Dentalwerkstoffe – Problemsubstanzen in der allergologischen Diagnostik? Teil I: Analyse der...

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O R I G I N A L I E N Hautarzt (1996) 47: 839–843 C Springer-Verlag 1996 Zusammenfassung Die allergologische Diagnostik als Bestandteil der Abklärung von Mundschleimhautbeschwer- den bzw. Symptomen, bei denen Dentalwerkstoffe (DWS) als Aus- löser vermutet werden, ist mit etli- chen Schwierigkeiten behaftet. Die Zusammensetzung der DWS ist häufig nicht bekannt und Kenntnisse über die Freisetzung der Inhaltstoffe liegen oft nicht vor. Viele der potentiellen DWS- Inhaltsstoffe kommen auch in an- deren Bereichen vor, so daß bei nachgewiesener Sensibilisierung der Erwerb der Allergie nicht sel- ten unklar bleibt. Die vielfältigen Besonderheiten der Mundschleim- haut (MSH) ermöglichen zudem eine Verträglichkeit der Stoffe in diesem Bereich selbst bei positiver Reaktion im Epikutantest. Ziel die- ser Publikation ist es, das mögli- che Allergenspektrum bei MSHy DWS-Patienten vorzustellen und auf die Unwägbarkeiten bei der Einschätzung der Relevanz positi- ver Tests hinzuweisen. Von Mitte 1992 bis Mitte 1994 wurden in den Partnerkliniken des IVDK 756 MSHyDWS-Patienten epikutan ge- testet. In dieser Gruppe fielen ein erhöhter Anteil von Frauen und ein erniedrigter Anteil von Patien- ten mit atopischer Dermatitis auf. Das gefundene Allergenspektrum mit Bezug zu DWS reichte von Amalgam und Quecksilberverbin- dungen über Goldsalze und Palla- diumchlorid bis zum Methylme- thacrylat. Die epidemiologische Aussagekraft dieser Daten ist al- lerdings relativ gering. Die Be- sprechung der verschiedenen Al- lergengruppen folgt in einem zwei- ten Teil. Schlüsselwörter Mundschleimhautbeschwerden Dentalwerkstoffe Kontakaller- gen-Häufigkeiten – Relevanz der Epikutantestergebnisse Dentalwerkstoffe – Problemsubstanzen in der allergologischen Diagnostik? Teil I: Analyse der Testergebnisse* bei Patienten mit Mundschleimhaut/Dentalwerkstoff-Problemen** Gerhard Richter 1 und Johannes Geier 2 1 Klinik und Poliklinik für Hautkrankheiten (Komm. Direktor: Prof. Dr. G. Richter) der Medizinischen Fakultät Carl Gustav Carus der Technischen Universität Dresden 2 Informationsverbund Dermatologischer Kliniken – IVDK (Leiter: Dr. A. Schnuch) Kontaktallergien durch Haptene in zahnmedizinischen Werkstoffen, Arz- neimitteln und Arbeitsmaterialien finden seit langem in den einschlägi- gen Monographien und epidemiologi- schen Studien zur Kontaktdermatitis hinreichende Würdigung. Die Kon- taktekzemquote in zahnmedizini- schen Berufen ist vergleichsweise hoch. So war z.B. in Sachsen die Inzi- denz anerkannter Berufsdermatosen bei Zahnmedizinern 3mal höher als im übrigen Gesundheitswesen und fast 10mal höher als bei der Gesamt- heit aller Beschäftigten [35]. Das ba- sierte vorrangig auf der erheblichen irritativen Belastung und weniger auf einer besonderen allergenen Potenz der Arbeitsstoffe. Mit leichten Varia- tionen finden sich in den aktuellen epidemiologischen Mitteilungen [13, 15, 35, 37, 39] vier Allergengruppen auf den Spitzenpositionen: Aldehyd- Desinfektionsmittel (früher Formal- dehyd, heute Glutaraldehyd), Metha- crylate, Lokalanästhetika (früher Pro- cain, in der DDR Propipocain, heute Benzocain und Tetracain) und Nickel, wobei hier die beruflichen Kontakte meist sekundär sind und die Sensibili- sierung außerberuflich erfolgte. Die Probleme der ätiologischen Klärung waren und sind in diesem Arbeitsbe- reich nicht größer als in anderen Be- rufen mit einem ausgedehnten und heterogenen Spektrum potentieller Kontaktallergene. Die als Titel formu- lierte Frage wäre allein unter diesem Aspekt zu verneinen. Erheblich anders ist die Situation allerdings in der Diagnostik von Mundschleimhautbeschwerden bzw. anderen Symptomen, bei denen Den- talwerkstoffe (DWS) als Ursache ver- * 21 dermatologische Abteilungen trugen als Mitglieder des IVDK zu dieser Unter- suchung bei: Berlin Charite ´ (B. Laubstein), Berlin Rudolf Virchow (J. Grabbe), Dort- mund (P.J. Frosch, B. Pilz), Dresden (G. Richter), Duisburg (J. Schaller, M. Fuchs), Erlangen (T.L. Diepgen, K.-P. Peters), Essen (H.M. Ockenfels), Göttingen (Th. Fuchs), Halle (B. Lübbe, G. Gaber), Hamburg (M. Kiehn, D. Vieluf), Heidelberg (A. Schulze- Dirks, J. Zimmermann), HomburgySaar (F.A. Bahmer, P. Koch), Jena (M. Gebhardt), Kiel (J. Brasch, T. Henseler), Lübeck (K.-P. Wilhelm, J. Kreusch), Mainz (D. Becker), München LMU (F. Enders, F. Rueff), Mün- chen Schwabing (M. Agathos, R. Breit), München TU (J. Rakoski, C. Szliska), Tübingen (G. Lischka), Wuppertal (O. Mainusch, J. Fränken) ** Auszugsweise vorgetragen bei der 1. Ge- meinschaftstagung der Deutschen Kontakt- allergiegruppe (DKG), des Informationsver- bundes Dermatologischer Kliniken (IVDK) und der Arbeitsgemeinschaft für Berufs- und Umweltdermatologie (ABD), Göttingen 1.–2.3.1996 Prof. Dr. G. Richter, Klinik und Poliklinik für Hautkrankheiten der Medizinischen Fakultät Carl Gustav Carus der Technischen Universität, Fetscherstraße 74, D-01307 Dresden 839

