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SEMINARARBEIT Seminar Migrationsrecht Juristische Fakultät Universität Basel Der Begriff der Verfolgung Eine Auslegung des asylrechtlichen Verfolgungsbegriffs im Lichte der Genfer Flüchtlingskonvention, des schweizerischen Asylgesetzes und des UNHCR Eingereicht bei: Prof. Dr. iur. Stephan Breitenmoser PD Dr. iur. Peter Uebersax Vorgelegt von: Andrina Frey Im tiefen Boden 75 4059 Basel [email protected] Matrikel-Nr.: 06-062-228 5. Semester Basel, Februar 2009

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SEMINARARBEIT

Seminar Migrationsrecht Juristische Fakultät Universität Basel

Der Begriff der Verfolgung Eine Auslegung des asylrechtlichen Verfolgungsbegriffs

im Lichte der Genfer Flüchtlingskonvention, des schweizerischen Asylgesetzes und des UNHCR

Eingereicht bei: Prof. Dr. iur. Stephan Breitenmoser PD Dr. iur. Peter Uebersax

Vorgelegt von: Andrina Frey

Im tiefen Boden 75

4059 Basel

[email protected]

Matrikel-Nr.: 06-062-228

5. Semester

Basel, Februar 2009

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I

Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis I Literaturverzeichnis II Materialienverzeichnis III Rechtsquellenverzeichnis IV Verzeichnis der verwendeten Entscheide V Abkürzungsverzeichnis VI I. Einleitung 1

II. Der internationale Flüchtlingsschutz 3

1. Das Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) 3 2. Die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 4

3. Der Flüchtlingsbegriff 7 3.1 Aufenthalt ausserhalb des Heimat- oder Herkunftslandes 8 3.2 Bruch der Beziehungen mit dem Heimat- oder Herkunftsland 9 III. Das Konzept der Verfolgung 9

1. Intensität der Verfolgung bzw. der ernsthaften Nachteile 9 2. Begründete Furcht 10 3. Urheberschaft der Verfolgung 12 3.1 Zurechenbarkeitstheorie 14 3.2 Schutztheorie 15

3.3 Auslegung 15 3.3.1 Wortlaut 15

3.3.2 Zusammenhang 16 3.3.3 Sinn und Zweck 16 3.3.4 Geschichte 17

3.4 Kurze Würdigung der Vorteile der heutigen Befolgung der Schutztheorie 18

4. Gezielte Verfolgung 19 5. Die Verfolgungsmotivation 21 5.1 Die Relevanz der Perspektive des Verfolgers 22 5.2 Subjektive oder objektiv festellbare Verfolgungsmotivation 22 5.3 Verfolgungsmotive 23

5.3.1 Rasse 23 5.3.2 Religion 23 5.3.3 Nationalität 24 5.3.4 Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe 24 5.3.5 Politische Anschauung 25 6. Innerstaatliche Schutzalternative 25

7. Exkurs: Frauenspezifische Verfolgung 26

IV. Fazit 28

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II

Literaturverzeichnis

BINDER, ANDREA, Frauenspezifische Verfolgung vor dem Hintergrund einer

menschenrechtlichen Auslegung des Flüchtlingsbegriffs der Genfer Flüchtlingskonvention unter

besonderer Berücksichtigung der schweizerischen, deutschen, kanadischen und amerikanischen

Flüchtlings- und Asylpraxis, Diss. Basel/Genf/München 2001. (Zitiert: "BINDER")

BRYNER, ANGELA, § 27 Die Frau im Migrationsrecht, in: Uebersax, Peter u.a. (Hg.),

Ausländerrecht: Eine umfassende Darstellung der Rechtsstellung von Ausländerinnen und

Ausländern in der Schweiz – Von A(syl) bis Z(ivilirecht), 2. Aufl., Basel 2009, S. 1379-1402.

(Zitiert: "BRYNER")

BUNDESAMT FÜR MIGRATION, Handbuch Asylverfahren, Kap. D §1 Der Flüchtlingsbegriff,

Bern 2008. (Zitiert: "BFM, Handbuch")

EPINEY, ASTRID u.a., Die Anerkennung als Flüchtling im europäischen und schweizerischen

Recht: Ein Vergleich unter Berücksichtigung des völkerrechtlichen Rahmens, in: Jusletter 26.

Mai 2008. (Zitiert: "EPINEY")

GATTIKER, MARIO, Das Asyl- und Wegweisungsverfahren: Asylgewährung und Wegweisung

nach dem Asylgesetz vom 26. 6. 1998, 3. Aufl., Bern 1999. (Zitiert: "GATTIKER")

GOODWIN-GILL, GUY S./ McADAM, JANE, The Refugee in International Law, 3rd ed.,

Oxford 2007. (Zitiert: "GOODWIN-GILL/McADAM")

HAILBRONNER, KAY, Kompatibilität des Schweizer Asylverfahrens mit

Harmonisierungsbestrebungen im Asylrecht der Europäischen Union, Zürich 2000.

(Zitiert: "HAILBRONNER")

HATHAWAY, JAMES, The Law of Refugee Status, Toronto/Vancouver 1991.

(Zitiert: "HATHAWAY")

KÄLIN, WALTER, Grundriss des Asylverfahrens, Basel/Frankfurt am Main 1990.

(Zitiert: "KÄLIN, Grundriss")

KÄLIN, WALTER, Nichtstaatliche Verfolgung und staatliche Schutzunfähigkeit, in: ASYL

2001/3, S. 3-12. (Zitiert: "KÄLIN, Nichtstaatliche Verfolgung")

KÄLIN, WALTER, Gender-Related Persecution, in: Chetail, Vincent/Gowlland-Debbas, Vera

(ed.), Switzerland and the International Protection of Refugees, The Hague/London/New York

2002, S. 111-128. (Zitiert: "KÄLIN, Gender-Related Persecution")

LUTERBACHER, CHRISTA, Die flüchtlingsrechtliche Behandlung von Dienstverweigerung

und Desertion, Diss. Basel/Genf/München 2004. (Zitiert: "LUTERBACHER")

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III

MARUGG, MICHAEL, Völkerrechtliche Definitionen des Ausdruckes „Flüchtling“, ein Beitrag

zur Geschichte unter Berücksichtigung sogenannter de-facto-Flüchtlinge, Diss. Basel/Frankfurt

am Main 1990. (Zitiert: "MARUGG")

SCHORR, MICHAEL, Der Wandel der humanitären Aktion internationaler Organisationen: Die

institutionellen sowie materiell-rechtlichen Konsequenzen dargestellt am Beispiel des IKRK,

UNHCR und UNHCHR, Diss. Hamburg 2004. (Zitiert: "SCHORR")

STÖCKLI, WALTER, § 11 Asyl, in: Uebersax, Peter u.a. (Hg.), Ausländerrecht: Eine

umfassende Darstellung der Rechtsstellung von Ausländerinnen und Ausländern in der Schweiz –

Von A(syl) bis Z(ivilirecht), 2. Aufl., Basel 2009, S. 521-588. (Zitiert: "STÖCKLI")

TÜRK, VOLKER, Das Flüchtlingshochkommissariat der Vereinten Nationen (UNHCR), Diss.

Berlin 1992. (Zitiert: "TÜRK, Flüchtlingshochkommissariat")

TÜRK, VOLKER, Non-State Agents of Persecution, in: Chetail, Vincent/Gowlland-Debbas,

Vera (ed.), Switzerland and the International Protection of Refugees, The Hague/London/New

York 2002, S. 95-109. (Zitiert: "TÜRK, Non-State Agents")

Materialienverzeichnis

Schweizerischer Bundesrat

Botschaft zum Asylgesetz und zu einem Bundesbeschluss betreffend den Rückzug des

Vorbehaltes zu Artikel 24 des Übereinkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom

31.August 1977, BBl. 1977 III 105-155.

Botschaft zur Totalrevision des Asylgesetzes sowie zur Änderung des Bundesgesetzes über

Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer vom 4. Dezember 1995, BBl. 1996 II 1-183.

Botschaft zur Änderung des Asylgesetzes, zur Änderung des Bundesgesetzes über die

Krankenversicherung sowie zur Änderung des Bundesgesetzes über die Alters- und

Hinterlassenenversicherung, BBl. 2002, S. 6845-6937.

Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR)

UNHCR, Die Genfer Konvention von 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge: Ihre

Bedeutung in der heutigen Zeit, Vertretung in Deutschland. (Zitiert: "UNHCR, Bedeutung")

UNHCR, An Introduction to the International Protection of Refugees (RLD 1), June 1992.

(Zitiert: "UNHCR, International Protection")

UNHCR, Internationaler Flüchtlingsschutz: Auslegung von Artikel 1 des Abkommens von 1951

über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, Genf April 2001. (Zitiert: "UNHCR, Auslegung")

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IV

UNHCR, Guidelines on International Protection: Gender-Related Persecution within the context

of Article 1A(2) of the 1951 Convention and/or its 1967 Protocol relating to the Status of

Refugees, May 7, 2002, UN Doc. HCR/GIP/02/01. (Zitiert: "UNHCR, Gender-Related

Persecution")

UNHCR, Handbuch über Verfahren und Kriterien zu Feststellung der Flüchtlingseigenschaft,

Genf 1979, Neuauflage: UNHCR Österreich 2003. (Zitiert: "UNHCR, Handbuch")

UNHCR, The Statistical Yearbook 2007: Trends in Displacement, Protection and Solutions,

Geneva 2008. (Zitiert: "UNHCR, Yearbook")

UNHCR-EXCOM: Note on International Protection, June 30, 2008, UN Doc. A/AC.96/1053.

(Zitiert: "UNHCR-EXCOM")

Rechtsquellenverzeichnis

Schweizer Recht

- Asylgesetz vom 26. Juni 1998, SR 142.31

- Asylverordnung 1 vom 11. August 1999 über Verfahrensfragen, SR142.311

Internationale Abkommen

- Abkommen vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, SR 0.142.30.

- Abkommen zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Europäischen

Gemeinschaft über die Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Staates

für die Prüfung eines in einem Mitgliedstaat oder in der Schweiz gestellten Asylantrags

vom 26.10.2004, BBl. 2004, S. 6479, ABl. 2008 L 53 vom 27.02.2008, S. 5.

- Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 16. Dezember 1966, SR

0.103.2.

- Internationales Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung

vom 7. März 1966, SR 0.104.

- Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und

Grundfreiheiten, SR 0.101.

- Protokoll vom 31. Januar 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, SR 0.142.301.

- Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau vom 18.

Dezember 1979, SR 0.108.

- Wiener Übereinkommen vom 23. Mai 1969 über das Recht der Verträge, SR 0.111.

Richtlinie der EG

- Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die

Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge

oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt

des zu gewährenden Schutzes, ABl. 2004 L 304 vom 30.09.2004, S. 12.

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V

Verzeichnis der verwendeten Entscheide

Entscheidungen und Mitteilungen der Schweizerischen Asylrekurskommission (1993-2006)

EMARK 1993 Nr. 10 EMARK 2000 Nr. 2

EMARK 1994 Nr. 5 EMARK 2000 Nr. 15

EMARK 1995 Nr. 1 EMARK 2005 Nr. 7

EMARK 1995 Nr. 2 EMARK 2006 Nr. 1

EMARK 1996 Nr. 1 EMARK 2006 Nr. 18

EMARK 1997 Nr. 14 EMARK 2006 Nr. 32

EMARK 1998 Nr. 16

Entscheide des Schweizerischen Bundesverwaltungsgerichts (ab 2007)

BVGE 2007/31

BVGE 2008/2

BVGE 2008/4

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VI

Abkürzungsverzeichnis

ABl. Amtsblatt der Europäischen Union

Abs. Absatz/Absätze

ARK Asylrekurskommission

Art. Artikel

ASYL Schweizerische Zeitschrift für Asylrecht und -praxis

AsylG Asylgesetz vom 26. Juni 1998

AuG Ausländergesetz vom 16. Dezember 2005

BBl. Bundesblatt

BFM Bundesamt für Migration

BGG Bundesgerichtsgesetz vom 17. Juni 2005

BVGE Entscheide des Schweizerischen Bundesverwaltungsgerichts

BV Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April

1999

Diss. Dissertation

E. Erwägung

Ebd. eben da

EMARK Entscheidungen und Mitteilungen der Schweizerischen

Asylrekurskommission

EMRK Europäische Menschenrechtskonvention vom 4. November 1950

etc. et cetera

EU Europäische Union

EXCOM Executive Committee des UNHCR

f./ff. (fort)folgende

GFK Genfer Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli

1951

IRO International Refugee Organization

lit. litera

Nr. Nummer

S. Seite(n)

sog. so genannt

SR Systematische Rechtssammlung des Bundesrechts der Schweiz

UN United Nations

UNHCR Office of the United Nations High Commissioner for Refugees

UNO-Pakt II Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 16.

Dezember 1966

u.U. unter Umständen

vgl. vergleiche

WVK Wiener Übereinkommen vom 23. Mai 1969 über das Recht der Verträge

Ziff. Ziffer

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1

I. Einleitung

Im alltäglichen Leben erhalten Menschen auf der Flucht spontan Sympathie. In der

Alltagssprache wird der Ausdruck des Flüchtlings verwendet, um eine Person zu beschreiben, die

aus einem Grund flüchten musste, für den sie selber nicht verantwortlich ist. Die Flucht kann

unter anderem aufgrund von Verfolgung, öffentlichen Unruhen, Bürgerkriegen, Hungersnot,

Wirtschaftskrisen oder Umweltzerstörung erfolgen.

In der juristischen Beurteilung muss der Begriff der Verfolgung jedoch anhand differenzierter

Kriterien ausgelegt werden. Im Asylrecht erachtet man eine Person als Flüchtling, wenn sie aus

spezifischen Gründen gezwungen wurde ihr Land zu verlassen, sich ausserhalb des Heimat- oder

Herkunftslandes befindet und dieses Land ihr keinen Schutz gewährt oder gewähren kann.

