Der Dawkinswahn Oder Die Antwort Der Mystik

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    Der Dawkinswahn oder die Antwort der MystikDuell zwischen Wissenschaft und Religion?

    (Copyright Gero Jenner 2008)

    Gero Jenner

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    Die Situation 4

    Religion 8

    Grundlagen von Frieden und Gemeinsamkeit 13Von der instrumentellen zur universalen Vernunft 14

    Lingua universalis Mystik als Menschheitssprache 21Abkehr von anthropomorphen Vorstellungen 22Abkehr von Herrschaft 27Die Rolle des Einzelnen 30

    Mystik 34

    Irrationalismus? 38Am Beispiel der Antimystik 40Das mystische Innehalten 46Hymnen an die Nutzlosigkeit 49Vorstufen der mystischen Verschmelzung 54

    Ist Mystik Religion? 59Wissenschaft 68

    Die Lckensucher 69Jenseits der Ideologie 71Der Durchbruch 72Identische Verirrungen: Machtwissenschaft und Machtreligion 75Kritische gegen Machtwissenschaft 77Kritische Wissenschaft angesichts des Undenkbaren 78

    Die dreifach verschachtelte Welt 79Zwischen All und Atom 80

    Zwischen Anfang und Ende 86Mitten im Alltagsgeschehen 91Das Neue 92Materie und Bewusstsein 96Real oder ideal? 98

    Intelligent Design 102

    Dawkins Wahn 112Eine sixtinische Evolutionskapelle? 121

    Der offene Horizont 123

    Der Mystiker Einstein 126

    Dimensionen des Einsseins 133Mystik und Tod 154Mystik und Moral - Jenseits von gut und bse? 158Mystik und das Gute 162Mystik und das Bse 167Mystik gleich Selbstvergottung? 169

    Wahr- und Unwahrheit der Religionen 172

    Dawkins Heil und 176

    das Heil des Mystikers 178

    Bibliographie: 184

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    Personenverzeichnis 187

    Anmerkungen 189

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    Die SituationDas vorliegende Buch htte im Haupttitel eigentlich Duell zwischen Wissenschaftund Religion heien sollen. Angesichts einer Renaissance der Religionen, die sichnicht zuletzt in einem bedrohlichen Fundamentalismus und einem damiteinhergehenden Aufstand gegen Vernunft und Aufklrung bekundet, ist dies ein

    brandaktuelles Thema. Dann erschien das Buch Der Gotteswahn desrenommierten englischen Biologen Richard Dawkins und wurde auf Anhieb eingroer Erfolg weit ber die Grenzen des Vereinigten Knigreiches hinaus. Es botsich an, auf dieses zugleich geistreiche und in die Irre fhrende Buch Bezug zunehmen, und zwar in einer Form, die gleich im Titel keinen Zweifel an meinenEinwnden lsst. Diese sind von so grundlegender Art, dass es mir richtig erscheint,von einem Dawkinswahn zu sprechen, wobei das Denken Dawkins hierstellvertretend fr eine unter ideologisch voreingenommenen Wissenschaftlern und natrlich nur unter diesen - verbreitete Einstellung steht. Der Dawkinswahn ist

    eben keinesfalls nur an einen bestimmten Autor und dessen spezielle Thesengebunden. Er steht paradigmatisch fr eine bestimmte Geisteshaltung.

    Die Thesen des englischen Wissenschaftlers lassen sich unter dreiHauptberschriften gruppieren. Er bt, erstens, vernichtende Kritik am Theismus,also an der Vorstellung eines Gottes, der mehr oder weniger menschlich(anthropomorph) gedacht wird. Zweitens, setzt er Religion mit Theismus gleich,und, drittens, stellt er dem negativ bewerteten Weltbild der so verstandenenReligion ein positives entgegen, das in seiner Sicht nicht nur die Absurditten desreligisen Weltbildes umgeht sondern eine unangreifbare, in sich befriedigende,

    unserem Wissen geme Alternative bietet: Wissenschaft, wie er sie versteht undbegrndet.In diesem Buch akzeptiere ich mit Vorbehalten die erste These, die Kritik am

    Theismus, wenn man ihr auch, wie ich am Ende der Arbeit zeigen werde,mangelndes Verstndnis fr die Komplexitt des Religisen vorwerfen kann (vgl.Kap. Wahr- und Unwahrheit der Religionen). Ich halte sie dennoch in ihrem Kernfr richtig und unwiderlegbar - eine Auffassung, die wohl auch von DawkinsLesern geteilt wird, denn es ist die Kritik am Theismus, die dem Buch eine sogroe Breitenwirkung verschaffte. Anders steht es um die beiden folgenden Thesen.

    Sie werden entweder gar nicht oder auf unzureichende und irrefhrende Weisebegrndet. Der Gegensatz in der Qualitt der Argumentation springt fr mich sosehr in die Augen, dass ich bei aller Bewunderung fr den Scharfsinn des Autorskeine Hemmung davor empfand, auch bei ihm von einem Wahn zu sprechen, ebendem Dawkinswahn. Der anerkannte Wissenschaftler argumentiert hier mitstrflichem Leichtsinn. Geflissentlich bersieht er zum ersten, dass Theismus undReligion niemals identisch waren, aber darber hinaus entwirft er auch einverzerrtes Bild der wissenschaftlichen Weltsicht, die ja fr ihn die unangreifbareBasis bildet, von der aus er seine antireligisen Vernichtungsfeldzge unternimmt.Damit meine ich das wissenschaftliche Credo, das er dem von ihm verworfenenreligisen Weltbild entgegenstellt. Diese Vision ist so von Dogmen und

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    Denkverboten umstellt, dass man Dawkins dieselbe Blindheit vorwerfen muss, dieer mit solcher Brillanz bei seinen Gegnern beschreibt und verspottet.

    Das Ergebnis dieses Duells ist daher durchaus paradox. Einerseits erscheintmir die Vorstellung keineswegs abwegig zu sein, dass der englische Biologeweniger mit der von ihm seit Jahren vertretenen These vom egoistischen Gen in die

    Wissenschaftsgeschichte eingehen wird, als mit seinen negativen Ausfhrungenzur Theologie. Es ist ja keineswegs selten, dass jemand nicht vorrangig in seinemSpezialgebiet sondern als Auenseiter bekannt wird. Dafr gibt es einleuchtendeGrnde. Stellen wir uns einen Menschen vor, der sein Leben lang ber Engelforschte, einen Angelo-Logen also. Wenn er Bnde darber verfasste, wie vieleEngel Platz auf einer Stecknadelspitze finden, mit welcher Frequenz sie ihre Flgelin dnner Gebirgsluft bewegen oder wie ihr Brustkorb gestaltet sein muss, umzugleich fr himmlische Gesnge und zur Verankerung von Flgeln zu taugen, soknnte sich ein solcher Fachgelehrter durchaus den Anspruch auf den Nobelpreis

    verdienen, weil er sich wie kein anderer als Spezialist mit der Sache befasst hat.Tritt nun allerdings ein Auenseiter hervor, der fr alle berzeugend den Nachweiserbringt, dass Engel eine bloe Scheinexistenz in den Gehirnen einiger allzuphantasievoller Menschen fhren, so wird dieser andere zwar keinen Nobelpreiserringen, aber man msste in ihm zweifellos den greren Angelologen erblicken,weil er letztlich Wahrheit und menschliches Wissen viel entscheidendervorangebracht hat als all jene zusammen, die ihre Gelehrsamkeit bndeweise anFiktionen verschwendet haben.

    Wie gesagt, Dawkins gelingt es mit Scharfsinn und einem immer wiederbezwingenden Witz den Wahn anderer blozustellen, seine Angriffe gegen einmenschlich-allzumenschliches Gottesbildes sind durchaus berzeugend, nur bleibtihm dabei vllig verborgen, dass er selbst einem nicht weniger schwerwiegendenWahn unterliegt: dem Wahn einerMachtwissenschaft, die in deutlichem Gegensatzzu der so ganz andersartigen Tradition kritischer Wissenschaft steht. Dasvorliegende Buch wird immer wieder den Anspruch des kritischenWissenschaftlers mit dem des Machtwissenschaftlers konfrontieren. Es wird dieVorurteile, Fehlschlsse und Kurzsichtigkeiten aufdecken, die der positiven VisionDawkins zugrunde liegen und ganz allgemein einer Machtwissenschaft, zu derentypischen Vertretern er zhlt.

    Das ist der eine Brennpunkt dieses Buches. Der andere wird in der Kritik ander leichtfertigen Gleichsetzung von Theismus und Religion bestehen. Den Fehlereiner solchen Gleichsetzung vermag nur zu begehen, wer den fundamentalenGegensatz bersieht, der sich zwischen kritischer Religion und Machtreligionauftut. Die Mystik als Urform des religisen Denkens und Erlebens ist kritischeReligion in ihrer ursprnglichsten Form und als solche eine Schwester derkritischen Wissenschaft. Von Dawkins Attacke gegen die traditionelle Religionwird sie nicht einmal berhrt. Vorstellungen von einem menschlich-allzumenschlichen Gott sind der Mystik fremd, ja, sie steht ihnen oft genauso

    ablehnend gegenber wie der kritische Wissenschaftler. Seit Anbeginn

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    menschlicher Geschichte sind in der Mystik all jene Strmungen des Denkenszusammengeflossen, die in vollem Einklang mit einer kritischen Wissenschaftstehen und dennoch zur gleichen Zeit weit hinaus ber die Wissenschaft zielen,da sie sich an den ganzen und nicht nur an den diskursiv denkenden Menschenwenden. Nimmt man beide zusammen: Mystik und kritische Wissenschaft, so

    bahnen sie den Weg zu einer herausfordernd neuen und doch schon in denfrhesten Texten der Mystik angelegten Wirklichkeitssicht.Mit dem in Dawkins Gotteswahn beschworenen Duell ist der Kampf

    zwischen Wissenschaft und Religion von Neuem entbrannt, kaum weniger heftigals schon in der Frhaufklrung des 17. Jahrhunderts, als die sogenanntenFreigeister die schrfsten Waffen des Geistes gegen die Vertreter der Religionenzckten und umgekehrt die Vertreter der letzteren alles taten, um dieWissenschaften als ein fr das Heil des Menschen entbehrliches Unternehmen zurelativieren. Heute sind es Richard Dawkins und seine Mitstreiter, die ein

    Massenpublikum berall auf der Welt zwar nicht gerade begeistern - wenbegeistert es schon, dass wichtige Glaubensinhalte, jahrhundertealte Institutioneneiner vernichtenden Kritik bis hin zum Gesptt ausgesetzt werden die aberdennoch viele Menschen faszinieren und berzeugen. Wre Dawkins zu glauben,dann gbe es nur eine einzige Weltsicht, der wir heute noch trauen drfen: diewissenschaftliche. Die Religionen tragen, so seine Meinung, nichts zurmenschlichen Erkenntnis hinzu, was die Wissenschaften nicht ihrerseits viel besserbegrnden knnten, sie tragen vielmehr sehr viel dazu bei, menschliches Denkenauf Irrwege zu lenken und in Unwahrheit zu ersticken. Die Entstehung des Lebensund die Mechanik seiner Entwicklung einschlielich seines biologischen Sinns(oder vielmehr das Fehlen jedes nachweisbaren Sinns), das seien Fragen, zu denendie Wissenschaft - und wirklich nur sie - Abschlieendes zu sagen vermge. Wiebekannt, gipfelt bei Dawkins die abschlieende Erkenntnis in der Theorie vomegoistischen Gen, das sich die eigene leibliche Hlle so whlt, dass es sich ineiner fr den ewigen Kampf ums berleben mglichst tauglichen Form mglichstzahlreich fortpflanzen kann.

