Der Begrif Der Maschine in Guattari

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DiePF6lix Guattari war Psychoanalyti-ker, der der Psychoanalyse kritischgegenüberstand. Sein Name ist inden verschiedensten Gebieten auf-getaucht. Als Ko-Autor mit GillesDeleuze hat er die Bücher «Anti-ödipus, und «Tausend Plateaus»(darin der berühmte EssaY überRhizome) geschrieben, und wasdort zum Ausdruck gekommen ist,ein deterritorialisierendes Den-ken, das steht auch in seinen eigenen Büchern. 1994 ist er überra-schend im Alter von 62 fahren gestorben.Bei Merve ist in diesen Tagen einvon Henning Schmidgen heraus-gegebener Band erschienen, derden Versuch unternimmt' Guatta-ris Denken über die Maschine zuerfassen, bekannt zu machen undauf diese Weise zugleich auch zuzeigen, dass er zu Unrecht imSchätten Deleuzes gestanden hatund in Wirklichkeit ein eigenstän-diger Denker war.Der Begriff Maschine ist häufig ne'gativ besetzt. Guattari gab ihmeine eigene und eigenwillige In-terPretation, die eine enffesselte,anarchische Bedeutung hat. DasSubiekt ist nicht die ideale undverherrlichte Entität, für die siegewöhnlich gehalten wird, son-dern ein- Ensemble von Struktu-ren, in Guattaris SPrache: vonSchichten (oder Plateaus) von In-tensitäten, eine Karte, eine Werk-statt, ein Taumel. Sinngemäss istdas Denken nicht Personalisiert,sondern es zieht sich tranwersaldurch die Subiekte hindurch. Es istnicht schÖpferisch, sondern opera-tiv. Statt von Subiekten spricht Gu-attari auch ger[ von «agenc*'ments collectives d'6nonciations»,von kollektiven oder verbundenenAussageformationen, die An-schlüsie suchen (heute würdeman von Schnittstellen sPrechen),je mehr, desto besser, und selberüberall angeschlossen sind, diezirkulieren und subversiv agieren.Das alles ist die beste Vorausset-zung, um Produktiv zu sein, undProduktion ist alles.Mit Maschine bezeichnet Guattarinenau diese ProcluktivitäL dieseVerbindungen, Intensitäten, Ent-singularisierungen, die allein zumZweck der (sozusagen befreiten)Resingualisierungen vorgenom-men werden. Maschine ist das'was in der klassischen PsYchoana-lYse dem Unbewussten entsPricht'rind man muss, wenn man denMaschinenbegriff zugrundelegt'davon ausgehen, dass dieses Un-bewusste offen angelegt ist (wieein Rhizom) und die Instanz derallgemeinen Produktion darstellt.In dieser KonzePtion ist das Den-

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roiluTfionken auch autopoietisch geworden,das heisst, es erzeugt sidt selbst'ohne Inputs und OutPuts.«Wir haben unkörperliche Univer-sen zu produzieren», sagte Guatta-ri in eintim Vortrag, den er 1990in Valence an einer Filmtagunghielt. Im Hinblick darauf stelltePierre L€W fest, das Denken müs-se über die Fakten hinausgehen.Der Vortrag in Valence bildet denzentralen Text im Band vonSchmidgen. Im weiteren enthälter Erinnerungen an Guattari vonFreunden von ihm sowie EssaYs'

die sein Denken und sein Werkwie eine Werkzeugkiste benützenund weiterführen. also «Maschinemachen».Die Schwierigkeit bei der Ausein-andersetzung mit Guattari ist die,dass im Deutschen ausser den bei-den mit Deleuze verfasstenBüchern andere Schriften von ihmnur in kaum greifbaren Unter-grundschriften vorliegen. Sie feh-len ganz einfach. Um so mehrmacfit der Band bei Merve daraufaufmerksam, dass wir es hier miteinem Denker zu tun haben, derbefruchtender gewirkt hat als viele andere und der mehr Beach-tuno verdiente.Und' ausserdem wird auch klar,was für ein radikaler, anarchi-scher, manchmal geradezu deli-ranter, aber auch iederzeit be'schwingter und frÖhlicher DenkerGuattari war, aber was soll's? Das