Der Begriff «Flüchtling» kann unter verschiedenen Aspekten betrachtet werden: soziologisch,

politisch und rechtlich. Die soziologische Perspektive verfolgt einen empirischen Ansatz, der die

aktuelle Flüchtlingsrealität berücksichtigt. Die politische Betrachtung befasst sich mit Tendenzen,

Forderungen und Handhabungen der jeweiligen Regierung in der Asylpolitik. Die juristische

bzw. rechtliche Beurteilung erfolgt unter Berücksichtigung nationaler und internationaler

Rechtsetzung und Rechtsprechung. Die verschiedenen Gesichtspunkte sind miteinander

verknüpft und zusammenhängend – basierend auf soziologischen Wahrnehmungen bilden sich

politische Tendenzen, die sich letztlich in rechtlichen Massnahmen widerspiegeln können. In der

vorliegenden Arbeit richtet sich der Fokus auf die rechtliche Perspektive; die juristische

Beurteilung steht im Zentrum.

In den fast sechzig Jahren, die seit der Entstehung der Genfer Flüchtlingskonvention vom 28. Juli

1951 (GFK) vergangen sind, hat sich die Flüchtlingsrealität gewandelt – dieser Wandel ist nicht

spurlos am asylrechtlichen Flüchtlings- und dem darin enthaltenen Verfolgungsbegriff

vorbeigegangen. Den veränderten Situationen ist durch eine der jeweiligen Zeit angepassten

Auslegung Rechnung zu tragen.

Während es sich bei den Flüchtlingsströmen zur Entstehungszeit der Flüchtlingskonvention fast

ausschliesslich um europäische Flüchtlinge handelte, kommen heutige Flüchtlinge vermehrt aus

afrikanischen und asiatischen Staaten.1 Diese Feststellung ist nur eine von verschiedenen

Veränderungen, die sich in den letzten sechzig Jahren im Bereich des Flüchtlingsschutzes

vollzogen haben.

Die vorliegende Arbeit fragt nach der aktuellen Handhabung des Verfolgungsbegriffs innerhalb

der schweizerischen Asylpraxis unter Berücksichtigung der Genfer Flüchtlingskonvention von

1 Siehe Bundesamt für Statistik: Personen im Asylprozess Ende 2007: 14‘335 aus Afrika; 11‘657 aus Asien; 13‘580

aus Europa (v.a. aus Südosteuropa);

http://www.bfs.admin.ch/bfs/portal/de/index/themen/01/07/blank/data/01.html (Zuletzt besucht am 9. Januar

2009).

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2

1951. Im Zentrum steht dabei das Konzept der Verfolgung als ein Teilelement des

Flüchtlingsbegriffs. Die weiteren Teilbereiche des Flüchtlingsbegriffs werden nur kurz skizziert.

Die Beendigungs- und Ausschlussklauseln der GFK2 sowie der konkrete Ablauf des

schweizerischen Asylverfahrens werden an dieser Stelle nicht näher behandelt.3

Das Asylrecht hat in den letzten Jahren viele Revisionen und Umstrukturierungen erfahren; zu

vielen Gesetzesbestimmungen gibt es noch keine oder wenn, dann nur eine sehr spärliche

Gerichtspraxis.4 Dies bedeutet im Hinblick auf die vorliegende Arbeit, dass vor allem ältere

Entscheide aber auch vorhandene neue berücksichtigt werden – Entscheide der ehemaligen

Asylrekurskommission (ARK) und des neu eingesetzten Bundesverwaltungsgerichts, das seit

dem 1. Januar 2007 die Arbeit der ARK übernommen hat.5

Die Praxis der Schweiz kann allerdings nicht isoliert betrachtet werden. Die Auslegung des

schweizerischen Asylgesetzes hat im Lichte der Auslegung der Flüchtlingskonvention durch die

Staaten und das UNHCR zu geschehen. In diesem Sinne ist das Eingehen auf die Genfer

Flüchtlingskonvention unabdingbar und soll in der vorliegenden Arbeit einen zentralen

Stellenwert erhalten. Für die Auslegung zu berücksichtigen sind neben dem Abkommen über die

Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 auch das dazugehörende Protokoll vom 31.

Januar 1967 sowie Stellungnahmen des UNHCR.

Die Schweiz hat durch die Assoziierung an das Dublin-System6 Interesse signalisiert an einer

Harmonisierung des Asylverfahrens in Europa. Mit dieser Massnahme soll unter anderem eine

sicherheitspolitische Isolation der Schweiz innerhalb Europas verhindert werden. Eine

Auseinandersetzung mit den Harmonisierungsbestrebungen der EU würde den Rahmen dieser

Arbeit jedoch sprengen und kann deshalb hier nicht vorgenommen werden.

In einem ersten Teil der Arbeit wird der flüchtlingsrechtliche Rahmen gesteckt, in dem sich der

Verfolgungsbegriff bewegt; das UNO Hochkommissariat soll dabei anhand seiner

Entstehungsgeschichte, seinen Aufgaben und Funktionen kurz vorgestellt werden. Weiter wird

die Genfer Flüchtlingskonvention im Allgemeinen behandelt, insbesondere wird auf ihren Sinn

und Zweck eingegangen. Damit einher geht die Behandlung des Flüchtlingsbegriffs, der die

wichtigste Bestimmung der Konvention darstellt. In diesem Zusammenhang soll auch der Bezug

2 Siehe dazu Art. 1C und 1F der GFK.

3 Für weiterführende Informationen zu berücksichtigen: STÖCKLI, Asyl, S. 555 ff.; GATTIKER, Das Asyl- und

Wegweisungsverfahren; sowie als allgemeinen Überblick: BFM (Hg.), Handbuch Asylverfahren, Bern 2008,

http://www.bfm.admin.ch/bfm/de/home/themen/asyl/asylverfahren/handbuch_asylverfahren.html (Zuletzt

besucht am 29.1.2009). 4 Vgl. STÖCKLI, Asyl, S. 525.

5 Das Bundesverwaltungsgericht entscheidet endgültig (vgl. Art. 105 AsylG); eine Beschwerde ans Bundesgericht ist

nicht möglich (vgl. Art. 83 lit. d BGG). 6 Abkommen vom 26. Oktober 2004 zwischen der Europäischen Gemeinschaft und der Schweizerischen

Eidgenossenschaft über die Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Staates für die Prüfung eines

in einem Mitgliedstaat oder in der Schweiz gestellten Asylantrags, BBl. 2004, S. 6479.

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zum schweizerischen Asylrecht hergestellt werden, das sich stark an der Flüchtlingskonvention

orientiert. In einem zweiten Teil wird ausführlich das Konzept der Verfolgung behandelt. Dabei

werden die einzelnen Elemente vorgestellt, aus denen sich der Verfolgungsbegriff

zusammensetzt. Neben grundlegenden Teilbereichen, wie z.B. der Verfolgungsintensität oder der

begründeten Furcht, soll der Aspekt der Urheberschaft der Verfolgungsmassnahme genauer

untersucht werden. Anhand der Kontroversen, die bis vor Kurzem aus diesem Element

resultierten, lässt sich durch Auslegung beispielhaft der Zweck der Genfer Flüchtlingskonvention

aufzeigen und welche Grundideen sich dahinter befinden.

II. Der internationale Flüchtlingsschutz

1. Das Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR)

Flüchtlinge gibt es seit Anbeginn der Weltgeschichte.7 Das Verantwortungsbewusstsein der

internationalen Gemeinschaft diesen Flüchtlingen Schutz zu gewähren und ihnen bei der Lösung

ihrer Probleme zur Seite zu stehen, nimmt allerdings erst in den 1920er Jahren ihren Anfang. Der

damalige Völkerbund nahm sich 1921 dem Schicksal der Vertriebenen an. Nach mehreren

Institutionalisierungsversuchen über einen Zeitraum von rund zwanzig Jahren wurde das

Flüchtlingsproblem 1946 als ein dringliches Thema in der Agenda der Generalversammlung der

neu gegründeten UNO berücksichtigt. Als Resultat dieser Diskussionen wurde die IRO

(International Refugee Organization), der Vorläufer des heutigen UNHCR, am 15. Dezember

1946, als spezialisiertes Unterorgan der Vereinten Nationen geschaffen. Sie sollte sich des

Flüchtlingsproblems annehmen, das durch den Zweiten Weltkrieg und die Errichtung der

kommunistischen Regimes in Osteuropa verursacht wurde. Es war die erste Organisation, die sich

in umfassender Weise mit allen Aspekten des Flüchtlingsproblems auseinandersetzte. Der

Aufgabenbereich schloss die Erfassung der Flüchtlinge, die Statusbestimmung, den rechtlichen

und politischen Schutz, die Rückführung und die Wiederansiedlung mit ein.8

Ausgehend von der Annahme, die Flüchtlingsthematik sei ein vorübergehendes Problem, war die

IRO von vornherein als eine temporäre Organisation gedacht und verfügte deshalb nur über ein

befristetes Mandat. Sie führte ihre Tätigkeit bis Anfangs 1952 aus. 9 Trotz Fortschritten

vermochte es die IRO nicht, das Flüchtlingsproblem in dieser Zeit zu lösen.

Erst durch die Gründung des UNO-Hochkommissariats für Flüchtlinge (United Nations High

Commissioner for Refugees; UNHCR) wurden die Entwicklungen in Richtung eines universellen

7 Siehe etwa den alttestamentlichen Mythos des flüchtenden Kain (Genesis 4, 12), dem Gott Schutz gewährt vor

willkürlicher Verfolgung (Vers 15). 8 Vgl. UNHCR, International Protection, S. 2 ff.

9 Vgl. TÜRK, Flüchtlingshochkommissariat, S. 20.

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4

Flüchtlingsschutzes weiter vorangetrieben.10 Das UNHCR wurde mit dem Ziel eingesetzt,

internationalen Schutz zu gewährsleisten und langfristige Lösungen für das Flüchtlingsproblem

zu suchen. Entsprechend den Statuten vom 14. Dezember 195011 soll sich die Ausübung der

Tätigkeit des UNHCR unpolitisch ausgestalten. Das bedeutet, dass es bemüht ist, sich in

Krisensituationen unparteiisch zu geben und sich an humanitären und sozialen Bedürfnissen statt

an politischen Zielen orientiert.12

Der Aufgabenbereich des UNHCR hat sich in den letzten Jahrzehnten gewandelt. Konzentrierte

sich die Genfer Flüchtlingsbehörde in der Vergangenheit vor allem auf den Schutz des Asylrechts

und des Rechts auf Non-Refoulement, so ist sie heute insbesondere mit Flüchtlingsströmen

aufgrund von internen Konflikten und den humanitären Folgen konfrontiert. Der

Arbeitsschwerpunkt liegt verstärkt im Bereich der Hilfestellung und der Mitwirkung vor Ort

(«assistance») und nicht mehr hauptsächlich im Bereich des Schutzes («protection»).13

Die Aufgaben des UNHCR, also der Schutz und die Unterstützung von Flüchtlingen und anderen

notleidenden Personen, stützen sich primär auf der Anwendung der Flüchtlingskonvention von

195114, auf die Statuten des UNHCR sowie zu einem grossen Teil auf die Beschlüsse der UN-

Generalversammlung und des Exekutivkomitees.15

Dem UNHCR kommt bei der Auslegung der Flüchtlingskonvention eine besondere Rolle zu. Die

Stellungnahmen und Auslegungsleitlinien sind für die Konventionsstaaten rechtlich nicht

verbindlich. Mit Art. 35 Abs. 1 GFK aber haben die vertragsschliessenden Staaten das UNHCR

mit der Durchführung der Bestimmungen der Konvention beauftragt. Gleichzeitig ergibt sich

daraus die Verpflichtung, mit dem UNHCR zusammenzuarbeiten. Die Schweiz statuiert in der

seit 1998 neu aufgenommenen Bestimmung von Art. 113 AsylG die Verpflichtung zur

Unterstützung der Tätigkeit internationaler Hilfswerke und zur Zusammenarbeit mit dem

UNHCR zusätzlich im Landesrecht.16

2. Die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951

Aufgrund des ungelösten Flüchtlingsproblems nach dem Zweiten Weltkrieg entstand ein

Bewusstsein für die Notwendigkeit, einen völkerrechtlichen Vertrag auszuhandeln, der in

allgemeiner Weise definierte, wer als Flüchtling zu betrachten war und welche Rechtsstellung

10

Vgl. BINDER, S. 9 f. 11

Statute of the Office of the UN High Commissioner for Refugees, December 14, 1950, UNGA-Res. 428 V. 12

Vgl. GOODWIN-GILL/McADAM, S. 20. 13

Vgl. SCHORR, S. 86 ff. 14

Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951, SR 0.142.30. Bisher von 144 Staaten

ratifiziert (Stand: 1. Dezember 2006). 15

Vgl. SCHORR, S. 75. 16

Vgl. LUTERBACHER, S. 26 f. Einige Autoren sprechen in diesem Zusammenhang von einer sog.

„Auslegungsautorität“ des UNHCR.

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diesen Personen zukam. Anstatt nur Ad-hoc-Vereinbarungen zur Regelung einzelner

Flüchtlingssituationen zu treffen, wollte man ein Übereinkommen schaffen, das universellen

Charakter besass. Das Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge wurde am 28. Juli

1951 auf einer Bevollmächtigtenkonferenz der Vereinten Nationen angenommen und trat am 21.