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Hautarzt (1996) 47: 839–843C Springer-Verlag 1996Zusammenfassung

Die allergologische Diagnostikals Bestandteil der Abklärungvon Mundschleimhautbeschwer-den bzw. Symptomen, bei denenDentalwerkstoffe (DWS) als Aus-löser vermutet werden, ist mit etli-chen Schwierigkeiten behaftet.Die Zusammensetzung der DWSist häufig nicht bekannt undKenntnisse über die Freisetzungder Inhaltstoffe liegen oft nichtvor. Viele der potentiellen DWS-Inhaltsstoffe kommen auch in an-deren Bereichen vor, so daß beinachgewiesener Sensibilisierungder Erwerb der Allergie nicht sel-ten unklar bleibt. Die vielfältigenBesonderheiten der Mundschleim-haut (MSH) ermöglichen zudemeine Verträglichkeit der Stoffe indiesem Bereich selbst bei positiverReaktion im Epikutantest. Ziel die-ser Publikation ist es, das mögli-che Allergenspektrum bei MSHyDWS-Patienten vorzustellen undauf die Unwägbarkeiten bei derEinschätzung der Relevanz positi-ver Tests hinzuweisen. Von Mitte1992 bis Mitte 1994 wurden in denPartnerkliniken des IVDK 756MSHyDWS-Patienten epikutan ge-testet. In dieser Gruppe fielen einerhöhter Anteil von Frauen undein erniedrigter Anteil von Patien-ten mit atopischer Dermatitis auf.Das gefundene Allergenspektrummit Bezug zu DWS reichte vonAmalgam und Quecksilberverbin-dungen über Goldsalze und Palla-diumchlorid bis zum Methylme-thacrylat. Die epidemiologischeAussagekraft dieser Daten ist al-lerdings relativ gering. Die Be-sprechung der verschiedenen Al-lergengruppen folgt in einem zwei-ten Teil.

