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Heidemann, Der Begriff des Spiels

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    II~ Ingeborg Heidemann

    Der Begriff des Spieles und das sthetische Weltbild

    in der Philosophie der Gegenwart

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    Walter de Gruyter & Co. .. v9rmals G.]. Gschen'sche Verlagshandlung . ]. Guttentag, Verlagsbuch

    handlung Georg Reimer Karl J. Trbner . Veit & Comp. Berlin 1968

  • 124 5: Einleitende Problemstellung

    haupt. Aber es ist nicht die Kantische Philosophie als solche, die dieser Thematik zugrunde liegt. Wenn der Errterung des Spielbegriffs in der Philosophie der Gegenwart und insbesondere bei Heidegger eine ausfhrliche Darlegung der Kantischen Aussagen zum Spiel vorangeht, so ist es daher auch weder die Korrektur der Begriffsgeschichte noch die Voraussetzung historischer Abhngigkeiten, von der sich die Problemstellung leiten lt. Die "These" fr die Interpretation der am Spiel orientierten Philosophie um die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts kann vielmehr schrfer dahin formuliert werden, da diese Philosophie dem Problemkreis der "Kritik der Urteilskraft" folgt in einer Art Negation der "Revolution der Denkungsart" der transzendentalphilosophischen Grundlegung der "Kritik der reinen Vernunft", in einer ausdrcklichen Gegenstellung zur Kantischen Philosophie, sofern Kant die apriorischen Bedingungen der Erkenntnis aus dem Entwurf des denkenden Wesens begrndet. Im Hinblick auf diese Weite und Spannung der Grundlegungsfragen setzt die Reflexion ber die erkenntnistheoretische Funktion des Spiel begriffs mit der Bedeutung von "Spiel" bei Kant ein.

    Erstes Kapitel

    Der Spielbegriff bei Kant

    6: Spiel und Erkenntnis

    Spiel und Wissenschaft

    In der Verwendung des Wortes "Spiel" in der kritischen Philosophie Kants lassen sich zunchst verschiedene Bedeutungskreise unterscheiden: das Spiel als Nicht-Ernst und "Erdichtung", das freier Entwurf der schpferischen Spontaneitt sein kann, aber auch das Ergebnis einer Affektion oder einer unkritischen Spekulation; das "Spiel", das die Vernunft mit sich selbst treibt auf dem Kampfplatz der Dialektik, ein unaufhrliches Hin und Her in der Bewegung des Denkens, das entspringt, wenn die Totalitt der Welt und der Ursprung des Seienden bestimmt werden sollen; "Spiel" als Zuflligkeit, Unverbundenheit und Mannigfaltigkeit der Phnomene und empirischer Gesetze; das Spiel zwischen den Gemtskrften, in dem das sthetische Urteil grndet; Spiel als Form des Sinnlichen im Unterschied zu Gestalt; Spiel als Handlung und Ttigkeit im Gegensatz zur Arbeit und die Spiele im engeren Sinne, der zwecklos gesetzte Handlungsbereich, in dem die geistige Aktivitt und die innere Bewegtheit um ihrer selbst willen lustvoll erlebt werden.

    Spiel und Erkenntnis sind geschieden. Das ist im wesentlichen die Position der "Kritik der reinen Vernunft". Das "Geschft" einer Kritik der reinen spekulativen Vernunft ist bezogen auf einen objektiven Zweck; es erstrebt die allgemeine Gltigkeit der Beweisfhrungen, die

  • 127 Der Spielbegriff bei Kant 126

    objektive Realitt der Begriffe, die Festsetzung der Grenze zwischen einem unkritischen Entwurf der Einbildungskraft oder des Denkens und der Philosophie als Wissenschaft. Es hiee eine Arbeit in ein Spiel verwandeln, das bloe Meinen an Stelle des Wissens setzen, sich mit "gedichteten" Begriffen zufriedengeben, wollte man das strenge Vorgehen der Kritik ablehnen!. Die bisherige Metaphysik hat sich mit solchen spielhaften Vorstellungen begngt, mit einem "Spielwerk von Wahrscheinlichkeit und Muthmaung"2, das keinen Anspruch aufWahrheit stellen darf. Denn wenn eine Erkenntnis sich auf einen Gegenstand beziehen soll, so bedarf sie einer entsprechenden Darstellung in der Anschauung: "Ohne das sind die Begriffe leer, und man hat dadurch zwar gedacht, in der That aber durch dieses Denken nichts erkannt, sondern blo mit Vorstellungen gespielt. "3 Der Ausdruck "Spiel" dient zur Kennzeichnung der methodischen Unzulnglichkeit in Grundlegungsfragen der philosophischen Erkenntnis, der Unverbindlichkeit und Beliebigkeit in der Annahme und Zuordnung von Prinzipien und der mangelnden Gltigkeit der Ergebnisse einer spekulativen Metaphysik, die alle Grenzen mglicher Erfahrung bersteigt und deren Aussage nichts anderes sein kann als "Schwrmerei" oder im besten Falle "Erdichtung" - ein leeres Gedankending als ein zwar widerspruchsfreier Begriff, aber doch ein Begriff von Nichts, dem kein Gegenstand korrespondiert'.

    I Vgl. Kr. d. r. V. B XXXVII. - Kants Schriften werden zitiert nach der Ausgabe der Kniglich Preuischen Akademie der Wissenschaften: Kant's gesammelte Schriften, Berlin 1900 ff.j die Kritik der reinen Vernunft - 2. verb. AuR. (B) von 1787 (WW Band III), 1. AuR. (A) von 1781 (z. T. WW IV) - unter Angabe der Originalpaginierung, die anderen Schriften nach der Seiten zhlung der Akademie-Ausgabe.

    Prolegomena zu einer jeden knftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird au/treten knnen (1783), WW IV, S. 369; s. a. S. 278.

    Kr. d. r. V . B 194 f. / A 155. Der Grenzbegriff des Noumenon und gegrndete Hypothesen sind jedoch von

    "bloen" oder "willkrlichen" Erdichtungen zu unterscheiden. B 850/ A 822 fat die wesentlichen Momente zusammen: "Ich darf mich niemals unterwinden, zu me i n e n, ohne wenigstens etwas zu w iss e n, vermittelst dessen das an sich blo problematische Urtheil eine Verknpfung mit Wahrheit bekommt, die, ob sie gleich nicht vollstndig, doch mehr als willkrliche Erdichtung ist. Das Gesetz einer solchen Verknpfung mu berdem gewi sein. Denn wenn ich in Ansehung dessen auch nichts als Meinung habe, so ist alles nur Spiel der Einbildung ohne die mindeste Beziehung auf Wahrheit." Auerhalb des Erfahrungsbereiches ist jedoch das Meinen "so viel, als mit Gedanken Spielen", und

    6: Spiel und Erkenntnis

    Von diesem Spiel einer gleichsam nur dichtenden Vernunft unterscheidet sich das "Widerspiel" der "vernnfteinden" Vernunft insofern, als das "ganze dialektische Spiel der kosmologischen Ideen" zwar auf der Eins.eitigkeit der Konzeptionen beruht, aber als solches weder bloe Fiktion noch ein willkrliches Spielen mit Begriffen oder Ideen ist5 Es ist ein unvermeidlicher Widerstreit, dem die Vernunft nicht gleichgltig wie einem "bloen Spiel gefechte" gegenbersteht - die Dialektik ist der "Kampfplatz" jener Thesen, die das Interesse der Vernunft angehen6 Das Antinomienspiel resultiert nicht aus einer mangelnden Disziplin im Gebrauch der Erkenntnisvermgen, sondern aus der Natur unserer Vernunft selbst. Zufllig ist an ihm nur der scheinbare Sieg desjenigen, der anfngt und in seiner Beweisfhrung aus der Widerlegung der Gegenthese den Vorteil des ersten Zuges hat. Die skeptische Methode besteht daher darin, diesen Gegensatz zu entwickeln und ihn als "Spiel" auszuweisen; so wird es indirekt zu einem Mittel fr die Erkenntnis, das unser Wissen begrenzt bleibt. Sehr deutlich wird hier der Charakter der Scheinhaftigkeit, der nicht wie eine Tuschung oder ein Irrtum auf Grund der theoretischen Einsicht verschwindet; der transzendentale Schein bleibt vielmehr auch dann bestehen, wenn er als Schein erkannt ist. Insbesondere aber zeigt sich das Hin und Her in der dialektischen Bewegung des Denkens, das in die Ausweglosigkeit des Widerstreits zweier Bestimmungen gert - ob die Welt endlich oder unendlich sei, ob es eine letzte Einheit der Materie gibt oder nicht, ob Freiheit mit Naturgesetzlichkeit vereinbar ist oder alles Geschehen aus der unlsbaren Verkettung der Kausalgesetzlichkeit begriffen wer

    eine Hypothese ist allenfaLls zur Verteidigung im "Widerspiel" gegen ..Scheineinsichten des Gegners" erlaubt (B 803 f. / A 775 f.).

    Kr. d. r. V. B 490/ A 462. - Den Ausdruck"Widerspiel" verwendet Kant vornehmlich fr das der Lehre von der Freiheit und der Sittlichkeit Widerstreitende, aber auch im allgemeineren Sinnej vgl. B 190/ A 151, B 477 / A 449, WW XX, S.291 und Kritik der praktischen Vernunft (1788), WW V, S.28, 29, 35, 73. Nach der Metaphysik der Sitten (1797) - WW VI - und der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798) - WW VII - ist das Widerspiel (oontrarie s. realiter oppositum) terminologisch vom logischen Gegenteil (contradictorie oppositum) zu unterscheiden (WW VI, S.384j s. a. S. 429, 464 f. und WW VII, S.230).

    Kr. d. r. V. B 492 f. / A 464 f.j s. a. B XIV f. Die kosmologische Antinomie ist also keineswegs dem "Spielwerke der alten dialektischen Schulen" (B 517 f./ A 489 f.) oder einem "Kinderspiel" (B 771 / A 743) vergleichbar.

  • 128 129 Der Spiel begriff bei Kant

    den mu. Da die Vernunft, eben dann, wenn sie die Regeln des konsequenten Denkens anwendet, kein sachliches Kriterium der Entscheidung hat, die Mglichkeiten der Interpretation des Ganzen aber auch nicht zusammendenken kann in einem widersprechenden Begriff des Endlich-Unendlichen, berlt sie die Entscheidung entweder dem Zweck der Praxis des Erkennens und Handelns, oder sie hlt sich im Zwischenbereich der theoretischen Unentscheidbarkeit, dem Aspekt der bloen Mglichkeit. Die so auftretende Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis wird in der Gegenberstellung der isolierten theoretischen Haltung und der Lebenseinstellung deutlich: Der Mensch, der auf die Dialektik der Vernunft eingeht, mu sich heute als frei betrachten, morgen als ein Glied in der Kette der Kausalverknpfungen; aber "dieses Spiel der blo speculativen Vernunft" vergeht in Nichts in der Realitt des Handeins. Es verschwindet "wie Schattenbilder eines Traums"7.

    Das "Spiel" der Erkenntnisvermgen, der Einbildungskraft, des Verstandes oder der Vernunft mit und in ihren Vorstellungen ist kein sthetisches Spiel im Sinne der "Kritik der Urteilskraft". Es grndet nicht in einem interessefreien Spiel zwischen den Vermgen, nicht in einer freigesetzten Bettigung der schpferischen Einbildungskraft. Das Erkenntnisstreben richtet sich vielmehr auf einen Zweck; es erreicht ihn jedoch nicht, weil es die Mglichkeiten der einzelnen Erkenntnisbedingungen unkritisch hypostasiert und nicht unterscheidet zwischen dem Bereich der Erfahrung und dem Bereich dessen, was die Erfahrung notwendig transzendieren mu. Erst die Bewutseinshaltung der transzendentalen Reflexion, die den Unterschied zwischen dem Erreichbaren und dem Unerreichbaren in der Erkenntnis setzt, lst das dialektische Hin und Her der Positionen auf, indem sie es als "Spiel" bewut macht und ausweist. Geht man auf die Bestimmung des Phnomens zurck, so entspricht diese Auflsung in der Tat der Grenzsetzung zwischen Spiel und Wirklichkeit. Das Spiel nimmt in seinen Totalittsbereich das

    , Kr. d. r. V. B 503/ A 475. Auch ber solche anschaulichen Darstellungen hinaus wird deutlich, wie das Hin und Her auf die theoretische Vernunft beschrnkt ist: das praktische Interesse .kommt im blo speculativen Streite niemals mit ins Spiel" (B 772 / A 744) i das .freie Interesse" der praktischen Vernunft ist vielmehr ein "Entscheidungsgrund" , der, sobald er "ins Spiel kommt", "im Schwanken der speculativen Vernunft den Ausschlag zu geben" vermag (Kr. d. pr. V. S.145).