April 1954 in Kraft.17

Die Ausarbeitung der Konvention gestaltete sich teilweise als schwierig, da sie geprägt war von

der Uneinigkeit zwischen den beteiligten Staaten. Unklar war in erster Linie, wie eng oder wie

weit, wie bestimmt oder wie vage der Flüchtlingsbegriff gefasst werden sollte. Uneinig waren

sich die beteiligten Staaten auch darin, wie sich der räumliche Anwendungsbereich ausgestalten

sollte. In einem ersten Kompromiss sollte die Konvention auf Ereignisse in Europa vor 1951

begrenzt werden – diesem Kompromiss folgte insbesondere Kritik seitens von Pakistan, China

und Mexico, die diese Einschränkung als zu eurozentriert und zu wenig zukunftsoffen

betrachteten. Schliesslich wurde eine Einigung darin gefunden, dass jeder Staat eine Erklärung

abgeben sollte, ob der Anwendungsbereich von seinem Standpunkt aus allgemeingültig

anzuwenden sei oder ob dieser auf in Europa eingetretene Ereignisse beschränkt werden sollte.18

In Art. 1A Abs. 2 GFK findet sich bis heute die Formulierung „Ereignisse, die vor dem 1. Januar

1951 eingetreten sind“. Die zeitliche Klausel wurde von Anfang an relativ weit ausgelegt, so dass

sie durch das Protokoll von 1967 gänzlich aufgehoben wurde. Das Protokoll von 1967 wurde mit

dem Grundgedanken verfasst, dass es wünschenswert sei, allen Flüchtlingen im Sinne der

Konvention ohne Rücksicht auf den Stichtag des 1. Januar 1951 und die geographische

Begrenzung die gleiche Rechtsstellung zu gewähren. Der Wirkungsbereich der Konvention

wurde durch das Protokoll insbesondere deshalb erweitert, weil eingesehen werden musste, dass

das Problem der Vertreibung globale Ausmasse annahm.

Mit der Schaffung der Genfer Flüchtlingskonvention im Jahre 1951 und dem ergänzenden

Protokoll von 1967 entstand ein internationales Instrument, das dem einzelnen Flüchtling in

völkerrechtlicher Hinsicht zwar kein subjektives Recht auf Schutz gewährt, ihm jedoch einen

Status verleiht, der durch ein internationales Organ, dem Hochkommissariat für Flüchtlinge,

garantiert und überwacht wird.19 Die Flüchtlingskonvention verankert in diesem Sinne kein Recht

auf Asylgewährung, sondern definiert viel mehr einige Verpflichtungen, die die Mitgliedstaaten

in Bezug auf Flüchtlinge zu beachten haben.

17

Vgl. UNHCR, Handbuch, §5, S. 3 f. 18

Vgl. BINDER, S. 11 f. 19

Vgl. SCHORR, S. 82.

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6

Die Konvention ist das Resultat von unermüdlichen Bemühungen, einigen Mindeststandards und

grundlegenden Rechten für Flüchtlinge weltweite Anerkennung zu verschaffen. In diesem Sinne

gilt das Abkommen als „Grundstein des internationalen Flüchtlingsschutzsystems“20.

Dieses Schutzsystem beruht unter anderem auf folgenden Grundideen: (1) Flüchtlinge sollen

nicht an Orte zurückgeschickt werden, wo sie einer Verfolgung ausgesetzt sind oder eine solche

droht (Non-Refoulement-Prinzip); (2) allen Flüchtlingen ist ohne Unterschied und

Diskriminierungen Schutz zu gewähren; (3) die Flüchtlingshilfe hat einen humanitär-sozialen

Charakter und sollte darum keinen Anlass für zwischenstaatliche Spannungen geben; (4) aus der

Gewährung des Asylrechts können sich nicht zumutbare, schwere Belastungen für einzelne

Länder ergeben – eine befriedigende Lösung des Problems kann ohne internationale

Zusammenarbeit nicht erreicht werden; (5) für eine koordinierte Bewältigung des

Flüchtlingsproblems ist die Zusammenarbeit der Staaten mit dem Hochkommissariat für

Flüchtlinge unerlässlich.21

Die Genfer Flüchtlingskonvention prägt das schweizerische Asylverfahren massgeblich. Das

Abkommen, dem die Schweiz 1955 beigetreten ist, verpflichtet die Staaten nicht zur

Asylgewährung, sondern regelt im Wesentlichen die Rechtsstellung des Flüchtlings nach der

Aufnahme. Auch wenn kaum verfahrensrechtliche Bestimmungen oder konkrete Regeln zur

Asylgewährung darin enthalten sind, so sind doch die Definition des Flüchtlingsbegriffs (Art. 1

GFK) und das Non-Refoulement-Prinzip (Art. 33 GFK) von zentraler Bedeutung für das

nationale Recht.22

Bei der Frage, inwiefern die Schweiz an die völkerrechtliche Konvention gebunden ist, ist primär

von Art. 5 Abs. 4 BV auszugehen, gemäss dem Bund und Kantone das Völkerrecht zu beachten

haben. Den Fall eines Konflikts zwischen einer völkerrechtlichen und einer landesrechtlichen

Bestimmung regelt die Verfassung jedoch nicht; das Verhältnis zwischen Landesrecht und

Völkerrecht ist nach wie vor umstritten.23 Grundsätzlich geht dabei aber das Völkerrecht vor. Für

das Bundesgericht und andere rechtsanwendende Behörden sind gemäss Art. 190 BV sowohl

Bundesgesetze als auch das Völkerrecht massgebend.24

Wichtig für das Flüchtlingsrecht ist in erster Linie, dass die Schweiz nicht hinter die

Mindestgarantien der GFK zurückfallen darf. Zu beachten ist dabei insbesondere, dass Personen

nicht in denjenigen Staat zurückgeschoben werden dürfen, in dem sie verfolgt werden oder

20

UNHCR, Bedeutung, S. 1. 21

Vgl. UNHCR, Bedeutung, S. 1 f.; Siehe auch Präambel des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge. 22

Vgl. KÄLIN, Grundriss, S. 17; GOODWIN-GILL/McADAM, S. 53 f. 23

Unumstritten ist jedoch der Vorrang des zwingenden Völkerrechts gegenüber dem Landesrecht. 24

In seiner neueren Rechtsprechung bestätigt das Bundesgericht den Grundsatz des Vorrangs von Völkerrecht vor

Landesrecht ohne Vorbehalte: BGE 125 II 417, S. 424 f. und BGE 128 IV 201, S. 205 f.

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werden könnten. Darüber hinaus steht es der Schweiz grundsätzlich frei, je nach Rechtsfrage

einen weitergehenden Flüchtlingsbegriff zu verwenden.25

3. Der Flüchtlingsbegriff

Das Schweizer Asylrecht stützt sich in Bezug auf den Flüchtlingsbegriff zum einen auf die in Art.

1A Abs. 2 verankerte Legaldefinition der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 in Verbindung

mit deren Protokoll von 1967, zum anderen auf Art. 3 Abs. 1 und 2 des schweizerischen

Asylgesetzes.26

Als „Flüchtling“ im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention gilt jede Person, die

„[…] aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich ausserhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will; oder die sich als Staatenlose infolge solcher Ereignisse ausserhalb des Landes befindet, in welchem sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatte, und nicht dorthin zurückkehren kann oder wegen der erwähnten Befürchtungen nicht dorthin zurückkehren will.“

Gemäss Art. 3 Abs. 1 und 2 des Asylgesetzes werden Flüchtlinge als Personen definiert,

„die in ihrem Heimatstaat oder im Land, in dem sie zuletzt wohnten, wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Anschauungen ernsthaften Nachteilen ausgesetzt sind oder begründete Furcht haben, solchen Nachteilen ausgesetzt zu werden.“

Die ernsthaften Nachteile, die in ihrer Bedeutung dem völkerrechtlichen Begriff der Verfolgung

gleichgesetzt werden können,27 werden umschrieben als Gefährdung des Leibes, des Lebens oder

der Freiheit. Zudem werden auch Massnahmen, die einen unerträglichen psychischen Druck

bewirken, als Nachteile im Sinne des Gesetzes anerkannt. Ausdrückliche Erwähnung findet der

Grundsatz, dass den frauenspezifischen Fluchtgründen Rechnung zu tragen ist.

Zusammengefasst lassen sich folgende Elemente aufführen, die für eine Flüchtlingsanerkennung

kumulativ erfüllt sein müssen.

Als Flüchtling gilt, wer

- ausländischer Nationalität ist, - sich ausserhalb seines oder ihres Heimat- oder Herkunftslandes befindet, - mit diesem Land gebrochen hat, - in diesem Land aus einem bestimmtem Grund verfolgt wird oder begründete Furcht vor

einer Verfolgung hat,

25

Vgl. KÄLIN, Grundriss, S. 26. 26

Vgl. STÖCKLI, S. 525. 27

Vgl. LUTERBACHER, S. 23. Die Autorin weist darauf hin, dass die Bestimmung zum Refoulementverbot in Art. 33

GFK mit der Formulierung „in denen sein Leben oder seine Freiheit (…) bedroht sein würde“ eine Umschreibung des

Verfolgungsbegriffs bietet.

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- den Schutz diese Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder aufgrund der begründeten Furcht nicht annehmen will.28

Wer diese Merkmale des Flüchtlingsbegriffs erfüllt, ist ein Flüchtling im materiellen Sinne. Denn

„nicht auf Grund der Anerkennung wird er ein Flüchtling, sondern die Anerkennung erfolgt, weil

er ein Flüchtling ist.“29 Im Gegensatz dazu gelten als Flüchtlinge im formellen Sinne diejenigen

Ausländerinnen und Ausländer, die im Asylverfahren als Flüchtlinge anerkannt worden sind. Ein

Recht auf Asyl entsteht erst bei Erfüllung aller gesetzlichen Voraussetzungen. Neben dem

Vorhandensein der in Art. 3 definierten (materiellen) Flüchtlingseigenschaft dürfen zusätzlich

keine Asylausschlussgründe gemäss Art. 52, 53 oder 54 AsylG vorliegen.30

Die Formulierung des Flüchtlingsbegriffs in Art. 3 AsylG deckt sich im Wesentlichen mit der

völkerrechtlichen Umschreibung des Flüchtlingsbegriffs der Genfer Flüchtlingskonvention.

Abweichungen im Wortlaut von Art. 3 AsylG sollen nach dem Willen des Gesetzgebers primär

einer sprachlichen Verdeutlichung dienen.31 Bei der Anwendung von Art. 3 AsylG ist demnach

die Flüchtlingskonvention respektive deren Auslegung zu berücksichtigen.

3.1 Aufenthalt ausserhalb des Heimat- oder Herkunftslandes

Art. 1A Abs. 2 GFK enthält die Formulierung, dass sich die betroffene Person für die

Flüchtlingsanerkennung „ausserhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt“.

Das Asylgesetz schützt in Übereinstimmung mit der Flüchtlingskonvention somit nur

internationale und keine Binnenflüchtlinge, auch wenn diese in asylrelevanter Weise verfolgt

werden. Landesintern Vertriebene – so genannte «internally displaced persons» – können aber

immerhin unter das Mandat des UNHCR fallen.32 Zudem muss die relevante Verfolgung in einem

Kausalzusammenhang zur Ausreise aus dem Heimat- oder Herkunftsland stehen. Kausalität liegt

in der Regel dann vor, wenn ein gewisser zeitlicher und sachlicher Zusammenhang besteht

zwischen der Verfolgungsmassnahme und der Flucht. 33

28

Vgl. STÖCKLI, S. 525. 29

UNHCR, Handbuch, § 28, S. 9. 30

Vgl. KÄLIN, Grundriss, S. 30. 31

Vgl. Botschaft zum Asylgesetz und zu einem Bundesbeschluss betreffend den Rückzug des Vorbehaltes zu Artikel

24 des Übereinkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 31.August 1977, BBl. 1977 III 116 f. 32

Ausführlicher zu den Entwicklungen im Bereich des Schutzes intern Vertriebener und zur Erweiterung des

UNHCR-Mandats, vgl. MARUGG, S. 150 ff. 33

Vorbehalten bleiben sog. objektive Nachfluchtgründe. Vgl. EPINEY, S. 35.

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3.2 Bruch der Beziehungen mit dem Heimat- oder Herkunftsland

Flüchtling ist weiter nur, wer „den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder

wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will“.34 Dies wird immer dann gegeben

sein, wenn die Verfolgung unmittelbar vom Heimat- oder Herkunftsstaat ausgeht. Wer sich

erneut unter den Schutz des Verfolgerstaates stellt,35 ist ebenso wenig ein Flüchtling wie

diejenige Person, die nie aufgehört hat, diesen Schutz in Anspruch zu nehmen.36

III. Das Konzept der Verfolgung

Die Verfolgung ist das Kernelement im Flüchtlingsbegriff. Was genau unter dem

Verfolgungsbegriff zu verstehen ist, was er ein- und was er ausschliesst, ist nicht eindeutig. Aus

welchen Elementen sich das Konzept zusammensetzt und wie der Begriff in der schweizerischen

Gerichtspraxis ausgelegt wird, soll an dieser Stelle erläutert werden. Die nachfolgenden

Ausführungen konzentrieren sich somit auf das „wichtigste und komplexeste Merkmal“37

innerhalb der Flüchtlingsdefinition, wie sie in der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 und

dem Schweizer Asylgesetz von 1998 verankert ist.

Gemäss Lehre und Rechtsprechung38 umfasst das Konzept der Verfolgung folgende

Teilelemente: Intensität der Verfolgung, Aktualität der erlittenen Verfolgung bzw. begründete

Furcht vor einer solchen, Urheberschaft der Verfolgungshandlung, Gezieltheit der Verfolgung,

Verfolgungsmotivation und das Fehlen einer innerstaatlichen Schutzalternative.

1. Intensität der Verfolgung bzw. der ernsthaften Nachteile

Bisher gibt es keine allgemein gültige Definition des völkerrechtlichen Begriffs der Verfolgung.