Schlüsselwörter

Mundschleimhautbeschwerden –Dentalwerkstoffe – Kontakaller-gen-Häufigkeiten – Relevanz derEpikutantestergebnisse

Dentalwerkstoffe –Problemsubstanzen in derallergologischen Diagnostik?

Teil I: Analyse der Testergebnisse* bei Patientenmit Mundschleimhaut/Dentalwerkstoff-Problemen**

Gerhard Richter1 und Johannes Geier2

1 Klinik und Poliklinik für Hautkrankheiten(Komm. Direktor: Prof. Dr. G. Richter) der Medizinischen FakultätCarl Gustav Carus der Technischen Universität Dresden2 Informationsverbund Dermatologischer Kliniken –IVDK (Leiter: Dr. A. Schnuch)

Kontaktallergien durch Haptene inzahnmedizinischen Werkstoffen, Arz-neimitteln und Arbeitsmaterialienfinden seit langem in den einschlägi-gen Monographien und epidemiologi-schen Studien zur Kontaktdermatitishinreichende Würdigung. Die Kon-

taktekzemquote in zahnmedizini-schen Berufen ist vergleichsweisehoch. So war z.B. in Sachsen die Inzi-denz anerkannter Berufsdermatosenbei Zahnmedizinern 3mal höher alsim übrigen Gesundheitswesen undfast 10mal höher als bei der Gesamt-heit aller Beschäftigten [35]. Das ba-sierte vorrangig auf der erheblichenirritativen Belastung und weniger aufeiner besonderen allergenen Potenzder Arbeitsstoffe. Mit leichten Varia-tionen finden sich in den aktuellenepidemiologischen Mitteilungen [13,15, 35, 37, 39] vier Allergengruppenauf den Spitzenpositionen: Aldehyd-Desinfektionsmittel (früher Formal-dehyd, heute Glutaraldehyd), Metha-crylate, Lokalanästhetika (früher Pro-cain, in der DDR Propipocain, heuteBenzocain und Tetracain) und Nickel,wobei hier die beruflichen Kontaktemeist sekundär sind und die Sensibili-sierung außerberuflich erfolgte. DieProbleme der ätiologischen Klärungwaren und sind in diesem Arbeitsbe-reich nicht größer als in anderen Be-rufen mit einem ausgedehnten undheterogenen Spektrum potentiellerKontaktallergene. Die als Titel formu-lierte Frage wäre allein unter diesemAspekt zu verneinen.

Erheblich anders ist die Situationallerdings in der Diagnostik vonMundschleimhautbeschwerden bzw.anderen Symptomen, bei denen Den-talwerkstoffe (DWS) als Ursache ver-

* 21 dermatologische Abteilungen trugenals Mitglieder des IVDK zu dieser Unter-suchung bei: Berlin Charite´ (B. Laubstein),Berlin Rudolf Virchow (J. Grabbe), Dort-mund (P.J. Frosch, B. Pilz), Dresden (G.Richter), Duisburg (J. Schaller, M. Fuchs),Erlangen (T.L. Diepgen, K.-P. Peters), Essen(H.M. Ockenfels), Göttingen (Th. Fuchs),Halle (B. Lübbe, G. Gaber), Hamburg (M.Kiehn, D. Vieluf), Heidelberg (A. Schulze-Dirks, J. Zimmermann), HomburgySaar(F.A. Bahmer, P. Koch), Jena (M. Gebhardt),Kiel (J. Brasch, T. Henseler), Lübeck (K.-P.Wilhelm, J. Kreusch), Mainz (D. Becker),München LMU (F. Enders, F. Rueff), Mün-chen Schwabing (M. Agathos, R. Breit),München TU (J. Rakoski, C. Szliska),Tübingen (G. Lischka), Wuppertal (O.Mainusch, J. Fränken)