    6: Spiel und Erkenntnis

    realiter Unerreichbare hinein, es verwischt die Unterscheidungen, verbindet das Unvereinbare und entwirft eine eigene Gesetzlichkeit, in d~r es Sinn und Bedeutung verleiht. So ist es zwar in sich konsequent, aber es entspricht nicht der Philosophie als Wissenschaft, die ihre Begriffe zu rechtfertigen und am Gegebenen zu belegen hat und die verwiesen ist auf die Grenzen, die eine kritische Reflexion auf die Bedingungen der Mglichkeit der Erkenntnis dem Verstand setzt. Die naheliegende Frage, ob das System der Transzendentalphilosophie nicht selbst einem umfassenden Regelspiel gleichkommt, da es die Vernunft als isolierte Ganzheit voraussetzt, das Ansichsein der Dinge ausklammert und die objektive Gltigkeit der Kategorien auf das Feld der Gegenstnde der Erfahrung beschrnkt, kann mit Kant beantwortet werden aus dem Ergebnis der kritischen Philosophie: die Kritik beansprucht, im Gegensatz zur Flchtigkeit und Vergnglichkeit eines bloen Spiels einen "beharrlichen Zustand" herbeizufhren und einem "bleibenden Zweck" zu dienen8 Darber hinaus scheint es durchaus mglich, den apriorischen Entwurf der Schemata und Grundstze des reinen Verstandes in Analogie zu einem Spiel aufzufassen, vorausgesetzt, da unterschieden wird zwischen der Geltung willkrlich gesetzter Spielregeln und der Allgemeingltigkeit und Notwendigkeit der Regeln des reinen Verstandes innerhalb der "Grenze des Bodens, worauf allein dem reinen Verstande sein Spiel erlaubt ist"9. Wie im thematischen Zusammenhang einer solchen Redewendung die positive Bedeutung des Spielens als freie Aktivitt und Bestimmungsfunktion des reinen Verstandes zugleich mit dem Charakter eines zwar erlaubten, aber eben doch begrenzten und bloen Spieles im Hinblick auf die weiteren und hheren Ansprche der Vernunft anklingen knnten1o, so knnte auch die Konstituierung der empirischen Erkenntnis aus dem apriorischen Entwurf der Spontaneitt des Ich-denke wohl als ein strenges Regelspiel angesehen werden gegenber der unerkannten Wirklichkeit des Ansichseins. Das Kriterium der Unterscheidung von Wissenschaft und Spiel innerhalb metaphysischer Erkenntnis wrde jedoch erhalten bleiben als der , Prolegomena, S. 382. Kr. d. r. V. B 352/ A 296.

    10 Die Wissenschaften, wie immer sie dazu beitragen mgen, "unsre knftige Bestimmung zu entdecken", geben keine "Triebfeder" zur moralischen Entwicklung. "Sie gehren zum Spiel des Menschlichen Geschlechts, aber nicht zu seinen Zwekken." (Reflexion 4670, WW XVII, S.634).

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  • 131 130 Der Spielbegriff bei Kant

    Gegensatz einer Disziplin der reinen Vernunft und eines "leichtsinnigen Spiels mit Einbildungen statt Begriffen und Worten statt Sachen"l1.

    Eine weitere Bedeutung des Ausdruckes "Spiel" bezieht sich auf den sinnleeren, regellosen Wechsel der Anschauungen, ihre ungeordnete Flle, auf die "gesetzlose" Freiheit und die Zuflligkeit der Assoziationen. Das zeitliche Nacheinander ist in sich nicht bestimmt, und ohne den Grundbegriff des reinen Verstandes fr die Verknpfung der Erscheinungen, ohne die Kategorie der Kausalitt, wrden wir keine Einheit des Verstehens von Wahrnehmungen erreichen, sondern uns nur einem "Spiel der Vorstellungen" gegenbersehen, "das sich auf gar kein Object bezge"12. Das wesentliche Moment ist hier nicht der mangelnde Bezug einer Spekulation auf die Anschauung und die Beispiele der Erfahrung, sondern die fehlende Bestimmtheit durch die Kategorie. Die Erscheinungen mten ihrer dynamischen Verbindung nach ununterschieden bleiben, es gbe daher keine objektiv gltige empirische Erkenntnis, wenn nicht die Regel des Verstandes das Mannigfaltige ordnen knnte. In der bloen Phnomenalitt ist diese Ordnung nicht festgelegt, die assoziative Verknpfung ist beliebig und zufllig, die Zeit als Form der Vorstellung enthlt kein Kriterium, um die Zeitstelle zu fixieren. Das Verhltnis von Spiel und Erkenntnis stellt sich in diesem Zusammenhang dar als der Unterschied zwischen dem "Spiel der Vernderungen" und der "Natur der Dinge (als Erscheinungen)"13. Die Kennzeichnung als "Spiel" bezieht sich auf die Momente der Wiederholbarkeit und Transponierbarkeit in der Zeit und die Offenheit der sthetischen Regelung fr die Bestimmung aus der Einheit des Verstandes. Durch die apriorischen Naturgesetze wird das Spiel der Vernderungen einer Natur "unterworfen", das heit, in einen gesetzlichen Zusammenhang gebracht, der das "blinde Ungefhr" und die "blinde Notwendigkeit", den "Absprung" und die "Kluft" zwischen den Geschehnissen ausschliet - die Naturgesetzlichkeit ist als solche keiner Bestimmung mehr offen, sie lt keine "Lcke" fr die Freiheit oder den Zufall in ihrem Grundprinzip. Andernfalls wrde, wie die dritte Antithesis argumentiert, das "Spiel der Erscheinungen, welches

    11 Kr. d. r. V. B 738/ A 710. tt Kr. d. r. V. B 239/ A 194, im Zusammenhang der zweiten Analogie Grundsatz der Zeitfolge nach dem Gesetze der Causalitt".

    11 Ebd. B 280 f. / A 228.

    6: Spiel und Erkenntnis

    nach der bloen Natur regelmig und gleichfrmig sein wrde", verworren und zusammenhanglos14

    Stellt man die Frage, ob diesen Verwendungen des Ausdruckes "Spiel" in der "Kritik der reinen Vernunft" eine gemeinsame Bedeutung zukommt, so kann man nicht auf das Moment der Scheinhaftigkeit oder das der Regellosigkeit zurckgehen. Unabhngig davon, ob es sich um einen philosophischen Terminus, eine bertragung oder eine bildhaft anschauliche Darstellung handelt - als gemeinsames Charakteristikum tritt zunchst die Subjektivitt hervor, einmal im Bereich des Denkens, zum anderen im Bereich der Anschauung und Erscheinung. Da aber diese Subjektivitt in der Kantischen Philosophie insofern nicht aufgehoben werden kann, als sowohl die Kategorien des Denkens als auch die apriorischen Formen der Anschauung und Vorstellung, Raum und Zeit, dem erkennenden Subjekt zugehrig sind, kann die Divergenz zwischen "Spiel" und Erkenntnis nicht in der Bedingung der Subjektivitt als solcher gesucht werden. Sie kann aber auch nicht auf ein absolutes Objekt zurckgefhrt werden, etwa auf eine Tuschung durch das "Ding an sich", sofern es das Spiel der Eindrcke veranlat. Der Spielcharakter mu daher in der Isolierung vermutet werden, in der Unverbundenheit der Erkenntnisbedingungen, die in einer Hinsicht ein jeweils gleiches Resultat hervorbringt: die Ununterscheidbarkeit der Vorstellungen ihrer objektiven Gltigkeit nach, sei es der Gedanken oder der Anschauungen. Im Hinblick auf das im Spiel der Vorstellungen befangene Subjekt bedeutet die Ununterscheidbarkeit sozusagen die unkritische Beliebigkeit, das Gegebene und Gedachte entweder dem Bereich der Wahrheit oder dem Bereich des Scheines zuzusprechen. Der Sache nach bedeutet sie eine mangelnde Fixierung, eine Zwischenstellung zwischen Sein und Nichts, die Ungeschiedenheit von Ansichsein, Erscheinung und Schein. Die Mglichkeit der Erkenntnis mu demnach fundiert werden aus der grundlegenden Funktion der Urteilskraft als des Vermgens der Unterscheidung transzendentalphilosophisch aus dem "transzendentalen Unterschied" zwischen Ding an sich und Erscheinung und der Ausbildung verschiedener Begriffe von Wahrheit, Welt und Wirklichkeit; methodisch aus der bewuten Wendung in die Subjektivitt, nach der eine Kritik der " Kr. d. r. V. B 479 / A 451.

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  • 132 133 Der Spielbegriff bei Kant

    Erkenntnisvermgen der Metaphysik als Wissenschaft vorausgehen mu und wir apriori nur das an den Dingen erkennen, was als konstituierende Bedingung der Mglichkeit ihrer Erfahrung schon in uns liegt. Damit kehrt allerdings in anderer Form die Frage wieder, ob das apriorische System des reinen Verstandes denn mehr als ein Spiel sei.

    Aber das Kriterium der Gegenstandserkenntnis ist nicht allein die Weise der "Zusammenstimmung" der formalen apriorischen Bedingungen von Anschauung und Begriff, so da Erkenntnisurteil und sthetisches Urteil etwa nur insofern verschieden wren, als in der Erkenntnis die Einbildungskraft dem Verstand zu Diensten ist, in der Beurteilung des Schnen dagegen das Gleichgewicht und die "Einhelligkeit im Spiele der Gemthskrfte"15 zugrunde liegen. Fr die Frage nach dem Verhltnis von Spiel und Erkenntnis in der kritischen Philosophie ergeben sich vielmehr zwei wesentliche Problemstellungen, die zugleich ber den Rahmen der "Kritik der reinen Vernunft" hinausweisen. Die eine Problemstellung betrifft den Bezug der apriorischen Bestimmungen zum aposteriorisch Gegebenen und die Form der Gegenstnde der Sinne. Die zweite Problemstellung bezieht sich auf die Mitteilbarkeit der Erkenntnis und die Fragwrdigkeit einer mglichen Erweiterung des Verstehens durch die Vermittlung des Spiel begriffs. Die Darstellung nimmt die Thematik zunchst im Aspekt der Verstandeserkenntnis und Vernunfterkenntnis auf, um die mgliche Funktion des Spielbegriffs bei Kant noch weitgehend unabhngig vom Zusammenhang mit dem sthetischen Urteil zu entwickeln.

    Spiel und Erfahrung

    Die Begrndung der Erkenntnis aus der ursprnglichen Verbindung und Einheit des reinen Selbstbewutseins im Ich-denke und der Nachweis der Ermglichung der Gegenstandserkenntnis aus der apriorischen Bestimmung des Raumes und der Zeit erlauben nicht, vom Moment

    " Kritik der Urtheilskraft, 15, WW V, S.228. Fr den engeren Zusammenhang von "Spiel" in der Kritik der reinen Vernunft und der Kritik der Urteilskraft, vor allem aber fr die Interpretation des Spieles aus der Spontaneitt des Denkens vgl. die Dissertation von Trebels, die als Ergnzungsheft der Kantstudien erscheint: Andreas Heinrich Trebeis, Einbildungskraft und Spiel. Untersuchungen zur Kritik der sthetischen Urteilskraft.

    6: Spiel und Erkenntnis

    des empirisch Gegebenen vllig zu abstrahieren. Das Kriterium der tatschlichen Erkenntnis liegt daher in der Anwendbarkeit der apriorischen Bestimmungen, in der "Zusammenstimmung" der formalen Bedingungen der Erfahrung mit den materialen Bedingungen. Mit der bloen "Form des Verhltnisses" kann man "allenfalls in Erdichtungen spielen"'6 - das gilt in gewisser Weise auch fr die mathematischen Begriffe, die in der reinen Anschauung konstruierbar sind; ihre objektive Gltigkeit - als Gltigkeit fr Objekte - entscheidet sich durch die Mglichkeit ihrer Anwendbarkeit auf die Erfahrung. Und es gilt letztlich auch fr die Transzendentalphilosophie selbst, die durch die Beispiele der Physik ihre Grundbegriffe und Grundstze realisiert und in der Begrndung der Physik unter Beweis stellt - wie sollte sie sonst ihre Gltigkeit fr die wirkliche Erkenntnis belegen und dem mglichen Vorwurf einer "neuen philosophischen Proiektmacherey" begegnen17? Das Kriterium der Unterscheidung zwischen "Spiel" und wirklicher Erkenntnis betrifft daher den Unterschied zwischen "Erdichtung" und "Erfahrung" im Zusammenhang mit dem ueren Sinn, der die Beziehung auf etwas Wirkliches auer uns anzeigt. So gesehen mte das Problem der Erkenntnis also immer den inneren Sinn angehen, und wenn etwas die Erkenntnisfhigkeit "aufs Spiel setzt", so mte es die Einbildungskraft sein, da sie das Gegenstndliche der Erfahrung "herbei ruft", ohne das selbst Raum und Zeit ohne Sinn und Bedeutung wren18.

