemeint, soweit es nicht explizit anders erwähnt wird

Allgemeines vorweg:

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1. Annäherung

1.1 Grenzsituationen

1.2 Ethische Entscheidungen

2. Ethische Grenzsituationen

2.1 Schweigepflicht

2.2 Wer bekommt das nächste freie Bett?

2.3 Todeswunsch

3. Exemplarische Darstellung am Beispiel der Palliativen Sedierung

Inhalt

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Nach Karl Jaspers (1883 – 1969):

• Ich muss sterben• Ich muss leiden Diese Grundsituationen • Ich muss kämpfen unseres Daseins • Ich bin dem Zufall unterworfen nennt er Grenzsituationen• Ich verstricke mich in Schuld

Auf Grenzsituationen reagieren durch eine ganz andere Aktivität:das Werden der in uns möglichen Existenz.

Wir werden wir selbst, indem wir in diese Grenzsituationen offenen Auges eintreten. Grenzsituationen erfahren und Existieren ist dasselbe.

Grenzsituationen

Lit: Einführung in die Philosophie. Zwölf Radiovorträge, Zürich 1950, 20f, Philosophie II, 3. Aufl. 1956, 204

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Leid – was einem widerfährt Leiden – der aktive Umgang mit dem Leid

Im medizinischen Kontext:

a) hat Leid(en) eine starke normative Aufforderung (appellative Komponente) und kann dadurch andere Sorgfaltskriterien überwiegen

b) verstehen und definieren Patienten, Nahestehende und Behandler unerträgliches Leid unterschiedlich

c) ist Leid(en) nicht ausreichend differenziert – für die Linderung welcher Leiden istdie Medizin zuständig oder eventuell auch nicht?

Definition: „Unerträgliches Leiden beschreibt die individuelle und subjektiv empfundene Intensität von Symptomen oder Situationen, deren andauerndes Empfinden bzw. Erleben so belastend ist, dass sie von einem Patienten nicht akzeptiert werden kann.“ (Müller-Busch, Radbruch, Strausser 2006, Dt. Med. Wochenschrift 129(13) 701-704)

Unerträgliches Leid

Bozzaro (Ethik Med (2015) 27:93-106

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Ethische Prinzipien im Gesundheitswesen

Respekt vor der

Autonomie

Fürsorge Wohltun

Nicht Schaden

Gerechtigkeit

Lit: Beauchamp T., Childress J: (1979) Principles of Biomedical Ethics

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• „Was immer ich bei der Behandlung sehe oder höre oder auch außerhalb der Behandlung im Leben der Menschen, soweit man es nicht ausschwatzen darf, werde ich darüber schweigen, solches als heiliges Geheimnis achtend.“ Hippokratischer Eid

• Genfer Gelöbnis (2017): „Ich werde die mir anvertrauten Geheimnisse auch über den Tod der Patientin oder des Patienten hinaus wahren.“

• Ist genuine Grundlage der Vertrauensbeziehung zwischen Patientin und Behandlern

Schweigepflicht

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• Wo Menschen in Beziehungen stehen, spielen Aspekte von Gerechtigkeit eine Rolle

• Ausgleichende Gerechtigkeit = gleichmäßige Verteilung ohne Berücksichtigung von Merkmalen

• Austeilende Gerechtigkeit = ungleiche Verteilung in Abhängigkeit von Merkmalen

• Frage: Wer legt die Kriterien, anhand derer verteilt wird, fest?

Wer bekommt das nächste freie Bett?

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• Eigene Haltung reflektieren

• Durch offene Fragen versuchen, die Situation besser zu verstehen

• Versuch „Druck rauszunehmen“ und abzuklären, um welche Art Todeswunsch es sich handelt

• Depressionen erkennen und behandeln, bei Bedarf psychiatrische Expertise

• Optionen „Sterben zulassen“, „Therapiezieländerung“ und „Palliative Sedierung“ erwägen und besprechen

• Das offene Eingehen kann schon eine Entlastung bringen

• Und schließlich aushalten, dass einzelne Situationen nicht befriedigend zu lösen sind

Lit: R. Voltz (2019) Sterbewunsch. In: Öchsle K, Scherg A Hrsg: FAQ Palliativmedizin, Urban & Fischer S. 187-191