Die Tatsache, dass das Abkommen von 1951 keine rechtliche Definition des Verfolgungsbegriffs

enthält, kann dahingehend gewertet werden, dass die Verfasser der Konvention aufgrund von

historischen Erfahrungen den Begriff nicht zu stark einschränken wollten, damit auch zukünftige

Arten von Verfolgung erfasst würden. Im schweizerischen Asylgesetz wird der Begriff

umschrieben mit dem Ausdruck der «ernsthaften Nachteile». Diese Umformulierung macht

deutlich, dass eine gewisse Intensität der Eingriffe in die zentralsten Rechtsgüter vorausgesetzt

wird für die Flüchtlingsanerkennung. Von «ernsthaften Nachteilen» ist auszugehen bei einer

34

Bei einer Person, die keine Staatsangehörigkeit besitzt, gibt es keinen Staat, der auf diese Person völkerrechtlichen Schutz ausüben könnte. Für die Beurteilung ist daher von ihrem gewöhnlichen Aufenthaltsland

auszugehen, in das sie nicht mehr zurückkehren kann oder nicht will. 35

Siehe dazu den Ausschliessungsgrund der Unterschutzstellung gemäss Art. 1 C GFK. 36

Vgl. GATTIKER, S. 64 f. 37

KÄLIN, Grundriss, S. 36. 38

Vgl. EMARK 1995 Nr. 2 (Grundsatzentscheid).

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Gefährdung des Leibes, des Lebens oder der Freiheit, sowie bei Massnahmen, die einen

unerträglichen psychischen Druck bewirken.39

Bei schwerwiegenden Massnahmen, wie Folter, erniedrigende oder unmenschliche Behandlungen

(vgl. Art. 3 EMRK), ist ohne Weiteres von der erforderlichen Intensität auszugehen. Zu den

grundlegenden Menschenrechten, deren Verletzung als Verfolgung eingestuft werden kann,

zählen alle nicht derogierbaren Rechte wie das Recht auf Leben, das Recht auf körperliche und

psychische Unversehrtheit, das Folterverbot, das Sklavereiverbot, und der Kerngehalt der

Meinungs-, Religions- und Gewissensfreiheit. Bei Massnahmen, die einen weniger gravierenden

Eingriff in die genannten Rechtsgüter darstellen – wie Freiheitsentzug, Schläge und sexuelle

Belästigungen – ist auf die Umstände des Einzelfalles abzustellen. Zu beurteilen ist, in welchem

Verhältnis diese physische oder psychische Beeinträchtigung zu ihrer Dauer und Häufigkeit,

sowie zu den gesamten Umständen steht. Neben einer objektiven Einschätzung der Sachlage

erfordert das im Begriff der Furcht enthaltene subjektive Element eine intensive Würdigung der

Ansichten und Gefühle der betroffenen Person. Mitberücksichtigt werden muss die individuelle

Empfindlichkeit und Verletzlichkeit.40

Die Intensitätsschwelle wird da angesetzt, wo aufgrund der Verfolgungsmassnahme ein

menschenwürdiges Leben im betreffenden Land verunmöglicht oder in unzumutbarer Weise

erschwert wird, so dass jeder andere Mensch in dieser Lage sich zur Flucht aus diesem Land

gezwungen gesehen hätte.41

2. Begründete Furcht

Die «begründete Furcht vor Verfolgung» ist ein Schlüsselelement in der Definition des

Verfolgungsbegriffs. Während in früheren Abkommen nach Kategorien unterschieden wurde –

nach Personen bestimmten Ursprungs – wird heute der viel allgemeinere und weiter auslegbare

Begriff der Furcht verwendet. Furcht ist als Ausdruck der seelischen Verfassung und des

individuellen Empfindens etwas Subjektives; zum Zwecke der Feststellung der

Flüchtlingseigenschaft muss diese aber begründet sein, also eine objektive Basis haben. Im

konkreten Anwendungsfall müssen beide Teilbereiche – die objektive und die subjektive Seite –

berücksichtigt werden, doch kann es dabei stark variieren, welcher Stellenwert diesen beiden

Elementen beizumessen ist.42

39

Die Botschaft zum Asylgesetz von 1979 sieht im zusätzlich aufgeführten Begriff des „unerträglich psychischen Drucks“ eine Erweiterung des Flüchtlingsbegriffs. Aus neuerer Perspektive dem entgegenstehend: KÄLIN, Grundriss,

S. 29. 40

Vgl. STÖCKLI, S. 530. 41

Vgl. EPINEY, S. 27. 42

Vgl. UNHCR, Auslegung, § 11, S. 4. Anderer Meinung: HATHAWAY, S. 66 ff., der die zweigeteilte Prüfung kritisiert

und einen einheitlichen objektiven Ansatz befürwortet.

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11

Eine Würdigung des subjektiven Elements ist untrennbar mit der Einschätzung der Persönlichkeit

des Antragstellers verbunden, da die psychischen Reaktionen der unterschiedlichen Personen

unter an sich gleichen Bedingungen nicht die gleichen sein müssen. Bei der Beurteilung der

Flüchtlingseigenschaft sind folglich verschiedene persönliche Gründe zu berücksichtigen: der

familiäre Hintergrund des Antragstellers, seine Zugehörigkeit zu einer bestimmten rassischen,

religiösen, nationalen, sozialen oder politischen Gruppe, die eigene Beurteilung seiner Lage und

seine persönlichen Erfahrungen. Zusammenfassend bedeutet dies die Berücksichtigung aller

Gründe, die darauf hindeuten könnten, dass das ausschlaggebende Motiv für seinen Antrag

Furcht ist.

Für die objektive Beurteilung der Begründetheit der Furcht muss die Auswertung der Erklärung

des Antragstellers in Zusammenhang mit der für ihn ausschlaggebenden Hintergrundsituation

gesehen werden. Das Wissen um die Verhältnisse im Heimatland des Antragstellers kann

jedenfalls ein wichtiger Faktor bei der Beurteilung der Glaubwürdigkeit des Antragstellers sein

und ist unabdingbar für einen differenzierten Entscheid. Im Allgemeinen sollten die

Befürchtungen eines Antragstellers als begründet angesehen werden, wenn er ausreichend

nachweisen kann, dass der weitere Verbleib in seinem Heimatland für ihn aus den in der

Definition genannten Gründen unerträglich geworden ist, oder aus eben denselben Gründen

unerträglich würde, wenn er dorthin zurückkehrte.43

Flüchtling ist gemäss Definition nicht nur, wer tatsächlich und aktuell verfolgt wird, sondern

auch bereits derjenige, der mit gutem Grund Verfolgung bloss befürchtet. Das schweizerische

Asylgesetz hat diesen Gedanken übernommen und sogar noch verdeutlicht.44 Der internationale

Schutz soll also möglichst bereits dann einsetzen, wenn sich die ernsthaft drohende Gefahr noch

nicht verwirklicht hat.

Massgebend für die Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft und die Beurteilung der Aktualität

der Verfolgung ist der Zeitpunkt des Asylentscheides. Es gilt zu prüfen, ob die Furcht vor

Verfolgung zu diesem Zeitpunkt (noch) besteht und begründet ist.45 Die Furcht vor Verfolgung

muss also entweder beim Verlassen des Heimatstaates bestanden und bis zum Asylentscheid

angedauert haben oder später entstanden sein (bei sog. Nachfluchtgründen). Vom Bestehen dieser

Furcht zum Zeitpunkt der Ausreise ist auszugehen, wenn ein kausaler Zusammenhang besteht

zwischen einer bereits eingetretenen Verfolgungshandlung oder der Kenntnisnahme einer

drohenden Verfolgungsgefahr und der Ausreise.

43

Vgl. UNHCR, Handbuch, § 37-50, S. 12-15. 44

Art. 3 AsylG bezeichnet Flüchtlinge als Ausländer, die in ihrem Heimatstaat aus asylrelevanten Gründen

„ernsthaften Nachteilen ausgesetzt sind oder begründetet Furcht haben, solchen Nachteilen ausgesetzt zu

werden“. (Hervorhebung durch die Autorin). 45

Allfällige Veränderungen, die seit der Ausreise des Antragstellers eingetreten sind, sind entweder zu Gunsten

oder zu Lasten der asylsuchenden Person zu berücksichtigen. Vgl. dazu BVGE 2007/31 E. 5.3.

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12

An der geforderten Aktualität der Verfolgung mangelt es hingegen, wenn die Verfolgungsgefahr

zum Zeitpunkt des Asylentscheides weggefallen ist. Eine Flüchtlingsanerkennung ist in einem

solchen Fall nur gestützt auf die Ausnahmebestimmung von Art. 1C Ziff. 5 Abs. 2 GFK möglich.

Aus dieser Bestimmung geht hervor, dass eine Ausnahme vorzunehmen ist bei Personen, die sich

auf zwingende, auf früheren Verfolgungen beruhenden Gründe berufen können und diese Gründe

es der betreffenden Person nachvollziehbarerweise unmöglich machen, den Schutz ihres

Heimatstaates in Anspruch zu nehmen.46

Eine Anerkennung als Flüchtling kann auch erfolgen, wenn die betreffende Person während ihrer

Abwesenheit vom Heimatstaat zum Verfolgten wird («réfugiés sur place»). Eine begründete

Furcht vor Verfolgung kann entweder aufgrund von Ereignissen erfolgen, die nicht von der

betreffenden Person verursacht worden sind (sog. objektive Nachfluchtgründe), oder aufgrund

von eigenen Handlungen der Person nach Verlassen des Heimatstaates (sog. subjektive

Nachfluchtgründe)47. Zwar kann die Flüchtlingseigenschaft in beiden Fällen entstehen, doch stellt

der subjektive Nachfluchtgrund einen Asylausschlussgrund gemäss Art. 54 AsylG dar.

3. Urheberschaft der Verfolgung

Das Kriterium der Urheberschaft der Verfolgung findet weder in Art. 3 AsylG noch in der Genfer

Flüchtlingskonvention Erwähnung. Trotzdem oder gerade deshalb war die Urheberschaft Thema

vieler Diskussionen in den letzten Jahren;48 dies unter anderem aufgrund verschiedener Konzepte

und Handhabungen des Elements der Verfolgungsurheberschaft in der Staatenpraxis. Die

Asylpraxis hat in Bezug auf die Urheberschaft eine Angleichung erfahren; die Differenzierung

verschiedener Konzepte ist folglich unbedeutender geworden. Trotzdem soll auf die

Auseinandersetzung an dieser Stelle näher eingegangen werden. Denn am Element der

Urheberschaft lassen sich verschiedene flüchtlingsrechtliche Auffassungen darstellen,

insbesondere was den Sinn und Zweck der Genfer Flüchtlingskonvention betrifft. Zudem werden

daran die heutige Flüchtlingsrealität und der Entwicklungsstand aktueller Diskussionen und

gerichtlicher Praxen deutlich.

Unbestritten war und ist in der Schweizer Asylpraxis die Verfolgungsrelevanz von

Menschenrechtsverletzungen, wenn sie direkt vom Heimat- oder Herkunftsstaat, das heisst

46

Vgl. STÖCKLI, S. 531. Als «zwingende Gründe» in diesem Zusammenhang sind vorab traumatisierende Erlebnisse

zu betrachten, die es der betroffenen Person angesichts erlebter schwerwiegender Verfolgungen, insbesondere

Folterungen, im Sinne einer Langzeittraumatisierung psychologisch verunmöglichen, ins Heimatland zurückzukehren (vgl. BVGE 2007/31 E. 5.4.). 47

Bsp. für objektive Nachfluchtgründe: Handlungen der staatlichen Behörden des Heimatlandes, Ereignisse wie

Regimewechsel oder Putsch im Heimatstaat, Repressionswelle etc.; Bsp. für subjektive Nachfluchtgründe:

Aktivitäten, die sich gegen den Heimatstaat richten, blosse Ausreise oder das Einreichen eines Asylgesuchs etc. 48

Diskussionen vor allem in Deutschland und der Schweiz. In der Schweiz immer wieder Thema in den Sessionen

des Parlaments, vgl. Amtliches Bulletin.

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unmittelbar von staatlichen Akteuren ausgehen. Es ist dabei unerheblich, ob diese

menschenrechtsverletzenden Handlungen in Ausübung einer legislativen, judikativen oder

exekutiven Tätigkeit vorgenommen werden.49 Anerkennung findet weiter auch die mittelbare

Verfolgung durch Dritte, deren Handlungen vom betreffenden Staat angeregt, gebilligt,

unterstützt oder aufgrund fehlender Schutzbereitschaft tatenlos hingenommen werden.50 Der Staat

muss also nicht zwingend aktiv werden und beispielsweise zu einer Hetzkampagne gegen eine

bestimmte soziale, politische oder religiöse Gruppierung aufrufen. Es genügt, wenn er passiv eine

solche Verfolgungshandlung zulässt; der Staat trägt in einem solchen Fall die Verantwortung für

diese Handlung.51

Verfolgungen durch so genannte quasi-staatliche Körperschaften – welche faktisch die Herrschaft

über Teilgebiete des staatlichen Territoriums und die dort angesiedelten Bevölkerungsgruppen

ausüben, ohne jedoch anerkannte Träger der Staatsordnung zu sein – sind unter dem

Gesichtspunkt der asylrechtlichen Relevanz der staatlichen Verfolgung gleichzusetzen.52

Seit dem Grundsatzurteil der ARK vom 8. Juni 2006, in dem in grundlegender Weise die Frage

der Urheberschaft aufgegriffen und diskutiert wurde, wird in der schweizerischen Asylpraxis bei

der Prüfung der Flüchtlingseigenschaft auch die nicht-staatliche Verfolgung berücksichtigt und

bei Vorliegen anerkannt. 53

Vorherrschend in der richterlichen Praxis war bis zu diesem Zeitpunkt die so genannte

«Zurechenbarkeitstheorie». Insbesondere die Schweiz und Deutschland beharrten auf der Theorie

der staatlichen Verfolgungsverantwortlichkeit, während die Mehrheit der Konventionsstaaten die

Flüchtlingsrelevanz privater Verfolgung bejaht. Klassische Asylaufnahmestaaten wie Australien,

Neuseeland, die USA und Kanada folgen seit jeher der «Schutztheorie» oder haben den Wechsel

in den vergangenen Jahren vorgenommen.54 Die im Urteil EMARK 2006 Nr. 18 vorgenommene

Praxisänderung hat dazu geführt, dass sich die Schweiz nun offiziell der allgemein anerkannten

und verbreiteten «Schutztheorie» angeschlossen hat.55

Die flüchtlingsrechtliche Literatur erörtert den von der schweizerischen Praxis ehemals

gewählten Ansatz – wie bereits erwähnt – unter dem Stichwort der «Zurechenbarkeitstheorie»

(«accountability approach»), dem andererseits unter dem Stichwort der

49

Vgl. KÄLIN, Grundriss, S. 61. 50

Siehe zur Thematik der mittelbaren Verfolgung auch HATHAWAY, S. 126. 51

Vgl. STÖCKLI, S. 526. 52

Vgl. EMARK 2000 Nr. 15, E. 9.a, S. 115; erstmals anerkannt wurde die Relevanz quasi-staatlicher Verfolgung im Urteil EMARK 1995 Nr. 2. Diese erste Relativierung der Zurechenbarkeitstheorie erfolgte hauptsächlich aufgrund

der Einsicht, dass die enge Auslegung der bisherigen Praxis in bestimmten Fällen, so beispielsweise in

Bürgerkriegssituationen, zu offensichtlich unangemessenen oder unzweckmässigen Ergebnissen führte. 53

EMARK 2006 Nr. 18. 54

Ebd., E. 7.6, S. 196. 55

Vgl. STÖCKLI, S. 527.