war es gerade, was seine Einzig-artigkeit- ausmachte. Schliesslichhatäas spekulative, hypothetischeDenken in Frankreich eine eigeneTradition. Es hat daher keinenSinn, bei Guattari nach dem Sinnzu fragen, die Frage zu stellen:Was häisst das? was ist damit gemeint? Sondern man muss sichden Strömen hingeben, die flies-sen, überfliessen, die alles mitreis-sen und so die gefesselten Singu-laritäten befreien.Nicht aufhören, sondern weiter-machen. Alles sPrudelt, bewegtsich, ist aktiv, alles produziert un-ablässig. Produktion ist ein weitbesser geeigneter Begriff als Krea-ürrität. Produküon ist des- Sinq,wenn es denn einen gibt-Die Wunschmaschinen sind amWerk, man kann ihnen beim Produzieren zuschauen. Wir sind alleWunschmaschinen.Aus dem von Schmidgen heraus-gegebenen Band werden hiereinige Passagen zusammenge-stellt, zu einer Collage oder, bessergesagt zu einer kleinen Guattari-tttaschine. Aurel Schmidt

Henninq Schmidgen (Hg.): Asthetik und Ma-schinisräus. Textd zu und von F6lix Guaftari'Merve. Fr. 19"-

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Subjektivität undProduktion

Nicolas Bourriaud

Die zentrale Stellung, die Guattarider Subjektivität einräumt, bestimmt seine Auffassung der Kunstund ihres Wertes von Anfang bisEnde. Die Subjektivität als Produkti-on spielt im guattarischen Dispositivdie Rolle eines Angelpunktes, umden herum sich die Handlungs- undErkennfirismodi frei anlagern undsich auf die Verfolgung der Gesetzedes Sozius machen können.Dies bestimmt im übrigen das lexi-kalische Feld, das angewendet wird,um die künstlerische Aktivität zudefinieren: Nichts bleibt übrig vonder in dieser Diskursordnung übli-chen Fetischisierung. Die Kunstwird definiert als ein «Prozess non-verbaler Semiotisierung» und nichtals eine von der globalen Produkti-on abgetrennte Kategorie. Den Feti-schismus abschaffen, um die Kunstals Denkweise und als «Erfindungvon Lebensmöglichkeiten» (Nietz-sche) zr definieren: Die letzteZweckbestimmung der Subjektivitätist nichts anderes als eine Individu-ierung, die immer wieder zu er-obern ist.Die künstlerische Praxis bildet einbevorzugtes Territorium dieser Indi-viduierung, da sie potentielle Mc,dellierungen für die menschlicheExistenz im allgemeinen liefert.Man könnte daher das guattarischeDenken - und das menschlicheDenken im allgemeinen - definie-ren als ein grossangelegtes Unter-nehmen der Denaturalisierung vonSubjektivität ihrer Entfaltung imFeld der Produktion, als eine Theeretisierung ihrer Einfügung in denRahmen der allgemeinen ökonomie des Austausches. Nichts ist we-niger nattirlich als die Subjektivität.Nichts, was in höherem Masse kon-struiert, bearbeitet und ausgearbei-tet wäre. «Neue Modalitäten vonSubjektivierung schafft man auf diegleiche Weise, wie ein Bildhauerausgehend von der Palette, über dieer verfügt, neue Formen schafft»(Guattari).

AnregerFelix Guattari, französischerPsychoanalytiker und Autor,der 1994 gestorben ist, war einsingulärer Denker. Noch bes-ser ist es zu sagen, dass.er einAnreger und Anstösser war.Ein Band aus dem MerveVerlag versucht, auf ihn auf-merksam zu machen (sieheauch den Kasten «Die Produk-tion»).