** Auszugsweise vorgetragen bei der 1. Ge-meinschaftstagung der Deutschen Kontakt-allergiegruppe (DKG), des Informationsver-bundes Dermatologischer Kliniken (IVDK)und der Arbeitsgemeinschaft für Berufs-und Umweltdermatologie (ABD), Göttingen1.–2.3.1996

Prof. Dr. G. Richter, Klinik und Poliklinikfür Hautkrankheiten der MedizinischenFakultät Carl Gustav Carus der TechnischenUniversität, Fetscherstraße 74, D-01307Dresden

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dabei konkurrieren soll mit paramedi-zinischen Methoden, die zwar keinenerkennbaren Bezug zu den immunolo-gischen Grundlagen allergischer Re-aktionen haben, dafür aber seitens derÖffentlichkeit vom Nachweis ihrerStichhaltigkeit offensichtlich freige-stellt sind.

In dieser Situation erscheint es be-sonders wichtig, in der dermatologi-schen Allergiediagnostik auf die Ein-haltung begründbarer Indikationenund auf kritische, fundierte Testinter-pretationen zu achten. Diesem Anlie-gen galten die Publikationen derDeutschen Kontaktallergiegruppe(DKG) in der Deutschen Dermatolo-gischen Gesellschaft [12, 36] zur Te-stung mit DWS und soll auch dieseMitteilung dienen, in der zunächst dieentsprechenden Ergebnisse aus 21deutschen Hautkliniken vorgestelltund anschließend die wichtigstenDWS-Gruppen in ihrer allergenen Be-deutung diskutiert werden.

Material und Methoden

Ausgewertet wurden die Daten von 756 Pa-tienten, die in der Zeit vom 01.08.1992–31.07.1994 in den 21 Partnerkliniken desIVDK wegen einer Stomatitis oder des Ver-dachtes auf eine DWS-Allergie epikutan ge-testet wurden. Eine genauere Auflistung derHauptdiagnosen bzw. der Testindikationensowie eine Beschreibung der Population hin-sichtlich Geschlechts- und Altersverteilungsowie der Prävalenz der atopischen Dermati-tis gibt Tabelle 1. Dort ist zum Vergleichauch der IVDK-Gesamtbestand desselbenZeitraumes (16 165 Patienten) aufgeführt.Die Summe der Patientenzahlen der einzel-nen Diagnosen- bzw. Indikationsgruppenliegt über der Gesamtzahl, da die meistenPatienten (78,0%), die unter dem Verdachteiner DWS-Allergie getestet wurden, eineder vier genannten Abschlußdiagnosen hat-ten und somit auch in diesen Gruppen ent-halten sind.

Für die Auswertung der Testergebnissewurden die stärksten im Verlauf der Epiku-tantestablesung beobachteten Reaktionenunabhängig vom Zeitpunkt ihres Auftretensherangezogen. Als positiv im Sinne von al-lergisch wurden solche Reaktionen bewertet,die gemäß den Richtlinien der DeutschenKontaktallergiegruppe eine Stärke von1 bis111 erreichten. Um die Vergleichbarkeitder Prävalenz bekanntermaßen alters- bzw.geschlechtsabhängiger Merkmale herzustel-len, wurde in entsprechenden Einzelfälleneine Standardisierung auf eine artifiziellePopulation mit je 50% Männern und Frauen

Hautarzt (1996) 47: 839–843C Springer-Verlag 1996

Dental materials – a problem in allergy diagnosis?Part I: Analysis of patch test results in patients with oral mucosalcomplaints or problems possibly related to denture materials

G. Richter and J. Geier

Summary

Patch testing as a part of the diag-nostic evaluation of patients suffer-ing from oral mucosal complaints orwith symptoms where dental materi-als are suspected to be the cause ishampered by numerous difficulties.The ingredients of denture materialsas well as their liberation in the oralcavity are often unknown. Contactwith many of the potential ingredi-ents of denture materials can occuron other occasions, as well, thusmaking it difficult to find out wherethe patient has acquired his or hersensitization. The special morpho-logical and immunological situationin the oral mucosa may produce tol-erance of substances which evoke apositive patch test reaction on theskin of the back. This paper intro-duces the possible spectrum of aller-gens in these patients and discussesthe difficulties in the assessment ofthe relevance of positive patch test