    Dawkins Auffassungen ber die Triebkrfte der Evolution sind auch unter jenen umstritten, die sich bei ihren Auffassungen ber das Leben strikt an denErkenntnissen der Wissenschaft orientieren. Kritiker Dawkins wie Joachim Bauer

    halten sie geradezu fr falsch. Doch das ndert nichts an dem besonderen Wertseines Buches, das in erster Linie auf der schneidenden und sowohl argumentativwie im Stil brillant formulierten Kritik an der Religion beruht. AuchWissenschaftler, die seine Theorie vom egoistischen Gen mit Kopfschttelnquittieren, knnen sich der Stringenz seiner Einwnde gegen den blichenGottesglauben und dessen Rechtfertigungen kaum verschlieen. Die Faszinationdes Buches liegt eben darin, dass es mit grter Offenheit sagt, was so vieledenken und so wenige aus Opportunismus oder Bequemlichkeit sich anders alshinter vorgehaltener Hand auszusprechen getrauen.

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    ausgelscht wre, so dass nur Du und ich und vielleicht noch ein paar andereMenschen brig blieben. Stellen wir uns weiterhin vor, dass alle Spuren derVergangenheit so weitgehend getilgt worden sind, dass uns als einzigesberbleibsel der untergegangenen Kultur nur die gemeinsame Sprache blieb. Imbrigen sind wir so jung, dass selbst unser Wissen nicht ber jene ersten Stufen

    wissenschaftlichen Denkens hinausreicht, die uns eine bescheidene Schuldbildungauf den Weg gab.Meine Frage ist - und es ist eine Frage von weitreichender Bedeutung was

    wird dann fr Dich und mich und die kleine Restgruppe anderer Menschen zurWahrheit zhlen? Vom Christentum, vom Islam, vom Hinduismus kann keiner vonuns etwas wissen, so wenig wie ein Kind, das allein auf einer Insel heranwchst.Wir befinden uns also auf einer Welt ohne Gtter, ohne Katechismen und auchohne Autoritten, die uns sagen, was wir zu tun und was wir zu lassen haben. Dieneue Menschheit, die wir reprsentieren, beginnt schlicht wieder dort, wo die alte

    vor Jahrtausenden schon einmal begonnen hatte, am Nullpunkt nmlich. Ingewisser Weise erschafft jeder von uns wenigen berlebenden die Welt nun einzweites Mal. Sie ist nicht so, wie die damaligen, aber nun verloren gegangenenOffenbarungen und Lehrbcher sie haben wollen, sondern so wie Du und ich sie

    jetzt sehen. Eine andere Welt kann es fr uns unter derartigen Umstnden nichtgeben.

    Wir brauchen dieses Gedankenexperiment nur durchzuspielen, um uns derbeunruhigenden Fragen bewusst zu werden, die sich daraus ergeben. Die weitausbeunruhigendste lautet: Was denn von der ganzen Vergangenheit mehrererTausend Jahre mit all ihren Dogmen und vermeintlich unumstlichen Wahrheitennoch brig bleibe, wenn das Ich sich - unvorbelastet durch die Vergangenheit dieWelt ganz aus eigener Kraft von Neuem erschafft seine Welt, eine, die ihm ganzallein zugehrt, weil niemand sie ihm verordnen konnte?

    In gewisser Hinsicht brauchen wir ber die Antwort nicht im Zweifel zu sein.Ein bestimmter Teil deines und meines Wissens wird mit Sicherheit ganz genausoentstehen, wie es schon damals entstehen musste, denn am Eigensinn der Natur,sprich den Gesetzen der uns umgebenden Dinge, hat sich im Vergleich zu frher janichts gendert. Wir werden diese Gesetze daher zum zweiten Mal finden, d. h. sieentdecken und sie uns bei der praktischen Herrschaft ber die Umwelt zunutze

    machen. Stein um Stein werden wir so das Mosaik einer neuen Naturwissenschaftvon Neuem zusammensetzen. Diese Wissenschaft, die mit der Zeit immer mehr anUmfang gewinnen wird, wird zwar aus den gesammelten Erfahrungen allereinzelnen unserer Gruppe und spter auch der nach uns folgenden Generationenbestehen, aber jeder einzelne kann ber wahr und falsch auf gleichberechtigteWeise entscheiden. Behauptet einer von uns, der Mond htte an gewissen Tagendie Form einer Ellipse, so gengt es, dass ein anderer Beobachter dieseBehauptung als falsch widerlegt, damit wir alle sie aus der Menge der wahrenBehauptungen verbannen. Es steht also von vornherein fest, dass im Hinblick auf

    dieses Wissen sich niemand von uns eine Autoritt anmaen kann oder darf, die

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    ihn zum alleinigen Richter ber Wahrheit und Unwahrheit setzt. Das Ich deines,meines und das jedes anderen - bleibt in der neuen Welt letzte und oberste Instanz.Da wir genetisch dieselbe Ausstattung wie unsere vor kurzem ausgelschtenVorfahren besitzen und daher ber die gleiche Intelligenz wie sie verfgen, dazudem in der uns umgebenden Welt weiterhin die gleichen Gesetze gelten, so

    drfen wir damit rechnen, dass der ganze Umfang des einmal erworbenen, aber inunserer Jugend schlagartig vernichteten Wissens, jenes Wissens, das vorher denNamen Wissenschaft trug, nach und nach in unseren Kpfen von neuementstehen wird - vielleicht nicht in derselben Reihenfolge, denn unterschiedlicheInteressen lenken unsere Aufmerksamkeit vielleicht auf ganz andere Dinge, aberdas ndert nichts daran, dass diese von uns neu erschaffene Wissenschaft, solangesie aus nachprfbaren Aussagen besteht, die Wissenschaft der Vergangenheiterneuern und schlielich an ihrem damals abgebrochenen Ende fortsetzen wird.

    Das gilt fr die Wissenschaft, doch gilt es auch fr jenen zweiten Teil unseres

    Wissens, der vielen noch als viel wertvoller erscheint und im Menschen viel tieferverankert ist? Ich spreche natrlich von der religisen Sicht auf die Wirklichkeit.Eine schnelle, vielleicht etwas vorschnelle Antwort vermag jeder darauf aufAnhieb zu geben. Sollten smtliche Bibliotheken dem Untergang zum Opfergefallen sein, dann werden weder ich noch du oder irgendein anderer Bewohnerdieser neu erstandenen Welt etwas von Jahwe, Christus oder anderen Gestalten derBibel wissen. Allah und sein Prophet Mohammed werden ebenso aus unseremGesichtskreis verschwunden sein wie Baal oder Isis, von Buddha wird keiner vonuns etwas wissen, ebenso wenig von Vishnu, Shiva oder Amaterasu no Omikami.Wir werden natrlich auch nichts von den zehn Geboten des Moses wissen, keinenatrliche Abneigung gegen Schweinefleisch oder das Verzehren von Khenhaben. Niemand von uns kme auf den Gedanken, den Sabbat zu ehren, einen vonuns fr den Stellvertreter Gottes auf Erden zu halten oder Kreuze beim Anblickerschreckender Vorflle zu schlagen. Und anders als im Umgang mit demEigensinn der uns umgebenden Dinge, also mit ihren Gesetzen, werden wirkeineswegs durch eigene Beobachtung oder eigenes Nachdenken diese Gestaltenund die ihnen zugeschriebenen Geschichten zum Leben erwecken. Whrend dieWissenschaft uns irgendwann wieder begleiten wird, so wie uns auch die Naturbegleitet, die wir mit ihrer Hilfe beherrschen, wird die Religion, wie sie in den

    Offenbarungstexten zuvor existierte, ebenso wie diese selbst aus unserem Lebenvllig verschwunden sein.

    Aber dieses Schicksal wird sie nicht etwa deshalb ereilen, weil wir wenigerreligis motiviert sein werden als unsere Ahnen, denn in jedem berhauptdenkbaren Sinne sind wir ihnen als Menschen gleich, also mit all unseren Fragenan die uns umgebende Wirklichkeit. Sptestens nachdem wir unser physischesberleben einigermaen absichern konnten, werden wir aufs Neue damit beginnen,uns ber das Leben, den Tod, den Sinn unserer Existenz Gedanken zu machen.Wie unsere Vorfahren in der alten Welt werden auch wir uns wieder um religise

    Erkenntnis bemhen - im Unterschied zu wissenschaftlichem Wissen, womit wir

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    die uere Natur beherrschen. Doch dabei verfiele niemand von uns auf denGedanken, dass die Wahrheit nur in der Vergangenheit existiert. Angenommeneiner von uns wrde sich einen liebenden Gott nach Art eines in den Himmelversetzten Menschen vorstellen, so wrde er selbstverstndlich nicht meinen, dassein solches bermenschliches Wesen seine Botschaft nur der alten Welt berlie,

    aber uns nicht fr wrdig hlt, sie neuerlich von ihm zu empfangen. Wenn Er sichwirklich all seinen Kindern mit gleicher Liebe zuwendet, so wird er das wird unsals vllig selbstverstndlich erscheinen - seine Botschaft immer aufs Neue an jedeZeit, in alle Rume und letztlich an jeden einzelnen Menschen schicken. Niemandvon uns wrde die abwegige Vorstellung hegen, dass er sich nur einmal in derVergangenheit offenbarte, dass er nur zu den Weien gekommen sei oder nur aufdem Berge Kailasch im Himalaya wohne, weil ihm die dortigen Menschen lieberals alle anderen wren. Keiner von uns wrde im Ernste glauben, dass er sichgerade in Palstina als Avatar verkrpern musste, nachdem die Menschheit schon

    Tausende von Jahren zuvor existierte und deshalb nichts von ihm wissen konnte.All diese Mglichkeiten, uns einen solchen Gott vorzustellen, wrden vonvornherein nicht in Frage kommen, denn, wie ich schon sagte, wir wissen nichtsvon dieser Geschichte. Wie fangen von vorne an, am Punkte Null.