Jas, worauf es .anliornmt, ist unsereFähigkeit, inmitten des durch dieIdeologien und die Denkkategoriengebildeten Systems der kottektivenAusstattungen neue Gefüge zu schaf-fen: Schöpfung, die zahlieiche Ahn=lichkeiten mit der künsflerischenAktivität zeigt. Der Beitrag Guatta-ris zur Asthetik bliebe unverständ-lich, wenn man nicht sein Bemühenhervorheben würde, die Subiekti-vität zu denaturalisieren und zir de-territorialisieren, sie aus dem für siereservierten Bereich, dem sakrosankten Subiekt, zu vertreiben, umdie beunruhigenden Ufer anzulau-fen, wo die maschinellen Gefügeund die sich ausbildenden existenti-ellen Territorien wuchern. «Beunru-higend», denn entgegen den phä-nomenologischen Schemata, diedas humanistische Denken über-frachten, gehört das Nicht-Mensch-liche unbedingt dazu. «Wuche.rung», denn es erweist sich von nunan 3!s rryglc!.gte fa!4li!4t des ka-pitalistischen Systems in Begriffenvon Subjektivität zu entschlüsseln:Diese herrscht dort überall als Mei-ster, und sie ist um so mächtiger, alssie in ihrem eigenen Netz verfan-gen ist, enfführt zugunsten ihrerunmittelbaren Interessen.Denn «ebenso wie die sozialen Ma-schinen, die man in die allgemeineRubrik der kollektiven Ausstattun-gen einordnen kann, wirken dietechnologischen Informations- undKommunikationsmaschinen imHerzen der menschlichen Subiekti-vität» (Guattari). Man wird also ler-nen müssen, die Subiektivität zu «er-greifen, zu bereichern und neu zuerfinden», bei Strafe, sie sich in einerigide kollektive Apparatur im aus-schliesslichen Dienst der Macht ver-wandeln zu sehen;

Asthetik undOkosophie

Nicolas BourriaudIm «schizoanalytischen» UniversumGuattaris kommt der Asthetik einebesondere Stellung zu. Sie bildet ein«Paradigma», ein geschmeidiges Ge-füge, das geeignet ist, auf mehrerenNiveaus, auf unterschiedlichen Ebenen des Wissens zu funktionieren;und vor allem bildet sie den Sockel,der ihm erlaubt, seine «ökosophie»zu formulieren. Sie ist ein Mbdeilder Produktion von Sublektivität,ein Instrument, das dazu dient,die psychiatrisch-psychoanalytischePraxis zu befruchten.Guattari beruft sich auf die fuUretit,um die. Hegemonie des «szientisti-schen Uber-Ichs» zu durchkreuzen,das die analytischen praktiken inFormeln erstarren lässt Er wirft der«Psych+Szene» vor, sich der Vergan-genheit zuzuwenden, da sie mit denFreudschen oder Lacanschen Kon-

zepten genauso umgehtwie mit un-hinterfragbaren Gewissheiten. DasUnbewusste selbst gleicht einer «In-stitution, einer kollektiven Ausstat-tung» ... Permanente Revolution inder Methode? Es müsste so sein «wiein der Malerei oder der Literatur:dies sind Gebiete, in denen jedekonkrete Leistung die Berufung mitsich hägt, sich zu entwickeln, Neue-rungen einzuführen, zukunftsorien-tierte Erweiterungen einzuleiten,ohne dass ihre Autoren gesichertetheoretische Begründungen oderdie Autorität einer Gruppe oder einer Schule, eines Konservatoriumsoder einer Akademie geltend ma-chen könnten» (Guattari).Es zählt allein das «work in pro-gress»: Das Denken geht aus einerKunst hervor, die nicht mit Rhetorikgleichbedeutend ist. Und nunwerden wir uns nicht mehr überdie Definition wundern, die Deleu-zelGuattari von der Philosophiegeben: «Kunst, Konzepte zu bilden,zu erfinden, zu fabrizieren.» Dar-über hinaus hat Guattari im Sinn,die Gesamtheit der Wissenschaftenund der Techniken ausgehendvon einem ästhetischen Paradigmaneu nJ modellieren. Er erklärt:«Meine Perspektive besteht darin,die Human- und die Sozialwissen-schaften von den szientistischenParadigmen in ethisch-ästhetischeParadigmen übergehen zu lassen.»Eine Absicht, die sich einem wissen-schafflichen Skeptizismus annähert:die Theorie und die Konzeptehaben für ihn nur den Wert von«Subjektivierungsmodellen» unteranderen, und keine Gewissheit istunwiderruflich.Nach Guattari ist das ästhetische Pa-radigma dazu berufen, alle Registerdes Diskurses zu verseuchen, in alleWissensfelder das Gift der schöpferischen Ungewissheit und der deli-ranten Erfindung einzuimpfen.

