„Denn alles Gute und Schlechte beruht auf Empfindung...“ Über Epikur, das Übel des Todes und...

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Denn alles Gute und Schlechte beruht auf Empfindung -1- © 2002 M. Willaschek „Denn alles Gute und Schlechte beruht auf Empfindung...“ Über Epikur, das Übel des Todes und den Begriff des Glücks Marcus Willaschek 1. Einleitung Gilgamesch, König von Uruk vor 5000 Jahren, weinte sechs Tage und sieben Nächte um Enkidu, seinen verstorbenen Freund. Nach der Trauer kam die Angst: „Werde ich nicht,“ so Gilgamesch, „wenn ich sterbe, ebenso sein wie Enkidu? Schmerz hielt Einzug in mein Gemüt, Angst vor dem Tod überkam mich, und nun laufe ich umher in der Steppe.“ 1 Gilgameschs Leben wird zu einer ruhelosen Jagd nach Unsterblichkeit. 2 Schließlich gelangt er unter großen Mühen in den Besitz einer Pflanze, die ewiges Leben verleiht; doch eine Schlange frißt die Pflanze, bevor Gilgamesch von ihr kosten kann. Er klagt, daß seine Mühen vergebens waren, und kehrt enttäuscht nach Uruk zurück. 3 Das Gilgamesch-Epos bringt eine menschliche Grunderfahrung zum Ausdruck: Der Tod geliebter Menschen stürzt uns nicht nur in Trauer um die Verstorbenen, sondern macht uns auch die Endlichkeit unseres eigenen Lebens bewußt. Der Gedanke an den eigenen Tod erfüllt uns mit Angst. Anders als Tiere fürchten die Menschen den Tod auch dann, wenn ihr Leben nicht akut bedroht ist, denn sie wissen, daß der Tod irgendwann jeden ereilt. In manchen Fällen kann der Gedanke an den eigenen Tod vielleicht ein Trost sein. Für die meisten Menschen jedoch bleibt das Wissen, daß auch sie jederzeit sterben können und eines Tages sterben müssen, zutiefst beunruhigend. Manch einer verdrängt die Bedrohlichkeit und Unausweichlichkeit des Todes, indem er wie Gilgamesch versucht, unsterblich zu werden: in den eigenen Kindern, in Besitztümern, oder in Werken, die den eigenen Tod überdauern sollen. 4 Andere finden sich mit der Tatsache ab, daß sie eines Tages sterben müssen. Doch auch sie hoffen, daß es nicht allzu bald sein wird. Der eigene Tod bleibt in jedem Fall ein Gegenstand der Angst, der Sorge oder der Beunruhigung. Lange bevor der Tod uns ereilt, wirft der Gedanke an ihn einen Schatten auf unser Leben. Dem Tod kann man nicht entkommen; aber vielleicht seinem Schatten. Dazu müßte es einen Weg geben, die Endlichkeit der eigenen Existenz bewußt anzuerkennen, ohne sich von ihr beunruhigen oder gar ängstigen zu lassen. Diesen Weg will Epikur aufzeigen. Der Tod, so Epikur, ist kein Übel, sondern ein Zustand der Empfindungslosigkeit, der uns nicht berührt. Wer sich dies klarmacht, für den verliert auch der Gedanke an den Tod jeden Schrecken: „Das angeblich schaurigste aller Übel also,

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Denn alles Gute und Schlechte beruht auf Empfindung -1-

© 2002 M. Willaschek

„Denn alles Gute und Schlechte beruht auf Empfindung...“

Über Epikur, das Übel des Todes und den Begriff des Glücks

Marcus Willaschek

1. Einleitung

Gilgamesch, König von Uruk vor 5000 Jahren, weinte sechs Tage und sieben Nächte um

Enkidu, seinen verstorbenen Freund. Nach der Trauer kam die Angst: „Werde ich nicht,“ so

Gilgamesch, „wenn ich sterbe, ebenso sein wie Enkidu? Schmerz hielt Einzug in mein Gemüt,

Angst vor dem Tod überkam mich, und nun laufe ich umher in der Steppe.“1 Gilgameschs

Leben wird zu einer ruhelosen Jagd nach Unsterblichkeit.2 Schließlich gelangt er unter großen

Mühen in den Besitz einer Pflanze, die ewiges Leben verleiht; doch eine Schlange frißt die

Pflanze, bevor Gilgamesch von ihr kosten kann. Er klagt, daß seine Mühen vergebens waren,

und kehrt enttäuscht nach Uruk zurück.3

Das Gilgamesch-Epos bringt eine menschliche Grunderfahrung zum Ausdruck: Der Tod

geliebter Menschen stürzt uns nicht nur in Trauer um die Verstorbenen, sondern macht uns

auch die Endlichkeit unseres eigenen Lebens bewußt. Der Gedanke an den eigenen Tod erfüllt

uns mit Angst. Anders als Tiere fürchten die Menschen den Tod auch dann, wenn ihr Leben

nicht akut bedroht ist, denn sie wissen, daß der Tod irgendwann jeden ereilt. In manchen

Fällen kann der Gedanke an den eigenen Tod vielleicht ein Trost sein. Für die meisten

Menschen jedoch bleibt das Wissen, daß auch sie jederzeit sterben können und eines Tages

sterben müssen, zutiefst beunruhigend. Manch einer verdrängt die Bedrohlichkeit und

Unausweichlichkeit des Todes, indem er wie Gilgamesch versucht, unsterblich zu werden: in

den eigenen Kindern, in Besitztümern, oder in Werken, die den eigenen Tod überdauern

sollen.4 Andere finden sich mit der Tatsache ab, daß sie eines Tages sterben müssen. Doch

auch sie hoffen, daß es nicht allzu bald sein wird. Der eigene Tod bleibt in jedem Fall ein

Gegenstand der Angst, der Sorge oder der Beunruhigung. Lange bevor der Tod uns ereilt,

wirft der Gedanke an ihn einen Schatten auf unser Leben.

Dem Tod kann man nicht entkommen; aber vielleicht seinem Schatten. Dazu müßte es

einen Weg geben, die Endlichkeit der eigenen Existenz bewußt anzuerkennen, ohne sich von

ihr beunruhigen oder gar ängstigen zu lassen.