    Es ist demnach verstndlich, wenn das "Spiel der Einbildung" ein besonderes Anliegen der an gewandten Logik ausmacht19, wie Kant sie

    " Kr. d. r. V. B 270/ A 223. Dieser Gegensatz von Spiel und objektiver Gltigkeit kommt mit aller Deutlichkeit und an exponierter Stelle - in der "Unterscheidung aller Gegenstnde in Phaenomena und Noumena" - zum Ausdruck (B 298/ A 239) : "Also beziehen sich alle Begriffe und mit ihnen alle Grundstze, so sehr sie auch apriori mglich sein mgen, dennoch auf empirische Anschauungen, d. i. auf data zur mglichen Erfahrung. Ohne dieses haben sie g.ar keine objective Gltigkeit, sondern sind ein bloes Spiel, es sei der Einbildungskraft oder des Verstandes, respective mit ihren Vorstellungen."

    17 Vgl. Kants Brief an Lambert vom 31. XII. 1765 ber die Methode der Metaphysik (WW X, S.56). Die sachlichen Zusammenhnge wurden dargestellt im Hinblick auf Die Funktion des Beispieles in der kritischen Philosophie in der Festschrift fr Heinz Heimsoeth zum achtzigsten Geburtstag: Kritik und Metaphysik. Studien, Berlin 1966.

    " Vgl. Kr. d. r. V. B 195/ A 156. It Vgl. ebd. B 77/ A 53.

  • 134 135 Der Spiel begriff bei Kant

    zum Teil im Aspekt der "Anthropologie in pragmatischer Hinsicht"20 behandelt. Die synthesis speciosa und technica fgt das anschaulich Mannigfaltige in eine Einheit, sie entwirft Gestalt, Bild und sinnliches Schema, sie ermglicht die willkrliche Komposition und die Erfindung. Die Einbildungskraft vollzieht die "ursprngliche Darstellung" des Gegenstandes, und sie macht Vergangenes in der Erinnerung und mgliches Knftiges in der Antizipation gegenwrtig. Leimt erregbar durch das Gefhl wie durch die Ideen der Vernunft, gilt sie als "sinnlimes Dichtungsvermgen", das mit seinen Mglichkeiten der anschaulichen Bildung, der Assoziation und der Analogievorstellungen den Zusammenhang des Denkens gefhrdet, aber auch das "eigentliche Feld fr das Genie" ist. Die "dichtende Einbildungskraft", die sich in der Ekstasis des Gefhls und im "Gedenken" der Zukunft in die Scheinerfahrung einer angeblich nicht sinnlichen Schau verlieren kann, liegt auch der Kommunikation mit uns selbst zugrunde. Ihre entscheidende Bedeutung fr das Erkennen erhlt sie jedoch im Zusammenhang des "Bezeichnungsvermgens" , das heit in der Ermglichung der Sprache und damit fr das Verstehen des Menschen, seiner selbst und des andern. So fhrt die anthropologische Frage nach der Funktion des inneren Sinnes fr die Erkenntnis auf die Wemseibeziehung von Sprache und Denken, und damit letztlich auf ein Grundproblem der Kritik der Urteilskraft berhaupt: auf die Frage nach der dynamischen Verbindung zwischen Einbildungskraft und Verstand. Denn dem ursprnglich sinnlichen Moment des Erkennens, der rezeptiven und nachbildenden Fhigkeit kann das Vermgen des Schpferischen nicht aus sich selbst zukommen, sondern nur aus der Spontaneitt und qualitativen Einheit des Denkens. Es ist der dynamische und thematische ursprngliche Grund des Ich-denke, aus dem alle Ordnung und Sinngebung, auch die Sinngebung der Sprache, entspringen.

    Die wesentliche Unterscheidung fr den Begriff des Spiels in der "Anthropologie in pragmatischer Hinsicht" ist wohl die einer aktiven

    .. VgI. zum Folgenden bes. 28, 31, 33,34, 38, 39 (Zhlung der Ak.-Ausg.) der Anthropologie (WW VII). Da die Frage nach dem Spielbegriff bei Kant die Funktion des Begriffs, und zwar im Hinblick auf die erkenntnistheoretische Thematik der Gegenwart betrifft, wird auf die Spiele als solche nur zusammenfassend eingegangen. Es mag daher ausdrcklich erwhnt werden, da die anthropologischen, psychologischen und auch pdagogischen Aussagen Kants ber die Spiele im ~inzelnen keineswegs nur von historischer Bedeutung sind.

    6: Spiel und Erkenntns

    Gestaltung und eines passiven Erleidens: mit etwas spielen, ein Spiel "treiben" aus der freien Verfgung ber die eigenen Mglichkeiten, und "ein Spiel sein", ein Spiel von etwas, das mit uns spielt und in dem wir ohne Macht sind21 . "Wir spielen oft und gern mit der Einbildungskraft; aber die Einbildungskraft (als Phantasie) spielt eben so oft und bisweilen sehr ungelegen auch mit uns. "22 Wenn der Mensch im lauteren sthetischen Spiel mit Ansmauung, Begriff und Idee, in den schnen Knsten, im Witz und in den unterhaltenden, Geselligkeit und Kultur frdernden Spielen den schnen und den angenehmen Schein hervorruft und den freien Entwurf seiner Mglichkeiten geniet, erlaubt er gleichsam der Phantasie, die "Selbstschpferin" zu sein. In der leidenschaftlichen Verfallenheit an das Glcksspiel dagegen, aber auch im Traum, in der unabsichtlichen Illusion der Sinne, in der disziplinlosen Steigerung der Einbildung zeigt sich die andere Mglichkeit, dem wechselnden Spiel der Gefhle und Assoziationen zu erliegen, bis zu jenen regelwidrigen Phnomenen, "wo die Phantasie gnzlich mit dem Menschen spielt und der Unglckliche den Lauf seiner Vorstellungen gar nicht in seiner Gewalt hat"23. Ein"wunderliches Spiel der Einbildungskraft mit dem Menschen" fhrt ihn zur Verwechslung von Zeichen und Sachverhalt - eine Art Verfhrung am "Leitseil der Sinnlichkeit"24. In der "gestrten Urteilskraft" tritt das "Spiel" an die Stelle der Kausalverbindung des Verstandes; es handelt sich um eine Verknpfung des unvereinbar Verschiedenen auf Grund einer Verwechslung von Analogie und Begriff25

    Ist in diesen Fllen die Urteilskraft prinzipiell in der Lage, den Smein zu erkennen, so stellt sich ein grundlegenderes Problem im

    " Vgl. z. B. zum "Spiel der Empfindungen", 5, S.136: "Wir spielen nmlich oft mit dunkelen Vorstellungen und haben ein Interesse beliebte oder unbeliebte Gegenstnde vor der Einbildungskraft in Schatten zu stellen; fter aber nom sind wir selbst ein Spiel dunkel er Vorstellungen, und unser Verstand vermag sich nicht wid~rdie Ungereimtheiten zu retten ..." (Akademie-Ausgabe: "beim Spiel", wohl versehentlich, vgl. S. 136 unten: "sind wir ... das Spiel dunkeler Vorstellungen . .."); oder 28, S. 167 zum Begriff des Traumes: "Im Sc h I a f ... ein unwillkrliches Spiel seiner Einbildungen zu sein, heit t r u m e n."

    .. Anthropologie 31, S. 175; anschlieend reflektiert Kant ber die Notwendigkeit des Trumens zur Erhaltung des Lebens, vgl. a. Kr. d. U. 67, S. 380.

    " Anthropologie 33, S. 181.

    ,. Vgl. ebd. 39 den "Anhang" ber die Zahlenmystik.

    .. Vgl. ebd. 52, S. 215.

  • 136 137 Der Spielbegriff bei Kant

    Aspekt der Vernunft: die Intention, die erlebte Spontaneitt einer subjektiv zweckfreien Spielhaltung mit einem objektiven Freisein von Zweckursachen zu verwechseln und so "die Stimmung des inneren Sinnes fr Erkenntni der Sache selbst zu nehmen"26. Nach den Kantischen Beispielen gilt diese Identifikation vor allem fr Kampfspiele und Glcksspiele und - umgekehrt, indem die Scheinzwecke des Strebens fr wirkliche Zwecke der Vernunft gehalten werden, - auch fr den Wettstreit im Leben um uere Ehre, Macht oder Geld. "Zwei solche Streiter glauben, sie spielen unter sich; in derThat aber spielt die Natur mit beiden ... "27 Whrend der Mensch sich frei whnt in seinem Spiel, erfllt er den Zweck der"weiseren Natur", die Lebenskraft zu erhalten, durch Abwechslung und Sammlung die Erkenntnisfhigkeit zu frdern, in der Lust an der Scheinttigkeit dem Miggang zu entgehen und im bewuten "Schein" der Tugend - in der "Rolle" und im Spiel der Konvention - die sittliche Haltung zu festigen28. Das Spiel steht in der Relation der Zwecke der Vernunft. Gewi ist diese "innere praktische Tuschung" kein grundstzlicher Irrtum im Hinblick auf die Subjektivitt des Spieles selbst; zumindest setzt die List der Natur, den Selbstzweck des Menschen zu frdern, geradezu das subjektive Spielbewutsein voraus, und damit die Unterscheidung von Spiel und Erkenntnis und von Spiel und Sittlichkeit. Aber das eigentliche Problem greift nicht nur ber diese psychologischen Zusammenhnge hinaus, sondern auch ber die Aussagen der "Kritik der sthetischen Urteilskraft", nach denen die Kunst, das Erlebnis des Schnen in der Natur und die Spiele direkt oder indirekt die Einstimmung des Leiblichen und Geistigen bewirken und die Kultur des Menschen begrnden, wie sie andererseits selbst die Bedingungen ihrer Mglichkeit in der Humanitas haben. Das eigentliche Problem betrifft auch hier die Frage, ob nicht die Sphren des Spiels und der Wirklichkeit vertauschbar sind,

    .. Ebd. 86, S.275. " Ebd. S. 275. .. Vgl. ebd. 14 und 69. "Die Menschen sind insgesammt, je civilisirter, desto mehr Schauspieler ..., und es ist auch sehr gut, da es so in der Welt zugeht." (S. 151) "Alle menschliche Tugend im Verkehr ist Scheidemnze ... Sie fr lauter S pie I m a r k e n, die gar keinen Werth haben, auszugeben, ... ist ein an der Menschheit verbter Hochverrath." (S. 152 f.) - Im Zusammenhang der Relation von Geschmack. und Moralitt, "gesittet" und "sittlich-gut", nennt Kant den Geschmack. hier "Moralitt in der ueren Erscheinung" (S. 244).

    6: Spiel und Erkenntnds

    je nach dem Standpunkt des Als-Ob, den die Vernunft einnimmt, wenn der Begriff der Zweckmigkeit der Natur selbst nur ein Prinzip der reflektierenden, nicht der bestimmenden Urteilskraft ist. Ob nicht der Mensch in der Erkenntnis seinem Wesen nach einem Spiel ausgesetzt ist, wenn die Sache selbst notwendig unerkannt bleibt und - mit der ersten Auflage der "Kritik der reinen Vernunft" - "Erscheinungen nicht Dinge an sich selbst, sondern das bloe Spiel unserer Vorstellungen sind, die am Ende auf Bestimmungen des inneren Sinnes auslaufen"29? Ob nicht die Aufgabe der reflektierenden Urteilskraft, zu dem Mannigfaltigen empirischer Gesetze die unbekannte Regel zu finden und die Einheit des lebendigen und seelischen Daseins zu verstehen, erfordern mu, die Zwecke des Verstandes und der Vernunft in die Relation des Spieles zu stellen? "Das Spiel der Bilder in uns; ob wir mit ihnen oder sie mit uns spielen?"30

    Wenn man dem Ausdruck "Spiel" in erkenntnistheoretischen Zusammenhngen eine terminologische Bedeutung, die sich auch noch in der metaphorischen Verwendung des Wortes durchsetzt, zuschreiben kann, so darf diese Bedeutung nicht einfach identifiziert werden mit dem Spielbegriff der "Kritik der sthetischen Urteilskraft". Sie bersteigt einerseits die Thematik des Schnen und des Menschen als spielenden Wesens, und sie wird ihr andererseits nicht gerecht. Sie kann aber auch nicht in solcher Allgemeinheit gedacht werden, da sie die Grundlagen des Systems der Vernunft aufhebt. Alles Verstehen hngt ab von der Voraussetzung von Sinneinheiten, das heit fr Kant: von der architektonischen Gliederung der Vernunft, der Zuordnung aller bleibenden Fragen des Menschen auf die Frage nach seinem eigenen Wesen und von dem korrespondierenden Prinzip der Vernunft, das begegnende Seiende so in Verbindung zu denken, "als ob" eine zweckmige Ordnung die lebendige Natur als ein Ganzes umgreift, "als ob" ein unendlicher Verstand dem Werden und der Geschichte der Welt das denkende Wesen als Zweck an sich selbst zum Ziel gesetzt habe. Das oberste

    " Kr. d. r. V. A 101. Diese Bestimmung ist irrefhrend, sofern sie im Sinne des Idealismus ,ausgelegt werden knnte, in Analogie etwa zu der Problemstellung von A 368, "ob also alle sogenannte uere Wahrnehmungen nicht ein bloes Spiel unseres innern Sinnes seien". Vgl. dagegen in der zweiten Fassung der Kritik B 276 ber "das Spiel, welches der Idealism trieb".