Eine Verneinung der vorgeblichenwissenschaftlichen «Neubalität»:«Künftig wird es an der Tagesord-nung sein, <futuristische» und <kon-

struktivistische> Virtualitätsfelderfreizustellen.» Ein Porträt des Psy-choanalytikers als Künstler: «So wieein Künsfler seinen Vorgängernund seinen Zeitgenossen jene Zügeentlehnt, die ihm selbst anstehen,so lade ich diejenigen, die mich Iesen, dazu ein, meine KonzePte freizu übernehmen oder zu verwerfen»(Guattari).

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Der Band von Henning Schmidgen über Guattori enthött auch als kleine Überraschupg sechs

Zeichnungen des franiösßchen Philosophen Gilles Deleuze. Der Titel der hier wiedergegebenenZeichnung lautet: «Krankenzimmer». Ns Autor ist Deleuze, mit dem Guattari zwei Büchergeschrieben hat, in dem Band dagegen nicht vertreten.

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Das Llnbewussteist offenPierre L6vy

Der Organismus verweist zweifachauf die Kontingenzen der Geschich-te: Ein erstes Mal interveniert das«Aussen» während des ontogeneti-schen Aufbaus und durch die Le,benserfahrung; ein zweites Mal ni-stet es sich durch den der Phyloge-nese eigenen Zufall im Herzen desOrganismus ein. Ihrerseits kannsich die biologische Evolution nichtvon der unendlich sich verzweigen-den, differenzierten Geschichte derBiosphäre abtrennen, und selbstjenseiB davon verknüpft sie sich rhi-zomatisch mit der Erde, mit ihrenFaltungen und ihrem Klima, mitden kosmischen Strömen, mit allden Komplexitäten der Physis undihrem Werden. Statt über das Kogrnitive zum Biologischen und überdas Biologische zum Physikalischenzu führen, kann das Nachdenkenüber das transzendentale Erkennt-nissubjekt eher auf sein Andereszurückkommen: das Unbewussteder AJfekte, der Triebe und derPhantasien.Aber auch hier ist es nicht möglich,Detm lreuüqhen unlgyryste! qlqletztem Begriff stehenzubleiben.Guattari und Deleuze haben ge.zeigt, dass das sogenannte Unbewusste sich nicht auf ein Reservoirvon verdrängten, inzestuösen oderaggressiven Wünschen beschränkt,sondern dass es für die Geschichte,die Gesellschaft und den Kosmos of-fen ist. Das umfassende Unbewuss-te, das nicht mehr aufgefasst wirdals eine intrapsychische Entität, be-steht aus den kollektiven Aussagen-gefügen, den heterogenen Rhizomen, durch die hindurch unsereWünschq zirkulieren und in denensich unsere Existenzen immer wieder ereignen. Allerdings kann mankeine apriorische Liste von all demerstellen, was in die Zusammenset-zung der Aussagengefüge und derWunschmaschinen eingeht Orte,Momente, Bilder, Spraclien, Institu-tionen, Techniken, vermischte StrGme usw. Schliesslich werden wirwieder einmal entdecken, dass derletzte Begriff oder vielmehr der be.griffslose Horizont des hier «unbew.lsst» genannten Transzendentallen sehr wohl die Welt selbst seinkönnte-