Diesen Weg will Epikur aufzeigen. Der Tod, so Epikur, ist kein Übel, sondern ein Zustand

der Empfindungslosigkeit, der uns nicht berührt. Wer sich dies klarmacht, für den verliert

auch der Gedanke an den Tod jeden Schrecken: „Das angeblich schaurigste aller Übel also,

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der Tod, hat für uns keine Bedeutung; denn solange wir noch da sind, ist der Tod nicht da;

stellt sich aber der Tod ein, so sind wir nicht mehr da. Er hat also weder für die Lebenden

Bedeutung noch für die Verstorbenen, denn auf jene bezieht er sich nicht, diese aber sind

nicht mehr da“ (Men. 124-5)5. Dieses berühmte Argument aus Epikurs Lehrbrief an seinen

Freund und Schüler Menoikeus variiert einen ähnlichen Gedanken des platonischen Sokrates.6

In der Antike stand es in hohem Ansehen; Cicero und Seneca, sonst nicht gerade Anhänger

Epikurs, beziehen sich zustimmend darauf.7 In neuerer Zeit hingegen ist das epikureische

Argument zumeist als oberflächliche Spitzfindigkeit kritisiert worden: Kierkegaard

bezeichnet es als einen „Scherz, mit dem der listige Betrachter sich selbst außerhalb stellt“.8

Nach Jaspers scheint Epikur zwar „dem Tode ins Auge zu blicken, bewirkt aber nur eine um

so tiefere Vergeßlichkeit im Wesentlichen“.9 Und erst kürzlich hat Ernst Tugendhat das

epikureische Argument als einen bloßen „Sophismus“ abgetan.10

Tatsächlich kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß Epikur bei der Begründung

seiner These, der Tod sei für uns ohne Bedeutung, etwas Wichtiges übersehen haben muß. In

meinem Vortrag möchte ich diesem Eindruck ein Stückweit nachgehen und überprüfen, ob er

berechtigt ist. Zunächst werde ich kurz auf einige Grundzüge der Philosophie Epikurs

eingehen, in deren Kontext das zitierte Argument steht. Dann werde ich das Argument selbst

genauer untersuchen und anschließend zwei Versuche diskutieren, seinen Konsequenzen zu

entgehen. Das Ergebnis wird sein, daß Epikurs Argument keinesfalls nur ein „Scherz“ ist.

Obwohl ich glaube, daß es uns letztlich nicht überzeugen kann, enthält es nämlich eine

wichtige Einsicht: eine Einsicht in den Zusammenhang zwischen unserer Einstellung zum

Tod und unserem Begriff vom Glück.

2. Der philosophische Kontext: Epikurs Philosophie der Lust

Die Philosophie Epikurs, die uns leider nur in Bruchstücken erhalten ist, bildet ein komplexes

System naturphilosophischer, erkenntnistheoretischer und vor allem ethischer

Überlegungen.11 Diese Überlegungen, die ich hier nur im groben Umriß skizzieren kann,

zerfallen der Sache nach in zwei klar getrennte Schritte: Zunächst bestimmt Epikur das letzte

Ziel menschliches Handelns und Strebens, um dann die Mittel zu benennen, durch die dieses

Ziel erreicht werden kann, und ihre leichte und ständige Verfügbarkeit nachzuweisen.

Zunächst zum ersten Schritt, der in einer radikalen Abkehr vom klassischen, durch Platon

und Aristoteles philosophisch reflektierten Verständnis menschlichen Glücks besteht. Über

alle Unterschiede hinweg stimmen Platon und Aristoteles darin überein, daß der Mensch

seinem Wesen nach ein rationales und soziales Lebewesen ist, das sein Glück daher in der

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Ausübung seiner vernünftigen Kräfte im Rahmen eines politischen Gemeinwesens findet. Im

Anschluß an Eudoxos von Knidos und den Sokrates-Schüler Aristipp bestimmt Epikur den

Menschen dagegen primär als ein empfindungsfähiges Einzelwesen. Die Vernunft des

Einzelnen und seine soziale Eingebundenheit sind keine Wesensbestimmungen des

Menschen, sondern bloße Mittel zum Erreichen individueller Lustempfindungen. Die Lust ist

das höchste Gut des Menschen; in ihrem Erreichen besteht das menschliche Glück. Nach dem

griechischen Wort für Lust, hedoné, bezeichnet man diese Auffassung als Hedonismus.

Doch Hedonismus bedeutet bei Epikur entgegen einem landläufigen Vorurteil nicht

hemmungslose Genußsucht. Ganz im Gegenteil; denn Epikur identifiziert die Lust mit der

Abwesenheit von Schmerz, worunter er jede Art von unangenehmem Gefühl versteht. Diese

überraschende Auffassung beruht auf der Annahme, daß jeder bewußte Zustand des

Menschen entweder lustvoll oder aber schmerzhaft, angenehm oder unangenehm ist. Einen

mittleren, neutralen Zustand gibt es Epikur zufolge nicht. Das aber bedeutet, daß die

Abwesenheit von Schmerz mit der Anwesenheit von Lust zusammenfällt. Lust ist laut Epikur

daher nicht steigerbar: Wenn wir gegenwärtig keine Schmerzen und keine Angst vor

zukünftigen Schmerzen haben, dann ist unser Glück vollkommen. „Körperliche Gesundheit

und ungestörte Seelenruhe“, darin besteht nach Epikur das höchste denkbare Glück. Wer dies

erreicht, wird „wie ein Gott unter Menschen leben“ (Men 135).

Damit komme ich zum zweiten Schritt: dem Nachweis, daß und wie dieses Glück für uns

tatsächlich erreichbar ist.12 Da das Ziel der vollkommenen Lust sich aus den Teilen

Gesundheit und Seelenruhe zusammensetzt, fallen die notwendigen Mittel in zwei

unterschiedliche Klassen, nämlich solche zur leiblichen Selbsterhaltung und solche zur

Zerstreuung von Sorgen und Ängsten. Zu den ersteren zählen vor allem Nahrung, Bekleidung

und Unterkunft, wobei Epikur der Meinung ist, daß Luxus in diesen Dingen unser Glück nicht

vergrößert, sondern eher gefährdet: „Brot und Wasser gewähren den größten Genuß, wenn

wirkliches Bedürfnis der Grund ist, sie zu sich nehmen“.13 Epikur weiß natürlich, daß es auch

einmal ganz angenehm sein kann, etwas anderes als Wasser und Brot zu sich zu nehmen.

Doch er sieht in raffinierten Speisen und edlen Getränken nicht eine bessere und lustvollere,

sondern einfach eine andere Weise, satt zu werden und seinen Durst zu stillen. So kommt

Epikur zu dem Ergebnis, daß alles, was wir zur körperlichen Schmerzfreiheit brauchen, leicht

zu beschaffen ist, während wir alles, was unsicher oder schwer erreichbar ist, nicht wirklich

benötigen.14

Doch auch wenn unser Körper ohne Schmerzen ist, bleibt eine weitere, nach Epikur viel

gefährlichere Quelle des Unglücks bestehen: nämlich die Angst vor zukünftigen Schmerzen.