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«Schutzgewährungstheorie» oder «Theorie der Schutzbedürftigkeit» («protection approach») die

Praxis der weit überwiegenden Zahl der GFK-Signatarstaaten gegenübersteht.

3.1 Zurechenbarkeitstheorie

Die Zurechenbarkeitstheorie stellt darauf ab, ob die konkrete Verfolgungshandlung dem Staat

zugerechnet werden kann. Diese Position wird etwas abgemildert durch die in der Praxis

anerkannten und oben bereits genannten Formen der mittelbaren und quasi-staatlichen

Verfolgung. Die unmittelbare Form der staatlichen Verfolgung stellt in der Beurteilung die

geringsten Hindernisse.56 Schwieriger gestaltet sich die Einschätzung der Situation bei

mittelbarer staatlicher und quasi-staatlicher Verfolgung. Hinter der Anerkennung der mittelbaren

staatlichen Verfolgung steht der Gedanke, dass eine von Dritten ausgeführte

Verfolgungshandlung dem Staat dann zugerechnet werden soll, wenn er diese billigt und sich

trotz vorhandener Möglichkeiten schutzunwillig zeigt.57

Schutzunwilligkeit ist dabei abzugrenzen von der Schutzunfähigkeit. Der Unwille, einer Person

oder einer Gruppe Schutz zuteil werden zu lassen, kann sich beispielsweise darin äussern, dass

der Staat einer durch Private initiierten religiösen Verfolgung, trotz vorhandener Kenntnisse der

Situation, nicht entgegenwirkt und die Verfolgten dadurch schutzlos sich selbst überlässt.58 Der

Staat bringt darin zum Ausdruck, dass er nichts zum Schutz dieser Bürger zu tun gedenkt.

Staatliche Schutzunfähigkeit ist insbesondere in solchen Staaten vorzufinden, die aufgrund von

Unruhen eine Schwächung des Systems und der Staatsordnung erfahren haben.

Noch im Entscheid des Bundesamtes für Migration (BFM), der dem Grundsatzurteil EMARK

2006 Nr. 18 vorausgegangen ist, wurde an der bisherigen schweizerischen Praxis bezüglich der

staatlichen Schutzunfähigkeit festgehalten.59 Diese Praxis gestaltete sich so aus, dass die

Relevanz einer nicht-staatlichen Verfolgung durch Private im nicht schutzfähigen Staat verneint

wurde.60

56

Menschenrechtswidrige Handlungen müssen dem Staat jedoch auch dann zugerechnet werden, wenn seine

Amtsträger diese nicht in Erfüllung, sondern in Verletzung ihrer Amtspflichten ausführen. Der Staat trägt dabei

grundsätzlich die Verantwortung, wenn er es versäumt hat, seine Funktionsträger durch Auswahl, Schulungen und

Weiterbildungen zielstrebig zu führen und die Kontrolle zu bewahren. Ein Mindeststandard verlangt vom Staat,

dass er zumindest konsequent und nachhaltig gegen allfällige Amtsmissbräuche und menschenrechtsverletzende

Vorfälle vorgeht. Vgl. KÄLIN, Grundriss, S. 62; siehe dazu noch ausführlicher: BINDER, S. 116 f. 57

Vgl. KÄLIN, Grundriss, S. 64; BINDER, S. 118 f. 58

EMARK 1993 Nr. 10. In diesem Entscheid bejahte die ARK das Vorliegen einer mittelbaren staatlichen Verfolgung,

die sich gegen syrisch-orthodoxe Christen in der Südosttürkei richtete. 59

Die ARK hat die Frage der Schutzunfähigkeit bereits zehn Jahre früher differenzierter ausgelegt im Urteil EMARK

1995 Nr. 2. 60

EMARK 2006 Nr. 18 E. 4.2., S. 184.

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3.2 Schutztheorie

Nach der Schutztheorie hängt die Verfolgung im flüchtlingsrechtlichen Sinn nicht von der Frage

ihres Urhebers ab; entscheidend ist, ob die Möglichkeit besteht, adäquaten staatlichen Schutz in

Anspruch nehmen zu können.61 Nach dem auf den Schutz ausgerichteten Ansatz wird betroffenen

Menschen der Flüchtlingsstatus auch bei nicht-staatlicher Verfolgung gewährt, sofern alle

weiteren Voraussetzungen des Art. 1A GFK vorliegen.62 Die primäre Motivation zur Befolgung

der Schutztheorie, ist die Erkenntnis, dass der internationale Schutz in bestimmten Fällen

notwendig ist, um den Mangel an effektivem nationalem Schutz zu kompensieren. Das UNHCR

vertritt zur Auslegung von Art. 1A FK seit längerer Zeit die Theorie der Schutzbedürftigkeit

verfolgter Menschen.

3.3 Auslegung

Massgebend für die Auslegung der Bestimmungen der Flüchtlingskonvention63 sind die

allgemeinen Auslegungsregeln für völkerrechtliche Verträge, welche in Art. 31-33 des Wiener

Übereinkommens über das Recht der Verträge (nachfolgend Wiener Vertragsrechtskonvention,

WVK) festgelegt sind.64 Gemäss Art. 31 Abs. 1 WVK ist ein völkerrechtlicher Vertrag „nach

Treu und Glauben in Übereinstimmung mit der gewöhnlichen, seinen Bestimmungen in ihrem

Zusammenhang zukommenden Bedeutung und im Lichte seines Zieles und Zweckes

auszulegen“.

In Anlehnung an die WVK ist die GFK im Folgenden nach grammatikalischen, systematischen,

teleologischen und historischen Gesichtspunkten und in Einbezug der Staatenpraxis auszulegen.

3.3.1 Wortlaut

In der Lehre wird die Auffassung vertreten, mit dem zusätzlich geforderten Element der

staatlichen Verantwortlichkeit werde ein Erfordernis in den Flüchtlingsbegriff hineininterpretiert,

der nicht mit dem Wortlaut der Bestimmungen in Art. 1A GFK und Art. 3 AsylG zu vereinbaren

sei.65 Zudem nennt weder die französisch- noch die englischsprachige Originalfassung der GFK

das Kriterium der staatlichen Urheberschaft als Voraussetzung für die Flüchtlingsanerkennung.

Der Text der Konvention richtet seinen Fokus primär auf die Schutzbedürftigkeit der verfolgten

61

Unter Umständen kann der Schutz auch von einem so genannten Quasi-Staat oder sogar von einer

internationalen Organisation gewährt werden. Siehe dazu EMARK 2000 Nr. 2, S. 113 ff.; EMARK 2000 Nr. 15 E. 10.a,

S. 119 ff.; Art. 7 Abs. 1 lit.a EU-Qualifikationsrichtlinie 2004/83/EG. 62

Vgl. TÜRK, Non-State Agents, S. 98 f. 63

Da der landesrechtliche Flüchtlingsbegriff im Asylgesetz im Wesentlichen mit demjenigen in Art. 1A GFK

übereinstimmt, gilt die Auslegung auch für Art. 3 AsylG. Vgl. KÄLIN, Grundriss, S. 28. 64

Wiener Übereinkommen vom 23. Mai 1969 über das Recht der Verträge, SR 0.111; für die Schweiz in Kraft seit

dem 6. Juni 1990. 65

Vgl. TÜRK, Non-State Agents, S. 103; KÄLIN, Nichtstaatliche Verfolgung, S. 5.

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Personen und auf das Vorhandensein staatlichen Schutzes. Die Konvention erwähnt dabei auch

ansatzweise nicht, dass die vorsätzliche Involvierung des Staates in die Verfolgungshandlung

eine notwendige Voraussetzung bei der Anwendung der GFK darstellt.66 Unter Berücksichtigung

dieser Überlegungen stellt sich unweigerlich die Frage, ob eine so wichtige materiell-rechtliche

Einschränkung des Flüchtlingsbegriffs, die letztlich im Asylverfahren von zentraler Bedeutung

sein kann, nicht ausdrücklich im Wortlaut des Vertragstextes enthalten sein müsste.67

3.3.2 Zusammenhang

In systematischer Hinsicht kann auf das in Art. 33 GFK verankerte Refoulement-Verbot und die

darin implizit enthaltene Definition von «Verfolgung» hingewiesen werden.68 Auch diese

Bestimmung stellt auf einen direkten kausalen Zusammenhang zwischen der

Verfolgungsmassnahme und einem bestimmten Staatsgebiet ab, doch wird die Rolle des Heimat-

oder Herkunftsstaates auch an dieser Stelle in keinster Weise erwähnt.69

3.3.3 Sinn und Zweck

Die Präambel der Genfer Flüchtlingskonvention sieht als ein Ziel vor, dass alle Menschen ohne

Unterschied die Menschenrechte und Grundfreiheiten geniessen können und dass die Ausübung

dieser Rechte in möglichst grossem Umfang gesichert werden soll. Weiter sollen frühere

internationale Flüchtlingsübereinkommen verbessert und der Anwendungsbereich dieser

Vereinbarungen sowie der dadurch geleistete Schutz durch die GFK erweitert werden. Es ist

deutlich, dass der Konvention das Ziel und der Zweck zugrunde liegen, einem verfolgten

Menschen Schutz vor Verfolgung und eine gesicherte Rechtsstellung zu gewähren.70 Dieser

Schutz soll dann einsetzen, wenn es der asylsuchenden Person aufgrund der in ihrem Heimatland

herrschenden Situation nicht möglich oder nicht zuzumuten ist, bei der heimatlichen Behörde um

Schutz nachzusuchen. Der internationale Schutz im Flüchtlingsrecht ist subsidiär gegenüber der

nationalen Schutzgewährung. Die zentrale Frage ist also, ob die betroffene Person sich an

staatliche Stellen wenden kann, um Schutz vor Verfolgung zu ersuchen. Stellvertretender Schutz

wird nach dem Grundsatz der Subsidiarität erst notwendig, wenn der betreffende Staat seine

elementaren Pflichten – denjenigen Menschen mit Schutzmassnahmen zur Seite zu stehen, die

seiner Hoheitsgewalt unterstehen – nicht erfüllt. Zu beachten gilt bei der Einschätzung, ob dem

Staat die Mittel für einen adäquaten Schutz zur Verfügung stehen, dass es in der Realität für

66

Vgl. BINDER, S. 122 f.; UNHCR, Handbuch, § 97-100, S.26. 67

Vgl. EMARK 2006 Nr. 18, E. 7.3.2., S. 193. 68

Siehe oben I.2., S. 5. 69

Vgl. KÄLIN, Nichtstaatliche Verfolgung, S. 4 f. 70

In der internationalen Literatur wird immer wieder auf den Schutzgedanken und die Schutzfunktion der GFK

verwiesen. Vgl. HATHAWAY, S. 124 ff.; KÄLIN, Grundriss, S. 66.

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Opfer von Menschenrechtsverletzungen oft mit grossen Schwierigkeiten verbunden oder gar

unmöglich ist, sich an staatliche Behörden zu wenden.71 Sich dem Staat gegenüber zu öffnen und

zu offenbaren, steht in enger Verbindung mit dem Vertrauen in das Staatssystem. Aus einer

eurozentrierten bzw. aus einer westeuropäischen Perspektive betrachtet, wird die Staatsmacht im

Wesentlichen als klar strukturierte, wirksame, wünschenswerte und im Grossen und Ganzen

vertrauenswürdige Herrschaftsform verstanden, die die Anliegen seiner Bürgerinnen und Bürger

ernst zu nehmen vermag. Das dieses Verständnis nicht weltweite Beachtung findet, ist schon

alleine den tagtäglichen Berichterstattungen des Weltgeschehens zu entnehmen.

Die Problematik der Zurechenbarkeitstheorie wird gerade an Beispielen so genannter «failed

states»72 deutlich: Im Entscheid vom 8. Juni 2006 wird die bisherige Praxis der Schweizer

Asylbehörden auf die Formel „je mehr Anarchie (im Heimatland), desto weniger

flüchtlingsrechtlicher Schutz (im Aufnahmestaat)“ zugespitzt. Im Entscheid wird festgehalten,

dass eine solche Haltung nicht mit dem Schutzgedanken der Konvention zu vereinbaren wäre,

insbesondere wenn man von der Annahme ausgeht, dass die Gefahr, ein Opfer massiver

Menschenrechtsverletzungen zu werden, gerade an denjenigen Orten besonders ausgeprägt ist,

wo es an staatlichen Strukturen mangelt oder diese zusammengefallen sind. Weiter führt die ARK

aus, dass ein Verfolgen der Zurechenbarkeitstheorie konkret dazu führe, „dass Opfer gleichartig

schwerer Menschenrechtsverletzungen bei einem staatlichen Verursacher als Flüchtlinge

anerkannt werden, während im Falle eines nichtstaatlichen Folterers nur der Vollzug ihrer

Wegweisung als undurchführbar qualifiziert wird und sie in der Schweiz vorläufig aufgenommen

werden. Ein vernünftiger Grund für diese Diskrepanz zwischen flüchtlingsrechtlichen und

menschenrechtlichen Schutzinstrumenten ist umso weniger ersichtlich, als die GFK in ihrer

Präambel (…) auf einen möglichst umfassenden Schutz der Menschenrechte verweist. In der

Lehre wird denn auch seit längerer Zeit für eine bessere Harmonisierung von Menschen- und

Flüchtlingsrechten respektive für eine Berücksichtigung der Entwicklungen der Menschenrechte

bei der Anwendung flüchtlingsrechtlicher Instrumente plädiert.“73

3.3.4 Geschichte

Die historische Auslegung ist in diesem Zusammenhang subsidiär (vgl. Art. 32 WVK). Viel

wichtiger ist es an dieser Stelle zu betonen, dass die Konflikte und Menschenrechtsverletzungen

sich in den letzten Jahrzehnten verändert und neue Formen angenommen haben; die klassischen

Definitionen des Verfolgers entsprechen zu grossen Teilen nicht mehr den aktuellen

71

Vgl. BINDER, S. 117. 72

Staaten, die trotz Wegfalls der effektiven Staatgewalt weiterhin rechts- aber nicht mehr handlungsfähig sind.