Pierre L6vyFalten stülpen sich unaufhörlich einund krümmen sich ineinander um,während andere sich entfalten. DasSignal (oder die Wellung der Din-ge), das in der individuierenden Fal-te empfangen wurde, wird Bedeu-tung. Das Sein individuiert sich anden Falten der Dinge, an Talbildun-gen in Landsdraften, an Krümmun-gen von Körpern, an Arabesken, diedurch irgendeine melodische Linieskizziert werden, an der Wendungder Ereignisse... Entitäten individu-ieren sich oder ent-individuierensich, damit «es» sich für andere Fal-ten eignet, damit «es» sich auf ande-re Weise neu individuiert.Durch die übernommenen Meta-phern und Bilder, durch die unsübermittelten kulturellen Bedeu-tungen (die in ihren Falten hologra-phische Fragmente der Ntur enthal-ten), durch das an das Aussen ange.schlossene maschinische Unbewuss-te, durch die materiellen Techniken, die Schriften und die Sprachen,in deren Abhängigkeit wir unsereBotschaften denken und produzie-ren - all das, wodurch wir die Welterfahren und erleben, angefangeirbei unserem weisen Körper, ist ebendie Welt selber.Gewiss ist der lebende OrganismusProduzent seiner Universums-Ni-sche, viel eher als in platter Weisean sie angepasst zu sein. Wir müs-sen anerkennen, dass die äussereWelt oder, wenn man so will, «dieUmwelt» auch schon immer im er-kennenden Organismus, der sie pro'duziert, enthalten ist. Die Welt hatsich im Lebenden als auto und exopoietische Maschine, als Produzen-tin ihrer selbst und ihres Aussen ört-lich zusammengefaltet. Die ober-halb der von uns erfahrenen empi-rischen Welt liegende transzenden-tale Welt, auf die wir uns hier beru-fen, ist gewiss nicht auf irgendeinephysikalische, biologische, soziale,kogmitive oder anders gearteteSchicht zu reduzieren. Sie ist auchnicht die geordnete und klar geglie-derte Summe der Schichten. Es han-delt sich um die Welt als unendli-cher Vorrat, um die Über-Welt(trons-monde) ohne Komplexitäts-hierarchie, die immer und überallanders und kompliziert ist Kosmopolis.

Körper, Kulturen, Artefakte, Spra-.chen, Bedeutungen, Berichte... dasEmpirische wird üanszendentalund das Transzendentale bringteine empirische Welt zum Vor-schein. Als Transzendentales undals Empirisches faltet «es» sich im-mer wieder von neuem. Die Falte istdas Ereignis, die Verzweigung, diesein schafft. fede Falte, jede aktiveoder passive Falte, ist das Auftau-chen einer Singularität, der Ansatzzu einer Welt. Die ontologische Proliferation ist nicht auf eine be,stimmte Lage der Schichten zu reduzieren; sie ist ebenfalls unredu-zierbar auf irgendeine Hauptfaltewie diejenige zwischen Sein undSeiendem, Unterbau und Überbau,Determinante x und Determinate y.Die totale und nicht totalisierbareWelt, die kosmopolitisch, differen-zierte und multiple Über-Welt .istvielmehr unendlich in sich gefaltet,es wimmelt von Singularitäten inden Singularitäten und von Faltenin den Falten.Die massiven oder molaren OPPosi-tionen wie Seele und KörPer, Sub-

iekt und Objekt, Individuum undGesellschaft. Natur und Kultur,Mensch und Technik, Lebloses undLebendiges, Heiliges und Profanes,und selbst der Gegensatz zwischenTranszendentalem und Empirischen; von dem wir ausgegangensind: All diese Teilungen sind Fal-tensweisen, und sie resultieren aussingulären Ereignisfalten derselben«Konsistenzebener (Deleuze und Gu-attari). «Es» hätte sich anders faltenkönnen. Und wenn die Falte in ei-ner unendlich vielfältigen, aber ein-maligen Welt geschieht, kann manimmer zurückgehen auf das Ereig-nis der Falte, ihrer Bewegung undihrer Krämmung folgen, ihren Fal-tenwurf zeichnen, kontinuierlichvon einer Seite auf die andere über-gehen.