    " Reflexion 313, WW XV, S. 122.

  • 139 138 Der Spielbegriff bei Kant

    Prinzip, unter dem die Mglichkeit der Erkenntnis, der Mensch und die Welt zu verstehen sind, ist nicht das Spiel. Spiel ist die Relation der Bilder in uns, die Handlung des Denkens und Wollens, die keinen bleibenden Zwed" will, das Ungesicherte und Mehrdeutige, das ausweglose Gegeneinander der Meinungen um ein Nichts, das Uneingesehene und Unverbundene des Mannigfaltigen, das flchtige Wechselnde, das unbegriffene Verhltnis der Krfte, das Zufllige, die Erdichtung, die unkritische Analogie, die Ungeschiedenheit des Mglichen und Wirklichen, der Bereich der Willkr. Spiel ist dasjenige, was in seiner Relation zur Erkenntnis fr eine Bestimmung des Verstandes und eine Ordnung der Vernunft offen ist und in seiner Relation zur Sittlichkeit unter der praktischen Kategorie des Erlaubten und Nichterlaubten eingeordnet werden soll. So ist auch der "Spielraum", den die apriorischen Grundstze des Verstandes, die Disziplin der reinen Vernunft und das Gesetz sittlichen Handeins gewhren, als Freigabe unter einem Prinzip zu verstehen - ein nur der allgemeinen Notwendigkeit nach bestimmter, der besonderen Wirklichkeit nach offener Bereich fr die Vielfalt empirischer Prinzipien, fr das "Dichten" der Einbildungskraft in Hypothesen, fr den "Spielraum der Pflicht"31 und fr den weiten Spielraum des Schnen, des Geselligen und des Vergngens, in dem die Hingabe an die Bilder der Seele und die individuelle Bestimmung des Tuns und Lassens dem Gefhl allein folgen drfen. Der Irrtum, die unsittliche Gesinnung, die Verletzung der Sphre des Spiels heben die Geltung der apriorischen Prinzipien nicht auf; diese Prinzipien sind keine Spielregeln der Konvention, sie sind umgreifende allgemeingltige Regeln.

    Die Aufnahme des Spielbegriffs in die kritische Philosophie kann nicht implizieren, die Begriffe der Wahrheit und des Sittlichen zu relativieren und die Unterscheidung von Ansichsein, Erscheinung und Schein hinfllig zu machen. Es mu auffallen, da Kant fr die regulative Funktion der problematischen Begriffe der Vernunft, fr die tran

    11 Die ethischen Pflichten sind"weite" Pflichten, das heit, da das Gesetz "der Befolgung (Observanz) einen Spielraum (latitudo) fr die freie Willkr berlasse, d. i. nicht bestimmt angeben knne, wie und wie viel durch die Handlung zu dem Zweck, der zugleich Pflicht ist, gewirkt werden solle." Metaphysik der Sitten, Einleitung zur Tugendlehre VII., S. 390. Es entsteht daher das Problem der Kasuistik (vgl. a. S. 393, 411, 433 Anm., 426, 446).

    6: Spiel und Erkenntnis

    szendentalen Ideen und Hypothesen als heuristische Regeln zum Verstndnis des Seienden zwar den Charakter der Fiktion im "als ob" betont, aber diesen Zusammenhang nicht als Spiel charakterisiert und da der Ausdruck "Spiel" in der "Kritik der teleologischen Urteilskraft" fast ganz zurckgedrngt ist. Die positive Bedeutung fr die Erkenntnis, soweit sie aus den angefhrten thematischen Stellen hervorgeht, bezieht sich einerseits auf die Aktivitt der Erkenntnisvermgen - das "Ins-Spiel-Setzen" und "Ins-Spiel-Bringen" -, andererseits auf die Art und Weise, wie Anschauungen oder Erscheinungen begegnen - auf das Spiel der Vorstellungen, das Spiel der Vernderungen. Sie bezieht sich nicht auf die Begriffe und Regeln, die das bestimmbare Spiel ordnen, sondern auf die Art ihrer Anwendung. Der Ausdruck "Spiel C( kennzeichnet Voraussetzungen und Grundlagen der Erkenntnis, nicht die Erkenntnis selbst und nicht das absolut Unerkennbare. Die Interpretation darf den inneren, historisch wie sachlich fr Kant nicht aufzuhebenden Zusammenhang von Wissen, Sollen und Sein nicht auer acht lassen. Der Mensch als Intelligenz, in seiner unbestimmbaren Selbstgegebenheit des "Ich bin", der Begriff der Freiheit, die Unsterblichkeit der Seele und das Dasein Gottes als Postulate der praktischen Vernunft, aber auch die Kategorien des Verstandes, die heuristischen Ideen, der Grenzbegriff des Noumenon sind fr Kant keine "Spielbegriffe", die im pragmatischen Resultat der Erkenntnistheorie, in den Wissenschaften, im Recht, im Ethos, wieder ausfallen wie der fiktive Faktor einer Rechnung. Die kritische Philosophie ist nicht nur eine Wissenschaftstheorie und eine Kritik der "Spielwerke" der Metaphysik; sie ist auch und zuerst eine transzendentalphilosophische Begrndung der Mglichkeit der alltglichen Erfahrung und des sittlichen Verhaltens. Das natrliche Interesse der Vernunft kann nicht eliminiert werden aus der Wirklichkeit unseres Daseins, und wie immer der Anspruch unserer Vernunft einen theoretischen und praktischen "Spielraum" offenlt, er hlt die Thematik von Spiel und Erkenntnis innerhalb der Entscheidbarkeit.

    Unter diesem Gesichtspunkt aber mu es fragwrdig werden, ob dem Begriff des Spieles berhaupt eine allgemeine philosophische Relevanz in der Kantischen Problemstellung zukommen kann. Sogar in der "Kritik der Urteilskraft" bleibt es der Interpretation berlassen, die Tragweite der Spielthematik selbst zu ermitteln. Zwar gibt Kant zwei

  • 140 141 Der Spielbegriff bei Kant

    allgemeine Bestimmungen an. Nach der ersten Bestimmung ist Spiel eine Beschftigung, die aus dem Unterschied zur Arbeit definiert wird: "Spiel, d. i. Beschftigung, die fr sich selbst angenehm ist"32. Die zweite Bestimmung versteht Spiel als die Form der Gegenstnde der Sinne, die nicht Gestalt ist: "Alle Form der Gegenstnde der Sinne (der uern sowohl als mittelbar auch des innern) ist entweder Gestalt, oder Spiel: im letztern Falle entweder Spiel der Gestalten (im Raume, die Mimik und der Tanz); oder bloes Spiel der Empfindungen (in der Zeit)."33 Fr beide Bestimmungen bleibt im Umkreis des Textes offen, ob sie als Festlegung einer allgemeinen Unterscheidung, die auc..h fr das Problem sthetischer Urteile apriori bedeutsam ist, gelten knnen. Die Divergenz von Spiel und Arbeit betrifft die Frage nach Kunst und Handwerk, und es darf nicht bersehen werden, da auch die Kunst "Arbeit" ist im Verhltnis zum "bloen Spiel", und da Kant sich hier, auch in der Bestimmung von "Spiel", gegen traditionelle Auffassungen wendet. Die zweite Bestimmung steht in unmittelbarem Zusammenhang mit der Einteilung der Knste aus der Abgrenzung zwischen dem Reiz des Angenehmen und dem "eigentlichen Gegenstand" reiner sthetischer Urteile: der Zeichnung und der Komposition. Bezieht man die Unterscheidung von "Gestalt" und "Spiel" nur auf das Schne, so scheint die lngere Ausfhrung am Ende der "Deduktion der reinen sthetischen Urteile" ber die Spiele und ihre Einteilung in Glcksspiel, Tonspiel und Gedankenspiel in der Tat nur eine zustzliche "Anmerkung" zur Wertschtzung der Knste zu sein34. Der Wert der Spiele besteht in der Zweckmigkeit des Vergngens fr die Aufgaben des Menschen - im leiblichen und seelischen Wohlbefinden und in der geselligen Gemeinschaft. Die bevorzugten Beispiele Kants betonen die Lust an der Folge der Tne, am Wechsel der Bilder und Affekte, an der Anspannung und Abspannung, Erheiterung und Ermdung, an der Einheit und der Wechselwirkung von seelischer und leiblicher Bewegung in der Unter

    " Kr. d. U. 43, S. 304. " Ebd. 14, S.225. (Zeichensetzung des Originals; die Akademie-Ausgabe elimi

    niert das Komma hinter "im Raume"; "bloes" ist Zusatz der zweiten Auflage von 1793, die auch WW V zugrunde legt.)

    .. Vgl. Kr. d. U. " 54. Anmerkung.", S. 330-336. (Die Paragraphenbezeichnung fehlt in der 1. Auflage.) Fr den Zusammenhang mag es von Interesse sein, da auch die thematische Stelle ber "Gestalt" und "Spiel" unter " 14. Erluterung durch Beispiele." steht.

    6: Spiel und Erkenntl1lis

    haltung und im Wettkampf35 Das Spiel bewirkt Gesundheit, Tauglichkeit und Mitteilung. Spiel ist Aktivitt, in seiner Emotion belebend, in seinem Selbstzweck Distanz zum Gegenstndlichen. Dem Leben als solchem verbunden und seinem Prinzip entsprechend, frdern die Spiele indirekt die Zwecke der Vernunft, weil sie die Zwecke des Lebens frdern - die Bewegung als Lebenswert: den "Schwung", die "Kraft", die "Geschicklichkeit". Und sie bewirken Gemeinschaft, da der Mensch in den Spielen verwiesen ist auf den Mitspieler und auf den Zuschauer6 Aber die "angenehme Kunst" ist mehr Genu als Kultur, und sie verbindet sich allzu leicht mit der Eitelkeit, dem Gewinnstreben und dem Sichzeigen vor andern.

    Wenn Spiel, mit Dilthey, "eine uerung der strukturellen Lebendigkeit" ist, so kann die philosophische Reflexion nicht dabei stehenbleiben, diesen Ausdruck des freigesetzten Lebens nur im Aspekt seiner "systematischen Schpfungen" in der Kunst zu erwgen31. Es ist vielmehr in gleicher Weise nach der "Struktur" dieser Lebendigkeit als

    " Diese Korrespondenz gilt fr alle Spiele - ob ein Ballspiel oder ein Witz uns vergngt, das Spiel bewirkt neine Gemthsbewegung und mit ihr harmonirende inwendige krperliche Bewegung" (S. 334).

    .. Darauf scheint eine der wohl bekanntesten Reflexionen (987, WW XV) zum Spiel hinzudeuten: "Zur Anthropologie. Der Mensch vor sich allein spielt nicht. Er wrde weder die Billiard Kugel knstlich zu treiben suchen noch Kegel umwerfen noch bilboqvet noch solitair spielen. Alles dieses, wenn er vor sich thut, thut er nur, um seine Geschicklichkeit hernach anderen zu zeigen. Er ist vor sidl ernsthaft. Eben so wrde er auf das Schne nicht die gringste Mhe verwenden, es mte denn seyn, da er erwartete, dereinst von anderen gesehen und bewunaert zu werden. Dieses gehrt auch zum Spiel. Mit Katzen und Ziegen wie Selkirk wrde er vielleicht spielen, aber die ... vergleicht er nach einer analogie mit Personen, herrscht ber sie, gewinnt ihr Zutrauen, ihre Neigung und Respect. Spiel ohne Menschliche Zuschauer wrde vor Wahnsinn gehalten" werden. Also hat alles dieses eine wesentliche Beziehung auf Geselligkeit, und, was wir selbst unmittelbar daran empfinden, ist ganz unbetrachtlich. Die Mittheilung und was daraus auf uns selbst reflectirt wird, ist das einzige, was uns anzieht." (Nach Adickes: bilboqvet = Fangbecher, Fangspiel; Selkirk (1676-1721): "Urbild des Robinson Crusoe".) Im unmittelbaren Zusammenhang des Losen Blattes (Seite 1 ber Theologie, Rechtskunde und Arzneikunde) Seite 2 ber das Gewissen (Refl. 430), aus dem AdickeS die Refl. 987 herausgenommen hat, liest sie sich anders: "Das vornehmste, was wir zu verhten haben, ist, da wir unser Gewissen nicht verletzen ... Man mag die Wahrheit der Stze dahin gestellt seyn lassen; wie viel man aber davon -auf seine Seele und Gewissen bekennen oder ... Lehrer anderen zumuthen knnen ... zu bekennen, davon kan man ganz gewis werden. Zur Anthropologie. Der Mensch vor sich allein spielt nicht . . .."

    n Dilthey, WW VIII, S. 151.