73 EMARK 2006 Nr. 18, E. 7.5.4., S. 195.

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Konfliktformen. Bei der Auslegung und Anwendung der Flüchtlingskonvention ist mit Blick auf

die Opfer flüchtlingsrechtlich relevanter Verfolgung somit der veränderten Verfolgungsrealität,

den Entwicklungen im Bereich der Menschenrechte, des Völkerstrafrechts, des humanitären

Völkerrechts und der internationalen Staatenpraxis Rechnung zu tragen.74

3.4 Kurze Würdigung der Vorteile der heutigen Befolgung der Schutztheorie

Als Depositarstaat der Genfer Flüchtlingskonvention steht es der Schweiz gut an, dass sie nun die

vom UNHCR schon seit langem empfohlene Praxis befolgt. Durch die bis vor kurzem befolgte

Zurechenbarkeitstheorie wurde der Fokus auf diejenigen gerichtet, die einer zu grossen

Beachtung nicht würdig sind – die Verfolger. Der Fokus der Konvention richtet sich jedoch auf

diejenigen Menschen, die sich in Not befinden und internationalen Schutz bedürfen. Die

Anerkennung der Schutztheorie in der schweizerischen Asylpraxis wird in diesem Sinne dem Ziel

und Zweck der Flüchtlingskonvention gerecht.

Die Schweiz ist durch die Praxisänderung aus der Isolation gegenüber den anderen Staaten

herausgetreten. Die europäischen Staaten haben unter anderem durch eine Richtlinie der EG – die

so genannten «Qualifikationsrichtlinie» vom 29. April 200475 – das materielle europäische

Flüchtlingsrecht im Sinne von Mindeststandards weitgehend vereinheitlicht, auch bezüglich der

Befolgung der Schutztheorie. Die Schweiz ist zwar formell nicht an diese Richtlinie gebunden,

aber in der Gestaltung ihrer rechtlichen Beziehungen zur Europäischen Union wirken sich die

Harmonisierungsbestrebungen letztlich auch auf die Schweiz aus.76

Der Wechsel zur Schutztheorie zieht für das Bundesverwaltungsgericht ein vereinfachtes

Prüfprogramm mit sich; schwierige Abgrenzungsfragen im Bereich der staatlichen, mittelbaren

oder quasi-staatlichen Verantwortlichkeit fallen weg. Die Frage des Urhebers erübrigt sich nach

dem Wechsel jedoch nicht vollständig. In einem zweiten Schritt ist zu prüfen, ob staatlicher

Schutz verfügbar ist, wobei die verfolgte Person den staatlichen Schutz auch an einem anderen

Ort in ihrem Heimatland erhalten kann.77

Die Anerkennung der nicht-staatlichen Verfolgung als asylrelevant hat insbesondere einen

Einfluss auf die Beurteilung frauenspezifischer Verfolgung. Da eine solche Verfolgung in vielen

Fällen gerade nicht unmittelbar von staatlicher Seite ausgeht, können weibliche Opfer solcher

74

Vgl. BINDER, S. 148. 75 Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen

Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes. 76

Siehe zu den europäischen Harmonisierungsbestrebungen im Verhältnis zum Schweizer Recht: HAILBRONNER,

KAY, Kompatibilität des Schweizer Asylverfahrens mit Harmonisierungsbestrebungen im Asylrecht der Europäischen

Union, Zürich 2000. 77

Siehe dazu unten III.6. Innerstaatliche Schutzalternative.

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Verfolgungsmassnahmen durch den Wechsel zur Schutztheorie als konventionsrechtliche

Flüchtlinge anerkannt werden; den Frauen kann dadurch besserer Schutz gewährt werden.78

Der Befürchtung eines Anstieges an Asylsuchenden aufgrund der Befolgung der Schutztheorie

hat der Bundesrat bereits in seiner Botschaft vom 4. September 2002 entgegengewirkt und

festgehalten, dass jährlich mit nur rund 100 Personen zu rechnen sei, die zusätzlich als

Flüchtlinge anerkannt statt humanitär aufgenommen würden. Für die betroffenen Asylbewerber

hätte eine Flüchtlingsanerkennung eine verbesserte Rechtsstellung zur Folge.79

4. Gezielte Verfolgung

In der schweizerischen Gerichtspraxis wird davon ausgegangen, dass ein bestimmter Grad an

direkter Betroffenheit notwendig ist, um als Flüchtling zu gelten. Eine Verfolgungshandlung

muss demnach gewollt in die Rechte des Individuums eingreifen. Das Erfordernis der Gezieltheit

ist eng verknüpft mit dem Vorliegen einer asylrelevanten Verfolgungsmotivation. Der Verfolger

richtet seine Massnahmen grundsätzlich konkret und aus einem bestimmten Grund gegen

ausgewählte Personen, in deren Rechtsgüter er eingreifen möchte; wer also nur zufällig Opfer

einer Verfolgungshandlung wird, die aber nicht gegen sie oder ihn persönlich gerichtet war, ist

kein Flüchtling.80 Menschen, die „lediglich“ aufgrund allgemeiner Unruhen und Gewalt,

staatlicher oder politischer Instabilität, aufgrund der generell schwachen Menschenrechtslage

oder aus Angst vor Repressionen ins Ausland flüchten, gelten bis heute nicht als Flüchtlinge im

Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention. Auch in Fällen von Natur- und Umweltkatastrophen

einerseits und in Situationen allgemeiner sozialer Not, aufgrund von Missernten, schlechter

Wirtschaftslage, Ausbeutung oder Korruption andererseits, findet in der Regel keine

Flüchtlingsanerkennung statt, da es am finalen Zusammenhang zwischen den erlittenen

Nachteilen und dem Erfordernis einer konkreten, individuellen und gezielten

Verfolgungshandlung fehlt.81 Begründet wird diese Einschränkung des Schutzbereiches des

78

Vgl. BINDER, S. 396 ff. 79

Vgl. Botschaft zur Änderung des Asylgesetzes, zur Änderung des Bundesgesetzes über die Krankenversicherung

sowie zur Änderung des Bundesgesetzes über die Alters- und Hinterlassenenversicherung, BBl. 2002, S. 6858 f. 80

Vgl. STÖCKLI, S. 530. Möglich ist auch eine sog. Reflexverfolgung, d.h. dass sich beispielsweise Misshandlungen

gegen Familienangehörige derjenigen Person richten, die der Verfolger eigentlich im Visier hat; vgl. hierzu: EMARK

2005 Nr. 7 E. 8, S. 72; EMARK 1994 Nr. 5, E. 3.h) und i), S. 47 ff. 81

Vgl. BINDER, S. 160. Die Autorin weist darauf hin, dass es bei der Klärung dieser Frage nur um die

Flüchtlingsanerkennung gemäss Art. 1A GFK bzw. Art. 3 AsylG geht. Zu folgen hat eine Prüfung, ob diese Menschen,

die nicht unter die Definition der Konvention fallen, allenfalls in den Schutz des menschen- und

flüchtlingsrechtlichen Non-Refoulement-Prinzips (vgl. Art. 5 AsylG) kommen oder ob ihnen aufgrund von

humanitären Gründen als Schutzbedürftige oder als so genannte De-facto-Flüchtlinge eine vorübergehende

Aufnahme (vgl. Art. 4 AsylG) gewährt werden muss.

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Flüchtlingsbegriffs mit der Funktion des Asylrechts: Es sei nicht dessen Aufgabe, die Menschen

vor den allgemeinen Unglücksfolgen von Kriegen, Revolutionen und Unruhen zu bewahren.82

Die Frage nach der gezielten Verfolgung stellt sich insbesondere bei Gruppenverfolgungen und

bei Bürgerkriegssituationen. Es ist davon auszugehen, dass Verfolgung häufig kein Phänomen ist,

das nur eine einzelne Person betrifft. Insbesondere wenn man bedenkt, dass gerade

Flüchtlingsströme, die durch den Zweiten Weltkrieg und die Errichtung kommunistischer

Regimes in Osteuropa verursacht wurden, unmittelbaren Anlass zur Schaffung der GFK gaben.

In Situationen, die eine ganze Gruppe betreffen, kann das Erfordernis der individuellen

Verfolgung nur eine eingeschränkte Gültigkeit haben. Es kann auch ein ganzes Kollektiv Ziel

einer Verfolgung sein. Die Anforderungen an die Feststellung einer Kollektivverfolgung sind

jedoch sehr hoch. In der Regel reicht die alleinige Zugehörigkeit zu einem betroffenen Kollektiv

– das in seinen spezifischen Eigenschaften Ziel einer Verfolgungshandlung ist – nicht aus, um die

Flüchtlingseigenschaft zu begründen. Die Angriffe auf das Kollektiv müssen derart intensiv sein,

dass jedes Gruppenmitglied mit gutem Grund befürchten muss, von der Verfolgung getroffen zu

werden. 83 Gemäss dem UNHCR sollte bei einer Kollektivverfolgung die Grösse der betroffenen

Gruppe unerheblich sein.84

Die Asylpraxis der Schweiz anerkennt in ihrer neueren Rechtsprechung, dass es auch in

Bürgerkriegssituationen gezielte Verfolgungshandlungen geben kann. Trotzdem wird in den

meisten Fällen davon ausgegangen, der Krieg richte sich nicht primär und gezielt gegen die

Bevölkerung; diese sei vielmehr eine ungewollte „Zielscheibe“. In Kriegssituationen kann sich

der Vollzug einer Wegweisung jedoch als nicht zulässig, nicht zumutbar oder nicht möglich

erweisen. Das Bundesamt für Migration regelt in diesen Fällen das Anwesenheitsverhältnis nach

den gesetzlichen Bestimmungen des Ausländergesetzes (vgl. Art. 44 Abs. 2 AsylG). Das

schweizerische Ausländergesetz verdeutlicht die Beurteilung solcher Fälle in Art. 83 Abs. 4 AuG

in dem Sinne, dass der Wegweisungsvollzug für die betroffenen Personen als unzumutbar

eingestuft werden kann, „wenn sie in Situationen wie Krieg, Bürgerkrieg, allgemeiner Gewalt

und medizinischer Notlage im Heimat- oder Herkunftsstaat konkret gefährdet sind“.85

82

Ebd. mit Hinweis auf ein Urteil des deutschen BVerwG. 83

EMARK 2006 Nr. 1, E. 4.3., S. 3 f. Eine Kollektivverfolgung wurde bisher in der Schweizer Rechtsprechung nur

wenige Male bejaht: Tutsi in Ruanda (EMARK 1998 Nr. 16); Muslime in Srebrenica, Bosnien-Herzigowina (EMARK

1997 Nr. 14); Jeziden in der Türkei (EMARK 1995 Nr. 1). 84

Der UNHCR führt dazu weiter aus: „[D]ie Tatsache, dass alle Mitglieder der Gemeinschaft im selben Ausmaß

betroffen sind, beeinträchtigt in keiner Weise die Berechtigung des Anspruchs des Einzelnen. Ganz im Gegenteil sollten solche Tatsachen die Anerkennung erleichtern, da der soziologische Prozess der Ausgrenzung, den eine

solche Stigmatisierung mit sich bringt, einen eindeutigen Archetyp der Verfolgung darstellt.“ Vgl. UNHCR,

Auslegung, §21, S. 7. 85

Neuerer Entscheid in Bürgerkriegssituationen, wo die Unzumutbarkeit des Wegweisungsvollzugs bejaht wurde:

BVGE 2008/2 (Sri Lanka). Für Asylsuchende, anerkannte Flüchtlinge, Staatenlose und Schutzbedürftige sind in erster

Linie die Bestimmungen des Asylgesetzes und die entsprechenden völkerrechtlichen Verträge massgebend. Art. 58

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5. Die Verfolgungsmotivation

Die Verfolgungsmotive gehören zu den grundlegenden Elementen für die Anerkennung der

Flüchtlingseigenschaft. Nicht jede Menschenrechtsverletzung oder begründete Furcht vor

Verfolgung ist asylrelevant. Eine Verfolgung führt nur dann zu einer Flüchtlingsanerkennung,

wenn sie aufgrund einer bestimmten Motivation erfolgt ist. Gemäss der Konvention und des

Asylgesetzes gilt eine Person dann als Flüchtling, wenn sie „wegen ihrer Rasse, Religion,

Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen

Überzeugung“ verfolgt wird. Unerheblich ist, ob die betroffene Person aus einem oder aufgrund

von mehreren, sich überschneidenden Gründen einer Verfolgung ausgesetzt ist.86

Die fünf abschliessend aufgezählten Verfolgungsmotive stehen alle in enger Verbindung zum

Diskriminierungsverbot. Warum sich der Flüchtlingsschutz bloss auf einen Teil der Opfer

schwerer Menschenrechtsverletzungen, konkret auf die Opfer von Diskriminierungstatbeständen

beschränkt, ist historisch zu erklären. In den Institutionalisierungsversuchen des

Flüchtlingsschutzes vor dem Zweiten Weltkrieg ging man nicht von Flüchtlingen als Individuen

aus, sondern von einem Kollektiv, das sich über die Religion, die Nationalität oder die politische

Anschauung definierte. Diese Personen standen aufgrund ihrer „Andersartigkeit“ im Widerspruch

zur vorherrschenden Gesellschaft und zur staatlichen Macht.