WeII-der Faltealn

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Zu den Maschinen, von denen Fölix Guattari gesprochen hat, gehören auch die sogenannten Rriegsmoschinen im Buch«Tousend Plateaus» von Gilles Deleuze und GiaXari. Mit diesem Ausdruck wollten"die beiden Auioren die schnelten, be-weglichen, nomadischen Systeme beschreiben, die steß auf dem Sprung sind und sich gegen die sogenannten Staaßmo-§chinen, das heisst die unheweglichen, nicht flexiblen, autoritöreÄ und bürokratischen"Sfsteme, riclhrcn. Damit erhaltendie lQieg-smaschinen eine Bedeutung, die dem Ilnbewussten in der Form, wie es Guattari aufgefasst hat, vergleichbar ist.Die Zeichnung stellt einen Wagen von Nomaden des Altai-Gebieß aus dem 5./6. lh.v.Chr. dor ind ist in «Tausänd plateaus»abgedruckt.

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MaschinischePluralität

PierreL6vyEine Maschine organisiert die TopoIogie der verschiedenen Ströme undzeichnet die Mäander der rhizoma-tischen Schaltungen. Sie ist eine ArtAttraktor, der die Welt um sich her-um krlimmt. Als aktiv andere Faltenfaltende Falte gehört die Maschineaufs Innigste zur Rückkehr des Em-pirischen auf das Transzendentale.In erster Annäherung kann eineMaschine aufgefasst werden ais zueiner physikalischen, biologischen,sozialen, technischen, semiotischen,psychischen usw. Schicht -zu-gehörig, aber in allgemeinerer Wei-se ist sie schichtenübergreifend, he.terogen und kosmopölitisch. OieMaschinen sind «das, wodurch» esSchichten gibt.Eine Maschine produziert nicht nuretwas in einer Welt, sondern sieträgt auch dazu bei, die Welt, in dersie funktioniert, zu produzieren, zureproduzieren und zu transformie-ren. Eine Maschine ist ein fügendesGefüge, sie tendiert dazu, sichzurückzuwenden, zurückzukom-men auf ihre eigenen Existenzbe.dingungen, um sie zu reproduzieren.Die Komposition von Maschinen ge-schieht weder ganzheitlich, nochme-chanisch, noch systemisch. Diesist unmöglich, denn in der neo.vita_listischen Perspektive, die hier dieunserige ist, wird jede Maschinevon einer Subjektivitdt oder einerelementaren protoJubiektivitlit be-lebt. Man hat sich also nicht «obiek-tive» oder «reale» (biologische, sozia-le, technische usw.) Maschinen vor-zustellen, und mehrere «subjektiveBlickwinkel» auf diese Realität.Tatsächlich würde eine rein «objek-tive» Maschine, die nicht von Subjektivität durchdrungen, belebt undgefüttert würde, nicht eine Sekundelang halten, dieses leere und hocke-ne Gehäuse würde sofort zerfallen.Die Subjektivität kann also nicht im«Blidcwinkel» oder in der «Repräsen-tation» bestehen, die sie instituiertund realisiert. Andererseits formtund eihiilt sich Subiektivität nur inverschiedenen maschinischen Gefü-gen, unter denen im rnenschlichenMassstab die biologischen, symboli-schen medialen und soziotechni-schen Gefüge einen zenkalen Platzeinnehmen.