    Dennoch wrde das religise Denken auch in unserer neuen Welt sehrschnell einen festen Kern gewinnen - und das gilt wohl berhaupt fr Menschen,wenn sie isoliert von den Glaubensvorstellungen ihrer jeweiligen historischenUmgebung aufwachsen. Angenommen, wir wrden uns darauf einigen knnen,dass wir uns die Welt nicht ohne eine alles beherrschende Instanz vorzustellenvermgen, eine Instanz, die wir mit den Begriffen Gottheit, das Gttliche oder Gottbezeichnen, so wrden wir doch auf jeden Fall darauf bestehen, dass derenExistenz unmglich von einem historischen Zufall abhngen kann, einem Zufall,der uns gewisse heilige Bcher in die Hnde spielte oder auch nicht. Der einzigeBeweis, den wir akzeptieren, wird darin liegen, dass wir uns von ihrer Existenzdurch eigenes Erleben und Denken hier und jetzt berzeugen knnen. Insofernwrden wir keine andere Evidenz verlangen als diejenige, die uns zur gleichen Zeitauch vom Nullpunkt aus wieder zur Wissenschaft fhrt.

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    Rckblick (das Hier und das Jetzt):Fr den Mystiker stellte der Bezug auf das Hier und Jetzt des lebenden Menschenimmer Angelpunkt und Mitte des religisen Erlebens dar. Die Vergangenheit alsQuelle der Wahrheit auszugeben, musste fr ihn deshalb eine abwegigeVorstellung sein. Nach seiner Meinung geniet keine Generation einen

    privilegierten Zugang zur Wahrheit. Hier und Jetzt offenbart sich das Gttliche.Meister Eckhart (1260 - 1328) sagt es mit aller Bestimmtheit:

    Wer die Kunst und die Macht htte, dass er Zeit und alles, was in 6000Jahren je geschah oder noch geschehen soll bis an das Ende der Welt - wenneiner das wieder in ein gegenwrtiges Nun zusammenziehen knnte, daswre Flle der Zeit. Dies ist das Nun der Ewigkeit, da die Seele alle Dinge inGott als neu und als frisch bekennt und in derselben Lust, wie ich sie jetztgegenwrtig habe.

    Im gttlichen Bewusstsein, das letztlich identisch mit der Schau des Mystikers ist,wird die Zeit aufgehoben:

    Ich sagte einst, dass Gott die Welt jetzt erschafft, und alle Dinge sind gleichedel in diesem Tage. Gott erschafft die Welt und alle Dinge in einemgegenwrtigen Nun, und die Zeit, die da vergangen ist vor tausend Jahren,die ist Gott jetzt ebenso gegenwrtig und ebenso nahe wie die Zeit, die Zeit,die jetzt ist.

    Kein Punkt auf der Zeitskala und kein Ort auf dem Globus sind nher bei Gott.Einzig das Hier und Jetzt des offenen Bewusstseins ist Quelle der Erkenntnis. DerStein der Weisen, so drckt es Angelus Silesius aus, liegt im eigenen Herzen:

    Mensch, geh nur in dich selbst! Denn nach dem Stein der Weisen darf mannicht allererst in fremde Lande reisen.

    Du brauchst nicht in andere Land und andere Zeiten auszuschwrmen, alles, wasfr den Menschen erfahrbar ist, hat im Hier und Jetzt sein Ziel und seinen

    Ursprung. So sagt es ein moderner Mystiker, der Dichter des neuen Kontinents,Walt Whitman (1819 - 1892), in seinen Leaves of Grasses:

    Da war nie mehr Anbeginn als es jetzt gibt,Noch mehr Jugend oder Alter als jetzt.Und nie wird es mehr Vollkommenheit geben als jetzt,Und auch nicht mehr Himmel oder Hlle als jetzt.

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    Grundlagen von Frieden und Gemeinsamkeit

    Das gerade beschriebene Gedankenexperiment, das uns zu einer Religion ohneGeschichte fhrt, weil die Wahrheit nicht an den historischen Zufall gebunden seinkann, lsst sich auch ohne die darin vorausgesetzte Untergangsvision anstellen,nmlich indem man sich mit der gegenwrtigen Situation des Menschen befasst,

    wie sie mit dem Schlagwort der Globalisierung gekennzeichnet ist. Angesichtsihrer stetig zunehmenden Fhigkeit zur Zerstrung der Biosphre ist dieMenschheit auf einen gemeinsamen berlebenswillen, gemeinsame Institutionen,ein internationales Recht angewiesen, doch dabei stt sie bis heute auf scheinbarunberwindbare Widerstnde. Worin sind diese begrndet?

    Gewiss nicht in unseren Vorstellungen ber die praktischen Instrumente zurBeherrschung der Auenwelt. Wissenschaft und Technik sind heute Teil eineswahrhaft universalen Denkens. Wahrheit und Unwahrheit werden hier nicht vonirgendwelchen Autoritten, sondern letztlich von der Gesamtheit der Einzelnen

    entschieden. Um ein Diktum des Wissenschaftstheoretikers Popper etwaskonkreter zu formulieren: Es ist gleichgltig, ob ein Chinese, ein Grnlnder oderein Deutscher ein Naturgesetz falsifiziert. Jedes souverne Ich kann mit einerauf sorgfltige Beobachtung begrndeten Aussage ein Naturgesetz widerlegen, wieumgekehrt auch jeder Einzelne, sprich jeder entdeckende Wissenschaftler, einsolches Gesetz finden kann. Vor der Wissenschaft sind alle Menschen des Globusgleich. Alle sind hier vollkommen gleichberechtigt, wenn es um dieUnterscheidung von wahr und unwahr geht. In der theoretischen Erkenntnis undpraktischen Herrschaft ber die Natur, gibt es zum ersten Mal seit Beginnmenschlicher Geschichte eine wirkliche Einheit smtlicher Menschen. Historischgesehen haben wir es mit einer einzigartigen, noch vor einem halben Jahrtausendnicht einmal erahnten Errungenschaft zu tun. Sie drckt sich darin aus, dass es inPeking, Mnchen oder Boston Universitten mit annhernd gleichen Lehrplnengibt und in den Fabriken Chinas, Frankreichs oder Argentiniens mit denselbenMaschinen nach denselben wissenschaftlichen Erkenntnissen gearbeitet wird.Doch diese Universalitt des wissenschaftlichen Denkens lsst uns merkwrdigkalt. So sensationell eine solche erst im zwanzigsten Jahrhundert zustandegekommene geistige Einheit auch ist, bleibt sie doch merkwrdig farblos und frunsere Gefhle neutral. Denn es fehlt ihr gerade dasjenige Element, welches wir

    mit einer wirklichen Einheit zuallererst verbinden: nmlich das Element derVerbrderung. Wir mgen zwar darin einig sein, was wir in unserer Beobachtungder Natur als wahr und falsch bezeichnen, aber diese Einigkeit stellt keineswegseine grere Nhe zwischen den Vlkern des Globus her.

    Das ist auf Anhieb daran zu erkennen, dass die wissenschaftlich-technischeGlobalisierung die Interessengegenstze zwischen Vlkern und Nationen,Wirtschaftsblcken und Handelsimperien keinesfalls aufhebt, sondern sie sogarnoch zustzlich verschrft, weil diese Gegenstze sich gerade aufgrund destechnologischen Fortschritts weit effektiver, d. h. aber auch mit weit gefhrlicheren

    Folgen austragen lassen. Die globale Einheit im wissenschaftlichen Denken hat

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    den Globus um nichts friedfertiger werden lassen, sondern die Gefahren fr alle imGegenteil wesentlich erhht. Der Grund fr dieses auffallende Missverhltnis istdarin zu suchen, dass die Menschheit sich zwar seit Jahrtausenden zum ersten Maldarauf einigen konnte, was von nun an als wahr und falsch imherrschaftsbezogenen Umgang mit der Natur gelten solle, aber nach wie vor keine

    Einigkeit darber besteht, was unter Menschen und Vlker als wahr und falsch imHinblick auf das gegenseitige Verhalten zu gelten habe.Man wrde sich also einer leichtfertigen Illusion hingeben, wenn man

    glaubte, dass Wissenschaft der Menschheit den Frieden bringt. Die mittlerweileuniversale Sprache von Naturwissenschaft und Technik hat nicht verhindernknnen, dass eine parochiale Vielfalt im Hinblick auf egoistische Interessen undMachtansprche besteht. Und hier ist es bezeichnend, dass solchen Interessen undMachtansprchen fast immer weltanschauliche, sehr oft religise Haltungenzugrunde liegen. Und das aus leicht einsehbaren Grnden. Die Wissenschaft ist im

    Hinblick auf Werte und Wnsche neutral. Die Geltung der Naturgesetze bestehtnun einmal unabhngig von menschlichen Werten und Wnschen. Religionen aberhaben es in erster Linie gerade damit zu tun: mit Hoffnungen, Werten undWnschen. So ist es eine beinahe zwangslufige Folge, dass dieselbe Menschheit,die im Hinblick auf das Verstndnis der ueren Natur weltweit dieselbewissenschaftlich-technische Sprache spricht, im Hinblick auf ihre Werte keineEinigung zu erzielen vermag, weil unterschiedliche Religionen mitunterschiedlichen Wertvorstellungen hier hohe und manchmal unberwindlicheBarrieren errichten. Denn eben darin gleichen sich die verschiedenen Religionen.Alle tendieren dazu, das Festhalten an den je eigenen Werten zum hchsten Gebotzu erheben. Der Anspruch der US-Amerikaner, als Gottes erwhltes Volk zu gelten,wird von den Taliban, den Saudis oder den fundamentalistischen Hindus mitgleicher Selbstgewissheit, gleichem Fanatismus vertreten, ungeachtet der Tatsache,dass mittlerweile an smtlichen Universitten und in allen groen Konzernen derWelt Technik und Wissenschaft auf dieselbe Art praktiziert und weitergegebenwerden. Eine tiefer reichende Einheit der Menschen, die Grundlage knftigenFriedens, kann daher nicht auf Wissenschaft und Technik beruhen. Wer sich dieserIllusion hingibt die auch dem Wissenschaftsglauben von Dawkins zugrunde liegt- der htte auch davon ausgehen mssen, dass Anzug und Krawatte, die noch im 19.

