Denken und Handeln der Monade. Leibniz' Begründung der Subjektivität

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Denken und Handeln der Monade. Leibniz' Begründung der Subjektivität Author(s): MARTIN SCHNEIDER Source: Studia Leibnitiana, Bd. 30, H. 1 (1998), pp. 68-82 Published by: Franz Steiner Verlag Stable URL: http://www.jstor.org/stable/40694335 . Accessed: 18/09/2013 22:26 Your use of the JSTOR archive indicates your acceptance of the Terms & Conditions of Use, available at . http://www.jstor.org/page/info/about/policies/terms.jsp . JSTOR is a not-for-profit service that helps scholars, researchers, and students discover, use, and build upon a wide range of content in a trusted digital archive. We use information technology and tools to increase productivity and facilitate new forms of scholarship. For more information about JSTOR, please contact [email protected]. . Franz Steiner Verlag is collaborating with JSTOR to digitize, preserve and extend access to Studia Leibnitiana. http://www.jstor.org This content downloaded from 132.206.27.25 on Wed, 18 Sep 2013 22:26:37 PM All use subject to JSTOR Terms and Conditions

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Denken und Handeln der Monade. Leibniz' Begründung der SubjektivitätAuthor(s): MARTIN SCHNEIDERSource: Studia Leibnitiana, Bd. 30, H. 1 (1998), pp. 68-82Published by: Franz Steiner VerlagStable URL: http://www.jstor.org/stable/40694335 .

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Denken und Handeln der Monade. Leibniz9 Begründung der Subjektivität*

Von

MARTIN SCHNEIDER (MÜNSTER)

Summary

In his reflections on the Cartesian philosophy Leibniz proposes that action rather than thought is the essence of the substance. The action of the substance consists not only in thought, but also in spontaneous motion. By means of this new criterion, Leibniz overcomes the Cartesian distinction between corporeal and spiritual substances. Moreover, he overcomes the Cartesian opposition between subject and object by emphasizing the intentionality of thought through the addition of the principle 'varia a me cogitantur' to Descartes' 'cogito, ergo sum'. In the course of this paper the main characteristics of the monad - action, unity, perception, appeti- tion, apperception - will be presented.

I

Die neuen philosophischen Systementwürfe des 17. Jahrhunderts stehen alle direkt oder mittelbar, explizit oder unausgesprochen in der Auseinanderset- zung mit der Cartesischen Philosophie. Descartes hatte mit dem denkenden Ich als systematischem Ausgangspunkt seiner Philosophie eine Basis gefunden, die für viele spätere neuzeitliche Philosophien prägend wurde: die subjektivisti- sche Grundlegung. Über Kant, den Deutschen Idealismus bis hin zur analyti- schen Philosophie ist diese Tendenz (trotz aller realistischen und objektivisti- schen Gegentendenzen) wach geblieben, und sei es auch nur - wie in der analytischen , philosophy of mind4 - in der grammatischen Restriktion auf das durch das Pronomen ,ich' zum Ausdruck gebrachte Subjekt und dessen Aussa- gen über sich selbst.

Nun mag der Cartesianismus mit dieser subjektivistischen Basis des die Welt konstituierenden Ich zwar eine Emanzipation von theologischen und metaphysisch-spekulativen Hypothesen (zumindest teilweise) erreicht haben, er hat aber diese Befreiung zugleich mit einer Zerteilung der Wirklichkeit in die zwei sich gegenüberstehenden Seinsbereiche des reinen Denkens und des rei- nen Ausgedehntseins erkauft. Die meisten Philosophen waren daher bemüht, diese Zerfällung des Seins wieder aufzuheben bzw. abzuschwächen. Der Ver- such von Hobbes, das Subjekt nur noch als materiellen Träger von , geistig4 genannten Erscheinungen gelten zu lassen, die occasionalistischen Bemühun- gen, die von Descartes nur unzureichend erklärte Wechselwirkung zwischen Körper und Geist durch den Rückgriff auf göttlichen Beistand zu überwinden und auch Spinozas Verbindung von Denken und Ausdehnung als die Attribute

* Vortrag, gehalten am 22.4.1994 im Fachbereich 7 (Philosophie) der Universität Münster.

Studia Leibnitiana, Band XXX/1 (1998) ©Franz Steiner Verlag Wiesbaden GmbH, Sitz Stuttgart

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einer Substanz hatten dies zum Ziel. Schließlich gehört hierher auch die Leibnizsche Entwicklung des später »Monade4 genannten Begriffs der singulä- ren Substanz.

Für die Leibnizschen Versuche, die verloren gegangene Einheit zwischen Geist und Körper wiederherzustellen, ist nun kennzeichnend, daß dabei jedoch Descartes* subjektivistische Tendenz erhalten bleibt. Leibniz geht es darum, unter Wiederaufnahme aristotelisch-scholastischer Vorstellungen die in seinen Augen verdienstvollen subjektivistischen Ansätze Descartes4 weiterzuführen. Trotz aller vehementer und im Detail scharfer Kritik an Descartes geht es Leibniz um eine berichtigende Weiterentwicklung und Ausbalancierung der Cartesischen Philosophie, nicht um eine Überwindung ihrer subjektivistischen Perspektive. Die folgenden Ausführungen sollen daher einerseits zeigen, inwie- fern Leibniz die Cartesische subjektivistische Basis beibehält, aber auch anders und umfassender begründet. Andererseits soll dargelegt werden, wie Leibniz mit dieser neuen Begründung das Auseinanderklaffen der beiden Seinsbereiche von Geist und Körper zu überwinden trachtet. Beide Ziele laufen auf dasselbe hinaus. Die Weiterführung des Cartesischen Ansatzes ist zugleich in anderer Hinsicht eine Überwindung der Cartesischen Philosophie.

Daß und inwiefern dies der Fall ist, soll im folgenden am für die Leibniz- schen Monaden zentralen Begriff des Handelns (actio, agere, operatio, operari) deutlich gemacht werden. Nicht mehr die denkende Substanz, das denkende Subjekt, sondern die handelnde Substanz, das handelnde Subjekt steht im Zentrum der Leibnizschen Metaphysik, wenn auch der erkenntnismäßige Zu- gang zum Sein weiterhin über das Denken erfolgt. Ich werde daher durch die nun folgende schrittweise Explikation des Handlungsbegriffs zu zeigen versu- chen, wie Leibniz eine neue Begründung der Subjektivität vornimmt. Dabei sollen nach der Erörterung des Handlungsaspektes als solchen der Reihe nach die Einheit, die Perzeption, die Appetition und die Apperzeption des Handelnden zur Sprache kommen.