  • 142 143 Der Spiel begriff bei Kant

    solcher zu fragen - nach dem, was auf dem Standpunkt der Indifferenz gegen die Zwecke das Begegnende in seiner ihm eigenen Relation ausmacht, also auch unabhngig von der "Spontaneitt im Spiele der Erkenntnivermgen"38, sofern sie das freie Begegnende berhaupt erst als solches erscheinen lt, und in der Relation eines Verstehens, das sich der subsumierenden Feststellung des Verstandes und der systematischen Ordnung der Vernunft noch enthlt. In diesem Verstehen mu die Unterscheidung von Spiel und Gestalt eine allgemeine und grundlegende Bedeutung gewinnen. "Alle Form der Gegenstnde der Sinne", der ueren und des inneren Sinnes, "ist entweder Gestalt oder Spiel" - es wrde Kants Denken und seinem Stil wenig entsprechen, wenn eine solche Formulierung ber "alle Form", innerhalb einer Reflexion ber die "Form der Zweckmigkeit", eingeschrnkt wre auf einen bestimmten Bereich, die Gegenstnde der Kunst. Man wird vielmehr annehmen mssen, da - noch abgesehen vom materialen Gehalt, und abgesehen von aller Dinglichkeit und aller bestimmten Funktion das Seiende als solches in der Thematik der Sinnlichkeit entweder die Erscheinungsweise der Gestalt oder die Erscheinungsweise des Spiels hat. In diesem Zusammenhang werden jene Kennzeichen deutlich, die das spezifische Interesse der Philosophie am Spiel in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts, das man billigend und mibilligend als den Beginn des Atomzeitalters apostrophiert, erklren knnten. Nicht die nachweisbare Eignung der Spiele fr die Bewltigung des Daseins oder die Gleichgltigkeit alles menschlichen Spielens und mit ihm der Last und Sorge des Lebens vor der Idee eines Unendlichen bestimmen das Interesse am Spiel, sondern das Spiel als Problem und Modell der Erkenntnis und als die Reprsentation des Zeitlichen seiner formalen Struktur nach, die dann in den Blick kommt, wenn das Denken sich lst vom Ding und vom Zeugcharakter des Seienden und sich der reinen Gegebenheit oder Befindlichkeit als Relation eines Aueren oder Inneren zuwendet. Die Beziehung des Gegebenen im "Spiel der Vernderungen" und in der "Gestimmtheit des inneren Sinnes", sofern sie nicht mehr mit dem Satz vom Widerspruch und dem Satz vom Grund einer "Natur der Dinge (als Erscheinungen) unterworfen wird" und unterworfen werden kann, verlangt die Ausbildung einer besonderen Ph

    " Kr. d. U. Einleitung, S. 197.

    6: Spiel und Erkenntruis

    nomenologie als Lehre vom Spiel der Erscheinungen, die sich nicht deckt mit der Begrndung der Bewegungslehre in der klassischen Physik. Unter diesem Gesichtspunkt nimmt die Darstellung zunchst die Wortbedeutung von "Spiel" bei Kant auf, sofern sie das Leben selbst als ein Geschehen charakterisiert, und zwar auerhalb der "Kritik der teleologischen Urteilskraft".

    Spiel und Geschehen

    Im Zusammenhang mit der Frage nach dem Spielbegriff bei Kant und im Bezug auf die Philosophie der Gegenwart kann nicht auf das fundamentale Miverstndnis eingegangen werden, das entstehen mu, wenn man die positive Aufgabe der "Kritik der reinen Vernunft" im wesentlichen aus der Begrndung der euklidischen Geometrie und der newtonschen Physik interpretiert und fr die dritte Grundfrage der Kritik, wie Metaphysik als Wissenschaft mglich sei, den wissenschaftstheoretischen Bezug eliminiert. Es kann auch nicht auf die Entwicklung des Kantischen Denkens und die Belege eingegangen werden, aus denen die in sich konsequente, aber nicht immer offenkundige Einbeziehung der Psychologie, .der Biologie und der Geschichte in das Kantische System hervorgehen knnte. Der Entwurf der Interpretation mu sich daher auf einige Andeutungen aus allgemeinen berlegungen und auf die thematischen Stellen zum Spiel beschrnken. Unter dieser Voraussetzung mag die Frage gestellt werden, warum Kant in der "Kritik der reinen Vernunft" die transzendentale Errterung der Wissenschaftsprinzipien auf jene Gebiete htte einengen sollen, die einer Begrndung insofern am wenigsten bedurften, als ihre Wirklichkeit und Funktionsfhigkeit auer Zweifel standen. Von den mglichen Antworten sind die vorzuziehen, die Kant selbst gibt oder andeutet: Eben weil diese Wissenschaften faktisch gesichert sind und ganz oder zum Teil reine Wissenschaften sind, mu die philosophische Begrndung bei ihnen ansetzen - das heit, weil es darauf ankommt, fr die Analysis von einem relativ Gewissen und berschaubaren auszugehen, weil die Transzendentalphilosophie ihre objektive Gltigkeit und systematische Kraft an ihnen bewhren kann und weil die Reichweite ihrer Prinzipien, die Konstruierbarkeit des Begriffs in der reinen Anschauung und

  • 144 145 Der Spielbegriff bei Kant

    die Kausalitt als notwendige Verknpfung der Geschehnisse geschichtlich wie systematisch das Problem der Metaphysik im engeren Sinne angehen; aber das heit nicht, da die wissenschaftstheoretische Reflexion bei ihnen enden mu oder enden darf. Eine weitere, von Kant ausfhrlich diskutierte Bedeutung der Mathematik und der Naturwissenschaften fr die Philosophie bezieht sich auf die Frage, wieweit ihre Methodik von der Philosophie bernommen werden kann. Eine in diesem Zusammenhang letzte wichtige Begrndung ist in der ~Kritik der reinen Vernunft" nahezu vllig verdeckt und wird vielleicht erst in der "Kritik der Urteilskraft" ausdrcklich thematisch: das Problem der Mitteilung fr die Erkenntnis.

    Die Bedeutung der Mathematik, im besonderen der Geometrie, und aller mathematisierbaren Erfahrung besteht darin, da fr die Stze der Mathematik die Denknotwenqigkeit nachgewiesen werden kann, und Notwendigkeit meint hier nicht, da nicht auch andere Grundannahmen und Grundstze mglich seien als die der euklidischen Geometrie, sondern da die reine Mathematik die Evidenz ihrer Stze im Aspekt der bloen Mglichkeit - apriori - einsichtig macht. Diese Sicherheit hngt nach der transzendentalen Erklrung Kants davon ab, da die Beweisbedingungen vllig in die Subjektivitt hineingenommen werden und doch allgemeingltig bleiben, Raum und Zeit also kein "Ding", keine "Eigenschaft" und auch keine Relation von "Dingen berhaupt" sind, die Wirklichkeit der Dinge "an sich" daher nicht bercksichtigt werden mu. Aber die "Mathematik der Ausdehnung" hat auch nur insoweit reale Geltung, als sich das philosophische Prinzip fr die "Axiome der Anschauung", da alle Anschauungen extensive Gren sind, anwenden lt, fr Erscheinungen demnach, bei denen die Apprehension der Teile notwendig der Vorstellung des Ganzen zugrunde liegt, das heit fr Gestalten. Die weitere Bedeutung der Naturwissenschaften fr die neue Methode der Metaphysik, aus der Analogie zur "Revolution der Denkungsart", die Natur gleichsam zu zwingen, auf den Entwurf der Frage des Denkens zu antworten, bezieht sich schon nicht mehr auf die "eigentliche" Wissenschaft von der Natur. Die Durchfhrung der Kritik der reinen Vernunft" ist weit weniger an der Astronomie und der experimentellen Physik orientiert als an der Analysis und Synthesis der Chemie, die nach Kant eher eine

    6: Spiel und Erkenntnis

    "systematische Kunst" denn eine"Wissenschaft" heien mte, da ihre Stze nicht apodiktisch, nicht als notwendig bewut sind. Und das Analogon fr das System der Vernunft als organische Einheit ist dem Bereich des Lebendigen entnommen, das heit zugleich und mit vielen Konsequenzen aus einer Wissenschaft, welche die Einheit ihrer "Gegenstnde" unter der Idee eines Zwecks begreift und deren Forschungsgrundsatz die wechselseitige Bestimmung der Teile durch das Ganze und des Ganzen durch die Teile nach dem Prinzip der Zweckmigkeit ist.

    Insofern ist also weder die Methode der Metaphysik noch etwa die Diskussion der transzendentalen Dialektik an das Vorbild und die Beispiele der euklidischen Geometrie und der newtonschen Physik gebunden. Die Metaphysik steht im Gegenteil "bestrzt" vor der Tatsache, "da sie mit so vielem, als ihr die reine Mathematik darbietet, doch nur so wenig ausrichten kann"39, und die Hoffnung auf Vollstndigkeit einer gesetzlich geltenden Theorie der Wissenschaften kann berhaupt nur insoweit berechtigt sein, als die Mannigfaltigkeit des Besonderen unbercksichtigt bleibt. Im Hinblick auf die Vielfalt der Objekte gilt fr die reine Anschauung dasselbe wie fr die empirische _ auch die reine Mathematik ist einer Erweiterung "ins Unendliche" fhig. Die Mathematik hat jedoch andere Vorzge, aus denen sich einige Wissenschaften auszeichnen. Die mathematische Einsicht ist mitteilbar, und zwar einschlielich ihrer apodiktischen Gewiheit, sie hat das Medium aller Anschauung, den Raum, zur Verfgung und ist der Darstellung apriori fhig, und sie ist berdies durch eine festgelegte Bedeutung ihrer Begriffe und Zeichen, durch die Definierbarkeit im strengen Sinne, vor einer Verwechslung mit anderen Bedeutungen gesichert. Wie aber kann in den anderen Wissenschaften, in der "historischen Naturlehre", der Naturbeschreibung und der Naturgeschichte, in der Psychologie, der Biologie, der Geschichte der Menschen, aber auch in der Physik selbst, sofern ihre Grundstze nicht "mathematische", sondern "dynamische" Grundstze sind, auch nur annhernd eine entsprechende Sicherheit und Mitteilbarkeit erreicht werden, da in ihnen das existierende Seiende erfragt wird? Und wie kann das Problem der Mitteilung

    3D Metaphysische Anfangsgrnde der Naturwissenschaft (1786), Vorrede, WW IV, S. 479 (gesperrt).

    10 Heidem.nn, Der Begriff des Spiel ..

  • LJ -r ~ ~~.

    '1(,; 146 Der Spiel begriff bei Kant 6: Spiel und Erkenntnis 147 gelst werden, wenn objektiv gltige Erkenntnis die allgemeine Mitteilbarkeit einschliet, die beschreibenden und geschichtlichen Wissenschaften aber auf die Sprache verwiesen sind?

    Auf diese Fragen kann die vorlufige Antwort gegeben werden: durch weitgehende Einbeziehung der Mglichkeit mathematischer Darstellung, durch Abgrenzung der Wortbestimmungen, durch exemplarische Beispiele und Demonstrationen, durch Analogien, idealiter jedoch auch hier durch apriorische Vorstellungen, die allen Menschen gemeinsam sind, und eine transzendentalphilosophische Klrung solcher Vorstellungen, in denen ihre Aprioritt und die Grenzen der Mglichkeit ihres Gebrauchs aufgewiesen werden. Dem offenen Problem, wie die Handlungen des Menschen, die Erscheinungen des Organischen und des Seelischen, die Zuordnung geschichtlicher Ereignisse zu verstehen seien, begegnet die kritische Philosophie damit, da sie den "Leitfaden" fr das Verstndnis sucht, die Einheit des Themas, die der Einheit des Ich-denke korrespondiert, dem sich alles zuordnet, "wie etwa die Einheit des Thema in einem Schauspiel, einer Rede, einer Fabel", ohne wie die Metaphysiker der Schulen "unvermerkt von dem Felde der Sinnlichkeit auf den unsicheren Boden reiner und selbst transscendentaler Begriffe" zu geraten, n wo der Grund (instabilis tellus, innabilis unda) ihnen weder zu stehen, noch zu schwimmen erlaubt"40. I Dieser Leitbegriff ist der Begriff des telos, und die Kritik arbeitet das Problem des telos aus als die Frage nach Sinn und Bedeutung der Be I griffe und Stze einerseits, der Anschauungen und empirischen Mannigfaltigkeit andererseits. Sinn und Bedeutung im strengen Verstndnis r von Erkenntnis gibt es nur dort, wo Begriff und Anschauung zusammenstimmen und diese bereinstimmung durch ein Gesetz begriffen und fixiert werden kann. Das heit zunchst, da in allen Bereichen, wo diese bereinstimmung nicht durch die reine Mathematik gesichert werden kann, das Problem der gesetzlichen oder notwendigen bereinstimmung geklrt werden mu. Fr die Physik als Lehre vom

    .. Kr. d. r. V. B 114 im Hinblick auf die "q u a I i tat i v e Ein h e i t ... ; so fern

    darunter nur die Einheit der Zusammenfassung des Mannigfaltigen der Erkennt

    nisse gedacht wird", und B 753 f./ A 725 f. In der Schrift Was heit: Sich im

    Denken orientiren? (1786), schreibt Kant: "... denn ohne irgend ein Gesetz kann

    gar nichts, selbst nicht der grte Unsinn sein Spiel lange treiben" (WW VIII,

    S. 145).

    10"

  • 148 149

    Der Spielbegriff bei Kant

    Analytik des Lebendigen und des Seelischen zur Ausarbeitung. Die reine Triebfeder zum Guten und das reine Gefhl der Achtung geben zwar den Ansatz fr einen apriorischen Entwurf des menschlichen Daseins, aber die systematische Durchfhrung verschiebt gleichsam mit dem Recht des hheren und dringlicheren Problems der Sittlichkeit die wissenschaftstheoretische Thematik von der "Kritik der pr'aktischen Vernunft" auf die "Kritik der Urteilskraft", wo sie - obwohl nun das apriorische Prinzip der "Zweckmigkeit ohne Zweck" fundiert ist erneut mit den Problemen der metaphysica specialis als dem Bedeutungsvollen fr den Sinn des Lebens schlechthin gekoppelt wird.