    Jahrhundert einzig in Europa getragen wurden, einen Beitrag zum Weltfriedenleisten wrden, sobald sie sich einmal ber den ganzen Globus verbreiten.

    Von der instrumentellen zur universalen Vernunft

    Wirkliche Verbrderung setzt etwas anderes voraus: den Abbau derweltanschaulichen Gegenstze, die berwindung trennender Glaubensschrankenund Ideologien. Denn die Wahrheit der einen ist oft fr die anderen eine Lge. Fast

    immer ist es ein durch die religise Weltanschauung bestimmtes gutes Gewissen,

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    das am Ursprung der schlimmsten Konflikte zwischen den Vlkern liegt. ImNamen ihrer jeweiligen Gtter und der von ihnen verkndeten Gebote glauben sieeinander ausbeuten oder offen bekmpfen zu drfen. Wissenschaft wird in denDienst widerstreitender Werte gestellt und vervielfltig damit das Potential ihrerzerstrenden Wirksamkeit.

    Die Einigung der Menschheit auf ein gemeinsames wissenschaftliches undtechnologisches Denken hat ganze zehntausend Jahre bentigt, wenn wir dieneolithische Revolution an den Beginn dokumentierter Geschichte setzen. Eshandelt sich um die Einigung auf die Spielregeln einer Vernunft, die wir mit MaxHorkheimer als instrumentell bezeichnen knnen, weil sie ihre grten undsichtbarsten Wirkungen darin erzielte, die Natur dem Dienst des Menschen zuunterwerfen. Die Einheit der Menschheit im Hinblick auf seine Vorstellungen vongut und bse, gerecht und ungerecht steht dagegen noch aus - im Augenblickscheint sie noch unerreichbar zu sein. Sie ist aber nicht weniger als die

    unerlssliche Voraussetzung dafr, dass die interessebedingten Gegenstze, wie siesich in konomischer Ausbeutung, Kriegen und der Zerstrung der Umweltmanifestieren, einvernehmlich gechtet werden, bevor es dafr zu spt sein knnte.Die Lage des Menschen auf dem gemeinsamen Globus ist derart prekr, dass diesehhere Einheit, dieses wirkliche Einvernehmen, das weit ber und jenseits derinstrumentellen Vernunft liegen muss, zur existentiell notwendigen Aufgabe wird.

    Diese wichtigste Aufgabe unserer und der kommenden Zeit ist keineswegseine Fata Morgana. Vorbereitungen dafr gibt es schon lange. So wie es auchschon immer Versuche gab, dem erfahrungsbegrndeten Wissen zum Sieg zuverhelfen, das heute seine Triumphe in Wissenschaft und Technik feiert. Jetzt gehtes darum, die Quelle gemeinsamen religisen Denkens blozulegen, um fr jeneknftige Einheit der Werte und religisen Vorstellungen auf dem Globus dasFundament zu legen. Ohne diese Verstndigung ber gemeinsame Werte kann unsdie die schon erreichte Einheit der instrumentellen Vernunft nur in die Katastrophefhren.

    Und damit schlage ich eine Brcke zwischen dem obigenGedankenexperiment und der gegenwrtigen Situation einer zwar wissenschaftlichgeeinten, aber durch unterschiedliche Religionen und Werte, kurz durch ihreGeschichte, tief gespaltenen Menschheit. In dem Augenblick, da wir von unserer

    Geschichte absehen entweder weil sie uns abhanden gekommen ist oder weil wirsie bewusst berwinden ist auch der durch Geschichte verursachte Gegensatzaufgehoben. Wenn das Gttliche berall und allen zugnglich ist; wenn es keineselbsternannten Experten gibt, die in ihrem eigenen Interesse oder dem einer aufSelbsterhaltung bedachten Organisation den Zugang zu ihm streng berwachen;wenn diese Experten nicht vorgeben, die allein befugten Interpreten und Vermittlerder Wahrheit zu sein; wenn die Zuflle der Geschichte ausgespart bleiben, die dieGeburt, die Selbstoffenbarung oder das sonstige Wirken Gottes einmal imVorderen Orient lokalisieren, das andere Mal in Indien oder unter den Bantus

    dann steht einzig und allein der gegenwrtige und berall gleiche Mensch dieser

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    hchsten Instanz von Angesicht zu Angesicht gegenber. Wenn wir die Zuflle derGeschichte als das sehen, was sie sind, nmlich etwas nur Zugefallenes, dannkommt uns die heute nur geahnte Einheit der Menschen auf hherer Ebene in denBlick.

    Diese neue und hhere Einheit hebt die durch die instrumentelle Vernunft

    bewirkte natrliche Einheit keinesfalls auf, im Gegenteil, sie ruht auf ihr, ntzt sieals ihre Basis. Fr diese neue und hhere Einheit hat die Wissenschaft sogar einenotwendige Vorarbeit geleistet, denn ihrem Wesen nach ist Wissenschaftungeschichtlich. Sie besteht zwar in einem stndigen Anhufen von Erkenntnis: Jemehr Zeit vergeht, umso hher trmt sich der von ihr angesammelte Wissensberg,aber diese Erkenntnisse knnen nach einem Verlust jederzeit von anderenEinzelnen neu gefunden werden. Es gibt in der Wissenschaft keine Wahrheiten, dieallein deswegen wahr sind, weil ein bestimmtes Individuum darauf stie. Es gibt inihr keine Autoritt, die an bestimmte Gruppen, Stammbume, Ethnien gebunden

    wre. Mag der einzelne Wissenschaftler auch anmaend sein, autorittsglubigoder leichtfertig, dem Wahrheitsspruch der anderen Wissenschaftler wird er sichdennoch beugen mssen, denn diese besitzen genau die gleiche Befugnis berwahr und unwahr zu urteilen wie er. Insofern liefert der Wissenschaftler einVorbild fr alles Denken ber die Wirklichkeit. Jeder Mensch ist seiner Anlagenach vollstndig, auch wenn er mehr oder weniger intelligent, mehr oder wenigergebildet ist. Die Wissenschaft erkennt jedem das gleiche Recht zu. Genau dieserUmstand hat zu ihrer Verbreitung ber den ganzen Globus wesentlich beigetragen.

    Doch was fr die Wissenschaft gilt, trifft bisher eben nicht auf jenen Teilunseres Denkens zu, der sich auf historische Zuflle der Vergangenheit sttzt, umdie Gegenwart damit zu beherrschen. Eine als gltig angenommene Fatwa oder dieAussprche eines als unfehlbar geltenden Priesters lassen keinen Widerspruch zu,ebenso wenig wie die heiligen Bcher, auf die sich beide beziehen. Der historischeZufall einer bestimmten Kultur, eines bestimmten Lebensraums, bestimmtergeschichtlicher Konstellationen wird ber die Gegenwart gestellt, die Wahrheitender Vergangenheit ber die Erkenntnisse der hier und jetzt lebenden Menschen.Hier wird es ein radikales Umdenken geben mssen. Die neue und hhere Einheitder Menschen wird dabei insofern auf dem wissenschaftlichen Denken aufbauenknnen, als die letzte Autoritt ber wahr und falsch nicht aus der Vergangenheit

    stammen darf, denn diese ist fr jedes Volk eine andere. Das religise Denken wirdsich auf seine Essenz besinnen, auf dasjenige, was der Einzelne, ohne Weisungenvon anderen zu empfangen, aus eigener Einsicht, eigenem Erleben vom Gttlichenzu erfahren vermag. Hier liegt die Einheit, die noch weit hher zu werten ist alsdiejenige, die auf der Globalisierung der instrumentellen Vernunft beruht. Hiermuss eine Neubesinnung ansetzen, denn diese allein kann die Kraft aufbringen, dieaufgerissenen Grben wieder einzuebnen.

    Wir wissen, wie dies geschehen kann. Die Mystik als elementare Form desreligisen Erlebens hat nie der Autoritt, der Historie und der Weisung bedurft.

    Mystik war immer und berall Religion in statu nascendi, d.h. in ihrer

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    ursprnglichen und elementaren Gestalt. Sie ist die einzige Form der Religion,welche genau wie die Wissenschaft die Bindung an die Zuflligkeiten derGeschichte zu berwinden suchte und auch immer erneut berwunden hat. Sie istdie religise Lingua universalis.

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    Rckblick (Absage an Autoritten):Mystiker sind immer Teil einer Gesellschaft und als solcher unterliegen sie wieandere Menschen dem von ihr ausgehenden Anpassungsdruck. Mystiker sind daheroft gute Christen, Muslime, Hindus, Buddhisten etc. gewesen. Sie haben sich mitden zu ihrer Zeit und in ihrem Lande jeweils herrschenden Autoritten zu

    arrangieren gewusst. Doch ihrem Wesen nach ist Mystik Auflehnung gegen alleAutoritt, denn mehr als alles andere zhlt fr sie die eigene Erfahrung. Wer dasGttliche in der Welt und in sich selbst nicht zu sehen vermag, dem kann es wederein Lehrer noch eine Kirche vermitteln.

    Shankarchrya, der groe indische Mystiker des achten nachchristlichenJahrhunderts, der die zweittausend Jahre zuvor aufgekommene Mystik derUpanishaden wiederentdeckte und sie vertiefte, uert sich darber in der VivekaChdmani.

    Das Wesen der einen Wirklichkeit lsst sich nur mit eigener klarerWahrnehmung erkennen, nicht durch einen Lehrer. Auch die Form desMondes kann ja nur mit den eigenen nicht mit den Augen anderer Menschengesehen werden.