reactions. From August 1992 to July1994, 756 patients with complaintsof the oral mucosa andyor suspectedcontact allergy to denture materialswere patch tested in the departmentsof dermatologyjoining the Informa-tion Network of Departments ofDermatology in Germany (IVDK).Among these patients, women wereoverrepresented, while individualswith atopic dermatitis were under-represented. The allergen spectrumincluded amalgam, mercury com-pounds, gold salts, palladium chlo-ride and methyl methacrylate. How-ever, the epidemiological value ofthese data is limited. A second partof this paper will review the variousgroups of allergens.

Key words

Complaints of the oral mucosa –Dental materials – Frequency ofcontact allergens – Relevance ofpatch test results

mutet werden. Zu den bei der Epiku-tantestung immanenten Fehlermög-lichkeiten falsch-negativer oder -posi-tiver Reaktionen kommen hier einigeerschwerende Faktoren hinzu. Die In-haltsstoffe der DWS sind oftmalsnicht bzw. nur unvollständig bekannt.Noch ungewisser sind i.allg. dieKenntnisse über deren Liberation, so-wohl im Epikutantest als auch kumu-lativ im Mund, speziell wenn es sichum Kunststoffadditiva oder Legie-rungshilfsstoffe handelt. Kontakte mitpotentiellen DWS-Inhaltsstoffen sindauch in zahlreichen anderen Lebens-und Arbeitsbereichen möglich, d.h.,die Sensibilisierung kann anderweitigerworben sein. Selbst wenn mit DWSan der Haut positive Testreaktionenauslösbar sind, ist angesichts der ana-

tomischen, funktionellen und immu-nologischen Besonderheiten derMundschleimhaut (MSH) dort eineklinische Verträglichkeit durchausmöglich. Die bei derartigen Fragenzur Relevanz von Epikutantests sonstso hilfreichen Karenz- und Reexposi-tionsversuche sind bei DWS wegender technischen Probleme nur schwerrealisierbar.

Allein diese, keineswegs vollstän-dige Aufzählung von objektivenSchwierigkeiten verdeutlicht, daßDWS als Problemsubstanzen in der al-lergologischen Diagnostik anzusehensind. Das wird potenziert, wenn die-ser bewährten Diagnostik heute zu-nehmend abverlangt wird, auf DWSbezogene allgemeine Befindlichkeits-störungen kausal abzuklären und sie

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Tabelle 1Patienten mit Mundschleimhaut (MSH)-Symptomen undyoder vermuteter Dentalwerkstoff (DWS)-Unverträglichkeitin der Patchtest-Klientel von 21 deutschen Hautkliniken (IVDK-Daten 8y92–7y94)

Geschlecht Atopisches Alter in Jahren Anzahlweiblich Ekzem Patienten

<20 20–39 40–59 >60

I. MSH/DWS-Klientel gesamt 78,7 5,6 2,1 22,7 45,2 30,0 756

1. AbschlußdiagnoseIrritative Stomatitis 80,5 3,3 1,6 12,7 48,6 37,1 307Kontaktallerg. Stomatitis 83,2 8,4 4,2 20,0 51,5 24,2 95Ausschluß von Amalgam-Allergie 67,9 5,3 3,0 48,8 41,3 6,9 131Ausschluß von Zahnprothesen-Allergie 81,0 5,2 – 20,2 39,8 39,3 153

2. Indikation zur TestungVerdacht auf– Amalgam-Allergie 70,1 10,4 3,2 42,9 44,2 9,7 154– Zahnprothesen-Allergie 83,1 3,9 0,6 15,1 41,0 42,7 178

II. IVDK-Gesamt 65,5 17,5 5,5 38,4 35,8 20,3 16165

und je 20% der Patienten in den Altersklas-sen 0–19 Jahre, 20–39 Jahre usw. bis 80–99Jahre vorgenommen.