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Wer Epikur darin gefolgt ist, daß die wichtigsten körperlichen Bedürfnisse leicht zu

befriedigen sind, wird sich um sie keine Sorgen mehr machen. Es bleiben dann vor allem zwei

Ängste, die das dauerhafte Glück des Menschen gefährden: die Angst vor den Göttern und die

Angst vor dem Tod. Beide Ängste beruhen nach Epikur ausschließlich auf falschen

Auffassungen über ihren jeweiligen Gegenstand, zum Beispiel auf dem Glauben, die Götter

würden in den Lauf der Natur eingreifen, um die Menschen zu bestrafen; oder dem Glauben,

nach dem Tod gelange man in die Unterwelt und friste dort ein trauriges Dasein im Reich der

Schatten. Doch das sind Irrtümer. Sobald sie beseitigt sind, verschwindet auch die Angst.

Es handelt sich bei diesem Teil der Philosophie Epikurs um eine Art rationaler

Psychotherapie. Epikur vergleicht die Philosophie ausdrücklich mit der Medizin: Wie diese

Körper mit Medikamenten heilt, so heilt die Philosophie die Seele mit Argumenten, die dazu

dienen, Irrtümer aufzuklären.15 Unsere Angst vor den Göttern und dem Tod ist Epikur zufolge

also nicht deshalb irrational, weil wir keine rationale Begründung für sie angeben können,

denn das können wir für keines unserer Gefühle. Wie später David Hume, so ist auch Epikur

der Auffassung, daß Gefühle nur insofern irrational sein können, als sie auf faktischen

Irrtümern beruhen. Wären die Götter daran interessiert uns zu bestrafen und wäre der Tod ein

Zustand des Leidens, dann ließe sich gegen die Angst vor den Göttern und dem Tod nichts

einwenden.

Epikurs materialistische Naturphilosophie hat daher vor allem die Aufgabe, uns

klarzumachen, daß die Götter unser Leben nicht beeinflussen und daß der Tod das

unwiderrufliche Ende unserer Existenz ist. Es würde zu weit führen, Epikurs atomistisches

Weltbild hier im Detail darzustellen. Für seine Argumentation gegen die Angst vor dem Tod

ist nur seine Seelenlehre unmittelbar relevant: Die Seele des Menschen ist Epikur zufolge der

Ort der Empfindung und des Denkens sowie der Ausgangspunkt absichtlicher Bewegung.

Wie alles in der Natur besteht auch die menschliche Seele aus Atomen, die im gesamten

Körper verteilt sind, jedoch in der Brust in besonderer Dichte und Feinheit vorkommen. Der

Tod eines Menschen ist der Zustand, in dem die Konstellation von Atomen, die seine Seele

ausmacht, sich aufgelöst hat, so daß der Körper nun nicht mehr von einer Seele belebt ist und

dasjenige, was Lust und Schmerz empfindet, aufgehört zu existieren. Epikur versteht

demnach unter dem „Tod“ eines Menschen nicht den Augenblick seines Ablebens (so wie

man sagen kann, daß jemand einen leichten oder einen schweren Tod hatte), sondern jenen

Zustand, der eintritt, nachdem ein Mensch gestorben ist und seine Seele sich aufgelöst hat. –

Damit haben wir die Voraussetzungen beieinander, die Epikur benötigt, um zu zeigen, daß der

Tod kein Übel ist.

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3. Epikurs Argument

Auf den ersten Blick scheint es, als führe Epikur im Brief an Menoikeus zwei

unterschiedliche Argumente an, die jeweils für sich zeigen sollen, daß der Tod kein Übel ist.

Das erste Argument lautet:

„Gewöhne dich auch an den Gedanken, daß es mit dem Tode für uns nichts auf sich hat.

Denn alles Gute und Schlechte beruht auf Empfindung; der Tod aber ist die Aufhebung der

Empfindung.“ (Men. 124)16

Das zweite Argument ist das eingangs bereits zitierte:

„Solange wir noch da sind, ist der Tod nicht da; stellt sich aber der Tod ein, so sind wir

nicht mehr da. Er hat also weder für die Lebenden Bedeutung noch für die Verstorbenen“

(Men. 125).

Obwohl es sich um zwei unabhängige Argumente zu handelt scheint, haben wir es meines

Erachtens mit zwei Teilen einer komplexen Begründung zu tun. Auf die Einzelheiten der

Rekonstruktion des Epikureischen Arguments kann ich hier nicht eingehen. Ich werde mich

auf die Darstellung des zentralen Gedankengangs beschränken.

Dieser beginnt mit einer These, die sich unmittelbar aus Epikurs Hedonismus ergibt:

„Alles Gute und Schlechte beruht auf Empfindung“. Das bedeutet, daß für einen bestimmten

Menschen nur das gut oder schlecht sein kann, was dieser unmittelbar als lustvoll oder

schmerzhaft erfährt oder was ihm zumindest mittelbar Lust oder Schmerz verursacht. Nun

folgt die Feststellung: „Der Tod ist die Aufhebung der Empfindung“. Weil die Seele als Sitz

der Empfindungen mit dem Tod aufhört zu existieren, kann die verstorbene Person nichts

mehr empfinden. Diese beiden Thesen reichen für sich genommen jedoch nicht aus, um zu

begründen, daß der Tod uns nichts angeht. Zunächst folgt nämlich nur, daß der Tod dann,

wenn er eingetreten ist, also für die Verstorbenen, kein Gut und kein Übel ist.

Betrachten wir kurz, was damit erreicht ist. Wenn der Tod für die Verstorbenen kein Übel

ist, dann erweist sich die Angst, nach dem Tod eine schattenhafte Existenz in der Unterwelt

zu führen, als unbegründet. Was für den Hades gilt, gilt natürlich auch für die Hölle, das

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Paradies und alle anderen Jenseitsvorstellungen. Damit ist jede Angst vor dem Tod, die darauf

beruht, daß man sich vor der Zeit nach dem eigenen Ableben fürchtet, hinfällig.

Die These, daß der Tod kein Übel für die Verstorbenen ist, ergibt sich zwingend aus

Epikurs Hedonismus und seiner atomistischen Psychologie. Doch diese beiden Aspekte seiner

Philosophie dürften heute kaum noch jemanden überzeugen. Es ist deshalb wichtig, sich

klarzumachen, daß diese These sich auch vor dem Hintergrund wesentlich schwächerer

Voraussetzungen begründen läßt. Statt des Atomismus genügt die (natürlich nicht unstrittige,

aber heute wieder verbreitete) Annahme, daß mit dem Tod einer Person ihr bewußtes Erleben

endgültig aufhört. Und anstelle des Hedonismus reicht jede Auffassung, die das Glück einer

Person mit einem bestimmten Bewußtseinszustand identifiziert (z.B. mit Lust, Freude oder

Zufriedenheit). Dies werde ich als internalistischen Glücksbegriff bezeichnen, da das Glück

dieser Auffassung zufolge nur in bewußtseinsinternen Faktoren bestehen kann. Gut für eine

Person ist dann alles, was zu ihrem Glück beiträgt, schlecht (oder ein Übel) für sie ist, was

ihrem Glück abträglich ist.