II

In der Stellungnahme, die Leibniz 1698 in den Acta Eruditorum zu der Kontroverse zwischen dem Cartesianer Sturm und Schelhammer abgab, beton- te er, daß das Handeln, die Aktivität, das Aktivsein das wesentliche Charakteri- stikum der Substanzen ist. Es heißt dort: „[...] ita ut non tantum omne quod agit sit substantia singularis, sed etiam ut omnis singularis substantia agat sine intermissione, corpore ipso non excepto, in quo nulla unquam quies absoluta reperitur" (GP IV, 509). An anderer Stelle heißt es ganz ähnlich: „[...] omnem substantiam agere, et omne agens substantiam appellari44 (GP VII, 326). Im Briefwechsel mit de Voider wird ausführlich die Frage diskutiert, ob jede Substanz tatsächlich aktiv sei - und von Leibniz bejaht1. Schließlich wird auch

1 Vgl. GP II, 256-259; vgl. auch GP IV, 469-470.

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in der Auseinandersetzung mit Locke dessen Behauptung verworfen, so wie ein Körper ruhen könne, könne auch der Geist ohne Perzeption sein (z. B. im traumlosen Schlaf). Vielmehr kann für Leibniz eine Substanz niemals ohne Tätigkeit sein, und selbst ein Körper kann nie wirklich ohne Bewegung sein (vgl. GP V, 46; A VI, 6, 53)

Leibniz bezieht hiernach die Aktivität ausschließlich auf Substanzen, und zwar auf jede Art von Substanzen. Insofern man die Cartesische Distinktion zweier Arten von Substanzen akzeptiert, gelten also nicht nur die geistigen, sondern ausdrücklich auch die körperlichen Substanzen als aktiv, wie insbeson- dere die letzte der angegebenen Stellen belegt. In diesem Sinne bestimmt Leibniz daher gelegentlich den Körper explizit als „Agens extensum" (GP VII, 326; A VI, 3, 158).

Nun ist die Tätigkeitsform einer rein geistigen Substanz das Denken, einer rein körperlichen (ausgedehnten) Substanz die Bewegung. Unter dieser Vor- aussetzung würde die Leibnizsche Annahme vom Agieren als dem eine Sub- stanz konstituierenden Charakteristikum zu den beiden Aussagen führen: Die geistige Substanz ist insofern aktiv, als sie denkt (und zwar ohne Unterbre- chung), und die körperliche Substanz ist insofern aktiv, als sie ständig in Bewegung ist. Diese beiden Aussagen sind als solche nun durchaus nicht uncartesisch. Auch Descartes hat behauptet, daß die ,res cogitans' ständig denkt und daß die Materie immer in Bewegung ist. Das Entscheidende am Leibnizschen Ansatz ist die Begründung dafür: Die Substanzen sind deshalb in ständiger Tätigkeit, weil sie in sich ein inneres Prinzip besitzen, welches ihnen die Fähigkeit zu handeln verleiht. Dieses innere Prinzip wird von Leibniz Kraft (vis agendi, force d'agir) genannt und insofern mit der Substanz selbst gleich- gesetzt, als es das Wesen der handelnden Substanz darstellt.

Diese Leibnizsche Begründung für das Handeln der Substanzen fehlt aber bei Descartes, ja wird von Descartes sogar explizit verworfen. Die Weltmaterie ist zwar in ständiger Bewegung, aber nur weil Gott sie anfangs in Bewegung gesetzt hat. Die ,res extensa4, der Körper als solcher besitzt nicht die Fähigkeit, sich selbst zu bewegen, es gibt in ihm keine , vis motrix' oder ,vis agendi4. Und ebenso gibt es in mir als denkender Substanz keine Kraft, die mir das Vermögen zu handeln verschafft. Vielmehr hat auch die denkende Substanz nur von Gott die Fähigkeit erhalten, unaufhörlich zu denken, aber sie besitzt nicht in sich ein Prinzip oder eine Kraft, welche sie in ihrem Sein als denkender Substanz erhält2.

Leibniz' Polemik gegen Descartes hat sich zunächst an der Descartesschen Definition des Körpers als bloße ausgedehnte Substanz entzündet und zu einer Position geführt, die man Dynamisierung der Materie nennen kann. In den Körpern muß mehr angenommen werden als das bloße Ausgedehntsein, näm-

2 Vgl. z. B. die Diskussionen mit Caterus und Arnauld (Œuvres de Descartes, pubi, par C. Adam et P. Tannery, Paris 1897-1913, nouvelle présentation vol. VII, Paris 1996, S. 49, 107, 246).

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lieh eine Kraft, die nicht in der bloßen Fähigkeit sich zu bewegen (besser: bewegt zu werden oder: in Bewegung zu sein) besteht, sondern in einem zugrundeliegenden Drang oder Streben (von Leibniz ,conatus4 oder ,nisus4 genannt), sich selbst in Bewegung zu setzen oder zu wirken, und zwar insofern nicht ein diesem Streben entgegengesetztes Streben eines anderen Körpers dies verhindert. Im Specimen Dynamicum (1695) heißt es:

„[...] oportet, ut vis illa in ipsis corporibus ab ipso producatur, imo ut intimam corporum naturam constituât, quando agere est character substantiarum, extensioque nil aliud quam jam praesuppositae nitentis renitentisque id est resistentis substantiae continuationem sive diffu- sionem dicit, tantum abest, ut ipsammet substantiam faceré possit" (GM VI, 235)3.

Hatten schon Gassendi und More gegenüber Descartes neben der Ausdeh- nung noch die Undurchdringlichkeit (impenetrabilitas, antitypia) als zusätzli- che Bestimmung der Materie gefordert (was Descartes zumindest gegenüber More teilweise akzeptierte), so fügt Leibniz nun darüber hinaus noch die der Ausdehnung sogar vorausgehende Bestimmung der (mit einem Drängen oder Streben verbundenen) Kraft zu wirken hinzu, die das eigentliche Charakteristi- kum der Materie ausmacht.

Trotz der vornehmlichen Kritik Leibnizens an Descartes' Körperbegriff wird aber von Leibniz auch (allerdings indirekt) der Cartesische Begriff der ,res cogitans4 kritisiert. Zwar ist es richtig, daß das Wesen der geistigen Substanz im (ständigen) Denken besteht, wie ja Descartes annimmt, aber dieser Denk- vollzug wird unmittelbar durch die in der denkenden Substanz vorhandene Kraft hervorgebracht, während für Descartes der ,res cogitans4 lediglich das bloße Vermöge^ dauernd zu denken, verliehen worden ist.