    Und an anderer Stelle:

    Das knigliche Wissen, das knigliche Geheimnis ist hier dasBrahmanwissen. Und dieses ist nicht Schriftwissen, sondern eineunmittelbare Eigenerkenntnis, sowie man sein Wohl oder Weh fhlt, d.h. inunmittelbarer Eigenvernehmung.

    Darin drckt sich wohl die eigentliche berzeugung des groen Philosophen undMystikers aus. In seiner Lehrttigkeit sah er sich freilich gezwungen, bestndig andie Autoritt der Veden anzuknpfen. Nach Auffassung des orthodoxenHinduismus konnte es keine Wahrheit geben, die nicht schon am Anfang derZeiten offenbart worden wre. Diesem ueren Anpassungsdruck konnte Shankarasich ebenso wenig wie Meister Eckhart entziehen.[2] Dennoch lassen sich dieeigentlichen berzeugungen der beiden Mystiker deutlich genug zwischen den

    Zeilen lesen.Die buddhistische Mystik des Mahyna verwahrt sich gleichfalls gegen den

    Machtspruch uerer Autoritten. So heit es im Strlamkra:

    Tatschlich ist die rettende Wahrheit nie von Buddha gepredigt worden, dennjeder muss sie in seinem eigenen Herzen finden.

    Und so sagt es auch der deutsche Mystiker Angelus Silesius (1624 - 1677):

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    Die Schrift ist Schrift, sonst nichts! Mein Trost ist Wesenheit. Und dass Gottin mir spricht das Wort der Ewigkeit.

    Dem gleichen Misstrauen gegenber aller nur durch Wort und Schrift formuliertenWahrheit begegnen wir bei dem viel gerhmten sufischen Dichter und Mystiker

    Djalal od-Din Rumi (1207 - 1273). Dieser wagt es sogar, sich in einem Gedicht ausdem Diwan von der eigenen Religionsgruppe loszusagen.

    Was soll ich tun, o ihr Muslime? Denn ich kenn mich selber nicht:Weder Christ bin ich noch Jude, und auch Pars und Muslim nicht;Nicht von Osten, nicht von Westen, nicht vom Festland, nicht vom Meer,Nicht stamm ich vom Scho der Erde und nicht aus des Himmels Licht.

    Diese Zeilen haben ihm die religisen Eiferer bis heute nicht verziehen und stellen

    sie deshalb als Einschub aus anderer Feder hin. Was immer man davon halten mag,wre es natrlich ganz falsch, daraus eine Feindschaft Rumis gegen den Islamabzuleiten, den Glauben, in dem er aufgewachsen war. Was sich aus diesemGedicht erkennen lsst, ist einzig die berzeugung des Mystikers, dass er sich vonallen Fesseln befreien muss, mit denen ihn die Zugehrigkeit zu einer bestimmtenDoktrin oder Menschengruppe beschwert. Der Mystiker lsst allen Religionen alsHilfsmitteln zur Erkenntnis des Gttlichen ihr Recht, aber er kann sich keinereinzigen von ihnen unterwerfen. In diesem Sinne sagt auch Mahatma Gandhi: Ichbin Christ, Hindu, Moslem und Jude. hnlich uert sich Schopenhauer (1788 -1860), wenn er christliche Mystik und Vednta miteinander vergleicht.

    Die christlichen Mystiker und die Lehrer der Vedanta-Philosophie treffenauch darin zusammen, dass sie fr den, der zur Vollkommenheit gelangt ist,alle uern Werke und Religionsbungen berflssig erachten.

    Von der Wahrheit, die vor jeder historischen Offenbarung liegt, hat auch FriedrichSchelling (1775 - 1854) gesprochen: Wir haben eine ltere Offenbarung als jedegeschriebene, die Natur. Im gleichen Sinn uert sich Schiller unter derberschrift Mein Glaube:

    Welche Religion ich bekenne? Keine von allen,Die du mir nennst! Und warum keine? Aus Religion.

    Nmlich aus dem unmittelbaren Erleben des Gttlichen vor allerautorittsgebundenen Weisung. Nicht anders sah der groe franzsischeGottessucher Pascal (1623 - 1662) die letzte Instanz fr alle Entscheidung berwahr und falsch nicht in einer ueren Autoritt sondern im Inneren des Einzelnen:

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    Legt eurem Glauben nicht das zugrunde, was ihr von anderen gehrt habt.Wenn ihr etwas fr richtig haltet, dann so als htte euch nie jemand etwasdavon gesagt.

    Denn, wenn wir uns nur danach richten, was andere sagen, dann entsteht daraus

    wie es der indische Mystiker und Heilige Ramakrishna formuliert, ein nicht-endender Streit zwischen Meinungen, Dogmen und Religionen.

    Wohin immer ich blicke, sehe ich die Menschen im Namen der Religionstreiten [...] Aber sie denken nie daran, dass Er, der Krishna genannt wird,auch Shiva heit und den Namen der Shakti, von Jesus und Allah ebensotrgt - derselbe Rama mit tausend Namen.

    Mit besonderer Radikalitt verwirft das Zen jede von auen kommende Autoritt.

    Das gilt selbst fr das Wort des Buddha, sofern der Schler es als etwas auffassenknnte, dem er sich wie einem Machtspruch zu unterwerfen htte. Das so genannteKoan ist eine bewusste Irrefhrung und Desorientierung der Vernunft, um denSchler von der Illusion befreien, dass er die Wahrheit auf dem Wege derBerechnung oder des gehorsamen Lernens finde knne.

    Ein Mnch fragte Dung-schan: Was ist es mit dem Buddha? Dung-schanerwiderte: Drei Pfund Hanf.

    Wenn Du nicht sprst, dass die Wahrheit in Dir liegt, so dass Du nicht nach ihrfragen musst, dann sind alle Worte - und bezeichnen sie auch das Hchste - nichtmehr wert als drei Pfund Hanf.

    Der amerikanische Dichter und Pfarrer Ralph Waldo Emerson sah Autorittin offenem Gegensatz zum religisen Erleben.

    Die Bedeutung der Autoritt ist das Ma fr den Verfall der Religion, dasMa dafr, wie sehr der Geist bereits aus ihr entwichen ist.

    Die Absage an alle Bevormundung ist ein Tenor mystischen Denkens. In seinem

    bis heute mageblichen Werk ber die Mannigfaltigkeit religiser Erfahrungfasst William James deren Wesen auf folgende Weise zusammen: Man darf, soglaube ich, ruhig behaupten, dass alle persnliche religise Erfahrung ihre Wurzelnund ihren Mittelpunkt in Zustnden mystischen Bewusstseins hat.

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    der umgebenden Welt philosophiert und darin viel mehr als nur einenintellektuellen Akt der Erkenntnis gesehen: Diese Einheit beruhte auf einererlebten Wesensschau.

    Das alles ist Geschichte, die hinter uns liegt und die wir im Prinzip auchvergessen knnten, ohne dass das Gemeinte selbst damit verloren ginge. Denn

    wenn das mystische Erleben wirklich universal ist, dann muss es sich heute imEinzelnen genauso spontan ereignen knnen wie zu irgendeiner frheren Zeit. Erstdadurch nehmen mystisches Denken und mystisches Erleben den Charakter einerRaum und Zeit bergreifenden Erscheinung an, dass sie sich unabhngig vonKirchen und heiligen Texten vllig voraussetzungslos ebenso in der Gegenwartereignen. Wenn es sich zeigen lsst, dass mystisches Denken gerade unter dengrten Denkern verbreitet ist, nmlich unter jenen, die auf ihrem Gebiet, dem derWissenschaft zum Beispiel, Hervorragendes vollbrachten, dann ist das eineindrcklicher Beleg fr die Aktualitt dieser Urform religisen Denkens.

    Abkehr von anthropomorphen Vorstellungen

    Die kirchliche Autoritt biblischen Offenbarungsglaubens wird nie dieMenschen des Erdballs, nicht einmal die des Abendlands einigen. Karl

    Jaspers, Glaube, 7.

    Unter groen Wissenschaftlern finden wir nur wenige, die sich demBuchstabenglauben der Kirchen oder gar ihren Dogmen fgen. Und geradezuverschwindend gering ist unter ihnen die Zahl der Fanatiker, die wortwrtlichbernehmen, was ihnen christliche, islamische, hinduistische oder buddhistischePriester zu glauben befehlen. Die meisten fhrenden Wissenschaftler lehnen esberhaupt ab, ein Bekenntnis zu einer der offiziellen Religionen abzulegen. Dochgerade unter ihnen finden sich ausgesprochen religise Naturen. Nur ist es nichtdie gewhnliche anstaltsgebundene Form der Religiositt, die von ihnenUnterwerfung gegenber Traditionen und anderen Menschen (Priestern, Ppstenusw.) verlangt, sondern eine zugleich weiter und tiefer angelegte, die sich mit ihren

    sonstigen Kenntnissen als Wissenschaftler vertrgt. Auf die allgemeinste Artausgedrckt, besteht sie in dem Bewusstsein von einer das Dasein beherrschendenhheren Macht, die sich in anthropomorphen Formeln und Dogmen, in Mythenund Riten nicht einfangen lsst. Dieses differenzierte Bewusstsein, das vor einerhistorisch verengten, menschlich-allzumenschlichen Beschreibung des Gttlichenzurckschreckt und es gerade dadurch erhht, steht in ein und derselben Linie mitder Mystik, wie sie sich inner- und auerhalb der groen Weltreligionenmanifestiert. Gleichgltig ob wir an Albert Einstein, Niels Bohr, Max Born, DavidBohm oder Erwin Schrdinger denken, viele gerade der bedeutendsten

    Naturwissenschaftler bezeugen die fortdauernde Universalitt eines religis

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    motivierten Denkens, das keinen Kultus, keinen Klerus, kurz keine Herrschaftbentigt und seine Sicht auf das Gttliche gerade dadurch von allem Menschlich-Allzumenschlichen freihlt.

    Der Widerstand gegen die Entwrdigung des Gttlichen durch Vorstellungen,die es in allzu groe Nhe zum Menschlichen bringen, hat in der Mystik eine lange

    Geschichte. Im klassischen Griechenland, im Hinduismus ebenso wie imvolkstmlichen Katholizismus haben die Massen die Gtter wie ihresgleichenbehandelt. Bei den Hindus mussten sie in Milch gebadet, mit Blumen bekrnzt, mitschnen Frauen bedient und umschmeichelt werden. Und fast berall konnte mandie Gtter mit Geschenken bestechen. Ich gebe Dir etwas, glaube an Dich undbete zu Dir, dafr erwarte ich, dass Du Dich Deinerseits genauso um die Erfllungmeiner Wnsche bemhst.