Der Hedonismus ist also nur einer von mehreren internalistischen Glücksbegriffen. Die

meisten Philosophen der Neuzeit, von Descartes über Locke, Leibniz, und Hume bis zu Kant,

waren keine Hedonisten, wohl aber Vertreter eines internalistischen Glücksbegriffs. In

Verbindung mit der These, daß der Tod das Ende bewußten Erlebens ist, impliziert ein

solcher Begriff des Glücks, daß der Tod für die Verstorbenen weder gut noch schlecht ist,

weil gut oder schlecht demnach nur das sein kann, was sich auf das bewußte Erleben

auswirkt.

Damit zurück zu Epikurs Argumentation. Um zu zeigen, daß der Tod kein angemessener

Gegenstand der Angst ist, muß Epikur nun noch begründen, daß der Tod auch die Lebenden

nichts angeht. Er beginnt mit der unbestreitbaren Feststellung, daß wir, solange wir leben,

noch nicht tot sind. Die Lebenden können daher den Tod, verstanden als postmortalen

Zustand, nicht empfinden. Vor dem Hintergrund eines hedonistischen bzw. internalistischen

Glücksbegriffs kann man nun folgendermaßen argumentieren: Solange wir leben, ist der Tod

noch nicht eingetreten; daher kann er noch nicht bewußt als lustvoll oder schmerzhaft, gut

oder schlecht erfahren werden; und somit ist er für die Lebenden auch nicht gut oder schlecht.

Der Tod ist also weder für Verstorbenen noch für die Lebenden ein Übel.

Soweit Epikurs Argument, wie ich es verstehe. Doch dieses Argument ist einem

naheliegenden Einwand ausgesetzt. Sicherlich hat Epikur Recht, daß dann, wenn der Tod das

Ende aller Empfindungen ist, er für die Verstorbenen kein Übel ist. Und man kann auch

zugeben, daß der Tod für die Lebenden insofern kein unmittelbares Übel ist, als sie den Tod

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selbst nicht als etwas Unangenehmes erfahren, denn er ist ja noch gar nicht eintreten. Doch

Epikur scheint die Möglichkeit zu übersehen, daß der Tod für die Lebenden mittelbar ein

Übel sein könnte, indem er negative Auswirkungen auf ihr Leben hat – Auswirkungen, die

wir durchaus als schmerzhaft empfinden und bewußt erleben können.17

Dieser Einwand kann verschiedene Formen annehmen. Ich werde im folgenden zwei

Überlegungen betrachten, die zeigen sollen, daß der Tod aufgrund seiner Auswirkungen auf

unser Leben ein Übel für uns ist. Epikurs Antwort wird beide Male in dem Nachweis

bestehen, daß diese Auswirkungen letztlich auf der falschen Voraussetzung beruhen, daß es

für die Verstorbenen ein Übel ist, tot zu sein. Ich werde zu dem Ergebnis kommen, daß

Epikurs Argument schlüssig ist, sofern wir ihm seinen Hedonismus bzw. einen anderen

internalistischen Glücksbegriff zugestehen.

4. Das Übel des Todes

(1) Der erste Vorschlag, wie der Tod indirekt ein Übel sein kann, besagt, daß nicht der Tod

selbst das Übel ist, sondern unser Wissen um ihn. Doch hierauf hat Epikur eine überzeugende

Antwort. Wenn der Tod selbst nämlich kein Übel für uns ist, dann kann auch das Wissen um

ihn kein Übel sein – es sei denn, man hält den Tod fälschlicherweise doch für ein Übel:

„Denn was uns, wenn es sich wirklich einstellt, nicht stört, das kann uns, wenn man es erst

erwartet, keinen anderen als nur einen eingebildeten Schrecken bereiten“ (Men. 125). Epikur

leugnet nicht, daß für viele Menschen das Wissen um die eigene Sterblichkeit belastend oder

erschreckend ist. Sein Ausgangspunkt ist ja gerade, daß wir uns vor dem Tod fürchten und

dies schlecht für uns ist. Doch daß die Menschen den Tod fürchten, zeigt nicht, daß der Tod

ein Übel ist, sondern nur, daß er für ein Übel gehalten wird. Man muß daher fragen, ob diese

Einschätzung berechtigt ist. Um diese Frage zu beantworten, stützt sich Epikur auf sein

bereits erwähntes Kriterium der Rationalität von Ängsten: Eine Angst ist nur dann rational,

wenn ihr Gegenstand tatsächlich in irgendeiner Weise schädlich, gefährlich oder schlecht ist.

Die Angst vor einem angreifenden Raubtier ist demnach rational, denn Raubtiere sind

gefährlich; die Angst vor bösen Geistern ist hingegen irrational, weil es böse Geister in

Wirklichkeit nicht gibt. Ebenso ist die Angst vor dem Tod irrational, weil der Tod ein Zustand

der Empfindungslosigkeit und damit kein Übel ist. Angst vor dem Tod hat man Epikur

zufolge daher nur dann, wenn man fälschlicherweise glaubt, daß die Verstorbenen den Tod als

ein Übel erleiden.

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Diese Auffassung Epikurs mag man allerdings mit guten Gründen bezweifeln. Epikur will

uns die Angst vor dem Tod nehmen, indem er darauf hinweist, daß der Tod das Ende aller

unserer Empfindungen und Erfahrungen bedeutet. Doch was uns am Tod beunruhigt, was uns

vor ihm zurückschrecken läßt wie vor einem jähen Abgrund, ist gerade die Aussicht auf das

Ende unseres bewußten Erlebens und damit auf die eigene Nicht-Existenz. Man kann an

dieser Stelle mit Heidegger zwischen der „Furcht vor dem Ableben“ und der „Angst vor dem

Tod“ unterscheiden18: Während die Furcht sich stets auf ein spezifisches Objekt oder ein

bevorstehendes Ereignis bezieht, ist dasjenige, wovor wir „Angst“ empfinden, wie Heidegger

sagt, „kein innerweltliches Seiendes“.19 Auch das Jenseits ist natürlich kein „innerweltliches

Seiendes“, doch wird es in den anschaulichen Vorstellungen eines Hades oder einer Hölle

ganz nach Art eines „innerweltlichen Seienden“ gedacht, so daß es zu einem Gegenstand der

Furcht werden kann. Wenn der Tod die Verstorbenen kein Übel für ist, dann ist diese Furcht

unbegründet ist.