Während die Leibnizsche Bestimmung des Körpers eher als eine Kritik an der Cartesischen Definition der ,res extensa4 anzusehen ist (weil für Descartes die Materie rein passiv ist und ein Körper nur durch einen anderen in Bewegung gesetzt werden kann), kann man die auf die geistige Substanz bezogene Argumentation von Leibniz eher als eine Weiterführung bzw. Erweiterung eines bei Descartes schon angelegten Gedankens verstehen. Denn auch für Descartes ist der Geist ja ständig aktiv und der Wille (das im eigentlichen Sinne für Descartes aktive Vermögen) hat sogar die Möglichkeit, Einfluß zu nehmen auf das Denken, es zu lenken. Aber es fehlt noch die auf einem inneren Prinzip beruhende spontane Erzeugung des Denkens aus sich selbst, die Leibniz als Begründung dafür, daß die denkende Substanz aktiv ist, als notwendig erachtet.

Der entscheidende Gesichtspunkt, der hier ins Spiel kommt, ist damit der der Spontaneität. Für die Substanzen ist deshalb das Handeln, die Aktivität charakteristisch, weil sie in sich ein inneres Prinzip (eine innere Kraft) besitzen, ihre Handlungen spontan zu erzeugen. Nicht bloß ständig aktiv sind die Substanzen, sie besitzen auch nicht lediglich die bloße Potenz oder Fähig- keit zu handeln (welche möglicherweise nicht aktualisiert ist), sondern sie sind aufgrund der in ihnen vorhandenen inneren Kräfte ständig Urheber ihrer eige-

3 Vgl. auch z. B. Système nouveau; GP IV, 478.

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nen Handlungen. Damit greift Leibniz auf die aristotelische Erklärung zurück, nach der d i e Handlung spontan ist, die ihr Prinzip im Handelnden selbst hat: „Spontaneum est, cujus principium est in agente" {Théodicée § 301; GP VI, 296).

Das Handeln als wesentliches Charakteristikum der Substanzen wird somit von Leibniz näher als die ständige, spontane, selbsterzeugte, originale Aktivität verstanden. Mit dieser Aktivität hat Leibniz aber zugleich ein generelles Exi- stenzkriterium gewonnen. Nur was in dieser Weise aktiv ist, existiert, und das heißt: Nur die aktiven Substanzen besitzen wahre Existenz.

III

Die Substanzen als die ursprünglichen Kräfte sind nun für Leibniz die wahren Einheiten der Natur. Dafür hat Leibniz bekanntlich in seiner späteren Zeit das Wort , Monade' benutzt, welches das, was eines ist, bezeichnet. Warum muß es solche Einheiten in der Natur geben?

Der erste Gesichtspunkt ist für Leibniz der, daß es Zusammengesetztes nicht ohne wahre Einheit geben kann. Die Argumentation hierfür verläuft in einem Brief an de Voider so: Was in eine Mehrheit geteilt werden kann, ist bloß ein Aggregat seiner Teile. Aggregate stellen aber nur eine gedankliche, mentale Einheit (ein ,unum mente4) dar und besitzen nur eine entlehnte Realität, ent- lehnt von den Dingen, aus denen sie aggregiert werden. Demnach würden Aggregate oder zusammengesetzte Dinge gar keine echte Realität besitzen, wenn in ihnen nicht Dinge vorhanden wären, die nicht mehr in Teile geteilt werden könnten. D. h. Aggregate können keine andere Realität besitzen als die, die sie von den in sie eingehenden (nicht mehr teilbaren) Einheiten erhalten (vgl. GP II, 261). Solche letzten (für alle zusammengesetzten Dinge Realität verbürgenden) Einheiten müssen nun immateriell sein. Denn in der Materie findet sich nicht das Prinzip der wahren Einheit.

Damit schließt Leibniz auf der einen Seite physikalische Atome als letzte Bausteine des Zusammengesetzten aus. Denn die Materie ist ins Unendliche teilbar. Auch die demokritischen Atome haben daher bloß eine gedankliche, angenommene Einheit, da eine weitere Zerlegung prinzipiell möglich bleibt.

Auf der anderen Seite aber sind die substantiellen, monadischen Einheiten auch nicht bloß fiktive, modale Einheiten, wie sie mathematische Punkte dar- stellen. Denn deren Einheit ist nur ein gedankliches Konstrukt ohne jede Reali- tät. So wie es den mathematischen Kreis in der Wirklichkeit nicht gibt, so kommen in der Natur auch keine mathematischen Punkte vor, denn das reale Kontinuum - so Leibniz im Système nouveau pour expliquer la nature des substances von 1695 (vgl. GP IV, All-All) - läßt sich nicht aus mathemati- schen Punkten erzeugen (zusammensetzen).

Leibniz hat daher die Monaden als die wahren Einheiten der Natur gele- gentlich als metaphysische Punkte bezeichnet, die auf der einen Seite wirkliche Einheiten darstellen, die nicht wie die physikalischen Punkte weiter

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zerlegt werden können, und die auf der anderen Seite reale Einheiten sind, die nicht wie die mathematischen Punkte bloße Fiktionen oder modale Kon- strukte sind. Diese Realität der Monaden-Einheiten äußert sich darin, daß sie aktiv sind oder - wie Leibniz auch sagt - daß sie lebendig sind.

Daraus wird deutlich, warum Leibniz sagen kann, daß Tätigkeit und Einheit denselben Quellen entspringen (an de Voider; vgl. GP II, 249). Wo es spontane Tätigkeit gibt, muß es auch letzte reale Einheiten als Träger dieser Tätigkeiten geben. Und wahre, reale Einheiten kann es nur dort geben, wo Leben und Aktivität herrscht. Die Monaden stellen demnach immaterielle, und das heißt wirkliche Einheiten dar, und sie sind lebendige Kraftzentren des Universums, die den letzten Grund der Realität enthalten.

In aristotelisch-scholastischer Terminologie bezeichnet Leibniz die Mona- den auch als Entelechien (d. h. als die Verwirklichungen des bloß Möglichen; Súva^uç - évxeÀéxeia) oder Einheiten, die wahre Wirklichkeit im Sinne der ,évépYeicx* besitzen. Denkt man an den vXr' - p<op(pr| bzw. eïôoç - Gegensatz, kann man die Monaden auch als zur Form gebrachte erste Materie oder als substantielle Formen bezeichnen.