    Ein solcher Kuhhandel, bei dem Gott oder die Gtter von hilfesuchendenMenschen auf das eigene Niveau erniedrigt wurden, musste auf feinere Naturen

    und tiefer blickende Denker in hohem Mae abstoend wirken. Mit allerEntschiedenheit hoben sie daher das Gttliche ber diese niedere Sphre hinaus. Essollte und durfte nicht dies oder jenes sein, das heit, es durfte keine jenerEigenschaften besitzen, die an die materielle Existenz und das Alltgliche erinnern.Das Gttliche lag jenseits von Alltag und Machtstrukturen. Es war unendlich vielmehr, nmlich die Quintessenz allen Seins.

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    Rckblick (Absage an anthropomorphe Vorstellungen):Zu den Vorfahren der heutigen Wissenschaftler zhlen die griechischenNaturphilosophen. Keiner von ihnen hat seine Meinung ber den damals blichenGtterglauben so deutlich ausgesprochen wie Xenophanes (um 570 bis 470 v.Chr.) aus dem kleinasiatischen Kolophon.

    Doch whnen die Sterblichen, die Gtter wrden geboren und httenGewand und Stimme und Gestalt wie sie.Doch wenn die Ochsen [und Rosse] und Lwen Hnde htten oder malenknnten mit ihren Hnden und Werke bilden wie die Menschen, so wrdendie Rosse rosshnliche, die Ochsen ochsenhnliche Gttergestalten malenund solche Krper bilden, wie [jede Art] gerade selbst das Aussehen htte.Die thiopen [behaupten, ihre Gtter] seien schwarz und stumpfnasig, dieThraker, blauugig und rothaarig.

    Es klingt wie ein Kommentar dazu, wenn Epikur (um 341 270 v. Chr.) bemerkt:

    Wer die Gtter der Menge leugnet, ist also kein Gottloser, sondern der istgottlos, der den Gttern die Eigenschaften anheftet, die ihnen von der Mengebeigelegt sind.

    Oder wie Friedrich Schiller es beinahe zweieinhalb Jahrtausende spter sagt: Inseinen Gttern malt sich der Mensch.

    Die Kritik an personal vorgestellten Gttern, die in Aussehen, Wnschenund Forderungen gar zu offensichtlich dem Menschen gleichen, wurde bis zuLudwig Feuerbach, der die Gtter zu Projektionen der menschlichen Psycheerklrte, und in jngster Zeit von Dawkins immer erneut aufgegriffen. Auch derMystiker lehnt die Bilder einer personal oder berhaupt nach Analogie desMenschen gedachten Gottheit ab, weil diese viel zu gro ist um durch Etikettenund menschliche Bilder erfasst zu werden. Mit aller Entschiedenheit wird dieseErkenntnis in den Upanishaden ausgesprochen: Gott ist weder dieses noch jenes, erist frei von allen Attributen, die Menschen ihm anzuhngen versuchen. All das seiMaya: eine Auswirkung menschlicher Unwissenheit.

    Was durch das Denken undenkbar,Wodurch das Denken wird gedacht,Das sollst du wissen als Brahman,Nicht jenes, was man dort verehrt.

    Alles was die diskursive Vernunft ber die Gottheit sagt, alle Bilder, in denen siediese verehrt, treffen ihr Wesen nicht, in Wahrheit ist sie weder dieses noch jenes(neti, neti).

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    Und Vasishtha berlegte bei sich und sprach: Dasjenige, von dem sie sagen:es ist nicht so, es ist nicht so (neti, neti), das ist das Brahman. DiesesBrahman ist der Atman, ohn' Ende, ohne Alter, ohne Ufer

    Alle Bestimmungen dieser hchsten Realitt knnen nicht mehr sein als

    unpassende Bilder, die wir aus uns selbst und unserer Auenwelt schpfen. Darauflaufen auch die entsprechenden Aussagen Meister Eckharts hinaus.

    Ich wrde etwas ebenso Unrichtiges sagen, wenn ich Gott ein Sein nennte,wie wenn ich die Sonne bleich oder schwarz nennen wollte. Gott ist wederdies noch das.

    Alles womit in der Alltagssprache Gott bezeichnet wird, das ist der Seele, die vonihm erfllt ist, ganz fern.

    Soll Gott je darin lugen, so muss es ihn alle seine gttlichen Namen kostenund seine personhafte Eigenheit; das muss er allzumal drauen lassen, soll er

    je darein lugen. Vielmehr, so wie er ein einfaltiges Eins ist, so ist er wederVater noch Sohn noch Heiliger Geist

    Und er lsst auch keinen Zweifel daran, wie es zu diesen vermenschlichendenVorstellungen kommt. Wenn man sich Gott nach dem Bild eines ntzlichenWesens vorstellt, dann glaubt man von ihm die Erfllung eigenntziger Wnscheerhoffen zu drfen.

    Aber manche Leute wollen Gott mit den Augen ansehen, mit denen sie eineKuh ansehen und wollen Gott lieben, wie sie eine Kuh lieben. Die liebst duwegen der Milch und des Kses und deines eigenen Nutzens.

    Doch zwischen einem derart ins Menschliche herabgezogenen Gott und demunnennbar Gttlichen der Gottheit in Eckharts Worten - besteht eineunberbrckbare Kluft.

    Dazwischen aber bedenket es, ich bitte euch bei der ewigen undunvergnglichen Wahrheit und bei meiner Seele: fasst das Unerhrte. Gottund Gottheit sind unterschieden wie Himmel und Erde. Der Himmel stehtwohl tausend Meilen hher. Und so die Gottheit ber Gott.

    Vier Jahrhunderte nach Eckhart hat ein groer philosophischer Mystiker ausAmsterdam, Baruch de Spinoza (1632 - 1677), diese Verkleinerung desGottesbildes mit gleicher Entschiedenheit abgelehnt:

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    Es gibt Menschen, welche sich Gott wie einen Menschen vorstellen, ausKrper und Geist bestehend und den Leidenschaften unterworfen. Wie weitaber diese von dem richtigen Begriff Gottes entfernt sind, ergibt sich ausdem, was bereits bewiesen worden, zur Genge. Doch lasse ich diesebeiseite; denn alle, welche ber die gttliche Natur nur einigermaen

    nachgedacht haben, verneinen die Krperlichkeit Gottes. Unter anderembeweisen sie das am besten damit, dass man unter Krper eine lange, breiteund hohe Masse von bestimmter Form versteht, whrend es nichtsWidersinnigeres geben knne, als dies von Gott, dem absolut unendlichenWesen, zu sagen.

    Dieselbe klare Haltung finden wir bei dem Manne, der als grterNaturwissenschaftler des vergangenen Jahrhunderts gilt: bei Albert Einstein.

    Die religisen Genies aller Zeiten waren durch diese kosmische Religiosittausgezeichnet, die keine Dogmen und keinen Gott kennt, der nach dem Bilddes Menschen gedacht wre.

    Nicht anders denkt David Bohm, US-amerikanischer Quantentheoretiker, beranthropomorphe Gottesvorstellungen:

    Menschen erkannten in der Vergangenheit eine Intelligenzform, die dasUniversum organisiert hatte. Sie personalisierten diese und nannten sie Gott.Ein hnlicher Einblick ist heutzutage auch mglich, ohne ihn zupersonalisieren und einen persnlichen Gott zu nennen.

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    Abkehr von Herrschaft

    Die grten unter den Wissenschaftlern bezeugen die fortdauernde Universalitteines religis motivierten Denkens, das sich entschieden gegen eine Vermischungdes Gttlichen mit allem Menschlich-Allzumenschlichen strubt. Das gilt inbesonderem Mae fr das Eindringen von Herrschaft und Macht. Mystik weist alle

    menschliche Herrschaft als vermittelnde Instanz zurck. Sie ist daher die einzigeForm der Religion, die Menschen ber Konfessionen hinweg verbindet.Christentum und Islam finden nicht zueinander - wie sollten sie auch, wenn schonProtestanten und Katholiken einander bis heute nicht wesentlich nher kamen?Solange die Wahrheiten der Religion auf der vermeintlich unanfechtbarenAutoritt ihrer geschichtlichen Urheber beruhen statt auf dem inneren Zeugnis der

    jeweils lebenden Einzelnen, stehen sie einander als unvershnliche Mchte fremdund unberbrckbar, d.h. letztlich in Feindschaft, gegenber. Das gilt nicht nur frihre historisch-dogmatisch begrndeten Lehren selbst, sondern ebenso fr die

    Anstalten und Institutionen, in denen sie sich konkret manifestieren. Im Prinzipfunktionieren ja Kirchen und andere organisierte Glaubensgemeinschaften nichtanders als groe Wirtschaftskonzerne. Ihr Produkt ist eine bestimmteGlaubenswahrheit, so wie diese von ihnen jeweils definiert worden ist. Die eigeneExpansion - fast immer auf Kosten der anderen - ist dann mit der Verbreitungdieses Produktes unlsbar verbunden, nur dadurch erhhen sie ihre Macht. Denn

    jede Organisation tendiert sehr schnell dazu, den eigenen Fortbestand und deneigenen Machtzuwachs als ihre eigentlichen Aufgaben zu verstehen. In demselbenAugenblick, wo sie dies tut, sind es aber auch zwangslufig Fragen der Macht, diesie wesentlich in ihrem Vorgehen bestimmen. Nirgendwo ist dieser Umschwungdeutlicher zu erkennen, als in der Machtergreifung des Christentums unterKonstantin im vierten Jahrhundert nach Christus.