    In dieser Problemstellung aber bleibt die Frage bestehen, was das Spiel als zweck freie Handlung des Menschen und als Form der Gegenstnde der Sinne bedeutet - das Spiel der Empfindungen, der Erscheinungen, der Leidenschaften, der Neigungen und der Begehrungen, das Spiel der Krfte und das Spiel der Natur, die Spielarten der Gattungen und der Spielraum der Pflicht, das Spi~l des Verstandes im Feld empirischer Forschung und das Spiel der Vernunft im freien , Feld der Spekulation - das Spiel der menschlichen Freiheit. Zugleich bleibt die Frage offen, welche Bedeutung die Errterungen ber das Spiel zwischen Einbildungskraft und Verstand in der "Kritik der sthetischen Urteilskraft" haben, \Ind wie weit sich VOn ihnen aus ein "Schema" entwickeln lt, an dem die Wissenschaften vom Leben und vom Geist einen theoretischen Ansatz zu ihrer Begrndung finden. Ein solcher Ansatz kann nach dem Vorgang der dritten Kritik keine bestimmende Gesetzlichkeit meinen, die den "Grundstzen des reinen Verstandes" in ihrer Sicherung des theoretischen Wissens analog sein knnte. Das einzige Gesetz, das ber die apriorische Geltung des reinen Verstandes hinausweist, ist das Gesetz der praktischen Vernunft, das Gesetz sittlichen Sollens. Auch wenn man, der Aufgabe einer Begrndung der Geisteswissenschaften entsprechend, die Kantische Philosophie unter der Akzentuierung der wissenschaftstheoretischen Probleme interpretiert, bleibt daher der praktische Zweck der Vernunft als das oberste Prinz,ip in allen Grundlegungsfragen fhrend. Aber, in der Wendung zum wissenschaftstheoretischen Aspekt lt sich vielleicht zeigen, welche erkenntnistheoretische Bjedeutung der Spiel begriff hat und da die Thematik der "Kritik der sthetischen Urteilskraft" nicht beschrnkt ist auf das Problem des Schnen und den "bergang" vom Sinnlichen

    6 : Spiel und Erk.ennmis

    zum Nicht-Sinnlichen als Erscheinenlassen des Unbegreifbaren im Bereich der Kunst. Unter diesem Gesichtspunkt geht die Darstellung der Beziehungen von "Spiel und Erkenntnis" ein auf das Problem der Geschichte.

    Das oberste Prinzip aller synthetischen Urteile apriori ist nach der "Kritik der reinen Vernunft", das in der Erfahrung Begegnende aus seinen konstituierenden Bedingungen zu verstehen: "Die Bedingungen der Mglichkeit der Erfahrung berhaupt sind zugleich Bedingungen der Mglichkeit der Gegenstnde der Erfahrung. "41 Bezogen auf die "Gegenstnde" im engeren Sinne, auf den Begriff des Krpers, und auf den Zusammenhang der Ereignisse, soweit er mit den data uerer Sinne verbunden sein kann, fhrt dieser Grundsatz zum Prinzip der "Analogien der Erfahrung": "Erfahrung ist nur durch die Vorstellung einer nothwendigen Verknpfung der Wahrnehmungen mglich. "42 Diesem Prinzip des reinen Verstandes, das in den drei Analogien weiter entfaltet wird fr den Substanzbegriff, die Kausalitt und die Wechselwirkung, korrespondieren Prinzipien der reinen Vernunft fr den praktischen, das heit den moralischen Gebrauch: "Principien der Mglichkeit der Erfahrung, nmlich solcher Handlungen, die den sittlichen Vorschriften gem in der Geschichte des Menschen anzutreffen sein knnten. "43 Die Interpretation setzt nun voraus, da die "Gemheit" dieser Handlungen unabhngig davon errtert werden kann, da im Aspekt der theoretischen Vernunft die Realitt der Freiheit ber die Denkmglichkeit hinaus nicht zu begrnden ist, das heit also jetzt im Sinne der Legalitt der Handlungen und der bloen Mglichkeit der "Kausalitt aus Freiheit". Dann knn.en diese Prinzipien der Vernunft aufgefat werden als Anwendung des obersten Grundsatzes aller Erfahrung auf die Handlungen der Menschen, die mglicherweise aus Freiheit geschehen, mglicherweise aber auch im Sinne der Naturkausalitt verursacht sind. Solche dem Sittlichen geme Handlungen "knnten" also in der Geschichte des einzelnen wie in der Geschichte der Menschheit anzutreffen sein. Unter dieser Voraussetzung "knnte" auch die Geschichte im Ganzen als Ergebnis der individuellen, wie immer kausierten Handlungen dem moralischen Prinzip entsprechen. Aber '.' Kr, d. r. V. B 197/ A 158.

    " Kr. d, r, V, B 218 (gesperrt).

    U Kr, d. r. V. B 835/ A 807.

  • 150 151

    Der Spielbegriff bei Kant

    die Geschichte ist keineswegs "den sittlichen Vorschriften gem", sie ist keine sinnvolle Ordnung eines Reiches der Zwecke. Sie erscheint vielmehr als ein "planloses Aggregat" menschlicher Handlungen oder auch als "Spiel der menschlichen Freiheit"44. Dieses "Spiel der Freiheit des menschlichen Willens im Groen betrachtet" - "auf der groen W eltbhne"45 - ist der bisherigen Erfahrung nach widersinnig und sinnlos, analog der Erfahrung des Lebens als "eines mit lauter Mhseligkeiten bestndig ringenden Spiels"46.

    Versteht man den Ausdruck "Spiel" hier nicht als Metapher, sondern als Terminus fr die Form der Gegebenheit geschichtlicher Ereignisse, so kann die Aufgabe einer Begrndung der Geschichte so ausgelegt werden, da ein "Leitfaden" gefunden werden mu, das Spiel der Handlungen zu verstehen. Die "Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbrgerlicher Absicht" legt zugrunde, da die erscheinende Zuflligkeit der Anordnung einen Sinn, eine "Absicht" verwirklicht; wie das Spiel der Erscheinungen unter dem Leitfaden der Kategorien in den "Analogien des reinen Verstandes" geordnet ist, so unterlegt das geschichtliche Verstehen die teleologische Naturlehre der politischen Geschichte, die damit "gewissermaen einen Leitfaden apriori hat"47. Der "Erste Satz" beruft sich auf das biologische Prinzip der Zweckmigkeit und der vollen Entwicklung aller Anlagen. Analog dem Verfahren in den Grundstzen des reinen Verstandes, das "Ungefhr" zu berwinden im Begriff der Kausalitt, wie immer es auch unter der Geltung des Prinzips in der empirischen Forschung wieder auftreten mag, mu das Prinzip der Vernunft eingehalten werden; denn sonst "haben wir nicht mehr eine gesetzmige, sondern eine

    .. Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbrgerlicher Absicht (1784), WW VIII, S. 29.

    .. Ebd. S. 17 .

    .. Muthmalicher Anfang der Memchengeschichte (1786), WW VIII, S. 122, mit Bezug auf die Furcht vor dem Tode und sofern das Dasein des Menschen unabhngig von der Aufgabe der Vernunft betrachtet wird; entsprechend in anderen Schriften ber das "Trauerspiel", "P

  • 152 153 Der Spielbegriff bei Kant

    und Bedeutung als Geschichte des Menschen geben, heit das Bedeutende abheben unter einem objektiven Wertmastab, den allein die Vernunft setzen kann. Der Mensch ist das Werte setzende Wesen das gilt auch fr das sthetische Weltbild Nietzsches: "Darum nennt er sich ,Mensch', das ist: der Schtzende", und"wenn der Menschheit das Ziel noch fehlt, fehlt da nicht auch - sie selber noch?"52

    Nach der Kantischen Sicht ist das Ziel als Aufgabe bestimmbar aus dem Gesetz des Sittlichen und des Rechts, und seine konkrete Mglichkeit ist aus der Analogie zur Zweckmigkeit im Verhltnis des organischen Ganzen und seiner Teile zu denken. Aber mu nicht jede weitere Frage nach diesem Verhltnis fr die Geschichte zurckfallen in die Antinomie, da die Geschichte entweder vorherbestimmt ist und also nicht dem Willen des Menschen unterliegt, oder da das Spiel der Geschichte fr die Bestimmung der Freiheit offen ist und also nicht "vorhersagbar" ist, welchen Ausgang das Spiel hat? Im "Streit der Fakultten" gibt Kant eine eigentmliche Begrndung fr den Fortschritt zum Besseren, die einem Paradoxon gleichkommt. Von den drei theoretischen Mglichkeiten geschichtlicher Entwicklung - zum moralischen Rckgang der Menschheit, zur sittlichen Kultur und Rechtsstaatlichkeit und zum "Stillstand" in einem leeren Auf und Ab des Geschehens - entspricht der stndige Wechsel zwischen Gutem und Bsem dem Spiel53. Das Spiel neutralisiert; der Gegensatz hebt sich in der Wirkung des Ganzen auf. Dann wre das Handeln des Menschen aus guter und bser Gesinnung ein vergebliches Bemhen, in den leeren Kreislauf der Geschehnisse einzugreifen, und die Idee der Geschichte eine bloe Behauptung einer Willensmetaphysik oder ein unbegrndetes Interpretationsprinzip gegenber der Tatschlichkeit des Auf und Ab

    Last von Geschichte, die wir ihnen nach einigen Jahrhunderten hinterlassen mchten, zu fassen", wenn nicht in einer Schtzung und Abschtzung dessen, was allein Wert hat? Die Geschichtsschreibung - als politische Weltgeschichte soll aufbewahren, "was Vlker und Regierungen in weltbrgerlicher Absicht geleistet oder geschadet haben".

    .. Zarathustra, WW VI, S. 86 und 87.

    .. Vgl. Der Streit der Facultten (1798), Zweiter Abschnitt, WW VII, S. 82: "... eine leere Geschftigkeit, das Gute mit dem Bsen durch Vorwrts und Rckwrts gehen so abwechseln zu lassen, da das ganze Spiel des Verkehrs unserer Gattung mit sich selbst auf diesem Glob als ein bloes Possenspiel angesehen werden mte, was ihr keinen greren Werth in den Augen der Vernunft verschaffen kann, als den die andere Thiergeschlechter haben, die dieses Spiel mit weniger Kosten und ohne Verstandesaufwand treiben."

    6: Spiel und Erkenntnis

    - eine Behauptung, in der das Sollen gegen das Sein steht wie bloes Wnschen gegen die Wahrheit. Es entsteht also das Problem, da die Erfahrung die Idee der Vernunft nicht besttigen kann, sie aber ohne ein Zeugnis aus der Erfahrung auch nicht annehmbar ist. Im Hinblick auf das Kausalprinzip bedeutet dieses Dilemma, da die rcklufige Kausalitt aus dem Zweck nicht nachweisbar ist, aber auch die vorlaufende Verknpfung der Wahrnehmungen als Ursache und Wirkung scheitert. Die Kantische Lsung des Problems geht hier zurck auf die Mglichkeit, ein Ereignis als Ursache zu bestimmen, ohne die Wirkung als bestimmte Verknpfung anzunehmen. Das Ereignis wre dann ein Zeichen fr die "Tendenz des menschlichen Geschlechts im Ganzen", falls die entsprechende Erfahrung umfassend genug wre, so da die Wirkung zwar nicht zeitlich fixiert, aber doch "wie beim Calcul der Wahrscheinlichkeit im Spiel wohl im Allgemeinen vorhergesagt" werden knnte54. Ein solches "Geschichtszeichen", das als "hindeutend" zureichend ist, ist nach Kant im Zusammenhang mit der Franzsischen Revolution gegeben. Das Paradoxe liegt in dem dreifachen Aspekt, in dem das Spiel betrachtet werden mu. Whrend die Interpretation der Geschichte als System der Zwecke verlangte, den Spielcharakter aufzuheben und die sthetische Haltung des bloen Erfahrens zugunsten der bestimmenden Vernunft zu verlassen, setzt der Beweis des Geschichtszeichens die Haltung des Zuschauers voraus. Nur fr den Zuschauer, der nicht in das Spiel verwickelt" ist, bleibt es gleichgltig, ob die Revolution gelingt oder nicht. Der Zuschauer kann die Distanz zu "Elend und Greuelthaten" vereinen mit einer Teilnahme an der Sache der Aufklrung, "die nahe an Enthusiasm grenzt", und obwohl er als sittliches Wesen die unmittelbaren Folgen der Revolution nicht billigen kann, offenbart er seinen moralischen Charakter durch seine Zustimmung, durch die "Denkungsart ..., welche sich bei diesem Spiele groer Umwandlungen ffentlich verrth"55. Das Kantische Argument liegt in der Tatsache der ffentlichen Auerung der Parteinahme, die nicht ohne Gefahr ist, daher nicht aus Egoismus erklrt werden kann, und in ihrer Allgemeinheit. Fr die Thematik des Spieles ist in dieser Argumentation bedeutsam, da die Geschichte kein bloes Spiel sein kann, da die Beweisfhrung fr diese Behauptung jedoch erfordert, .. Ebd. S. 84.