Folge aus dieser Annahme der Monaden oder lebendigen Kraftzentren als wahren Realitäten in der Welt ist, daß sie letzten Endes die einzigen Realitäten darstellen. Alle andere Realität ist aus ihnen abgeleitet. Blickt man von hier aus auf die Cartesische Zweiteilung der Realität, so macht die Leibnizsche Interpre- tation im Hinblick auf die denkenden Substanzen Descartes' keinerlei Schwie- rigkeiten. Denn auch für Descartes stellen diese ja die ersten Realitäten dar. Insoweit kann man die Leibnizsche Deutung als eine genuine Fortentwicklung des Cartesischen Ansatzes verstehen. Jedoch ergeben sich für die zweite An- nahme des Cartesischen Dualismus, daß auch die Körper real sind, Probleme. Das Zusammengesetzte oder der Körper kann für Leibniz nur noch als Aggre- gat aus den einfachen, immateriellen Substanzen aufgefaßt werden. Wie sollen aber - so stellt Johann Bernoulli in einem Brief an Leibniz das Problem dar (vgl. GM III, 540) - aus ,non-quanta' , quanta4 entstehen können? Die Leibniz- sche Antwort läuft darauf hinaus, daß die einfachen Substanzen eben nicht als Teile in den Körper eingehen, sondern nur als Requisite (oder auch als deren Fundamente, wie Leibniz gelegentlich sagt).

Die Aggregierung oder Zusammenballung führt nur zu dem Erscheinungs- bild einer körperlichen, ausgedehnten Masse, die als solche keinen substantiel- len Charakter hat, d. h. bloßes Phänomen ist. So wie eine Schafherde - ein oft gegebenes Beispiel von Leibniz - keine neue Substanz darstellt, weil ihre Einheit bloß mentaler, gedanklicher, nicht realer Natur ist, so kann auch sonst die bloße Nachbarschaft von materiellen Teilen oder die Bindung durch eine besondere Wechselwirkung zwischen materiellen Teilen etwa bei der Bewe- gungsübertragung nicht eine neue, wahre, substantielle Einheit erzeugen. Der phänomenale Charakter solcher körperlichen und das heißt zusammengesetzten (weil aus Teilen bestehenden) Substanzen besitzt nur insofern eine reale Grund- lage, als die Erscheinung der körperlichen, zusammengesetzten Dinge auf die spezifische Aggregierung immaterieller Substanzen zurückzuführen ist, die ihr

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als Requisite (also nicht Teile) zugrunde liegen. In dieser Hinsicht bezeichnet Leibniz dann auch die Körper als reale Phänomene oder wohl fundierte Phänomene (phaenomene realia, bene fundata). Damit hat Leibniz aber die Cartesische ,res extensa4 im strikten Sinne aufgelöst, d. h. ihr zumindest den Charakter der Substantialität genommen. So wie Ausdehnung und Bewegung (das charakteristische Merkmal und die charakteristische Tätigkeit der Körper für Descartes) bloße phänomenale Erscheinungen sind (deren Reali- tät allein in der spezifischen Zusammenballung der Monaden besteht), so hat ja Leibniz auch Raum und Zeit selbst (in denen sich alle körperliche Veränderung vollzieht) als bloße ideale Ordnungsschemata verstanden, die als solche aber nicht die Realität der in ihnen sich vollziehenden materiellen Prozesse verbürgen können. Der Raum als Ordnung der koexistierenden Dinge, die Zeit als Ordnung der sukzedierenden (d. h. nicht simultanen) Dinge stellen nur eine Weise dar, Ordnung in die Erscheinungen zu bringen. Ihnen zugrunde liegt aber ein ursprünglicheres Ordnungsschema der Beziehungen zwischen Monaden, d. h. zwischen den wirklichen Realitäten, welches nur für uns das räumlich-zeitliche Erscheinungsbild hervorruft.

Leibniz hat nun zwar auch zusammengesetzte Substanzen anerkannt, und zwar in den Fällen, in denen wir es mit lebendigen, organischen Körpern zu tun haben. Hierbei handelt es sich aber um keine ,res extensa4 im Cartesischen Sinn, sondern bloß um Monadenaggregate, die von einer ausgezeichneten, dominierenden oder zentralen Monade - wie Leibniz sich ausdrückt - zu einer besonderen Form von Einheit gebracht werden. Nicht der organische Körper als solcher stellt eine substantielle Einheit dar (er bleibt wie jeder Körper flüchtige Erscheinung), sondern die anderen in der Masse des organischen Körpers enthaltenen Monaden, insofern sie von der dominierenden Monade als Zentrum unter einer gemeinsamen Perspektive vereint werden4.

Können wir dieses Spezialproblem der zusammengesetzten Substanzen für unsere Thematik außer Betracht lassen, so folgt nun aus der Annahme der Monaden als einziger, realer Einheiten des Universums, daß Leibniz damit die von Descartes vorgenommene Spaltung der Seinssphären in die denkenden und körperlichen Substanzen unter dem Begriff des realen Handelns wieder vereint. Hatte schon die Aktivität als gemeinsames Kriterium der beiden Arten von Substanzen die beiden Cartesischen Seinssphären einander wieder angenähert, so ist mit der Einführung der Monaden als einziger Realitäten und der Phänomenalisierung der Körperwelt nur noch e i n Typus von Substanzen vorhanden. Damit wird aber für die Monaden auch nur noch e i n Typus von Aktivität benötigt, es entfällt die Notwendigkeit, zwischen denkender Aktivität und Bewegungsaktivität zu differenzieren. Daher ist Leibniz in seiner späteren Zeit dazu übergegangen, eine einheitliche Beschreibung für das Han- deln der Monaden zu geben. Diese besteht darin, daß für die Tätigkeit aller

4 Die Problematisierung dieses Sachverhalts ist besonders im Briefwechsel mit Des Bosses erfolgt und dort teilweise unter Zuhilfenahme des Begriffs des ,vinculum substantiate' angegangen worden (vgl. z. B. GP II, 515-520).

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Monaden die diese konstituierenden Begriffe der Perzeption und der Appetition herangezogen werden: Die Tätigkeit aller Monaden besteht in einer durch Appetitionen geregelten Folge von Perzeptionen.

IV

Ich gehe zunächst auf den Begriff der Perzeption ein. Mit der Einführung dieses Begriffs gewinnt Leibniz nun die Möglichkeit, den Monaden über ihre zahlenmäßige Singularität hinaus Individualität zu verschaffen. In der Monado- logie heißt es: „L'état passager qui enveloppe et represente une multitude dans l'unité ou dans la substance simple n'est autre chose que ce qu'on appelle la Perception [...] " (§ 14; GP VI, 608).