Die gewohnten Auffassungen vonKomposition sind in Wirklichkeitnur auf die Probleme der reinen Ob'jektivität abgestimmt, deren systemische, informatische und §bernetisdre Modelle nichts anderes alsausgearbeitete Varianten sind. DieMaschinen sind aber weder rein ob'jektiv, noch rein subjektiv. Auch istihnen weder der Begriff des Elements oder des Individuums, nochder des Kollektivs angemessen, dadie Kollektion die Elementarität vor-aussetzt und mit ihr ein System bil-det. Wie ist also die Komposiaon derMaschinen zu denken?fede Maschine besitzt eine unter-schiedliche Affektqualität, eine an-dere Konsistenz,einen besonderenerfinderischen Horizont und ent-wirft ein singuläres Universum.Trotzdem tritt sie in Kompositionund Assoziation mit anderen Ma-schinen. Aber auf welche Weise?Die pluralen Maschinen unter ei-nem einzigen Projekt, unter einemeinzigen Konsistenzprinzip integrieren und gewaltsam vereinigenzu wollen, liefe vielleicht daraufhinaus, sie umzubringen und wür-de sicherlich ihren ontologischenReichtum schmälern. Eine «reale»Vereinheitlichung wäre zerstöre.risch, und eine begriffliche Verein-heitlichung würde das Verständnisund die Kenntnis des betrachtetenPhänomens vermindern. Es ist alsonotwendig, die maschinische Plura-lität als eine Pluralität ohne Ele,ment (unterhalb) und ohne Synthese oder Totalisierung (oberhalb) zurespektieren" Pluralität kann aber,eben weil sie keine Kompositionvon Elementen ist nicht gleichbedeutend mit Trennung sein. Es gibtwirklich eine Komposition oder-eine Korrespondenz der Maschinen.Diese paradoxen Verbindungenmüssen in jedem Einzelfall mit un-endlichem Feingefühl analysiertwerden. Wir stellen die Hypotheseauf, dass keinerlei allgemeina Prinzipder Komposition exßtiert, sondern imGegenteil jedes maschinische Gefü-ge örtlich seinen eigenen Kommu-nikations-, Korrespondenz- undKompossibilitätrnodus der Verfl ech-tung von Autopoiesis (Identitätspol)und von wechselseitiger Heterepoiesis (Assoziationspol) erfindet.

ffiologie derMaschinentr'6lix Guattari

Gehen wir vom einfachsten aus, vondem was ungefähr anerkannt ist:der ldee, dass das technische Obiektnicht auf seine Materialität begrenzt werden kann. Es gibt in der«tecltne» ontogenetische Elemente,Plan-, Konstruktions-Elemente, Elemente von sozialen Verhältnissen,die diese Technologien unterstüt-zen, ein Erkenntniskapital, ein Kapi-tal ökonomischer Verhältnisse undschliesslich eine ganze Reihe vonSchnittstellen, in die sich das tech-nische Obiekt einfügt. Alsgehendvon dieser Konzeption kann maneine Brücke schlagen von einertechnologischen Maschine moder-nen §ps zu den Werkzeugen oderden einzelnen Teilen der Maschine,und diese ebenso als Elemente auf-fassen, die sich miteinander kon-nektieren.Seit Leibnitz verfügt man über dasKonzept einer Maschine, die - wiernan heute sagen würde - fraktalmit anderen Maschinen verbundenist, die selbst und bis ins Unendlichehinein aus maschinischen Elemen-ten zusammengesetzt sind. Die Um-welt diesseits und jenseits der Ma-schine ist Teil der maschinischenGefüge. Der Eintritt in das Maschinen-Zeitalter wird durch eine gewis-se Glättung, durch die Uniformisierung eines Materials vorbereitet,wie zum Beispiel des Stahls, der ver-arbeitet, deterritorialisiert und uni-formisiert wird, um sich den ma-schinischen Formen anzupassen.Das Wesen der Maschine ist an dieVerfahren gebunden, die ihre Elemente, ihr Funktionieren, ihre Al.teritätsverhältnisse deterritorialisieren. Man hat VOn einern rmfngen!+Verhältnis der technischen Maschi-ne zu sprechen, das sie dazu bringt,sich dem Aussen zu öffnen.Neben diesem ontogenetischen Ele'