Ergebnisse

Die hier untersuchte Patientenpopula-tion mit Mundschleimhautsympto-men undyoder Problemen mit Dental-werkstoffen stellt 4,7% aller Patientendar, die im Untersuchungszeitraum inden Partnerkliniken des IVDK gete-stet wurden.

In der MSHyDWS-Klientel liegtder Frauenanteil mit 78,7% deutlichüber dem des IVDK-Gesamtbestan-des (65,5%). Insgesamt ist die unter-suchte Population älter (MSHyDWS:75,2% über 39 Jahre, IVDK gesamt:56,1%), wobei die Altersstrukturen inden einzelnen Subgruppen sehr unter-schiedlich sind (siehe Tabelle 1). Beiden Stomatitis-Patienten und denen,die zur Abklärung eine Zahnpro-thesenunverträglichkeit getestet wur-den, dominieren (naturgemäß) die Äl-teren; bei den Patienten, die wegendes Verdachtes oder zum Ausschlußeiner Amalgam-Allergie getestet wur-den, überwiegen die Jüngeren. DiePrävalenz der atopischen Dermatitisschwankt: In den Gruppen mit höhe-rem Anteil jüngerer Patienten findetman mehr Atopiker. Insgesamt liegtdie Prävalenz der atopischen Dermati-tis bei der MSHyDWS-Klientel aberdeutlich unter der im Gesamtbestand(5,6% vs. 17,5%). Auch nach Stan-dardisierung bleibt dieser Unterschied

Tabelle 2Die häufigsten Allergene bei Patienten mit MSH-Symptomen oder V.a.DWS-Unverträglichkeit. Sofern nicht anders angegeben, wurden die Allergenebei mehr als 80% der jeweiligen Patientengruppe getestet

Allergen Patienten mit positiver Reaktionin Prozent der Getesteten

MSH/DWS- Stomatitis- zum Vergleich:Klientel Patienten IVDK gesamt(n=756) (n=402) (n=16165)

Nickelsulfat 14,4 13,0 17,3Palladiumchlorid 9,4 9,6 7,4c

Na-thiosulfatoaurat 7,9a 6,7a 4,7c

Duftstoff-Mix 7,3 5,0 13,1Benzoylperoxid 6,0 3,6 9,4c

Amalgam 5,7 8,6a 4,5c

Cadmiumchlorid 5,3b 5,8 8,1c

Phenyl-Hg-acetat 4,4c 5,6c 3,4c

Perubalsam 3,9 3,4 7,6Hg-amid-chlorid 3,7 4,2 2,9Thiomersal 3,7 0,9 5,4Kobaltchlorid 3,4 3,0 5,2p-Phenylendiamin 3,1 3,4 5,8Kolophonium 2,1 1,3 4,1Kaliumdichromat 1,9 2,1 5,5Methylmethacrylat 1,7 2,8 1,4c

Paraben-Mix 1,7 0,9 2,7Neomycinsulfat 1,5 1,5 3,2

a Allergen wurde nur bei ca. 70% der Patienten getestetb Allergen wurde nur bei ca. 60% der Patienten getestetc Allergen wurde nur bei weniger als 50% der Patienten getestet

erhalten (5,0% vs. 16,6%). Er ist alsonicht allein auf die differierende Ge-schlechts- und Altersverteilung zu-rückzuführen.

Tabelle 2 zeigt die häufigsten Al-lergene der untersuchten Population.

Dort sind die Allergene aufgeführt,die bei mehr als 40% der 756 Patien-ten mit MSH-Symptomatik undyoderDWS-Problemen getestet wurden undbei mindestens 1,5% der Getesteteneine positive Reaktion auslösten. Zu-