Die Perzeption wird zunächst einmal als innerer Zustand der Monade charakterisiert, d. h. sie sorgt dafür, daß sich die Monaden durch innere Qualitä- ten unterscheiden lassen. Daß es solche internen Unterscheidungsmerkmale geben muß, begründet Leibniz folgendermaßen: Wenn die Monaden keine inneren Unterscheidungsmerkmale besäßen, hätten wir gar kein Mittel in der Hand, überhaupt eine Veränderung in der Welt festzustellen. Da es aufgrund ihrer Immaterialität auch keine äußeren, quantitativen Unterschei- dungsmerkmale geben kann, wären die Monaden ununterscheidbar voneinan- der. Dann gäbe es aber auch keine Möglichkeit, die zusammenge- setzten Dinge aufgrund ihrer einfachen Bestandteile (der Monaden) zu differenzieren, was aber der allein zulässige Weg ist, weil - wie oben ausge- führt - das Zusammengesetzte seine Realität nur aus den einfachen Bestandtei- len oder Requisiten bezieht. Jeder Ort - so drückt sich Leibniz aus - würde (wenn man die stetige Erfüllung des Raums voraussetzt) bei jeder Bewegung (oder: Veränderung) nur das Äquivalent zu seinem bisherigen Inhalt aufneh- men, und ein Zustand der Dinge wäre ununterscheidbar vom anderen5.

Zum anderen nun wird die Perzeption als Mannigfaltigkeit beschrieben, die aber ihre Einheit in der Monade erhält. Dies besagt der Aus- druck „multitude dans l'unité". Die Mannigfaltigkeit kommt dadurch zustande, daß eine bestimmte Monade in einem bestimmten Verhältnis zu ihrer Umgebung, d. h. zu allen anderen außerhalb von ihr befindlichen Monaden (denn nur d i e existieren) steht. Die Einheit kommt dadurch zustande, daß die Monade ihre vielfältigen Relationen zu den anderen Monaden auf sich als Einheit bezieht, sozusagen in sich bündelt. Leibniz hat daher als Vergleich gern das Bild vom mathematischen Punkt gewählt, von dem unend- lich viele Geraden ausgehen können. Auf diese Weise ergibt sich dann ein gewisser innerer Zustand der Monade.

Diese besondere Fähigkeit der Monade, ihre Beziehung zu allen anderen Monaden gleichsam in sich als Einheit widerzuspiegeln, wird nun von Leibniz als Fähigkeit der Monade zur Repräsentation oder Expression bezeichnet. Die

5 Vgl. Monadologie § 8; GP VI, 608.

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Monade drückt in sich als Einheit ihre spezifischen Beziehungen zu den ande- ren Monaden aus. Insofern repräsentiert sie die Vielheit der anderen Monaden in sich als Einheit.

Nun darf dieses Ausdrucksverhältnis, welches die Perzeption ausmacht, aber nicht als ein Verhältnis der Einflußnahme oder Einwirkung der anderen Monaden auf die perzipierende Monade mißverstanden werden, ja nicht einmal im strengen Sinne als Abbildungsverhältnis. Die anderen Monaden - so betont Leibniz - wirken nicht auf die perzipierende Monade ein, weil in diese als absolute, unteilbare Einheit nichts von außen übertragen werden kann (nicht einmal als Abbild im buchstäblichen Sinn, weil dieses eine Veränderung von Teilen in der Monade voraussetzen würde) und weil es in ihr keine inneren Bewegungen geben kann, die etwa durch Einflußnahme von außen variiert werden könnten. Diesen Sachverhalt macht das Leibnizsche Diktum ,die Mo- naden haben keine Fenster4 deutlich.

Gleichwohl handelt es sich aber um eine Ausdrucks beziehung, weil die perzipierende Monade ja die anderen Monaden in sich repräsentiert. Nur - und das ist das Wesentliche - bringt sie ihre Perzeptionen selbsttätig aus sich hervor, indem sie sich sozusagen selbst zu den anderen Monaden in Beziehung setzt. Die Metapher vom lebendigen Spiegel, die Leibniz in diesem Zusammen- hang benutzt, bedeutet, daß die Monade in lebendiger, spontaner Tätigkeit ein perspektivisches Bild von der Welt entwirft, welches aufgrund einer geregelten Beziehung zu den anderen Monaden wie ein Spiegelbild aussieht.

In Parenthese sei hier Folgendes hinzugefügt: Mit dieser fest geregelten Beziehung zwischen den Monaden (die bekanntlich durch die Hypothese von der Konkomitanz oder prästabilierten Harmonie von Leibniz begründet wird) kann nun auch der Eindruck von der Welt als einer Menge beziehungslos nebeneinanderstehender einzelner Monaden beseitigt werden. Dieser Eindruck konnte entstehen, wenn man die Monaden nur als in sich abgeschlossene, singuläre Einheiten verstand, die ohne jede Einflußnahme von außen, spontan, aus sich heraus agieren. Aufgrund der von Gott bei der Schöpfung hergestellten harmonischen Übereinstimmung aller Monadenaktionen erscheint nun aber jede Perzeption nur als jeweilige perspektivische Variation einer allgemeinen prästabilierten Weltharmonie.

Somit besteht das Handeln der Monade zunächst einmal darin, daß jede Monade ihre Perzeptionen (gewissermaßen als momentane Weltentwürfe) selbst- tätig, spontan aus ihrem eigenen Inneren erzeugt. Auf der anderen Seite ergibt sich aus der Deutung der Perzeptionen als perspektivische Ausdrucks- oder Repräsentationsbeziehungen ihre jeweilige Einmaligkeit. Denn die Perspekti- ve, aus der die perzipierende Monade die anderen Monaden jeweils betrachtet (genauer: sich selbsttätig auf sie bezieht oder hinordnet), verbürgt die jeweilige Einmaligkeit und Individualität dieser Handlung.

Mit Hilfe des Begriffs der perspektivischen Perzeption erreicht Leibniz nun, daß die Monaden als echte Individuen gelten dürfen. Denn die Perzeption ist als innerer Zustand ein echtes, inneres Unterscheidungskriterium. Und die Perspektive, aus der die Monade ihr jeweiliges Bild von der Welt entwirft, sorgt für die Einmaligkeit, Unverwechselbarkeit dieses inneren Zustandes.