Diese geschichtlichen Flüchtlingserfahrungen beeinflussten nicht nur die Debatten darüber,

welche Verfolgungsmotive in der Konvention Erwähnung finden sollten, sondern machten auch

deutlich, welches die vorherrschenden Meinungen waren bezüglich der Frage, was unter

Verfolgung zu verstehen war und welche Menschenrechte es vorrangig zu schützen galt. Die

Beschränkung auf die angeführten Verfolgungsmotive sollte jedoch nach dem Zweck der

Flüchtlingskonvention nicht zu einer massiven Einschränkung in der Interpretation führen. Es

sollte primär an diejenigen Motive angeknüpft werden, die aufgrund von historischen

Erfahrungen am häufigsten vorkamen und eng mit der Persönlichkeit des Menschen verbunden

waren.87

Falls es zu Überschneidungen der einzelnen Verfolgungsmotive kommt, erübrigt sich in der

Praxis eine analytische Abgrenzung der einzelnen Motive, weil das Vorliegen eines einzigen

Verfolgungsmotivs bereits für die Asylrelevanz ausreicht.88

AsylG hält indes fest, das sich die Rechtsstellung der Flüchtlinge in der Schweiz nach dem für Ausländerinnen und

Ausländer geltenden Recht richtet, soweit nicht besondere Bestimmungen, namentlich des Asylgesetzes und der

Genfer Flüchtlingskonvention anwendbar sind. 86

Vgl. UNHCR, Handbuch, § 66, S. 19. 87

Vgl. BINDER, S. 187 f. 88

Vgl. KÄLIN, Grundriss, S. 92.

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5.1 Die Relevanz der Perspektive des Verfolgers

Wichtig bei der Beurteilung des Vorhandenseins eines relevanten Verfolgungsmotivs ist

ausschliesslich die Perspektive des Verfolgers – auch wenn diese unberechtigt sein mag – und

nicht, ob die verfolgte Person diese Gesinnung oder Eigenschaft tatsächlich besitzt.

Die schweizerische Asylpraxis hat bisher weitgehend darauf verzichtet, die asylrelevanten

Verfolgungsmotive näher zu definieren. Ausgegangen wird dabei von der Meinung, dass weder

das BFM noch das Bundesverwaltungsgericht dafür zuständig seien, in einer genaueren

Definition darzulegen, was die Begriffe «Rasse», «Religion» oder «soziale Gruppe» umfassend

bedeuten könnten.89 Denn „die Erfüllung der Flüchtlingseigenschaft kann (…) bei einem

zeitgemässen Verständnis des Flüchtlingsbegriffs nicht von einer bestimmten Definition eines

Verfolgungsmotivs abhängig sein, bestimmt doch letztlich der Verfolger allein, wen er weshalb

verfolgt, und damit auch, ob und wie er von ihm verfolgte «Rassen» oder «soziale Gruppen» etc.

definiert.“90 Es gilt dabei eine Balance zu finden zwischen einem handhabbaren

Beurteilungsmassstab – d.h. Richtlinien, die genügend bestimmt sind – und einem gewissen Mass

an Flexibilität. Um diesem Bedürfnis nach Richtlinien gerecht zu werden, sollen die einzelnen

Motive kurz skizziert werden.

5.2 Subjektive oder objektiv feststellbare Verfolgungsmotivation

Fraglich ist, ob bei der Prüfung der Verfolgungsmotive die subjektive Motivation des Verfolgers

ausschlaggebend ist oder ob auf eine objektive, aussenstehende Betrachtungsweise abgestellt

werden soll. Gegen das Abstellen auf die subjektiven Beweggründe des Verfolgers sprechen

verschiedene Argumente. Zum einen ist es aus praktischen Gründen oft nicht möglich, zu

eruieren, was der Verfolger mit seinem Tun bezwecken will bzw. wie sich sein Wille

ausgestaltet. Zum anderen wird dabei vollkommen die Perspektive des Opfers missachtet; dem

Täter wird eine Aufmerksamkeit zuteil, die in einem asymmetrischen Verhältnis steht zur

Situation und zu den Ängsten des Opfers. Weiter widerspricht das Abstellen auf die subjektive

Sicht der traditionellen Auffassung des Asylrechts; das Asylrecht berechtigt aufgrund des

Völkerrechts jeden Staat, Flüchtlingen Asyl zu gewähren. Damit einher geht die Idee, dass jedem

dieser Staaten – unter Berücksichtigung des nationalen Asylrechts und der Genfer

Flüchtlingskonvention – die Beurteilung selbst überlassen werde sollte, ob aus seiner Sicht eine

Verfolgung vorliegt oder nicht. Aufgrund des Gesagten sollte also von einer Betrachtungsweise

ausgegangen werden, die einen Sachverhalt so beurteilt, wie er sich objektiv präsentiert.91

89

Vgl. STÖCKLI, S. 527. 90

EMARK 2006 Nr. 32, E. 8.7.1., S. 357. 91

Vgl. KÄLIN, Grundriss, S. 89 f. und S. 1 f.

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5.3 Verfolgungsmotive

5.3.1 Rasse

Der Rassenbegriff der Flüchtlingskonvention soll in einem sozialen und nicht in einem

naturwissenschaftlichen Sinne verstanden werden. Das bedeutet, dass der Begriff im Bereich des

Flüchtlingsschutzes sehr weit zu verstehen ist; er stellt nicht auf rein körperliche Merkmale ab,

sondern bezieht auch die Fälle mit ein, in denen Personen von ihren Verfolgern einer als

minderwertig eingestuften rassischen Gruppe zugezählt und aufgrund dessen unterdrückt

werden.92 Für die Auslegung kann auf das Internationale Übereinkommen zur Beseitigung jeder

Form von Rassendiskriminierung von 1966 verwiesen werden. 93

Der Begriff der Rasse wird in der heutigen Fachsprache oft ersetzt durch die Bezeichnung

«ethnische Gruppe/Herkunft»94. Darin enthalten ist häufig auch eine nationale Komponente; im

Ausdruck der «Ethnie» gibt es folglich Überschneidungen zwischen dem Rassenbegriff und dem

Begriff der Nationalität.

5.3.2 Religion

Verfolgung aufgrund einer religiös bedingten Motivation erfolgt meist durch Massnahmen, die

ergriffen werden, weil die betroffene Person einer bestimmten religiösen Gemeinschaft angehört,

ihre religiösen Anschauungen kundtut, sich zu ihrem Glauben öffentlich bekennt und den

Glauben ausübt, an Kultushandlungen teilnimmt oder den Wechsel zu einer anderen Religion

vorgenommen hat. Auf nationaler und völkerrechtlicher Ebene wird die Glaubens- und

Gewissensfreiheit durch Art. 15 BV, den Art. 9 der EMRK95 und den Art. 18 des UNO-Pakts II96

gewährleistet. Es kann für die Beurteilung des Begriffs der Religion auf die Formulierungen

dieser Bestimmungen zurückgegriffen werden.97

92

Vgl. KÄLIN, Grundriss, S. 91; UNHCR, Handbuch, §68, S. 19. 93

Internationales Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung vom 7. März 1966; für

die Schweiz in Kraft getreten am 29. Dezember 1994, SR 0.104. Darin wird Rassendiskriminierung verstanden als

„jede auf der Rasse, der Hautfarbe, der Abstammung, dem nationalen Ursprung oder dem Volkstum beruhende

Unterscheidung, Ausschliessung, Beschränkung oder Bevorzugung, die zum Ziel oder zur Folge hat, dass dadurch

ein gleichberechtigtes Anerkennen, Geniessen oder Ausüben von Menschenrechten und Grundfreiheiten im

politischen, wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen oder jedem sonstigen Bereich des öffentlichen Lebens vereitelt

oder beeinträchtigt wird“. 94

Der Begriff der Ethnie ist in kulturanthropologischen Fachdiskussionen umstritten. Vgl. dazu: BAUSINGER,

HERMANN, Ethnizität – Placebo mit Nebenwirkungen, in: Köstlin, Konrad/ Nikitsch, Herbert: Ethnographisches

Wissen: Zu einer Kulturtechnik der Moderne, Wien 1999, S. 31–41. 95

Europäische Menschenrechtskonvention vom 4. November 1950, SR 0.101. 96

Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 16. Dezember 1966, SR 0.103.2. 97

Vgl. GOODWIN-GILL/McADAM, S.71.

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5.3.3 Nationalität

Der Begriff der «Nationalität» sollte nicht mit der Staatsangehörigkeit gleichgesetzt werden.

Menschen können zwar von demjenigen Staat verfolgt werden, dessen Staatsangehörigkeit sie

besitzen, doch findet eine Verfolgung meistens kaum aufgrund dieses Faktums statt. In einem

weiteren Sinne meint der Ausdruck «Nationalität» vor allem die Zugehörigkeit zu einer

bestimmten ethnischen Gruppierung. Eine solche Gruppierung zeichnet sich in der Regel weniger

über die Staatsangehörigkeit aus, sondern vielmehr über gemeinsame Traditionen, Erziehung,

Sprache oder Kultur.98

5.3.4 Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe

Der Begriff der «Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe» wird international in Lehre

und Praxis kontrovers beurteilt. An dieser Stelle soll der Einfachheit halber für die Identifikation

einer solchen Gruppe auf zwei Herangehensweisen zurückgegriffen werden.

Zum einen kann auf die Haltung und das Verhalten der (potentiellen) staatlichen Verfolger oder

anderer Gruppen in der gleichen Gesellschaft abgestellt werden. Wird eine Mehrzahl von

Personen von den staatlichen Behörden oder anderen Gruppen aufgrund charakteristischer

Eigenschaften, Aktivitäten, Überzeugungen, Interessen oder Ziele als abgrenzbare oder

abgegrenzte Gruppierung wahrgenommen oder behandelt, bilden diese Menschen eine soziale

Gruppe im Sinne der GFK. Ein anderer Ansatz geht davon aus, „dass derartige Gruppen

Merkmale haben, die entweder angeboren sind oder einen historischen Hintergrund haben und

deshalb nicht geändert werden können, oder Merkmale, die zwar geändert werden könnten, deren

Änderung aber nicht verlangt werden sollte, da sie eng mit der Identität einer Person verbunden

beziehungsweise ein Ausdruck grundlegender Menschenrechte sind“.99

Eine zentrale Frage, die sich bei diesem genannten Verfolgungsmotiv stellt, ist diejenige nach

dem Geschlecht oder der sexuellen Ausrichtung. Fraglich ist dabei, ob diese Merkmale

hinreichend spezifisch sind, um die betreffenden Personen unter den Begriff der bestimmten

sozialen Gruppe zu subsumieren. Bezüglich einer allgemeinen Beantwortung dieser Frage gibt es

keine einheitliche Staatenpraxis; in den letzten Jahren ist jedoch eine wachsende Tendenz zu

beobachten, insbesondere gewisse Gruppen von Frauen als bestimmte soziale Gruppe

anzuerkennen. Festzuhalten ist an dieser Stelle, dass es dabei nicht um die Frage geht, ob Frauen

98

Vgl. UNHCR, Handbuch, § 74, S. 20. Staatenlose fallen ebenfalls unter den Begriff der Nationalität, da sie häufig

gerade aufgrund des Fehlens einer solchen unterdrückt oder misshandelt werden, siehe hierzu KÄLIN, Grundriss, S.

94. 99

UNHCR, Auslegung, § 27, S. 8. Siehe hierzu die mehrfach zitierte kanadische Ward Rechtsprechung (Attorney

General of Canada v. Ward (1993) 103 D.L.R. (4th) 1.). Zitiert in KÄLIN, Gender-Related Persecution, S. 124.

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tatsächlich eine solche soziale Gruppe bilden, sondern ob sie vom Staat oder der Gesellschaft als

eine solche behandelt werden.100

5.3.5 Politische Anschauung

Das Motiv der politischen Anschauung ist in der Praxis der wichtigste Verfolgungsgrund.