Umgang mit Todeswünschen

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Definition EAPC: „Überwachter Einsatz von Medikamenten mit dem Ziel einer verminderten oder aufgehobenen Bewusstseinslage (Bewusstlosigkeit), um die Symptomlast in anderweitig therapierefraktären Situationen in einer für Patienten, Angehörige und Mitarbeiter ethisch akzeptablen Weise zu reduzieren.“(Palliat Med 23(7):581-593)

Palliative Sedierung – Begriffe und Definition

Leiden lindern Warten könnenDer Mensch darf gegenüber dem Leiden

anderer nicht gleichgültig sein

Der Mensch darf den natürlichen Verlauf

der Krankheit nicht beeinflussen

Extremform: Extremform:

Um Leiden zu lindern, kann Leben auch

verkürzt werden

Trotz Leiden darf Leben nicht verkürzt

werden

Monteverde, S (2017) Leiden lindern, warten können: Ethos und Ethik in Palliative Care. In: Steffen-

Bürgi, B. et al Hrsg. Lehrbuch Palliative Care. 3. Aufl. Hogrefe Bern, S. 832-48

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In der Finalphase bei :- kurzfristig während belastender Behandlungen (z.B. Verbandswechseln)- irreversiblem Delir/agitierter Verwirrtheit- anhaltendem Stuhlerbrechen- heftigster Dyspnoe- therapierefraktären Schmerzkrisen- psychischen Krisen (Demoralisation, unerträglichem Leid)- in Notfallsituationen (letale Blutung, akutes Ersticken …)- terminalem Weaning (Entwöhnung von Beatmung am Lebensende)

Palliative Sedierung – Indikationen

Alt-Epping, Sitte, Nauck, Radbruch. Leitlinie für den Einsatz sedierender Maßnahmen in der Palliativversorgung

Der Schmerz. 2012; 24(4): 342-54

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• Dfd

Palliative Sedierung - Formen

Form Bemerkung

Primär Primäre Maßnahme mit dem Ziel, das Bewusstseinsniveau zu senken

SekundärNebenwirkung von palliativ verabreichten Medikamenten, deren primäre Indikation nicht die Sedierung, sondern z.B. Schmerzlinderung ist

IntermittierendVerabreichung mit Unterbrechungen, um damit Phasen der Wachheit und ggf. Kommunikationsfähigkeit zu ermöglichen

KontinuierlichVerabreichung ohne Unterbrechung bis zum Tod des Patienten

Oberflächlich

Bewusstseinserhaltende Sedierung bis zur optimalen Angst- und Symptomreduktion bei weitgehend erhaltener Kommunikation und z.B. gelungener Rückkehr zum Tag-/Nachtrhythmus

Tief Sedierung bis zum Erreichen der Bewusstlosigkeit

Lit: Kayser, Kieseritzky, Sittig (Hg.) Kursbuch Palliative Care. Bremen 2009

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• Paradoxe Agitiertheit (Übererregung statt Bewusstlosigkeit)• Inadäquate Symptomkontrolle• Sedierung nicht suffizient durchführbar• Unterschiedliche Haltungen zur Sedierung

(innerhalb der Gruppe der An- und Zugehörigen, innerhalb des Teams)• Komplikationen (Aspiration)

aber:• Daten weisen darauf hin, dass eine adäquat durchgeführte Sedierung nicht zur

Beschleunigung des Todes führt

Palliative Sedierung - Risiken

(Müller-Busch / Stone, Phillips, Spruyt / Morita, Tsunoda, Inoue)

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Palliative Sedierung unterscheidet sich von Euthanasie dadurch, dass:• das Ziel die anderweitig nicht erreichbare adäquate Symptomlinderung und nicht die

Herbeiführung des Todes ist

• zur Erreichung dieses Ziels eine differenzierte und angemessene Vorgehensweise erforderlich ist sowie

• der Tod des Patienten kein Erfolgskriterium für die Effektivität dieser Therapiemaßname darstellt

Palliative Sedierung – Abgrenzung zur Euthanasie

Schröer, Hirsmüller (2014) Palliative Sedierung. In: Fink et al: Werkbuch Medizinethik Bd. 2, Fromm Verlag, S. 191-203

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Ist durch palliative Sedierung ein „besseres Sterben“ möglich?• Veränderung der Elemente und Vorstellungen eines guten Todes • Ruhiges Sterben = gutes Sterben?• Patient ist ruhig gestellt - aber was erlebt er in der Sedierung und kann es nicht

mitteilen? • Fehlender Raum für Sinnfragen und Abschied?Oder bedeutet die Palliative Sedierung sogar den ‚sozialen Tod‘ des Patienten?