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Blicken wir unter diesem neuen Leibnizschen Aspekt der perspektivisch- individuellen Subjektivität auf die Cartesische Philosophie, so läßt sich Folgen- des feststellen: Descartes hatte die denkende Substanz als Subjekt sozusagen leer gelassen, insofern sich die (was auch immer) denkende Substanz jeweils nur ihrer eigenen Existenz versichert. Abgesehen vom solipsistischen Gefühl der Einmaligkeit hat Descartes jedoch von der denkenden Substanz selbst aus keinerlei Begründung ihrer Individualität vorgenommen. Um die individu- elle Verschiedenheit der denkenden Substanz zu erklären, muß er vielmehr auf die so problematische Wechselwirkung zwischen Geist und Körper zurückgrei- fen. Der jeweils einmalige Denkvollzug einer bestimmten denkenden Substanz ergibt sich vor allem dadurch, daß die körperliche auf die denkende Substanz einwirkt, indem sie auf der Zirbeldrüse Abbilder einprägt, die die denkende Substanz dann betrachten kann. Insofern ist die Individualität der denkenden Substanz weitgehend eine von den Einflüssen der körperlichen Welt entliehene Individualität.

Der Leibnizsche Ansatz versucht, diese Lücke (oder diesen Mangel) im Cartesischen System dadurch auszugleichen, daß er die Monade ihre eigene Individualität aufgrund ihres perspektivischen Repräsentationsvermögens stän- dig selbst neu erzeugen läßt.

Dies ist der Hintergrund, warum Leibniz das Cartesische Diktum , cogito, ergo sum4 durch das zweite Prinzip , varia a me cogitantur4 (vgl. GP IV, 357) ergänzt. Das , cogito, ergo sum4 versichert mich nur meiner Existenz als sol- cher. Insofern ich aber ständig Verschiedenes, d. h. aus meiner jeweiligen Perspektive die Gesamtheit meiner Beziehungen zu allen anderen Subjekten denke und - wie wir jetzt wissen - denkend erzeuge, kann ich mich auch meiner individuellen Existenz versichern. D. h. ich erlebe mich als Individu- um.

Der Leibnizsche Ansatz zeigt darüber hinaus, daß - da alle, nicht bloß die denkenden Monaden Perzeptionen haben - die perspektivische Individuali- tät jeder Monade zukommt. Die Welt besteht demzufolge aus lauter individuellen Subjekten.

V

Ich komme nun zur Appetition. Die Perzeptionen als sozusagen momentane Weltentwürfe unterliegen einem kontinuierlichen Wechsel. Die Monade bringt ständig aufs neue Perzeptionen hervor, deren keine einer anderen gleicht. Ihre Aktivität besteht gerade darin, durch Perspektiven Wechsel kontinuierlich ein neues Bild von der Welt zu gewinnen. Da die Monade diesen Perspektiven- wechsel selbst erzeugt, gehen die Veränderungen der Monade auf ihr eigenes inneres Handlungsprinzip (principe interne) zurück, welches als Kraft dafür sorgt, daß wir spontan handeln können. Ich hatte bereits gezeigt, daß für Leibniz diese Kraft keine bloße Potenz bedeutet, sondern den zur Verwirkli- chung strebenden Drang (der auch tatsächlich verwirklicht wird, wenn ihm kein

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Hindernis entgegentritt). Aus diesem Grund wird von Leibniz dieses auf Verän- derung ausgerichtete Handeln der Monade auch Streben oder Appetition (appé- tition, appetitus) genannt. So heißt es in der Monadologie: „L'action du prin- cipe interne, qui fait le changement ou le passage d'une perception à une autre, peut être appelle A p p e t i t i o n [...]" (§ 15; GP VI, 609). Wie schon oben formuliert, kann man daher das tätige Leben der Monade als eine durch Appe- tì tionen geregelte Folge von Perzeptionen bezeichnen.

Dieses Streben hat man sich so vorzustellen, daß die einzelne Monade eine andere Perzeption als die gegenwärtige anstrebt und damit einen Perspektiven- wechsel durchzuführen versucht. Nun ist der ständige Perzeptions- und damit verbundene Perspektivenwechsel, der aufgrund solcher Strebungen oder Appe- titionen erfolgt, durch ein die Monade konstituierendes Gesetz geregelt, wel- ches Leibniz in der Korrespondenz mit Arnauld als die ,lex continuationis seriei suarum operationum' bezeichnet, also als das Gesetz, welches die Reihe der in der Monade erfolgenden Handlungen als kontinuierlichen Zusammen- hang regelt. Mit dem Gesetz soll sich - wie bei dem Gesetz einer Reihe - aus jedem Glied die weitere Folge aller anderen Glieder bestimmen lassen. Es ist also ein individuelles Handlungsgesetz für die Monade, welches den Zusam- menhang aller Handlungen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zum Ausdruck bringt und damit einen geregelten Zusammenhang aller Perzeptionen einer Monade herstellt. Leibniz wählt daher in der Monadologie die Formulie- rung: „[...] tout present état d'une substance simple est naturellement une suite de son état précédant, tellement que le present y est gros de l'avenir" (§ 22; GP VI, 610).

Dieser gesetzliche geregelte Zusammenhang zwischen den Perzeptionen ist nun als ein finalgesetzlicher Zusammenhang zu verstehen. Die Monade ver- wirklicht handelnd das Gesetz, das seine Perzeptionsfolge regelt, indem sie den Übergang von einem Glied zum nächsten der vom Gesetz geregelten Reihe seiner Perzeptionen aufgrund ihres Strebe Vermögens aktiv realisiert. Eine sol- che Folge von einzelnen Strebungen kommt aber immer so zustande, daß die Monade im Zustand zum Zeitpunkt t den Zustand im Zeitpunkt f+7 zu erreichen versucht. Damit handelt die Monade ständig zielorientiert, indem sie sich im voraus (gewissermaßen antizipierend) auf eine neue Perzeption und den mit dieser verbundenen Perspektivenwechsel bezieht.

Auch die mit dem , appetitus* ins Spiel gebrachte Finalität ist nun ausdrück- lich als Polemik gegen Descartes zu verstehen. Descartes, der die Finalursachen gänzlich aus der Wissenschaft hat ausschließen wollen, wurde gerade in diesem Punkt von Leibniz immer heftig kritisiert. Zwar hat Leibniz für die physikali- sche Natur in der Regel so wie Descartes eine ausschließlich an den Wirkursa- chen orientierte Erklärung der Phänomene gefordert; aber selbst hier hat er gelegentlich die Nützlichkeit des finalen Gesichtspunkts für die Forschung betont.

Für die Monaden aber als die elementaren Bausteine der Welt ist nun dieser finale Gesichtspunkt geradezu konstitutiv. Sie können nur handeln, indem sie antizipierend, zielorientiert ihren jeweiligen nächsten inneren Zustand anstre- ben.