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Amalgam-Allergien prägt sich dage-gen offenbar bereits bei den 20- bis39jährigen aus, nicht so sehr jedochbei den Jugendlichen unter 20 Jahren,auf die zwar ein hoher Prozentsatz al-ler Amalgamfüllungen entfällt, beidenen aber offensichtlich die Be-schwerden noch selten sind, die mitdiesem Material assoziiert werden.Der relativ häufige Wunsch nachÜberprüfung, ob eine Amalgam-Al-lergie vorliegt, dürfte vorrangig durchdie Medienhinweise geweckt wordensein. Die Rate positiver Reaktionenauf Amalgam lag bei den Patientenmit der Testindikation „Verdacht aufAmalgam-Allergie“ mit 4,8% sogarnoch unter der Rate in der gesamtenMSHyDWS-Klientel (5,7%). Die 95Patienten mit Abschlußdiagnose„kontaktallergische Stomatitis“ stel-len 0,6% der IVDK-Gesamtpopula-tion dieses Zeitraumes oder ein Ach-tel der MSHyDWS-Klientel dar. Die-se Rate liegt im oberen Bereich derQuoten, die in hinreichend kritischenPublikationen als Anteil einer immu-nologisch definierten Allergie-Patho-genese an der Gesamtheit aller DWS-Beschwerden genannt werden.

Die im Vergleich zu Männern beiFrauen durchgängig höhere Rate po-sitiver Reaktionen auf fast alle Aller-gene deutet auf eine gezieltere Test-praxis bei Patientinnen hin. Die alsoohnehin unterrepräsentierten Männerwurden vermutlich liberaler, also be-reits bei geringerem Verdacht, gete-stet. Möglicherweise liegt hier ein Se-lektionsbias vor (maskuline Indo-lenz?). Erstaunlich ist die vermindertePrävalenz der atopischen Dermatitisin der MSHyDWS-Klientel, die nichtallein durch die spezielle Altersstruk-tur dieser Gruppe zu erklären ist. Dieerhöhte Hautirritabilität der Atopikerwirkt sich offensichtlich an derMundschleimhaut ebensowenig auswie die mit diesem Leiden oft verbun-denen psychonervalen Besonderhei-ten.

Die Allergen-„Hitliste“ (Tabelle 2)läßt unschwer erkennen, daß bei vie-len Substanzen der Bezug zu DWStheoretisch wohl begründbar, eineSensibilisierung durch völlig andereNoxen aber keineswegs auszuschlie-ßen ist. Die Gegenüberstellung derWerte der MSHyDWS-Gruppe einer-

Tabelle 3Weitere Allergene mit potentieller Beziehung zu Dentalwerkstoffenin der MSHyDWS-Klientel

Allergen Anzahl der Patientenmit positiver Reaktion

Propipocain 10Formaldehyd 7Phenyl-Hg-borat 7Hydrochinon 6Kupfer-II-sulfat 5Zinn-II-chlorid 5Quecksilberammoniumchlorid 5Benzocain 3Eisenchlorid 3Hydroxyethylmethacrylat 3Butandiolmethylacrylat 2Ethylenglycoldimethacrylat 2Triethylenglycoldimethacrylat 2Phenylquecksilbernitrat 2Amalgamlegierungsmetalle 2Goldthioäpfelsäure 2Gold-II-chlorid 2Kaliumdicyanoaurat 2Glutaraldehyd 2Campherchinon 2Arnikatinktur 2Berrylliumnitrat 1Berylliumsulfat 1Ethylmethacrylat 1Hydrochinonmonomethylether 1Indiumtrichlorid 1Dimethyl-p-Toluidin 1Zimtaldehyd 1Zinksulfat 1Dimethacrylat 1Urethandimethacrylat 1Diurethandimethacrylat 1

sätzlich sind die entsprechenden Sen-sibilisierungsraten bei den Patientenmit irritativer oder kontaktallergi-scher Stomatitis sowie zum Vergleichdie Zahlen aus dem IVDK-Gesamtbe-stand genannt. In der MSHyDWS-Gruppe lag die Rate positiver Reaktio-nen auf die genannten Allergene na-hezu durchgängig bei Frauen um denFaktor 2 bis 3, in Einzelfällen sogarnoch mehr, über der Sensibilisie-rungsrate bei den Männern. Lediglichbei Thiomersal war es umgekehrt(Männer 6,0%, Frauen 3,0%). BeiQuecksilberamidchlorid, Phenyl-quecksilberacetat und Kaliumdichro-mat ergaben sich keine Unterschiedezwischen den Geschlechtern.