Die Angst vor dem Tod hingegen ist jene „Befindlichkeit“, so Heidegger, die sich einstellt,

wenn ich begreife, daß ich selbst es bin, der jederzeit sterben kann und irgendwann sterben

muß. Sie beruht nicht auf falschen Vorstellungen über das Jenseits, sondern gerade auf der

Einsicht, daß der Tod die endgültige Vernichtung der eigenen Person bedeutet.20 Das „Nichts

der möglichen Unmöglichkeit der eigenen Existenz“, so Heidegger, erfahren wir als eine

„Bedrohung“.21 Die Angst vor dieser Bedrohung der eigenen Existenz ist die Voraussetzung

dafür, sich als Mensch von allen Bindungen an leere Konventionen zu lösen und seine

eigensten Möglichkeiten zu realisieren. Wir dürfen daher vor dieser Angst nicht fliehen,

indem wir die eigene Sterblichkeit leugnen, verdrängen oder banalisieren.

Doch von einer „Flucht vor dem Tod“ kann bei Epikur keine Rede sein. Ihm geht es gerade

um die nüchterne Anerkennung der Tatsache, daß die eigene Existenz mit dem Tod

unwiederbringlich zu Ende geht. Epikur bestreitet auch nicht, daß dieser Gedanke den meisten

Menschen, die sich ihm wirklich stellen, Angst macht. Doch auch wenn die Angst vor dem

Tod nicht auf falschen Jenseitsvorstellungen beruht, sondern auf der Erkenntnis, daß der Tod

die völlige Vernichtung bedeutet, stellt sich nur deshalb Angst ein, weil diese Vernichtung als

ein Übel begriffen wird. Wäre der Tod kein Übel, gäbe es auch keinen Grund, sich vor ihm zu

ängstigen. Heidegger setzt daher voraus, was Epikur in Frage stellt, nämlich daß der Tod,

verstanden als endgültige Auslöschung der eigenen Person, ein Übel ist. – Damit hat

Heidegger meines Erachtens insofern Recht, als kein Argument uns je vom Gegenteil

überzeugen wird. Und er hat auch darin Recht, daß die existentielle Angst vor dem Tod nicht

auf falschen Jenseitsvorstellungen beruht. Doch Heidegger bleibt die Antwort auf die

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wichtige Frage schuldig, die durch Epikurs Argument aufgeworfen wird – nämlich inwiefern

der Tod ein Übel ist, wenn er doch, wie Heidegger nicht bestreiten würde, in einem Zustand

der Nichtexistenz besteht, der für die verstorbene Person selbst wertmäßig neutral ist.

Das Zwischenergebnis lautet also, daß man von einer gefühlsmäßig negativen Einstellung

zum Tod, heiße sie nun Furcht oder Angst, nicht ohne weiteres darauf schließen darf, daß der

Tod ein Übel ist. Man muß vielmehr zunächst verständlich machen, inwiefern der Tod

überhaupt ein Übel sein kann. Wenn letzteres nicht gelingt, dann zeigt Epikurs plausibles

Kriterium der Rationalität von Gefühlen, daß nicht nur die Furcht vor dem Ableben, sondern

auch die existentielle Angst vor dem Tod irrational ist. Daß diese Angst, anders als Epikur

hoffte, sich durch rationale Argumente vielleicht nicht überwinden läßt, würde ihren

pathologischen Charakter dann nur unterstreichen.

(2) Damit komme ich zum zweiten Versuch, der zeigen soll, wie der Tod ein Übel für die

Lebenden sein kann. Er geht von der Beobachtung aus, daß das Leben für die meisten

Menschen ein Gut ist.22 Der Gedanke liegt nun nahe, daß der Tod ein Übel ist, weil er uns

dieses Gutes beraubt.23

Epikur erwidert darauf zunächst, daß unser Glück sich in Wirklichkeit nicht vermehrt,

wenn wir länger leben: Dem Weisen „kommt es [...] nicht darauf an, die Zeit in möglichster

Länge, sondern in möglichst erfreulicher Fruchtbarkeit zu genießen“ (Men. 126). Wie

erwähnt ist Lust als das höchste Gut nach Epikur nichts anderes als Schmerzfreiheit. Solange

man lebt, ist eine längere Phase der Schmerzfreiheit natürlich besser als eine kürzere. Doch

niemand käme auf die Idee, länger leben zu wollen, um länger schmerzfrei sein zu können.24

Das höchste Gut, Schmerzfreiheit, wird also nur unter der Bedingung erstrebt, daß man seine

Verwirklichung erlebt. Ist diese Bedingung aufgrund des eigenen Todes nicht mehr

gegebenen, dann ist auch die Abwesenheit von Schmerzfreiheit kein Verlust.

Diese Antwort beruht allerdings ganz auf Epikurs wenig plausibler Version des

Hedonismus. Man könnte ihm vor allem entgegenhalten, daß viele unserer Wünsche nicht

unter der Bedingung stehen, daß man ihre Verwirklichung erlebt, sondern umgekehrt einen

wichtigen Grund darstellen, am Leben zu hängen. Solche Wünsche können die unmittelbare

Zukunft betreffen, wie zum Beispiel der Wunsch, mit Freunden essen zu gehen oder Musik zu

hören; oder sie können weit in die Zukunft reichen wie der Wunsch, die eigenen Kinder

erwachsen werden zu sehen oder der, zumindest einmal im Leben einen Marathonlauf

durchzuhalten.

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Daß diese Wünsche und Ziele, anders als Schmerzfreiheit und Gesundheit, nicht unter der

Bedingung stehen, daß man ihre Verwirklichung erlebt, zeigt sich unter anderem daran, daß

sie einen schwerkranken Menschen unter Umständen dazu bewegen können, sich einer

langwierigen und schmerzhaften Behandlung zu unterziehen. In einem solchen Fall will die

Person ja gerade am Leben bleiben, um ihre Wünsche und Ziele verwirklichen zu können,

und nicht umgekehrt. Man kann mit Bernard Williams in diesem Fall von kategorischen

Wünschen sprechen.25 Der Tod wäre demnach ein Übel, weil er die Verwirklichung unserer

kategorischen, d.h. unbedingten Wünsche verhindert.26 Und da die Verwirklichung unserer

Wünsche ein Gut ist, wäre der Tod der Verlust dieses Gutes.

Epikurs Antwort darauf lautet, daß der Tod uns zwar um die Güter des Lebens bringen

mag, doch daß dieser Verlust von der betroffenen Person nicht erlitten wird, denn sobald er

eintritt, hat die Person aufgehört zu existieren.27 Dasselbe gilt für die Vereitlung kategorischer

Wünsche. Wenn es der Tod ist, der meine Pläne durchkreuzt, dann kann mich dies nicht mehr

als ein Übel betreffen. Sicherlich ist es im allgemeinen so, daß die Vereitlung eines Wunsches

für die betroffene Person ein Übel ist. Doch das liegt daran, daß wir die Vereitlung unserer

Wünsche normalerweise erleben.28 Erleben wir sie hingegen nicht mehr, dann erleben wir sie

auch nicht als gut oder schlecht. Und das, so Epikur, bedeutet, daß es für uns weder gut noch

schlecht ist, wenn unsere Wünsche durch den Tod vereitelt werden.