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Wie schon die Perception als innerer Zustand in allen Monaden anzutreffen ist, so hat auch der ideologische Aspekt für alle Monaden Gültigkeit und nicht bloß für die denkenden Monaden, die zu einer bewußten Zielorien- tierung fähig sind. Damit wird aber die Gesamtheit der Monaden subjektiviert, weil jede Monade nur den ihr eigenen subjektiven Appetitionen folgt. Der Cartesische Versuch, die körperliche Welt weitgehend zu devitalisieren, wird damit von Leibniz auch unter dem finalen Gesichtspunkt ausdrücklich rückgän- gig gemacht.

VI

Hiermit haben wir die Art und Weise, wie die Monaden aktiv sind, d. h. in welcher Weise sie ihre Handlungen ausführen, im Prinzip vollständig be- schrieben. Die Monaden handeln so, daß sie spontan ihre Perzeptionen als perspektivische Darstellungen des Universums erzeugen und aufgrund von finalen Gesetzlichkeiten ständig zu neuen Perzeptionen übergehen. Dies gilt für alle Monaden. Nun hat aber Leibniz eine Art von Monaden ausgezeichnet, die zusätzlich Bewußtsein oder Apperzeption (apperception, apperceptio) be- sitzt. In der Monadologie nennt er sie , Seelen'. Ich komme damit abschließend zum letzten Gesichtspunkt meines Themas: dem Denken im eigentlichen Sinn.

Die Apperzeption besitzenden Seelen-Monaden zeichnet aus, daß sie ihre Perzeptionen mit Bewußtsein begleiten können, daß sie sich reflexiv auf ihre perzeptiven Zustände beziehen können und daß sie schließlich die in ihnen vorkommenden Appetitionen als bewußtes Streben nach dem Besseren erleben.

Diese Hervorhebung einer besonderen Art von Substanz ist durchaus Carte- sisch. Die Apperzeption besitzenden Seelen-Monaden entsprechen genau der Cartesischen ,res cogitans', also der bewußt denkenden Substanz. Während aber bei Descartes die ,res cogitans4 strikt der ,res extensa' gegenübersteht, so daß es keine Möglichkeit gibt, einen Zusammenhang zwischen beiden herzu- stellen oder zu zeigen, wie sich etwa Bewußtsein aus der Materie herausentwik- kelt, ist Leibniz in der Lage, das Bewußtsein, die Apperzeption nur als eine besondere, höher entwickelte Form der Perzeption aufzufassen. Dies liegt natürlich zum einen daran, daß er zuvor den Unterschied zwischen den beiden Cartesischen heterogenen Substanzen eingeebnet und als allgemeine Merkmale aller Substanzen Handeln, Perzipieren, Streben angesetzt hat. Zum anderen jedoch beruht dies darauf, daß Leibniz (aufgrund seines allgemeinen Prinzips der Kontinuität) annimmt, daß es offensichtlich auch im Hinblick auf die Expressionsfähigkeit der Monaden eine stufenlose Steigerung der Vollkom- menheit gibt. Monaden, die in ihren Perzeptionen immer das gesamte Univer- sum zum Ausdruck bringen, können dieses mehr oder weniger vollkommen widerspiegeln. Handelt es sich bloß um konfuse Repräsentationen des Univer- sums, so haben wir es mit den bloßen Perzeptionen ohne Bewußtsein (petites perceptions, perceptions insensibles) zu tun. Monaden, die lediglich solche Perzeptionen besitzen, nennt Leibniz schlafende oder pure Monaden (monades

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nues)6. Erst wenn die Repräsentation oder Expression einen gewissen Grad von Distinktheit erreicht, kann sie der entsprechenden Monade ins Bewußtsein treten - so wie es bei den Seelen-Monaden (z. B. den Menschen) der Fall ist. Das Apperzipieren ist somit bloß eine besonders vollkommene Form des Perzi- pierens. Gegenüber der Einführung des bewußten Denkens bei Descartes, das dort gewissermaßen beziehungslos und abrupt in der nicht-bewußten Körper- welt erscheint, ist das bewußte Denken bei Leibniz auf die stetige Entwicklung der Perzeptionen zu höherem Ausdrucksgrad zurückzuführen.

Diese hierarchische, stetige Stufung der Perzeptionen führt zu einer Hierar- chie der Monaden, auf deren höchster Stufe der Mensch steht (abgesehen von Gott). Aber sie läßt sich auch innerhalb eines Monadentyps selbst nachweisen. Der Mensch ist nur deshalb vor den unter ihm stehenden Monaden ausgezeich- net, weil er sich bis auf die Stufe der Apperzeption erheben kann. Auch bei ihm aber kann stufenweise der Perzeptionsgrad absinken bis auf die Stufe der , perceptions insensibles4.

Als Beispiel für solch eine kontinuierliche Steigerung des Ausdrucksgrads bzw. des Übergangs von einer niedrigeren Stufe der reinen Perzeption zu der höheren apperzeptiven Perzeptionsstufe dient Leibniz der tiefe, traumlose Schlaf oder die Ohnmacht. Wir haben hier offensichtlich nicht hinreichend deutliche Perzeptionen, um uns daran bewußt erinnern zu können, weil uns in diesem Zustand die Apperzeption, das Bewußtsein fehlt. Wir befinden uns also in solch einem Schlaf bloß auf dem Niveau einer einfachen, perzipierenden Monade. Allerdings können wir aus diesem Zustand wieder auftauchen, wenn wir aufwa- chen und das Bewußtsein unsere Perzeptionen sofort wieder begleitet7. Daß wir aber auch vorher (im Schlaf) Perzeptionen gehabt haben müssen, ergibt sich für Leibniz daraus, daß eine Perzeption immer nur aus einer Perzeption entstehen kann, d. h. in diesem Fall, daß die bewußte Perzeption beim Aufwachen aus der nicht-bewußten Perzeption während des traumlosen Schlafs hervorgegangen sein muß8.

Daß nun aber beim Menschen in der Regel seine Perzeptionen von Bewußt- sein begleitet sind liegt daran, daß er ein Gedächtnis besitzt. Nur weil wir uns an vergangene Zustände bewußt erinnern können, können wir uns auch der Kontinuität unseres Ich versichern.