    Die Mystik hat den Verlockungen der Macht widerstanden, weil sie es nichtzulassen konnte, dass sich zwischen das Gttliche und den einzelnen Menschenandere Menschen einschoben. Genau dieses Dazwischentreten anderer Menschenist aber das typische Kennzeichen der Machtreligion. Macht hat den Zugangzum Gttlichen von menschlichen Gnadenspendern so abhngig gemacht wie denkleinen Untertan von der Gunst eines Knigs. Macht hat zwischen den einzelnenund seinen Zugang zur Wahrheit die Experten der Wahrheit, Priester und andere,

    gestellt, ohne die er angeblich niemals begreifen wrde und vor allem auch niemalsbegreifen sollte, was Wahrheit wirklich ist und von ihm verlangt. Dieseselbsternannten Experten haben ihm Jahrhunderte lang eingeredet, dass er dieWahrheit auf keinen Fall in sich selbst und unabhngig von ihrer Hilfe entdeckenwrde. Die Experten der Wahrheit haben den einzelnen regelmig undsystematisch entmndigt, ihn zur Stumm- und Taubheit verdammt. Auch wenn amUrsprung einer historischen Religion, wie beispielsweise im Urchristentum, einmaleine Gemeinschaft von Gleichberechtigten stand, so wurde diese doch nahezuberall auf der Welt von einer Priesterschaft abgelst, die das Monopol auf die

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    Wahrheit besa und diesen Besitz zum eigentlichen Fundament einer Jahrhundertelang mit inquisitorischen Mitteln verteidigten Macht erhob.

    Mystik war und ist die einzige Form religisen Denkens, die diesesDazwischentreten der Macht verwirft. Sie richtet sich an den einzelnen, sie ruft ihnzum Ausbruch aus der selbstverschuldeten Unmndigkeit auf. Wenn es eine

    Wahrheit des Gttlichen gebe, so ihre Grundberzeugung, dann msse sie frjedermann sichtbar sein, sofern er sie berhaupt sehen wolle. Mystik ist der direkteBlick des einzelnen Menschen auf die Transzendenz und das Gttliche.

    Die Folgerung, die sich aus einer solchen Haltung fr die Zukunft ergibt, istwenig zweifelhaft. Eine zuknftige Menschheit wird christlich sein, wenn sie, auchohne sich von den Dogmen der Kirchen indoktrinieren zu lassen, von sich aus zurWahrheit des Christentums findet, sie wird islamisch sein, wenn sie, ganz ohne denKoran in jahrelangem Bemhen auswendig lernen zu mssen, von sich aus zudessen wesentlichen Aussagen gelangt. Eine solche Entwicklung ist freilich wenig

    wahrscheinlich, auch wenn im Christentum wie im Islam Werte und Aussagen vonuniversaler Geltung enthalten sind und selbst Theologen wie etwa Hans Kng ineinigen ihrer uerungen der Mystik ganz nahe kommen.[3] Deswegen scheint dieoben zitierte Voraussage von Karl Rahner viel eher richtig zu sein, wonach dieknftige Menschheit eine mystische Form der Religion annehmen wird. Denn zurBefreiung von Macht und damit zur Mndigkeit findet sie nur durch diese. Mystikerlaubt ihr die Machtsprche abzuschtteln, weil Macht den Menschen immer nurMachtbefehle erteilt. Das religise Denken wird sich vom Druck und denAutoritten der Vergangenheit befreien, von den historischen Attrappen desReligisen, um zu dessen universalem Kern vorzustoen.

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    Die Rolle des Einzelnen

    Das religise Denken wird sich vom Druck und den Autoritten der historischenReligionen befreien, um zu deren universalem Kern vorzustoen. Allerdings lauernauch am Rande dieses Weges manche Gefahren. Die Rolle des Einzelnen kann auffalsche Weise berschtzt und aufgeblht und auf ebenso falsche Weise

    unterschtzt und geschmlert werden. Auch hier hat die heute universale Spracheder Wissenschaften gezeigt, wie sich beide Gefahren umgehen lassen. DerEinzelne fhrt in der Wissenschaft eine zugleich privilegierte und eine derGemeinschaft anderer Wissenschaftler doch auch wieder ganz und garuntergeordnete Existenz. Einerseits ist er und nur er notwendig der Ursprung jedesweiterfhrenden Gedankens. Ein neues Naturgesetz wird niemals als kollektiveGedankeneingebung gefunden. Das bleibt auch dann eine unanfechtbare Wahrheit,wenn wir zugeben mssen, dass der Zeitgeist gewisse Probleme nicht selten sosehr in den Vordergrund drngt, dass sie in verschiedenen Lndern und

    unterschiedlichen Kpfen nahezu gleichzeitig zum Durchbruch gelangen - wieetwa das Differenzialkalkl von Newton und Leibniz. Auch in diesem Fall bleibenes jedoch immer einzelne Kpfe, in denen die Denkarbeit sich ereignet. AllerFortschritt des Denkens, smtliche Erfindungen haben hier, im Einzelnen, ihrenUrsprung. Das ist der Quell, aus dem sie notwendig flieen.

    Sind sie dort jedoch einmal entstanden, dann ergibt sich sogleich eine vlligvernderte Situation. Denn nun wird die Gemeinschaft zu ihrem Richter. Aufeinmal hat nun sie und nur sie das letzte Wort ber wahr und falsch dieserursprnglich individuellen Eingebungen. Denn jede von ihnen wird erst dadurchzum allgemeinen Besitz, dass andere sie nachvollziehen, sie sich aneignen oder sieim Gegenteil als falsch oder irrefhrend verwerfen. Erst aus dieser nachtrglichenbernahme der Errungenschaften des Einzelnen durch die beharrliche Prfungeiner Gemeinschaft kann Wahrheit entstehen.

    Das radikal Neue dieses seit dem siebzehnten Jahrhundert im Europa derfrhen Aufklrung entstandenen Zugangs zur Wahrheit besteht nun darin, dassdabei keine Denkbefehle von der wissenschaftlichen Gemeinschaft anerkanntwerden. Fr sie ist jede Behauptung eines Einzelnen grundstzlich gleichwertig,sie ist gleichwertig im Hinblick auf ihre ethnische und historische Herkunft,gleichwertig im Hinblick auf Raum und Zeit. Ob jemand eine Erkenntnis vor 2000

    Jahren in Palstina oder vor dreitausend Jahren in Mesopotamien fand, spielt frsie keine Rolle. Sie berprft jede von ihnen an der beobachtbaren Wirklichkeitnach gleichen Kriterien. Das einzige Kriterium, das sie grundstzlich nie anerkennt,ist die Autorittsanmaung. Behauptet jemand, einen besseren, tieferen oderwahreren Blick auf die Wirklichkeit zu besitzen als seine Mitmenschen oderfordert gar von ihnen, sich dieser Behauptung widerspruchslos zu unterwerfen;kleidet sich jemand in ehrfurchtheischende Roben oder lsst sich von anderen alsauerordentliche Erscheinung verehren, so lsst ein Wissenschaftler dies unterkeinen Umstnden als Grund dafr gelten, seine Aussagen hher zu bewerten als

    die irgendeines anderen Menschen. Sie wird den gleichen Prfungen unterworfen.

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    Auch die Tatsache, dass ein Einzelner in diesem oder jenem Land als Heiliger,Inspirierter oder gar als unfehlbar gegolten habe, so dass seine Behauptungen vor

    jeder denkbaren berprfung schlechterdings wahr sein mssten, weist dieWissenschaft grundstzlich als unzulssigen Wahrheitsbeweis zurck. In dieserstrikten Unparteilichkeit liegt die Ursache fr ihre weltweite Verbreitung. Die

    wissenschaftliche Sprache konnte eben deshalb zur neuen Lingua franca derMenschheit werden, weil sie keinen Teil dieser Menschheit diskriminiert.Trifft dasselbe Verhltnis von Einzelnem zur Gemeinschaft auch auf die

    Religionen zu? Auf den ersten Blick schon. Bevor ganze Vlker an Gtter glaubten,mussten einzelne Menschen, z. B. in Mesopotamien, sich Gott als einmenschenhnliches Wesen vorgestellt haben. Andere Menschen in Ozeanien, inIndien, in Mittelamerika und vielen anderen Gegenden der Erde sind auf denGedanken verfallen, sich Gottheiten in Tieren verkrpert vorzustellen. Ebensomussten zunchst einmal einzelne Menschen an die Mglichkeit glauben, dass das

    Gttliche sich in einem Pantheon mit vielen verschiedenen Gttergestaltenmanifestiert. Und ebenso sind es dann wiederum Einzelne gewesen, die sich imLaufe der Geschichte als erste dazu entschieden haben, an die Herrschaft eineseinzigen Gottes zu glauben.

    Bis zu diesem Punkt verlaufen die Wege der religisen und derwissenschaftlichen Wahrheitsfindung durchaus parallel, sieht man einmal darberhinweg, dass die Aufmerksamkeit eines Naturwissenschaftlers den sinnlicherfahrbaren Dingen gilt, whrend die religise Erkenntnis sich auf deren sinnlichnicht mehr wahrnehmbaren Hintergrund richtet. Die Wege pflegen sich erst in demAugenblick - dann aber auch auf radikale Weise - zu trennen, wenn es um dieBewertung dieser von Einzelnen kommenden Denkanste durch dieGemeinschaft geht. In den Wissenschaften spielt der Einzelne immer dieselbegleichbleibende Rolle. Mag es auch immer nur einen einzigen Einstein oderNewton im Laufe eines Jahrhunderts geben, so steht doch allen Menschen dergleiche Zugang zur Wahrheit offen und daher prinzipiell auch die Mglichkeit, dieRolle eines Einstein oder Newton zu bernehmen. Und auch diese beiden Gigantenunter den Wissenschaftlern sind keineswegs dagegen gefeit, dass irgendeinspterer Forscher, sofern er nur die Fakten auf seiner Seite hat, ihre Aussagen undTheorien mit Hilfe von Ausnahmen oder Gegenbeweisen entkrftet.

    Genau dies aber ist in der Wahrheitsfindung historischer Religionenprinzipiell ausgeschlossen. Hier stoen wir auf ein vllig anderes Phnomen.Einerseits wird der Einzelne extrem aufgewertet, auf der anderen Seite aber unddas mit innerer Zwangslufigkeit wird er ebenso stark abgewertet. Der Einzelnewird entweder ins bermenschliche empor gehoben oder seiner Mndigkeit alsunabhngiger Schiedsrichter beraubt. Er ist hier alles oder er ist weniger als nichts:anzubetender Prophet, Heiliger, Religionsgrnder oder unnachsichtig zuverfolgender Ketzer.