Unter «politisch» wird alles verstanden, was in einer Verbindung zur staatlichen,

gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Ordnung steht, das heisst alles, was eine

gewisse Kritik an dieser Ordnung erkennen lässt. Dabei reicht es aus, wenn nur punktuell

einzelne Bereiche daran in Frage gestellt werden. Ebenso gilt auch eine bewusst neutrale

Anschauung als politische Meinung. Entscheidend ist jedoch, dass der Verfolger in Kenntnis

dieser systemfeindlichen Gesinnung ist und negativ darauf reagiert. Eine oppositionelle Haltung

an sich ist noch nicht asylrelevant.101

6. Innerstaatliche Schutzalternative

Eine Person, die nur in einem Teil des Landes verfolgt wird und sich in eine andere Region

begeben kann, bedarf nicht des Schutzes der internationalen Gemeinschaft, dem in diesem Sinne

nur ein subsidiärer Charakter zukommt. Ist der betreffende Heimatstaat – u.U. kann es sich beim

Schutzgewährer auch um eine quasi-staatliche Körperschaft oder gar um eine internationale

Organisation handeln102 – in der Lage und willens, den Verfolgten in einem anderen Landesteil

Schutz zu gewähren, so ist der Asylsuchende darauf zu verweisen. Die innerstaatliche

Schutzalternative versteht sich sowohl im Sinne der Konvention als auch des Asylgesetzes als

materielle Schranke des Flüchtlingsbegriffs.103

Der Heimatstaat muss der betroffenen Person wirksamen Schutz bieten können; es ist dabei nicht

ausreichend, dass sie dort keine unmittelbaren Verfolgungsmassnahmen erreichen. Die

Anforderungen an die Effektivität des Schutzes sind sehr hoch.104

Wirksamer Schutz bedingt zunächst, dass die betroffene Person nicht wiederum Opfer einer

Verfolgung im Sinne von Art. 3 AsylG wird. Eine effektive Schutzgewährung ist auch dann nicht

gegeben, wenn die Person bereits in ihrer Heimatregion durch staatliche Organe unmittelbar

100

Vgl. EMARK 2006 Nr. 32. Siehe zur Frage frauenspezifischer Verfolgung viel ausführlicher BINDER, S. 434 ff. 101

BFM, Handbuch, Kap. D § 1, S. 22. Es ist jedoch auch möglich, dass eine Person verfolgt wird, weil sie durch

verbotene Handlungen ihre politische Einstellung ausdrückt. Dabei ist zu prüfen, ob die Bestrafung Verfolgung im

Sinne des Asylgesetzes oder aber eine legitime staatliche Reaktion darstellt. Siehe zur Abgrenzung von legitimer und illegitimer Verfolgung ausführlicher: KÄLIN, Grundriss, S. 99 ff. 102

Vgl. zu den quasi-staatlichen Körperschaften EMARK 2000 Nr. 15 E. 10.a), S. 119 ff.; zu den internationalen

Organisationen: in EMARK 2006 Nr. 18 offengelassen, Bejahung durch Art. 7 Abs. 1 der EU-Qualifikationsrichtlinie. 103

Dogmatisch ist der Einwand der innerstaatlichen Flucht- oder Schutzalternative direkt aus Art. 1A Abs. 2 GFK

abzuleiten. Vgl. KÄLIN, Grundriss, S. 73. 104

Vgl. BVGE 2008/4 E. 6.1.-6.7.

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verfolgt wurde – ein Wegzug in eine andere Region vermag eine Weiterführung der

Verfolgungsmassnahmen nicht wirkungsvoll zu unterbinden.105 Eine weitere Anforderung an die

Effektivität des Schutzes ist die Zumutbarkeit der Alternative. Das bedeutet, dass die Alternative

ein bewohnbares und sicheres Umfeld frei von drohender Verfolgung bieten muss, in der die

Person gemeinsam mit ihren Angehörigen unter vergleichbaren wirtschaftlichen, sozialen und

kulturellen Bedingungen wie andere unter normalen Umständen lebende Bewohner des Landes

ein intaktes Leben führen kann, einschliesslich der Ausübung und Inanspruchnahme der

bürgerlichen und politischen Rechte.106 Nach Ansicht des UNHCR beinhaltet die Frage nach

wirksamem Schutz eine Reihe von Überlegungen. Wichtig ist die Beurteilung der

innerstaatlichen Schutzalternative insbesondere in Fällen nichtstaatlicher Verfolgung. Dabei stellt

sich konkret die Frage, ob die der begründeten Furcht zugrundeliegende Gefahr in ausreichendem

Masse durch verfügbaren und effektiven nationalen Schutz entschärft werden kann. Für die

Beurteilung der Situation bedarf es einer sorgfältigen Abwägung mehrerer Faktoren, etwa des

allgemeinen Zustands von Recht und Ordnung, der Justiz im Land und deren Durchschlagskraft,

oder auch der verfügbaren Ressourcen sowie der Fähigkeit und Bereitschaft, diese zum Schutz

der Bewohner in angemessener und wirksamer Weise einzusetzen.

7. Exkurs: Frauenspezifische Verfolgung107

Die Hälfte aller Menschen, die unter das Schutzmandat des UNHCR fallen und von denen es

Daten gibt, sind Frauen.108

Die internationalen Debatten über geschlechtsspezifische Flüchtlingsangelegenheiten erzielten in

der Schweiz erst in den späten 1980er Jahren eine Wirkung. In der Botschaft des Bundesrates von

1995 wurde festgehalten, der Bundesrat erlasse Massnahmen, die im Verfahren der speziellen

Situation von Frauen (und Kindern) gerecht würden (vgl. Art. 17 Abs. 2 AsylG). Eine Aufnahme

des Geschlechts als Verfolgungsmotiv wurde mit Verweis auf die GFK und die Staatenpraxis

abgelehnt.109 In Art. 3 Abs. 2 AsylG wurde durch die Totalrevision 1998 die Formulierung „den

frauenspezifischen Fluchtgründen ist Rechnung zu tragen“ aufgenommen. Die hauptsächlich

verfahrensrechtlichen Massnahmen in Bezug auf die besondere Berücksichtigung des

Geschlechts reichen gemäss verschiedenen nationalen und internationalen Studien jedoch bis zum

105

Vgl. EMARK 1996 Nr. 1 S. 5 ff. 106

Vgl. UNHCR, Auslegung, § 13-15, S. 4 f. 107

Zur gesamten Thematik berücksichtige BINDER, S.269 ff. 108

Vgl. UNHCR, Yearbook, S. 34. 109

Vgl. Botschaft zur Totalrevision des Asylgesetzes sowie zur Änderung des Bundesgesetzes über Aufenthalt und

Niederlassung der Ausländer vom 4. Dezember 1995, BBl. 1996 II 40 f. und 50.

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heutigen Zeitpunkt nicht aus, den individuellen Fluchtgründen von Frauen tatsächlich gerecht zu

werden.110

Um die Relevanz geschlechtsspezifischer Verfolgung aufzuzeigen, muss primär zwischen dem

Begriff «gender» und dem Begriff «sex» unterschieden werden. «Gender» bezieht sich auf das

Verhältnis zwischen Mann und Frau, basierend auf sozial und kulturell konstruierten und

definierten Identitäten, Statusfragen, Rollen und Verpflichtungen, die für das eine oder andere

Geschlecht festgesetzt werden; «sex» bezieht sich hingegen auf das biologische Geschlecht.111

Diese geschlechtsspezifischen Festlegungen und Zuschreibungen unterliegen einem zeitlichen

und räumlichen Wandel und widerspiegeln den jeweiligen Zeitgeist. Die Rollenzuteilungen

variieren gleichzeitig auch bezüglich regionalem, traditionellem, sozialem, ökonomischem und

kulturellem Kontext, was bei der Beurteilung einer asylrelevanten Verfolgung nicht ausser acht

gelassen werden darf.112 Was unter frauenspezifischer Diskriminierung verstanden werden kann,

lässt sich dem Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau von

1979 entnehmen.113

Für die frauenspezifische Verfolgung lassen sich grob fünf Situationen herauskristallisieren:

(1) die Form der Verfolgung ist geschlechtsspezifisch (z.B. Vergewaltigung); (2) die Verfolgung

von weiblichen Familienmitgliedern dient dazu, männliche Angehörige zu treffen (z.B. bei

Fragen der Ehre oder bei Entführungen, Erpressungen);114 (3) die Verfolgung wird vom Staat

geduldet, weil absichtlich Traditionen oder Sitten missachtet wurden; (4) die Verfolgung

aufgrund von asylrelevanten oder –irrelevanten Gründen geht von nicht-staatlichen Akteure aus,

doch gewährt der Staat keinen Schutz, weil er dazu nicht gewillt ist aufgrund von asylrelevanten

Motiven; (5) die Verfolgung ergeht aufgrund von nicht-asylrelevanten Motiven, doch der Staat

gewährt keinen Schutz, da er dazu nicht in der Lage ist.115

Ein Grundsatzurteil zur frauenspezifischen Verfolgung stellt der Entscheid EMARK 2006 Nr. 32

vom 9. Oktober 2006 dar. Im zu beurteilenden Fall ging es um eine junge äthiopische Frau, die

im Alter von 16 Jahren von einem hohen Offizier, der sie trotz ihrer Weigerung heiraten wollte,

entführt, misshandelt und vergewaltigt wurde. Die Kommission hat im Urteil hervorgehoben,

dass Opfer von Entführung und von Vergewaltigung zwecks Heirat vom äthiopischen Staat nicht

110

Vgl. BRYNER, S. 1383. 111

Vgl. UNHCR, Gender-Related Persecution, § 3, S. 2. 112

Vgl. BRYNER, S. 1381. 113

„[J]ede mit dem Geschlecht begründete Unterscheidung, Ausschliessung oder Beschränkung, die zur Folge oder zum Ziel hat, dass die auf die Gleichberechtigung von Mann und Frau gegründete Anerkennung, Inanspruchnahme

oder Ausübung der Menschenrechte und Grundfreiheiten durch die Frau – ungeachtet ihres Zivilstands – im

politischen, wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen, staatsbürgerlichen oder jedem sonstigen Bereich beeinträchtigt

oder vereitelt wird“ (Art. 1). 114

Es kann sich dabei um eine sog. Reflexverfolgung handeln. Vgl. dazu Fussnote 80. 115

Vgl. KÄLIN, Gender-Related Persecution, S. 118 ff.

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denselben Schutz erhalten, mit dem im Allgemeinen männliche Opfer privater Gewalt rechnen

können. In dieser an das Geschlecht anknüpfenden Diskriminierung weiblicher Gewaltopfer wird

von der ARK ein flüchtlingsrechtlich erhebliches Verfolgungsmotiv erblickt. Ein nach Art. 3

Abs. 1 AsylG relevantes Verfolgungsmotiv kann gemäss diesem Grundsatzurteil, in Nachachtung

von Art. 3 Abs. 2 zweiter Satz AsylG, grundsätzlich auch dann vorliegen, wenn eine Verfolgung

allein an das Geschlecht anknüpft.

IV. Fazit

Die in der GFK verankerte Idee des internationalen Flüchtlingsschutzes hat nach fast sechzig

Jahren nicht an Bedeutung verloren. Mehr denn je wird die Welt mit der Flüchtlingsproblematik

konfrontiert. Nach Schätzungen des UNHCR unterstanden dem Flüchtlingshochkommissariat

Anfang 2008 etwa 31.7 Millionen Menschen, die entweder ausserhalb oder innerhalb ihres

Heimatlandes auf der Flucht waren, sich in einem hängigen Asylverfahren oder sich wieder

freiwillig auf der Rückkehr in ihr Heimatland befanden.116

Schutz für verfolgte und sich in Not befindende Menschen aus dem Ausland ist aus sozialen,

räumlichen, politischen und ökonomischen Gründen ein knappes Gut. Die Asylgewährung durch

die Staaten wird unter diesem Gesichtspunkt zu einem Problem der Verteilungsgerechtigkeit.

Die Formulierung eines Flüchtlingsbegriffs in den 1950er Jahren stellte eine signifikante

Entwicklung in der internationalen Flüchtlingspolitik dar. Dieser Flüchtlingsbegriff beruhte

jedoch letztlich auf einem restriktiven Verständnis des Flüchtlingsrechts. Die Intention der

Ausarbeitung eines solchen Begriffs lag damals und liegt heute – ausgedrückt in der

abschliessenden Aufzählung der Verfolgungsmotive – auf dem rechtlichen Schutz von Personen,

die wegen ihres bürgerlichen oder politischen Status Verfolgung zu befürchten haben. Der

Begriff der Verfolgung nimmt in diesem Sinne nach wie vor einen ganz zentralen Stellenwert ein

in der Beurteilung der Flüchtlingseigenschaft.

Es ist davon auszugehen, dass in der Regel niemand – es sei denn er sucht das Abenteuer oder hat

den Wunsch, die Welt kennenzulernen – ohne zwingenden Grund sein Heim und sein Land

verlässt. Für die unfreiwillige Migration mag es viele zwingende und nachvollziehbare Gründe

geben, aber nur ein Motiv ist für die rechtliche Feststellung der Flüchtlingseigenschaft gemäss

der GFK und des schweizerischen Asylgesetzes relevant. Der Definitionsteil „aus begründeter

Furcht vor Verfolgung“ macht automatisch alle anderen Fluchtgründe für die Definition des

juristischen Flüchtlingsbegriffs irrelevant, da nur diejenigen als Flüchtlinge anerkannt werden,

die Opfer einer Verfolgung wurden oder denen eine solche droht. Der völkerrechtliche

116

Vgl. UNHCR-EXCOM, § 4, S. 2.

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Flüchtlingsbegriff schliesst Personen aus, die Opfer einer Hungersnot oder einer

Naturkatastrophe sind, es sei denn diese Personen hätten auch eine begründete Furcht vor

Verfolgung aus einem der in der Konvention genannten Gründe. In der Staatenpraxis wird dem

Schutz vor einer Gefährdung oder Verletzung von wirtschaftlichen und sozialen Rechten – Recht

auf Nahrung, Wohnung oder Bildung – im Kontext der Flüchtlingskonvention geringe Bedeutung

beigemessen.

Auch wenn das Flüchtlingsproblem in erster Linie humanitäre und menschenrechtliche Fragen

aufwirft, wird die Konzeption des Flüchtlingsrechts bis heute nicht als Instrument des

umfassenden Menschenrechtsschutzes verstanden.

Die weltweiten Konflikte und Menschenrechtsverletzungen haben sich seit der Entstehung der

Genfer Flüchtlingskonvention verändert und neue Formen angenommen. Bei der Auslegung und

Anwendung der Flüchtlingskonvention und des schweizerischen Asylgesetzes ist – mit Blick auf

die Opfer flüchtlingsrechtlich relevanter Verfolgung – der veränderten Verfolgungsrealität

Rechnung zu tragen.

Die Flüchtlingsfrage hat sich insgesamt zu einem sehr komplexen Phänomen entwickelt, dem ein

einzelner Staat alleine kaum mehr gerecht werden kann. Um das Problem zu bewältigen und um

langfristige Lösungen zu finden, ist eine internationale Zusammenarbeit zwischen den Staaten

und dem UNHCR unabdingbar. Wichtig ist in diesem Zusammenhang insbesondere auch, dass

die Dichotomie zwischen den Auslegungsrichtlinien des UNHCR und den Praxen der einzelnen

Staaten verringert wird.

Über all dem darf der Kerngedanke des Flüchtlingsschutzes nicht aus den Augen verloren werden

– der Gedanke des Schutzes, der Menschen in Not zukommen sollte.