Wie sieht die Entscheidung zur Ernährungs- und Medikamentengabe aus?Lebensverkürzung durch Flüssigkeits- und Ernährungsbeendigung →Futility (Sinn/- Nutzlosigkeit) oder aktive Sterbehilfe?

Palliative Sedierung – ethische Fragen 1

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• Sedierung ist kein Ersatz für Nähe, Pflege und professionelle Sterbebegleitung

• Sedierung nur durch geschultes und professionelles Team

• Abklärung von Patientenwünschen im Vorfeld

• Begleitung der Angehörigen erforderlich

• Begleitung/ Supervision der Behandelnden ebenso erforderlich

Palliative Sedierung – Fürsorge

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PRO:• Unerträgliches Leiden wird nicht mehr wahrgenommen:

Beseitigung des Symptoms, nicht des leidenden Menschen!

→ Effektive Symptomkontrolle ist - wo immer möglich- geboten

• Verhinderung möglicher Traumatisierung der Nahestehenden - durch massive

Unruhe oder andere massive Symptome des Sterbenden - über den Tod hinaus

CONTRA:• Risiko der paradoxen Agitation durch Sedativa

• Fehlende Chance, Abschied zu nehmen

• Ausweitung der Indikationsstellung und Vorverlegung des Startzeitpunkts

Palliative Sedierung – Schaden/Nutzen-Abwägung

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Handelt es sich um unerträgliches, therapie-refraktäres Leid(en), welches eine Palliative Sedierung legitimiert?

1. Leiden charakterisieren

© Annette Riedel

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2. Subjektivierung des Leidensreflektieren und absichern

Steht bei der Entscheidung explizit das subjektive Leid(en) des Gastes im Vordergrund?

© Annette Riedel

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3. Zeitpunkt der Einleitung ethisch reflektieren und absichern

Klärung der Wertepräferenzen:• Fürsorge der Mitarbeitenden• Selbstbestimmung des Gastes

© Annette Riedel

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• Durch immer neue medizinische Behandlungsmöglichkeiten ergeben sich immer wieder neue ethische Problemstellungen

• Die Autonomie der Patienten ist ein wichtiger Maßstab, dahinter darf die Autonomie der Behandelnden jedoch nicht unkritisch zurückgesetzt werden

• Die Pluralität innerhalb der Gesellschaft macht einen permanenten ethischen Diskurs sowie Respekt vor der jeweils anderen Meinung dringend erforderlich

• Neben der sicherlich wichtigen engen Beobachtung dessen, was Patienten in ihren letzten Lebensstunden erleben/erleiden, darf nicht außer Blick geraten, was sie in den Monaten der Therapie und Behandlung zuvor erlebt/erlitten haben

• Die Begleitung von schwerst- und sterbenskranken Menschen in Palliative Care (ggf. auch durch begleiteten Suizid) einerseits und die allgemeine Suizidprävention für psychisch erkrankte oder sozial verzweifelte Menschen andererseits sind unter-schiedliche Aufgabenbereiche im Gesundheitswesen, die sich nicht gegenseitig ausschließen

Fazit

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Riedel, A (2020) Palliative Sedierung im stationären Hospiz. Konstruktion einer Ethik-Leitlinie mittels

partizipativer Forschung. V&R, Göttingen

Heller, A u. Kränzle, S (2019) Tod durch freiwilligen Verzicht auf Essen und Trinken (ToFVET). Sterben des

homo faber und seine organisationsethischen Implikationen. ZfmE 65(3):281-97

Schnell, M u. Schulz-Quach,C Hrsg. (2019) Basiswissen Palliativmedizin. 3. Aufl., Springer Berlin

Bozarro, C (2015) Der Leidensbegriff im medizinischen Kontext: Ein Problemaufriss am Beispiel der

tiefen palliativen Sedierung am Lebensende. Ethik Med (27):93-106

Monteverde, S (2017) Leiden lindern, warten können: Ethos und Ethik in Palliative Care. In: Steffen-

Bürgi, B. et al Hrsg. Lehrbuch Palliative Care. 3. Aufl. Hogrefe Bern, S. 832-48

Weixler, D u. Mattekat, K (2017) Palliative Sedierungstherapie. In: Steffen-Bürgi, B. et al Hrsg. Lehrbuch

Palliative Care. 3. Aufl. Hogrefe Bern, S. 873-87

Literatur

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