    " Ebd. S. 85.

  • 154 155 Der Spidbegriff hei Kant

    das Geschehen aus der Distanz eines Zuschauers beim Spiel zu betrachten, und da letztlich auch die Geschichte im Ganzen einem Spiel vergleichbar sein mu, um den Kalkl zu ermglichen.

    Die Frage, wie diese dreifache Bedeutung des Spieles zu erklren ist, knnte versuchsweise aus einer Analogie mit einem Kampfspiel oder einem Glcksspiel beantwortet werden. Die Parteien suchen den Sieg zu erringen, aber das Widerspiel von Gut und Bse bleibt weiter bestehen, im Groen gesehen gleicht die Wiederholung der Spiele den Sieg und die Niederlage aus, und die unfabare Zahl der Einzelereignisse trgt dazu bei, die Nivellierung herbeizufhren. Dennoch knnte die gesamte Geschichte wie ein Glcksspiel sein, das erlaubt, aus einer begrenzten Zahl von Fllen mit Wahrscheinlichkeit vorauszusagen, da die Bank gewinnen wird, gleichgltig, ob die einzelnen Spieler in ihrer Freiheit sich fr Rouge, Noir oder Zero entscheiden. Diese Deutung widerspricht jedoch nicht nur dem Ernst der sittlichen Aufgabe, sie widerspricht auch der Begrndung, mit der Kant einen "stndigen" Fortschritt zum Besseren aus der Aufklrung der Vernunft, aus der Kultur des Vermgens, den objektiven Wert zu setzen, zu beweisen sucht. Die teilnehmend distanzierende Haltung lt daher auch nur begrenzt den Vergleich mit dem Drama zu, bei dem die einzelne Szene auf den noch unbestimmten Sinn des Ganzen hin erratend gedeutet wird, und sie darf nicht mit der Naivitt eines Zuschauers verwechselt werden, der zwar ergriffen ist, aber im Grunde immer schon wei, da das Schicksal des Helden sich am Ende zum Guten wenden wird. Der Kantische Standpunkt ist vielmehr ein anderer: als der Beobachter des Spieles selbst und der zum Spiel gehrenden Zuschauer schliet er aus der Reaktion aller Beteiligten auf den weiteren Gang der Ereignisse. Auch fr diese Auffassung drngen sich die Vergleiche auf - mit der Methodik der mathematischen Spieltheorie, mit der soziologischen Meinungsbefragung und dem "Trend" einer Entwicklung, mit der psychologischen Diagnostik oder mit dem Diltheyschen Problem des Verstehens, da alles Zu-Bestimmende nur in einem vagen "Grad von Erwartung" eingeordnet zu werden vermag. "Es ist die Aufgabe einer Logik der Geisteswissenschaften, Regeln fr diese Abschtzung aufzufinden. "56

    .. Wilhe1m Dilthey, Entwrfe zur Kritik der historischen Vernunft (herausgegeben von Bernhard Groethuysen), WW VII, S. 220.

    6: Spiel und Erkenntruis

    Vielleicht sollte fr solche Vergleiche betont werden, da die Interpretation des Kantischen Spielbegriffs weder davon ausgeht, da Kant die Begrndung der verstehenden Wissenschaften vollzogen habe, noch etwa davon, da Diltheys "Kritik der historischen Vernunft" ein Schritt hinter Kant zurck wre. Sie kann allerdings auch nicht annehmen, da die "historische Vorarbeit" zum Verstndnis eines philosophischen Textes bedeutet, sich "in die Lage eines Lesers aus der Zeit und aus der Umgebung des Autors zu versetzen"57. Der Relationszusammenhang einer philosophischen Theorie kann sicherlich nicht vllig von der Geschichte ihrer Begriffsbildung abgelst werden, aber noch weniger kann er nur eine Art Ausdruckszeichen fr eine vergangene Gegenwart sein, die immer nur hinter sich selbst zurckweist in das Tradierte. Wendet man Kants Theorie der Geschichte auf die Interpretation philosophischer Werke an, so mu die Aufgabe vielmehr darin bestehen, die Grundkonzeption deutlich zu machen aus der Idee eines Ganzen, und das heit zugleich, aus dem Text des Werkes und aus der Wirkung des Werkes, das in der Entfaltung des bergreifenden Problems im Stand seines Wissens und in der Sprache seiner Zeit Knftiges antizipiert und ihm Wege erffnet. Unter diesem Gesichtspunkt aber mu erst recht die Frage gestellt werden, wie Kants Aussagen ber das "Spiel" der Geschichte zu verstehen sind. Zwischen der Abhandlung ber die "Idee einer allgemeinen Geschichte in weltbrgerlicher Absicht" und der Schrift ber den "Streit der Fakultten" liegt nicht nur eine Reihe von Aufstzen, in denen Kant zu Problemen der Geschichte und der Politik Stellung genommen und die Frage nach ihrer Relation zum Prinzip der praktischen Vernunft weiter entfaltet hat, in diese Zeit fllt auch die Ausarbeitung der "Kritik der Urteilskraft". Die "Entdeckung" einer dritten Art von apriorischen Prinzipien, die allerdings keine objektive Bestimmung des Gegenstndlichen oder der Handlungen ermglicht, fhrt zu der Voraussetzung eines "Gemeinsinnes" und zu einer transzendental philosophischen Klrung der Frage, ob und wie die gefhlsmige Beurteilung einen Anspruch auf Allgemeingltigkeit und Notwendigkeit haben kann. Die mit dem Problem der Aprioritt sthetischer Urteile verbundene Reflexion ber das Spiel lt wohl kaum mehr die Annahme zu, da Kant in den sp-

    IT Ebd. S. 219.

  • 156 157 Der Spiel begriff bei Kant

    teren Schriften den Ausdruck "Spiel" sozusagen gedankenlos oder bedenkenlos verwandt haben knnte. Viel eher ist anzunehmen, da dieser Ausdruck einem Begriff entspricht, der die dynamische Relation als solche meint - noch vor aller Feststellung in erfabare Gestalten, Bilder und Relationen und noch vor aller objektivierenden Verknpfung durch die Analogien des reinen Verstandes und vor der wertsetzenden Ordnung im Prinzip der Vernunft. "Die eigenste Natur des Verstehens" liegt nach Dilthey "eben darin, da hier nicht, wie im Naturerkennen mit eindeutig Bestimmbarem operiert wird, das Bild als eine uere Realitt zugrunde gelegt wird"58. Die begegnende sinnlich-formale Realitt, die nicht das "Bild" ist, knnte das "Spiel der Bilder" sein. Mit ihm aber sind Grundfragen der Erkenntnis verbunden, die in der "Kritik der reinen Vernunft" nicht geklrt werden knnen, weil es keine Regel des Verstandes oder der Vernunft gibt, die grundstzlich bestimmt, wie sich Regeln anwenden lassen auf konkrete Flle oder wie wir, im Hinblick auf die Erscheinungen und ihre Form, das einem Begriff oder einem Wort entsprechende Bild oder Schema hervorbringen knnen - jede Anwendungsregel wrde, als eine Regel, zu ihrer Anwendung einer neuen Regel bedrfen -, das heit, im Bezug auf die transzendentalphilosophischen Fragen, wie die dynamische Zuordnung von Einbildungskraft und Verstand berhaupt mglich ist: das Problem der reflektierenden Urteilskraft.

    7: Die vierfache Bestimmung des Spielbegriffs

    Die Interpretation hat bisher versucht, das allgemeine Kantische Verstndnis des Spielphnomens darzulegen und die Hypothese einer terminologischen Wortbedeutung zu verfolgen, ohne auf eine systematische Funktion des Spielbegriffs im Ganzen der kritischen Philosophie zu schlieen - die Verfhrung am "Leitseil der Sinnlichkeit" in der Flle der Bilder und Analogien knnte insbesondere fr die Deutung der philosophischen Sprache zu nahe liegen. Auch die darge

    " Ebd. S.227.

    7: Die vierfache Bestimmung des Spiel begriffs

    legte Bestimmung des Spieles in der "Anthropologie in pragmatischer Hinsicht" und die bisher aufgenommenen Aussagen der "Kritik der Urteilskraft" gestatten noch keine Entscheidung der offenen Interpretationsfragen und sicher nicht eine bertragung auf die transzendentalphilosophische Problematik. Noch weniger knnen die nachgelassenen Notizen Kants zum Spiel und zum Spielbegriff, die wie auch in anderen Fllen hufig prgnanter sind als die thematischen Stellen der Werke, als Kants eigene und durchgngige berzeugung zugrunde gelegt werden, wenn nicht die "Zusammenstimmung" im Ganzen und mit Parallelstellen der gedruckten Schriften ihre Bedeutung ausweist. Die aufschlureichen Festlegungen der sogenannten "Reflexionen zur Anthropologie"59, in denen die sthetische Fragestellung und das Spiel einen beachtenswert groen Raum einnehmen, knnen jedoch nun - auf Grund der bisherigen Erwgungen - gleichsam als Interpretationsregeln eingefhrt werden, um ein systematisches Verstndnis fr die "Kritik der sthetischen Urteilskraft" vorzubereiten, an der ihre Zuverlssigkeit und ihr Geltungsbereich sich schlielich ausweisen mten.

    Auf Grund dieser "Reflexionen zur Anthropologie" kann eine vierfache terminologische Bedeutung von "Spiel" unterschieden werden: Spiel als Handlung - Spiel als Form des Sinnlichen - Spiel als Gefolge - Spiel als Anordnung. Mit Ausnahme der Formulierung fr das Gefolge, die vielleicht eine doppelte Interpretation zulassen knnte, handelt es sich eindeutig um Alternativbestimmungen gegen den Zweck, gegen das Beharrende und gegen die Absicht. Wieweit Kant eine Zuordnung dieser Bestimmungen als Entfaltungen eines einheitlichen Spielbegriffs fr mglich oder notwendig hielt, mu offenbleiben.

    Die Bestimmung der Handlung entspricht dem bereits festgestellten und auch in der "Kritik der Urteilskraft" weiter zu belegenden Gegensatz von "Spiel" und "Geschft". "Eine jede Handlung ist entweder " Kant's handschriftlicher Nachla, WW XV, im wesentlichen "Erste Hlfte". Vgl.

    zum bisherigen Zusammenhang z. B. die Abgrenzungen von Einbildungskraft und Phantasie und von "knstlichem" und "natrlichem" Spiel in verschiedenen Bedeutungen (so Refl. 334, 338, 618, 773). Vgl. a. Anm. 36, die - unabhngig von einem Sonderfall der Bearbeitung - das Problem der Zuordnung isolierter Notizen demonstriert .

  • 158 159 Der Spielbegriff bei Kant

    ein Geschafte (was einen Zwek hat) oder ein Spiel (was (s zur Unterhaltung dient) zwar eine Absicht hat, aber keinen Zwek). In dem letzteren hat die Handlung keinen Zwek, sondern sie ist selber der Bewegungsgrund. "60 Die Bestimmung drckt nicht nur die allen Spieltheorien gemeinsame Auffassung aus, da das Spiel als solches zweckfrei ist und als Spiel des Menschen eine Ttigkeit, die um ihrer selbst willen geschieht, sondern die allgemeinere Festlegung, da jede Handlung, die nicht zweckgebunden oder aus einer Zwecksetzung erklrbar ist, unter den Terminus "Spiel" fllt. Selbstverstndlich kann sie im Hinblick auf einen hinzugedachten Zwed{ sowohl zweckmig als auch unzweckmig sein.