Hiermit hat Leibniz eine Lücke geschlossen, die die Cartesische Argumen- tation bietet. Das denkende Ich versichert sich bei Descartes immer nur seiner momentanen Bewußtseinszustände. Daß sie alle zu einem Subjekt gehören, ist nur aufgrund von Erinnerungsvermögen nachzuweisen. Nun hat aber Descartes - von wenigen Bemerkungen zum rein intellektuellen Gedächtnis abgesehen - die Erinnerung immer an das materielle Gedächtnis geknüpft, in welchem die Inhalte des Denkens als Spuren im Gehirn gespeichert sind. Damit ist der

6 Vgl. Monadologie § 24; GP VI, 61 1 . 7 Vgl. Monadologie § 20; GP VI, 610. 8 Ygl Monadologie § 23; GP VI, 610.

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Nachweis eines kontinuierlich denkenden, identischen Subjekts von der materi- ellen Welt, also von physiologischen Zuständen des Gehirns abhängig. Descar- tes kann diese Schwierigkeit nur dadurch beseitigen, daß er Gott als letzten Retter bemüht. Leibniz löst diese Schwierigkeit eleganter, indem er die Erinne- rung mit der Apperzeption derart verknüpft, daß es ein sich nicht auf Erinne- rung stützendes Bewußtsein gar nicht gibt.

Nur weil wir ein Gedächtnis besitzen, können wir uns aber auch in reflexi- ver Weise auf uns selbst beziehen und uns erkennen. Die bewußt denkenden Monaden sind daher besonders dadurch charakterisiert, daß sie in der Lage sind, reflexive Überlegungen anzustellen, die sie zu den in den Wissenschaften entwickelten notwendigen Wahrheiten gelangen lassen. Auf diese Weise kön- nen sich die Seelen-Monaden die Erkenntnis des Ich, der Substanz, des Seins, Gottes verschaffen und sich so die Hauptgegenstände der Vernunfterkenntnis aneignen9.

Dieselbe Reflexivität versetzt die Seelen-Monaden ebenfalls in die Lage, die göttlichen auf das Beste gerichteten Zielvorstellungen (wenn auch in einge- schränkter Form) nachzuvollziehen, indem sie ihre Finalität als bewußtes Stre- ben nach dem ihnen als das Beste Erscheinenden (dem sogenannten ,bonum apparens') verwirklichen. Daher wirken insbesondere die Seelen-Monaden zweckursächlich, d. h. beziehen ihr Handeln bewußt auf Zwecke.

Die Apperzeption als die höchste Stufe der Perzeption führt somit zu dem letzten Aspekt in der Begründung der Subjektivität: zur Reflexivität und Mora- lität. Reflexivität und Moralität zeichnen die Seelen-Monaden als besondere Subjekte aus, die Leibniz als Bürger in einem Staat der Geister charakterisiert. Sie sind der Grund für die Leibnizsche Bemerkung, daß die Menschen als Seelen-Monaden nicht bloß wie alle anderen Monaden das Universum wider- spiegeln, sondern daß sie darüber hinaus Abbilder der Gottheit (als des rational und moralisch wirkenden Schöpfers der Natur) sind, die das System des Uni- versums rational nachvollziehen und die moralischen Zwecke der Schöpfung nachahmen können10.

VII

Ich möchte zum Schluß die Ergebnisse kurz zusammenfassen und dabei noch einmal explizit die Frage beantworten, wie Leibniz durch seine Bestim- mung des Handelns und Denkens der Monade zu einer neuen Begründung der Subjektivität gelangt.

Es sollte zunächst gezeigt werden, daß Leibniz' Explikation der Monade als durchweg handelnder und in ihrer höchsten Form auch denkender Substanz in ständiger Auseinandersetzung mit der Cartesischen Philosophie und als konse- quente Weiterentwicklung von deren subjektivistischem Ansatz vorgenommen wird.

9 Vgl. Monadologie § 30; GP VI, 612. 10 Vgl. Monadologie § 83; GP VI, 621.

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Die Cartesische Zweiteilung des Seins wird von Leibniz zugunsten einer eher animistischen Deutung allen Seins wieder zurückgenommen. Die ,res extensae' sind bloß Phänomene, wenn auch reale. Ihre Realität beziehen sie jedoch aus den immateriellen Monaden, deren Aggregate sie darstellen. Diese Monaden sind kraftbegabt, ständig aktiv, perzipieren das Universum, und ihren Handlungen liegen final orientierte Appetitionen zugrunde. Alle Monaden (mag man unter ihnen nun Geister, Organismen oder als Körperphänomene erscheinende Monadenaggregate verstehen) besitzen diese Eigenschaften.

Mit dieser spiritualistischen oder geistorientierten Reduzierung der Cartesi- schen Philosophie (die im Extrem zur monistischen Aufhebung des Cartesi- schen Dualismus führt) hat nun Leibniz gleichzeitig die konsequente Weiter- führung des Cartesischen subjektivistischen Ansatzes verbunden. Mit der Ent- materialisierung des Universums geht die Subjektivierung der Substanzen Hand in Hand. Beschränkte sich Descartes noch weitgehend darauf, den subjektiven Zugang zur Existenz zu betonen durch die Feststellung, daß der erkenntnismä- ßige Zugang zum Sein nur über das denkende Bewußtsein möglich ist, so blieb jedoch das den Zugang zum Sein eröffnende Subjekt weitgehend unbestimmt. Abgesehen von dem solipsistischen Erlebnis der bewußten Existenz blieb das Ich als Subjekt leer und unbestimmt. Warum und wie (d. h. auf welchem Wege) das denkende Ich zum Bewußtsein gelangt, blieb unbegründet.

Leibniz hingegen versucht diese Begründungslücke zu schließen. Ich habe durch die Explikation des Handlungsbegriffs schrittweise zu zeigen versucht, wie sich die Subjektivität der Monade entfaltet. Alle Monaden erweisen sich durch ihr Handeln und Denken als echte Subjekte, wobei man sagen kann, daß sie ihre eigene Subjektivität gewissermaßen selbst erzeugen. Die Welt ist damit von der Cartesischen Welt der Subjekte und Objekte zu einer reinen Welt der Subjekte geworden. Daß dies aber keine leere Subjektivität ist, zeigte sich an einer Reihe von Bestimmungen, die diese Subjektivität kenn- zeichnen. Die Leibnizschen Monaden besitzen aufgrund ihres ständigen Han- delns das Moment der Spontaneität, aufgrund ihrer immateriellen Einheit den Aspekt der besonderen Singularität, aufgrund ihrer perspektivischen Perzepti- onsfähigkeit das Merkmal der Individualität, aufgrund ihres appetitiven Stre- bens den Charakter der Finalität, und schließlich, insofern sie sich durch Apper- zeption über den Zustand der einfachen Monaden erheben können, kommt ihnen auch die Fähigkeit der Reflexivität und Moralität zu.

Prof. Dr. Martin Schneider, Leibniz-Forschungsstelle, Rothenburg 32, D - 48143 Münster

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