Die Auffassung, das Übel des Todes für die Lebenden bestehe im Verlust des Lebens und

seiner Güter bzw. in der Vereitlung unserer kategorischen Wünsche, scheitert daher an der

Epikureischen Verbindung von internalistischem Glücksbegriff und der These, daß der Tod

für die Verstorbenen kein Übel ist: Wenn wir tot sind, können wir den Verlust des Lebens und

die Nicht-Verwirklichung unserer Wünsche nicht mehr bewußt erleben; und was wir nicht

bewußt erleben, ist auch nicht schlecht für uns.

Vielleicht möchte man dagegen einwenden, daß es die Aussicht auf den Verlust und die

Nicht-Erfüllung unserer Wünsche ist, die uns betrübt. Doch dann greift wieder Epikurs

Kriterium der Rationalität von Gefühlen: Wenn der Verlust des Lebens und die Nicht-

Erfüllung unserer Wüsche für sich genommen keine Übel sind, dann ist es irrational, ihnen

mit Bedauern entgegenzusehen. Es bleibt dabei: Wenn der Tod für die Verstorbenen kein

Übel ist, und wenn alle Übel in Bewußtseinszuständen bestehen, dann ist der Tod auch für die

Lebenden kein Übel. Der Tod geht uns nichts an.

Ich komme daher zu dem Ergebnis, daß man dieser paradoxen Konsequenz nicht entgehen

kann, ohne eine der Voraussetzungen zu bestreiten, auf die Epikur seine Argumentation stützt.

Die erste Voraussetzung lautet, daß der Tod das unwiderrufliche Ende bewußten Erlebens

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bedeutet. Das mag man aus religiösen Gründen bezweifeln, doch wird man gerade dann kaum

darauf bestehen wollen, der Tod sei ein Übel. Wer daran festhalten will, dass der Tod ein

Übel ist, muß daher die zweite Voraussetzung bestreiten, nämlich den hedonistischen bzw.

internalistischen Glücksbegriff.

5. Tod und Glück

Der Zusammenhang zwischen Glücksbegriff und Übel des Todes ist in der neueren Literatur

wiederholt diskutiert worden, so etwa bei Thomas Nagel und Stephen Rosenbaum.29

Allerdings wird die Alternative zu einem subjektiven Glücksbegriff dabei zumeist in einer

Form des Platonismus gesehen. Danach ist es die außerzeitliche Tatsache, daß jemand stirbt,

die für diese Person gut oder schlecht ist, und zwar in Abhängigkeit davon, wie das Leben

dieser Person verlaufen wäre, hätte sie länger gelebt. Diese Auffassung scheint mir aus

mehreren Gründen, die ich hier nicht näher ausführen kann, unzureichend zu sein.30 Doch ein

solcher Platonismus ist nicht die einzige Alternative zu einem internalistischen Glücksbegriff.

Dessen entscheidendes Merkmal bestand ja darin, das Glück eines Person mit einem

bestimmten Bewußtseinszustand wie Lust oder Zufriedenheit zu identifizieren. Um zu

verstehen, wie der Tod ein Übel sein kann, muß man daher lediglich die definitorische

Verbindung zwischen Glück und Bewußtsein aufgeben: Das Glück einer Person besteht

demnach nicht ausschließlich darin, daß diese Person sich in einem als positiv bewerteten

Bewußtseinszustand befindet, sondern umfaßt auch Faktoren, derer diese Person selbst sich

nicht bewußt ist. Das kann man als externalistischen Glücksbegriff bezeichnen, denn zum

Glück einer Person gehören demnach auch Dinge, die außerhalb ihres eigenen Bewußtseins

liegen.

Es gibt viele Möglichkeiten, diese noch sehr allgemeine Definition inhaltlich auszufüllen,

denn es gibt viele Dinge außerhalb unseres eigenen Bewußtseins, von denen man mit einer

gewissen Berechtigung behaupten kann, daß sie zu unserem Glück erforderlich sind: daß wir

gesund sind (und uns nicht nur dafür halten), daß wir das Beste aus unseren Möglichkeiten

machen (statt uns mit weniger zufrieden zu geben), daß wir gut und gerecht sind (und uns

nicht nur einbilden, es zu sein) usw. Ich werde mich hier auf jene Version des Externalismus

konzentrieren, die für unser Thema besonders einschlägig ist. Danach gehört zu unserem

Glück nicht nur, daß wir glauben, daß unsere Wünsche erfüllt sind, sondern auch, daß dies

tatsächlich der Fall ist. Die bloße Tatsache, daß einer meiner Wünsche nicht verwirklicht

wird, ist demnach ein Übel für mich – selbst dann, wenn ich nie etwas davon erfahre.

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Denn alles Gute und Schlechte beruht auf Empfindung -12-

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Ich möchte den Gegensatz zwischen Internalismus und Externalismus an zwei Beispielen

verdeutlichen. Betrachten wir zunächst den Wunsch, daß es einem Freund, von dem ich seit

Jahren nichts gehört habe und voraussichtlich auch nie mehr etwas hören werde, gut gehen

möge. Dem internalistischen Glücksbegriff zufolge hat das Wohlergehen meines Freundes

keine Auswirkungen auf mein Glück; wenn ich nie mehr von ihm höre, kann sein Befinden

keinen Einfluß auf meinen Bewußtseinszustand haben. Der externalistische Glücksbegriff

hingegen besagt, daß es zu meinem Glück beiträgt, wenn es ihm gut geht, selbst wenn ich

davon nie etwas erfahre. – Betrachten wir nun den Fall, daß ich mir nur einrede, es gehe dem

Freund gut, obwohl es ihm in Wirklichkeit schlecht geht. Diesmal besagt der internalistische

Glücksbegriff, daß meine Selbsttäuschung zu meinem Glück beiträgt, während der

externalistischen Auffassung zufolge das Unglück meines Freundes mein eigenes Glück

schmälert, ohne daß mir selbst dies bewusst ist. 31

Die beiden Beispiele machen meines Erachtens deutlich, daß beide Auffassungen ihre

Schwächen haben: Daß wirkliches Glück auf Irrtümern und Selbstbetrug beruhen kann,

erscheint unplausibel. Doch umgekehrt fällt es schwer zu akzeptieren, daß Dinge, von denen

ich nie etwas erfahren werde und die mein Leben in keiner Weise berühren, zu meinem Glück

oder Unglück beitragen können.