    Die Bestimmung der Form des Sinnlichen entspricht dem Gegensatz von Spiel und Gestalt, dessen allgemeine Bedeutung in der dritten Kritik aus dem engeren Textzusammenhang fraglich blieb. Sie entwickelt sich in den "Reflexionen" aus der Beziehung der Sinne zu ihrem Objekt. Spiel ist eine der beiden Formen des "objektiv" Sinnlichen und von der Gestalt unterschieden wie das Hren vom Sehen. "Wie sich verhlt das Gesicht zum Raume, so das Gehr zur Zeit. Beyde geben Begriffe, jenes von sachen, dieses vom Spiel; beyde nur von der Form. Das Gefhl von der Materie und Substantzen. iene von den Bestimmungen derselben. "61

    Die Bedeutung erweitert sich - oder knnte sich damit erweiternzu einer Unterscheidung des Rumlichen und des Zeitlichen. Der Begriff des Spieles kennzeichnet kein Ding, keinen Gegenstand, kein Bild und kein Abbild. Er kennzeichnet die Form, in der das Raumzeitliche,

    .. Refl. 618, S.267; (s ...) = spterer Zusatz. Unterhaltung" kann sehr weit verstanden werden: "Beschaftigung in Ruhe ist unterhaltung. Die Unterhaltung ist entweder durch Vorsetzlichen Wechsel der Gedanken oder unvorsetzlichen; die erstere ist bestrebung und Arbeit, die Zweyte das Spiel." (ReH. 809) ReH. 811 setzt "freye Bewegung" der Krfte, Unterhaltungen und Spiel gleich und in Gegensatz zu "Geschften" bzw. Zwecken.

    " ReH. 266. Entsprechend ReH. 287: Die Sinne sind entweder obiectiv oder subiectiv. Die erstere gehen entweder auf Materie (Gefhl) oder Form (Gesicht und Gehr). Die letztere entweder auf Gestalt oder Spiel: Gesicht oder Gehor." Und noch allgemeiner ReH. 655: "Beym Feuerwerk ist auch das spiel der Gestalten und Empfindungen. Denn in der Erscheinung ist entweder ein obiect: dieses wird iederzeit im raume gesetzt; oder lediglich eine Empfindung, aber .nach Verhltnissen der Zeit; das erste heit die Gestalt, das zweyte das Spiel, beydes ist oft beysammen."

    7: Die vierfache Bestimmung des Spielbegriffs

    sofern es nicht mathematisch gestalthaft oder als Sadle bestimmbar ist, in der Vorstellung des Subjekts begegnet - das Spiel der Gestalten, das Spiel der Vernderungen, das Spiel der Empfindungen, das Spiel der Erscheinungen berhaupt. Auch ohne auf die spter zu errternde Beziehung zum Hren einzugehen, wird aus dieser Bestimmung ersichtlich, da die Kantische Theorie der Kunst sim lst vom Bildcharakter der Anschauung und da jede Interpretation verfehlt sein knnte, die einseitig vom Aspekt des Bildes ausgeht; aber auch jede Interpretation, die eine Theorie des sthetischen Bewutseins ohne Bezug auf ein Objekt der Sinne zugrunde legt. Im Hinblick auf die offengebliebenen Fragen, wie die Unterscheidung fr die Form der Gegenstnde der Sinne und die Errterung der Spiele am Ende der Deduktion der sthetischen Urteile in der "Kritik der Urteilskraft" zu verstehen seien, ergibt sich wohl im Zusammenhang aller Belege, da die Disjunktion zwischen Spiel und Gestalt allgemein gelten soll und da die "Anmerkung" ber die Spiele im Anschlu an die Einteilung der Knste sachlich begrndet ist. Die Spiele im engeren Sinne sind Thema einer Kritik der sthetischen Urteilskraft, weil dem Begriff des Spiels eine allgemeine und wesentliche Funktion zukommt. Vielleicht mte die Unterscheidung von Zeimnung und Komposition fr den "eigentlimen Gegenstand des reinen Geschmacksurteils" so ausgelegt werden, da die Zeichnung auf ein "Spiel der Anschauungen" bezogen wird: "Das Spiel der Anschauungen (nicht der Gestalten, denn die Anschauung durchluft die Gestalt): Bildende Natur und Kunst. "62 Dann wrde auch von seiten des Sinnlichen einsichtig werden, warum die regelmigen geometrischen Gestalten fr Kant keine "Beispiele der Schnheit" sind63 Auf die mathematische Gestalt ist das Prinzip der "Zweckmigkeit ohne Begriff" nicht anwendbar, das Wohlgefallen beruht auf der "Braumbarkeit", nicht auf der reinen "Betrachtung",

    " ReH. 806, S. 356, ein spterer Zusatz; ebenso: "Dessen Hervorbringung nach einer Regel gelernt werden kan, gehrt nicht zum genie, e. g. Mathematik; alles genie gehet auf sinnliche Urtheilskraft im einzelnen. auf das Spiel, nicht auf das Geschft in Ansehung des obiekts." (S. 355).

    " Vgl. Kr. d. U. 22, Allgemeine Anmerkung, S. 241 ff. und 62 der Kritik der teleologischen Urteilskraft, S. 362 ff. ber die "Eigenschaften der Zahlen ..., mit denen das Gemth in der Musik spielt" (S. 363), ist damit noch nichts gesagt, es

    . geht im wesentlichen um "alles Steif-Regelmige", mit dem man nicht "ungesucht und zweckmig spielen kann" (S. 242 f.).

  • 160 161 Der Spielbegriff bei Kant

    argumentiert Kant, und diese reine Betrachtung beim Erlebnis des Schnen ist kein statischer Zustand, keine Fixierung an etwas Beharrendes, eindeutig Festzulegendes, sie mu die Gestalt "durchlaufen" knnen. Geometrie und Kunst sind verschieden wie reines Bild und reines Spiel. Unter solchen Gesichtspunkten knnte einleuchten, da das Verhltnis von Gestalt und Spiel fr das Verstndnis der Wissenschaften grundlegend ist.

    Wie schon erwhnt, knnte die dritte Bestimmung des Spiels als Gefolge die eigentlich problematische sein. Es wird spter zu fragen sein, ob sie nicht das grundlegende transzendentalphilosophische Problem enthlt, indem sie zwischen "Reihe" und "Spiel" als Verhltnis der Zeit unterscheidet. Die Reflexiono4 beginnt damit, da die "bestirnte Form" in der Thematik der Sinnlichkeit auf eine "Zusammenordnung", nicht auf "Zusammennehmung" zurckgefhrt wird. Zusammenordnung ist eine Synthesis, die nicht subordiniert wie der Begriff, sondern koordiniert. Koordination im Raum ist Gestalt, ihre Nachahmung das Bild. Koordination in der Zeit, unabhngig vom gegenstndlichen Gehalt, ist ein "Gefolge". Dieses Zusammen als ein Gefolge bloer Empfindungen entspricht der Reihe oder dem Spiel, und es bleibt doch wohl unklar, ob der Text eine Disjunktion impliziert oder nicht: "Die Form der [Empfindungen] Erscheinung ohne Vorstellung eines Gegenstandes besteht blos in der Zusammenordnung der Empfindungen nach Verhltnis der Zeit, und die Erscheinung heit ein Gefolge (g oder Reihe oder das Spiel)." Auch die Beispiele der Knste erlauben keine eindeutige Erklrung; immerhin legen sie nahe, die Reihenfolge der Gestalten von der Bewegungsfolge zu unterscheiden wie Reihung von Zusammenspielo5 Dagegen ist die Relation, in der Gestalt und Gefolge zur Erkenntnis stehen, eindeutig abgehoben: "Alle Gegen

    .. Vgl. zum Folgenden Refl. 683; (g .. . ) = gleichzeitiger Zusatz, [ ...] = von Kant durchstrichen.

    " Eine anschauende Form von einer Reihenfolge von Gestalten von Menschen ist die Pantomine, von einer folge der Bewegungen nach Abtheilung der Zeit der Tantz; beydes zusammen der mim i s c h eTa n z. Der Tanz ist dem Auge das, was die Music dem Gehr ist . .." (Ursprngliche Fassung: "einer Reihe von Gestalten ist der Tantz aber von einer Reihe Empfindungen die Music." Die Neufassung entspricht dem Zusatz.) "Tanz" kann auch eine weitere Bedeutung haben, so in der Refl. 618, S.266 fr die Poesie, "das schonste aller Spiele": "Ohne die Abmessung der Sylben und des Reimes ist es kein regelmig Spiel, kein Tanz."

    7: Die vierfache Bestimmung des Spiel begriffs

    stnde knnen sinnlich oder anschauend erkannt werden nur unter einer Gestalt. Andere Erscheinungen stellen gar nicht gegenstnde, sondern Vernderungen vor." Die Reflexion bricht ab mit den Worten: "Die reflectirte Erscheinung ist die Gestalt, die reflectirte Empfindung" - die Interpretation hat die Wahl der Ergnzung.

    Die vierte allgemeine Bestimmung definiert das Spiel als die Anordnung, in der keine Absicht ist. "In Aller Anordnung ist entweder Absicht oder Spiel. "66 Diese Alternative knnte so aufgefat werden, als ob sie der ersten terminologischen Festlegung widersprechen wrde, nach der die Spielhandlung zwar zweckfrei oder zwecklos ist, aber eine Absicht hat. Die Unterscheidung hngt jedoch ab von dem Standpunkt, unter dem die Anordnung betrachtet wird: als Handlung, als Form, als bestimmte Koordination, als Ordnung berhaupt; oder auch, im Aspekt der Handlung : in bezug auf den Anfang oder das Ende, oder in bezug auf den Verlauf. So wird an anderer Stelle das Spiel als "Beschaftigung ohne Absicht" damit begrndet, da es nicht "am Ende" vergngt, sondern whrend seiner Dauer gefllt67 Der engere Textzusammenhang fr die Einteilung der Anordnung - die Aufzhlung verschiedener Arten des Spiels vom "Spiel der Eindrcke" bis zum "Spiel der Reflexion" - legt nahe, die "Absicht" in der Anordnung auf die logische Regelung, die Planmigkeit einer Verstandeshandlung und die Bewutheit, das "Spiel" auf die sthetische Ordnung als solche zu beziehen. Im weiteren Zusammenhang der Reflexion kommt die Intentionalitt der Zweckursache zur Sprache. Im einzelnen werden abgegrenzt: Spiel und Zwang, Spiel und Ernst, Spiel und Gesetz - "das Spiel hat seine Regeln, [die Id] der Zwek gesetze." -, und zu Beginn der Reflexion fr das Spiel selbst: "Das Spiel der Natur (Kunst) und des Zufalls. Jenes stimmt mit einer idee. Idee und Spiel." Es besteht daher die Mglichkeit, die gesamte Reflexion auf die Unterscheidung zwischen dem Schnen in der Natur und als Kunst und dem Spiel des Zufalls zu bertragen. Die Zusammenstimmung mit der Idee, die der Zufallsanordnung nicht eigen ist, entspricht der Zweckfreiheit,

    " Refl. 807, S.359. Der nchste Satz differenziert: "Ein Spiel der Eindrke, der Anschauung, der Einbildungen, der reflexion, der Empfindung, der Gedanken, der Leidenschaften."

    " Vgl. Refl. 810.

    11 Hcid.mRI1I1. Der negrilf deo Spiel..

  • 162 163 Der Spielbegriff bei Kant

    whrend die Zweckordnung "um der Idee willen" da ist oder geschieht, wie die Arbeit um des Werkes oder des Lohnes willen. Wenn das Spiel des Menschen immer angewiesen ist auf "eine idee oder thema ..., welches eine einzige Vorstellung ist, die durch die ganze Beschaftigung durchgeht, damit durch die Vereinigung die Belebung desto vollkommener sey"68, mu das Spiel des Zufalls ohne solche Einigung sein und doch ein Spiel, vielleicht das Spiel des "blinden Glcks" oder auch das "Spiel der Empfindungen" als solcher und das verworrene Spiel der gestrten Ordnung, der extreme Fall einer Anordnung, die in keiner Hinsicht mehr einsehbar ist. Wie immer man die einzelnen Aussagen interpretiert, die allgemeine Bestimmung, da in aller Anordnung entweder Spiel oder Absicht ist, betrifft das Verhltnis von Spiel und Denken und die Kategorien der Modalitt. Damit betrifft sie zugleich die Gliederung der dritten Kritik: Die "Kritik der sthetischen Urteilskraft" untersucht das Verhltnis von Zuflligkeit und Notwendigkeit im Aspekt der sthetischen Ordnung als Spiel, die "Kritik der teleologischen Urteilskraft" diskutiert das Problem von Zuflligkeit oder Notwendigkeit der Naturformen und der Naturordnung im Aspekt der Absicht.

    Fr die Problemstellung des sthetischen Urteils wird man jedoch betonen mssen, da die Formulierung der thematischen Reflexion auf die Absicht oder das Spiel "in" der Anordnung hinweist. In diesem Bezug ist nicht die kausale, teleologische oder zufllige Bedingung der Anordnung magebend, sondern die immanente Absichtlichkeit in der Relation der erscheinenden Mannigfaltigkeit. So konzentrierte sich die Spielthematik in der "Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbrgerlicher Absicht" auf das Problem des zureichenden Grundes - die Idee