In Tabelle 3 sind weitere Allergeneaufgelistet, auf die in der MSHyDWS-Klientel positive Reaktionen beobach-tet wurden, und die potentiell eine Be-

ziehung zu Dentalwerkstoffen habenkönnten.

Besprechung

Daß knapp 5% aller Testungen auf dieAbklärung von MSHyDWS-Proble-men abzielten, verweist zum einen aufdie Bedeutung dieser Klientel in derallergologischen Diagnostik, zum an-deren auf eine offensichtlich rechtüberlegt-disziplinierte Indikations-festlegung. Dafür spricht auch die Al-tersverteilung der untersuchten Popu-lation. Die älteren Patienten, bei de-nen die prothetische Versorgung desGebisses die Regel ist, sind in den Sto-matitisgruppen und den Gruppen, diemit Verdacht auf Zahnprothesenaller-gie bzw. zum Ausschluß derselbengetestet wurden, erwartungsgemäßstärker vertreten. Die Furcht vor

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seits und des IVDK-Gesamtbestandesandererseits ergibt erhöhte Reaktions-frequenzen in der ersten Gruppe fürPalladiumchlorid, Natriumthiosulfa-toaurat, Amalgam, Phenylquecksilbe-racetat und Quecksilberamidchlorid.Beim „harten Kern“ dieser Gruppe,den 402 Patienten mit manifester Sto-matitisyGingivitis, fallen mit Ausnah-me des Natriumthiosulfatoaurat dieseDifferenzen noch deutlicher aus. Sol-che Vergleiche sind allerdings mit äu-ßerster Vorsicht zu interpretieren,denn die meisten der hier genanntenAllergene wurden im IVDK-Gesamt-bestand bei weniger als der Hälfte,zum Teil sogar nur bei 20% der Pa-tienten getestet. Hier ist also eine mas-sive Verzerrung des Bildes durch einemehr oder weniger gezielte Indikationzur Testung möglich. Dennoch wirddas Spektrum der häufig gefundenenAllergene erkennbar, das sich mit denSubstanzklassen deckt, deren Bedeu-tung aus den Publikationen über gesi-

cherte Einzelfälle bekannt ist. Die Al-lergene bzw. Allergengruppen wer-den ausführlich im zweiten Teil dieserPublikation besprochen (s. unten).

Die epidemiologische Aussage-kraft der hier vorgestellten Daten istsowohl wegen der einleitend skizzier-ten Unsicherheit betreffs tatsächli-cher Expositionsbedingungen undklinischer Relevanz als auch wegender breiten Überlappung mit der Al-lergiesituation in einer nicht weiterselektionierten Patchtest-Klientel be-schränkt, da es sich um Daten handelt,die nicht gezielt im Rahmen einerüberlegt konzipierten und gezieltdurchgeführten Studie erhoben wur-den, sondern quasi im Routinebetriebder Allergielabors anfielen. Auf dieProblematik der Validität solcher Er-gebnisse soll mit den vorgestelltenDaten des IVDK explizit hingewiesenwerden. Es gibt reichlich vergleichba-re Allergenlisten, die allein aus Test-reihen an MSHyDWS-Patienten stam-

men und in denen sich zum Teil nurschwer nachvollziehbare Kausalitäts-annahmen finden. Allein mit demAufaddieren der Positivquoten kämeman auch im IVDK-Material zu ei-nem sensationell hohen Aufklärungs-grad von MSH-Problemen, der aberleider nichts mit der Realität zu tunhätte. Stichhaltige Schlußfolgerungenlassen sich am ehesten aus genau ab-geklärten und detailliert beschriebe-nen Einzelfällen bzw. kleinen Grup-pen ziehen. Einige der allergologischwichtigsten DWS sollen unter diesemAspekt im folgenden zweiten Teil ge-nauer besprochen werden, ohne An-spruch auf Vollständigkeit, sondernmit gezielten Hinweisen auf beson-ders umstrittene bzw. aktuelle Aspek-te und den resultierenden Konsequen-zen für die Patchtest-Praxis.

Literatur

am Schluß des Teils II

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