Hier ist nicht die Gelegenheit, die Vor- und Nachteile externalistischer und

internalistischer Glücksbegriffe und ihre weitreichenden ethischen Konsequenzen zu

untersuchen. Mir kommt es an dieser Stelle nur darauf an, daß ein internalistischer

Glücksbegriff, nach allem, was wir bisher gesehen haben, nicht verständlich machen kann,

wie der Tod für die Lebenden ein Übel sein kann. Der Tod beraubt uns zwar der Güter des

Lebens und vereitelt unserer Wünsche. Doch das, so Epikur, sind keine Übel für uns, da sie

dann, wenn sie eingetreten sind, unser Bewußtsein nicht mehr berühren. Legen wir nun aber

einen externalistischen Glücksbegriff zugrunde, wird Epikurs Einwand hinfällig. Der Verlust

des Lebens und die Vereitlung unserer Wünsche kann dann ein Übel für uns sein, auch wenn

wir uns dieses Übels zum Zeitpunkt seines Eintretens nicht mehr bewußt werden können.

Dem externalistischen Glücksbegriff zufolge können viele Dinge mein Glück beeinflussen,

ohne daß sie meine subjektive Befindlichkeit negativ oder positiv beeinflussen. Der Tod ist

nur eines von ihnen.

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6. Schluß

Damit komme ich zum Schluß. Epikur will uns von der Angst vor dem Tod befreien, indem er

zeigt, daß der Tod kein Übel ist. Seine Begründung dafür ist tragfähiger, als es zunächst den

Anschein hat. Ihre schwächste Stelle ist meines Erachtens der hedonistische bzw.

internalistische Glücksbegriff, der allerdings, wie wir gesehen haben, für sich genommen

keineswegs unplausibler ist als sein externalistisches Gegenstück. Wir stehen daher vor einem

Abwägungsproblem: Sollen wir daran festhalten, daß der Tod ein Übel ist? Dann müssen wir

akzeptieren, daß etwas für mich gut oder schlecht sein kann, auch wenn es keine

Auswirkungen auf mein bewußtes Erleben hat. Oder sind wir der Meinung, daß Umstände,

von denen man nichts weiß und nie etwas erfahren wird, auch keine wirklichen Übel sind?

Dann scheint Epikur damit recht zu behalten, daß der Tod kein Übel ist.

Es dürfte kaum möglich sein, an dieser Stelle noch Gründe für eine dieser beiden

Möglichkeiten anzuführen, die nicht voraussetzen, was in Frage steht. Meine Überlegungen

schließen also in keiner Weise aus, daß man auf der Grundlage des internalistischen

Glücksbegriffs das Epikureische Argument akzeptiert und bestreitet, daß der Tod ein Übel ist.

Ich selbst halte das jedoch für unplausibel. Es scheint mir einfach eine Tatsache der

Lebenserfahrung zu sein, daß der Tod in vielen, wenn auch vielleicht nicht in allen Fällen ein

Übel für die ist, die er ereilt.32 Aus meiner Sicht sprechen die hier vorgetragenen

Überlegungen daher für einen externalistischen Glücksbegriff, denn nur der kann verständlich

machen, wie der Tod, obwohl ein wertneutraler Zustand der Nichtexistenz, überhaupt ein

Übel für uns sein kann.

Auch wenn der eigene Tod ein Übel ist, ist er sicherlich nicht das schlimmste aller Übel.

Es gibt Lebensumstände, die schlimmer sind als der Tod. Und es gibt Tode, die schlimmer

sind, als der eigene. Es war Enkidu, der starb; doch es war Gilgamesch, der klagte: „Enkidu,

[...] der mit mir durch alle Beschwernisse zog, es hat ihn ereilt die Bestimmung der

Menschheit. [...] Ach, wie soll ich stumm bleiben? Ach, wie schweigen? Mein Freund, den

ich liebte, ist zu Erde geworden.“ 33

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1 Gilgamesch-Epos, Stuttgart 1958, 9. Tafel, Verse I. 3–5. 2 Die Angst vor dem Tod ist sein ständiger Begleiter: „In meinem Schlafgemach sitzt der Tod; selbst wenn

ich meinen Fuß an einen Ort des Lebens setzen will: auch da ist der Tod“ (ebd., 11. Tafel, Verse 230–233). 3 Vgl. ebd. 11. Tafel, 286 ff. 4 Vgl. Jaspers 5 „Men.“ = Brief an Menoikeus, in Diogenes Laertius, Leben und Meinungen berühmter Philosophen, übers.

v. Otto Apelt, Hamburg 31990, Buch X, § 122–135. 6 Vgl. Apologie, 40c–41c 7 Vgl. Cicero, Gespräche in Tusculum, übers. v. O. Gigon, München 1991, 1. Buch, §§ 82 ff., besonders §

92; Seneca, Briefe an Lucilius, 30. Brief („Gegen die Todesfurcht“), in ders. Philosophische Schriften, übers. v.

Otto Apelt, Bd. 3, 111. 8 Sören Kierkegaard, „An einem Grabe“, in ders. Gesammelte Werke, 13./14. Abt., Düsseldorf/Köln 1952,

176. 9 Karl Jaspers, Philosophie, Bd. II, Berlin/Göttingen/Heidelberg 31956, 224. 10 Ernst Tugendhat, „Gedanken über den Tod“, in M. Stamm (Hg.), Philosophie in synthetischer Absicht,

Stuttgart 1998, 487. 11 Vgl. hierzu und zum folgenden die drei erhaltenen Lehrbriefe Epikurs und seine sogenannten

„Hauptlehren“ (kyriai doxai; im folgenden „HL“) in Diogenes Laertius, Leben und Meinungen berühmter

Philosophen, Buch X. Vgl. auch die Auswahl von Quellen zur epikureischen Philosophie im A.A. Long/D.

Sedley, Die hellenistischen Philosophen, Stuttgart 1999. Des weiteren stütze ich mich in meiner Darstellung auf

M. Hossenfelder, Epikur, München 1991. 12 Epikurs Philosophie ist eine säkulare Heilslehre: Sie verheißt den Menschen nicht nur das vollkommene

Glück auf Erden, sondern versucht zugleich zu zeigen, daß es mit Mitteln erreicht werden kann, die jedem

Menschen jederzeit zu Gebote stehen. 13 Wenn man hingegen kein wirkliches Bedürfnis empfindet, wenn hat man also keinen Hunger und keinen

Durst, dann, so Epikur, kann keine Speise und kein Getränkt unsere Lust vermehren, denn über die Abwesenheit

von unangenehmen Empfindungen hinaus gibt es keine Lust. 14 Sollte man aber doch einmal Schmerzen empfinden, etwa aufgrund einer Krankheit, dann kann man laut

Epikur lernen, die körperlichen Schmerzen durch seelische Lust, etwa im Gespräch mit Freunden oder sogar die

bloße Erinnerung daran, auszugleichen. (Dazu muß die seelische Lust allerdings etwas Positives, über die

Abwesenheit von Sorgen und Ängsten hinausgehendes sein, was sie Epikur zufolge eigentlich nicht möglich ist.) 15 Vgl. Sextus in Long/Sedley, 182 16 Dieses Argument ist offenbar identisch mit dem in HL 2: „Der Tod für uns keine Bedeutung; denn was

aufgelöst ist, ist ohne Empfindung; was aber ohne Empfindung ist, hat keine Bedeutung für uns“ (HL 2). 17 Vgl. zu diesem Einwand Feldman, Confrontations with the Reaper, Oxford 1992, 133 f., der statt von

„mittelbar“ und „unmittelbar schlecht“ von „intrinsisch“ und „extrinsisch schlecht“ spricht. 18 Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen, 15. Aufl. 1979, 251. 19 Ebd., 186.