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ment gibt es eine an-dere Dimension, diephylogenetisch ist.Die technologischenMaschinen sind in ei-nem Phylum enthal-ten, in dem ihnen Ma-sdrinen vorausgehenund andere ihnennachfolgen. Sie üetenin Generationen auf -wie die Automobil-Generationen -, wGbei jede die Virtua-lität für anderezukünftige Maschi-nen eröffnet. Sie ent-werfen durch diesesoder jenes ihrer Ele-mente eine Verbin-dung mit allen ma-schinischen Filiatienen der Zukunft.Die beiden auf dastechnische Obiekt an-gewandten Kategori-en der Ontogeneseund der Phylogneseerlauben uns, eineBrücke zv. schlagenzu anderen maschini-schen Systemen, dieihrerseits nicht tech-nologisch sind.In der Geschichte derPhilosophie hält mandas Problem der Ma-schine allgemein füreinen zweitrangigenBestandteil einer all-gemeineren Frage, jener der «techne», derTechniken. Ich möch-te hier eine Umkeh-rung der Sichtweisevorschlagen, in derdas Problem derTech-nik zur Teilmenge ei-ner viel umfassende.ren maschinischenProblematik wird.Diese «Maschine» istauf das Aussen und

äut ifrre **.n-i"i*f* ü*rltl"Itgeöffnet und unterhält alle Artenvon Beziehungen zu sozialen Kom-ponenten und individuellen Subiek-tivitäten. Es geht also darum, dasKonzept der technologischen Ma-schine zu dem der maschinischen G*füge zl erweitern, eine Kategorie,die alles umfasst, was sich als Ma-schine auf den verschiedenen ontGlogischen Registern und Trägernentwickelt. Statt einer Oppositionzwischen dem Seln und der Maschi-ne, dem Sem und dem Subiekt, im-pliziert diese neue Konzeption derMaschine, dass das Setn sich qualita-tiv differenziert und in eine ontolo'gische Pluralität mündet, die selbstdie Verlängerung der Schöpfungs-kraft maschinischer Vektoren ist.Statt ein Sein als gemeinsamen Zugzu haben, der dem Ensemble des(sozialen, menschlichen, kosmischen) maschinischen Seienden in-newohnen würde. hätten wir alsoeine Maschine, die Referenzuniver-sen, ontologisch heterogene Univer-sen entwickelt, die durch geschicht-liche Wendungen, einen Faktor derUnumkehrbarkeit und Singularitätgekennzeichnet sind.Neben der Proto.Maschine desWerkzeugs und den technologi-schen Maschinen gibt es das Kon-zept der sozialen Maschine. DieStadt ist zum Beispiel eine Mega-Ma-schine. Sie funktioniertwie eine Ma-schine. Theoretiker der Linguistikwie Choms§ haben das KonzePtder abstrakten Maschine eingeführt, die die linguistischen oder

syntagmatischen Maschinen' um-fasst. Viele Biologen von heute spre'chen von der Maschine im Hinblickauf die lebendä Zelle, das Organ,die Individuierung und sogar densozialen Körper. Auch dort drängtsich das Konzept der Maschine im-mer weiter auf. Mathematische Ma-schinen, Turing-Maschinen ...Auch im. Bereich der Idealitäten -ein anderes Referenzuniversüm -wohnt man einer Erweiterung desKonzepts der Maschine bei. «Musik-maschine»: Viele zeitgenössischeMusiker entwickeln diesen Begriff.Logische Maschine. «Kosmische Ma-schine», denn bestimmte Theoreti-ker sagen, dass das Ökosystem derErde das Aquivalent eines Lebewe-sens bary. einer Maschine ist, in demweiten Sinne, den ich ihr hier ein-räume. Um auf eine Vergangenheitvon jetzt ruanzig fahren zurückzu-kommen, können wir an dieWunschmaschLnen erinnern, die dieTheorie der psychoanalytischen Par-tialobjekte - des Objekts «a» alsWunschmaschine - wiederaufneh-men, aber in der Form von Elemen-ten, die nicht auf Obiekte, die anden menschlichen KörPer angren-zen, reduzierbar sind. Im Gegenteil,es geht dabei um Objekte des Be'gehrens, Maschinen des Begehrens,um Subjekt{biekte des Begehrensund Vektoren partialer Subiektivierung, die sich weit jenseits des Kör-pers und der familiären Verhältnis-se auf die sozialen und kosmischenEnsembles sowie auf Referenzuni-versen aller Art hin öffnen.

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