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20 Kierkegaard, auf den die Unterscheidung zwischen Furcht und Angst zurückgeht, nennt dies „den ernsten

Gedanken des Todes“. A.a.O. 187 et passim. 21 Ebd. 265 f. Die Einschätzungen Epikurs und Heideggers verhalten sich also spiegelbildlich zueinander:

Epikur betrachtet den Tod nicht als Übel, wohl aber die Angst davor. Heidegger dagegen hält die Angst vor dem

Tod für den Ausdruck „eigentlichen“ Seins und damit für etwas Wertvolles, setzt damit aber voraus, daß der

Tod, als Unmöglichkeit der eigenen Existenz, ein Übel ist. – Allerdings schreibt Heidegger auch: „Das Wovor

dieser Angst [der Angst vor dem Tod] ist das In-der-Welt-sein selbst“ (ebd. 251). 22 Dieses Gut kann entweder darin bestehen, daß die bloße Tatsache, am Leben zu sein, als positiv bewertet

wird, oder aber darin, daß das Leben die Bedingung dafür ist, daß andere Dinge wie Lust, Freundschaft, Erfolg

usw. für uns Güter sein können. 23 Vgl. dazu bereits Cicero, Gespräche in Tusculum, § 83. Thomas Nagel hat diese Position folgendermaßen

auf den Punkt gebracht: Wenn das Leben ein Gut ist, dann kann es durch die Zeit vervielfacht werden, so daß

gilt: mehr davon besser als weniger. Thomas Nagel, „Death“, in ders., Mortal Questions, Cambridge 1979, 2.

Wir betrachten den Tod dieser Auffassung zufolge also dann zu Recht als ein Übel, wenn es für die betroffene

Person besser gewesen wäre, weiter zu leben. Natürlich stellt sich hier die Frage, wie man bemessen soll, wann

es für eine Person besser gewesen wäre, weiter zu leben, und wann nicht. 24 Vgl.die ähnliche Überlegung bei Malte Hossenfelder, Epikur, München 1991, ... 25 Vgl. Bernard Williams, „The Makropulos Case: Reflexions on the Tedium of Immortailty“, in ders.

Problems of the Self, Cambridge 1973, ... Williams’ Definition „kategorischer Wünsche” wird in der Literatur

häufig so verstanden, als müsse es sich um außergewöhnliche und besonders gewichtige Wünsche handeln, die

man nur dann unterhält, wenn man explizit vor der Frage steht, ob man am Leben bleiben will oder sich das

Leben nehmen will (vgl. z.B. Nussbaum...). Tatsächlich legt Williams ein solche Verständnis nahe, doch folgt es

streng genommen nicht aus seiner Definition. Kategorische Wünsche sind einfach solche, die nicht wie der

Wunsch nach Gesundheit unter der Bedingung stehen, daß man ihre Verwirklichung auch erlebt. 26 Zwar würde Epikur es wohl für unvernünftig halten, Wünsche auch dann noch beizubehalten, wenn man

feststellt, daß sie sich aufgrund des nahenden Todes nicht mehr realisieren lassen. (Es könnte sich dabei nämlich

nur um den Ausdruck nicht-notwendiger Bedürfnisse handeln.) Doch als Antwort auf die Auffassung, das Übel

des Todes bestehe in der Vereitlung unserer kategorischen Wünsche, erschiene das reichlich ad hoc. 27 Es erscheint deshalb bereits fraglich, ob man hier überhaupt von einem Verlust für diese Person sprechen

kann. So bereits Cicero, a.a.O. § 87, der hier vermutlich aus epikureischen Quellen schöpft. 28 Auch dieser Punkt findet sich bereits bei Cicero, a.a.O. 29 Th. Nagel, „Death“; St. E: Rosenbaum, “Appraising Death in Human Life: Two Modes of Valuation”, in

Midwest Studies in Philosophy 24 (2000), 151–171. 30 Danach können nicht nur zeitlich datierbare Ereignisse oder Zustände für eine Person gut oder schlecht

sein, sondern auch außerzeitliche Tatsachen. Die Tatsache, daß ich sterben werde, wäre für mich demnach ein

Übel. Dem steht nicht im Wege, daß ich dann, wenn mein Tod eingetreten ist, nicht mehr existiere, denn das

Übel des Todes ist dieser Auffassung zufolge ohnehin nicht zeitlich datierbar. Dieses außerzeitliche Übel würde

in der außerzeitlichen Tatsache bestehen, daß es besser für mich gewesen wäre, länger zu leben. Doch ob das der

Fall ist, kann natürlich kein Mensch wissen. Dieser Auffassung zufolge wäre mein Tod also nur aus einer

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überzeitlichen und allwissenden Gottesperspektive ein Übel. Das scheint mir den entscheidenden Punkt

klarerweise zu verfehlen. 31 Ein anderes Beispiel: Ein reicher Geizhals hat sein ganzes Geld bei einer Bank auf den Cayman-Inseln

angelegt, die sagenhafte Zinsen zahlen. Er freut sich jedes Quartal über seinen steigenden Kontostand, ohne je

etwas von dem Geld auszugeben. Deshalb erfahren erst seine Erben, daß sein Geld längst verschwunden ist und

alle Kontoauszüge und Bilanzen der Bank gefälscht waren. Der internalistische Glücksbegriff schließt aus, daß

diesem Mann ein Übel geschehen ist, denn er weiß nichts von einem finanziellen Verlust. Der Externalist kann

dagegen zugestehen, daß der Verlust seines Geldes für diesen Mann ein Übel ist. Allerdings muß der Externalist

dies nicht behaupten; er könnte zum Beispiel auch argumentieren, daß der Verlust des Geldes kein Übel ist,

jedoch nicht deshalb, weil der Mann davon nichts weiß, sondern deshalb, weil er das Geld gar nicht braucht und

es deshalb für ihn keinen Wert hat. Ein Externalist muß also nicht jeden Verlust, von dem ein Mensch nichts

weiß, als Übel für diesen Menschen betrachten. Er kann jedoch behaupten, daß die Güter und Übel des Lebens

sich nicht notwendigerweise in dem erschöpfen, dessen sich die Betroffenen als gut und schlecht bewußt sind. 32 Frage: Wann ist der Tod ein Übel? Antwort: Dann, wenn er eintritt. 33 Zehnte Tafel, Verse 21–23 und 29–30.