    So wurden Jesus, Mohammed, Buddha in den Rang von bermenschen

    erhoben eine nachtrgliche Vergottung, die fr andere Menschen katastrophale

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    Folgen hatte. Denn die Gemeinschaft bernahm ja nicht nur das von diesenbermenschen sanktionierte Sinn- und Wahrheitsverstndnis, sondern sie legtegleichzeitig fest, dass es von nun an kein anderes Sinn- und Wahrheitsverstndnismehr geben drfe. Nachdem sie bestimmte Einzelne auf diese Art zum Himmelerhoben hatte, verdammte sie all jene anderen Einzelnen zur Hlle, die es knftig

    noch wagen sollten, an ihnen und ihrer Lehre zu zweifeln.[5] Die extremeAbwertung der Einzelnen, die damit verbunden ist, fhrt in der Regel jedenfallssolange wie die betreffende Religion eine starke Machtstellung besitzt - zur aktivenVerfolgung aller Menschen mit einer eigenen, von der vorgeschriebenenabweichenden Meinung. Sie werden als Unglubige und Ketzer diffamiert. DieVerfolgung anderer Religionen, die ja per definitionem als Aberglauben undKetzereien galten, verstand sich dabei historisch fast immer von selbst; jedenfallsbis zu der Zeit als Aufklrung dafr sorgte, das Religionen in westlichenGesellschaften ihre bisherige Unangreifbarkeit weitgehend verloren.

    Hier liegt der archaische Zug und hssliche Pferdefu fast allerberkommenen Religionen, hier liegt ihr in die Augen springender Unterschied zuruniversalen Sprache der Wissenschaften. In den letzteren ist jeder ermuntert, jageradezu aufgefordert, gegen berkommene Lehrmeinungen Einspruch zu erheben,wenn er es mit berzeugenden und berprfbaren Argumenten vermag. Selbst diegrten Wissenschaftler werden als Menschen gesehen, die grundstzlich irrenknnen und in Einzelheiten auch meist des Irrtums berfhrt worden sind. Wenndie Einwnde gegen ihre Lehren stichhaltig sind, wird die wissenschaftlicheGemeinschaft sie akzeptieren. Der Fortschritt der Wissenschaften besteht in nichtsanderem als in diesem fortwhrenden Austausch, dieser fortwhrendenberprfung der Wahrheit durch Einzelne undGemeinschaft.[6]

    Doch gegen die bloe Mglichkeit eines derartigen Fortschritts haben sichdie historischen Religionen mit allen Machtmitteln abgesichert.Exkommunikationen und Ketzerverfolgungen dienten dazu, eine eingefroreneWahrheit gegen jeden Widerspruch abzuschirmen. Niemand sollte sich anmaendrfen, gegen die einmal zur absoluten Autoritt erhobene Wahrheitaufzubegehren. Denn das wre gleichzeitig darauf hinausgelaufen, dieMachtstellung einer etablierten Priesterschaft zu erschttern, die ihrerseits (wennauch in bestndiger Rivalitt) die weltliche Autoritt in einer angeblich von Gott

    begrndeten Stellung hielt. Der Einspruch gegen die Wahrheit der Priester wurdedaher berall als schlimmste Ketzerei gebrandmarkt. Ketzer, das waren Menschen,die das Monopol der Monopolisten der Wahrheit unterminierten.

    Aus der extremen Auf- und Abwertung des Einzelnen in den historischenReligionen folgte die praktische Unmndigkeit und Ungleichheit der Menschen.Einige von ihnen haben zu gttlichem Rang erhoben die Wahrheit verkndet,andere treten als deren selbsternannte Vermittler auf, die meisten mssen sich mitder Rolle bescheiden, sie passiv aufzunehmen, ganz wenige wagen es, sie zubezweifeln. Hier kann es Gleichheit nicht geben. berall wird zwischen Propheten,

    Ppsten, Priestern und Laien bzw. deren mehr oder weniger hnlichen Pendants im

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    Islam, bei den Hindus etc. unterschieden. Stets wird nur einigen wenigenMenschen die Vollmacht gegeben, Wahrheit fr die anderen zu finden und sieihnen dann kraft ihres Amtes vorzuschreiben.

    Diese Ungleichheit musste die schlimmste Unterdrckung und selbst nochdie grten Verbrechen legitimieren. berhaupt ist die Geschichte der Religionen

    und der sie verkrpernden Institutionen in so hohem Mae mit Ausbeutung undUnterdrckung verknpft, dass Karlheinz Deschner das Christentum schlicht alsKriminalgeschichte und Karl Marx die Religion insgesamt als eine das Denkenausschaltende Droge verstanden haben. Beide waren im Recht, insofernunkontrolliert vorgehende Machtgebilde fast zwangslufig in die Richtung vonAusbeutung und Verbrechen tendieren. Beide haben die Wahrheit insofern vlligverkannt, als Religion an sich keinesfalls auf Ungleichheit grndet und deshalb dieFolgen von Ausbeutung und Verbrechen auch nicht zu ihrem Wesen gehren.

    Dennoch steht uns religis begrndete Ungleichheit bis zum Beginn der

    europischen Neuzeit als tausendfach bezeugte Tatsache vor Augen. Erst dieWissenschaft hat ihr auf dem Feld der empirischen Naturerkenntnis in Theorie undPraxis ein Ende gesetzt. Doch diese Feststellung bedarf einer Korrektur. SolcheKritik geht meist an der Tatsache ganz vorbei, dass in der Religion noch viel frherals in den Wissenschaften ebenso der Versuch unternommen wurde, eineuniversale, auf Gleichheit begrndete Menschheitssprache zu finden. Es ist dieMystik, die seit frhesten Zeiten gerade in diese Richtung zielte. Der Mystikerkennt keine privilegierte Verfgungsgewalt ber die Wahrheit, unddementsprechend kennt er auch keine Unterscheidung von Propheten, Ppsten,Priestern und Laien. Fr ihn liegt die letzte Entscheidung ber richtig und falschnicht in der Kompetenz gewisser zu Gttern oder Halbgttern erhobener Einzelner,und sie wird schon gar nicht durch das Machtwort einer Institution entschieden.Der Mystiker sieht diese Kompetenz ausschlielich bei Menschen, die in derrationalen Erkenntnis ebenso wie im unmittelbaren Erleben des Wirklichen zuhnlichen berzeugungen gelangen. Denn fr ihn ist das Gttliche in jedemMenschen prsent, und deswegen hebt er den Einzelnen weder zum Himmel empornoch drckt er ihn im irdischen Jammertal zu einem Nichts zusammen. Fr ihnkann es weder den bermenschen noch das ihm entsprechende Gegenstck: denunmndigen von oben religis zu dirigierenden oder gar zu verfolgenden

    Menschen geben. Fr den Mystiker gibt es Menschen, die sich gegen Erkenntnisstruben, die von ihr nichts wissen wollen, aber es gibt keine Ketzer, die sichgegen eine absolut gesetzte Wahrheit versndigen und deshalb aus derGemeinschaft verbannt werden mssten. Weil die Mystik alle Machtstrukturenzurckweist, hat sie nie der Unterdrckung und der Verfolgung das Wort geredet.

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    Mystik

    Wo Rtsel mich zu neuen Rtseln fhrten, da wussten sie die Wahrheit ganzgenau. Grillparzer

    Aber was ist Mystik? Auf diese Frage habe ich bisher nur kursorische Antwortengegeben. Durch das ursprnglich griechische Wort wird die zeit- undraumbergreifende Universalitt der Mystik in wenig angemessener Weiseumschrieben. Seiner ursprnglichen Bedeutung entspricht im Deutschen das WortGeheimnis. Das Erleben der Wirklichkeit als rtselhaft und wunderbar, dasStaunen und die Ehrfurcht treffen wir zwar als Begleiterscheinung aller tieferenErkenntnis. Schmerzlich wird Faust bewusst, dass sein Wissen im Grunde sehrwenig wert sei. Dass ich nicht mehr mit saurem Schwei, rede von dem, was ich

    nicht wei, das wird fr ihn zum Antrieb seines Bndnisses mit dem Teufel, unddessen Ziel liegt in der Entschleierung des Geheimnisvollen: Dass ich erkenne,was die Welt im Innersten zusammenhlt.

    Selbst dem grndlich abgebrhten Mephisto ist diese Regung nicht fremd.Der einzige, dem sie vllig abgeht, ist Wagner, der sich ganz sicher ist, dass eingroer Professor alles erkannt und durchschaut haben muss. So bleibt Wagner alskmmerlicher Philister brig, denn hierin besteht das fr ihn charakteristischeMerkmal: Der Philister ist unfhig zu staunen. Fr ihn gibt es keine Rtsel undkein Geheimnis, sondern nur eine durch das anerkannte Wissen vllig

    ausgemessene und ausgedeutete Welt.Nach Auffassung von Erwin Schrdinger, dem Nobelpreistrger fr Physik,birgt jedes irgendwie wertvolle Denken die Dimension des Geheimnisses. DiesePhnomene des Staunens, des Rtselfindens scheinen mir darauf hinzudeuten,dass in dem, was wir erleben, Beziehungen angetroffen werden, welche immeraufs Neue zur Metaphysik, d. h. zum Hinausgehen ber das direkt Erfahrbaredrngen. Der nchternen Vernunft offenbart sich dieses als Paradox, demgefhlten Erleben als Erschauern vor dem bermchtigen. Daher ist es auch nichtvllig falsch, jene Art des Denkens und Erlebens mystisch zu nennen, die an der

    Wirklichkeit das unentschlsselte Geheimnis hervorhebt. Freilich birgt einderartiges Verstndnis, die naheliegende Gefahr, dass daraus ein manisches Suchennach Geheimnissen wird: ein Mystifizieren der Wirklichkeit, nmlich derenbewusste Verrtselung. Doch das sind Randerscheinungen.

    Denn Mystik wird recht oberflchlich beschrieben, wenn man sie lediglichals Suche nach dem Geheimnisvollen versteht. Das Wort, das ihr das Etikettaufklebte, erweist sich sogar als irrefhrend, weil es eine der Mystik wesentlicheDimension ganz auer Acht lsst, nmlich die starke Betonung der Vernunft. Esfllt auf, dass Mystik in erster Linie eine Religion der Abweichler, Auenseiter, d.h. mndiger Menschen ist, die sich von anderen das eigene Denken nichtvorschreiben lassen. Dadurch aber ist von vornherein schon gewhrleistet, dass die

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    Mystik und strenge, manchmal pedantische Logik fallen daher sehr oftzusammen,[8] viel fter als in den traditionellen Religionen, wo die letzte Autorittim historischen Zufall wurzelt, der keiner Rechtfertigung durch die Vernunftzugnglich ist. Bei Tertullian und seinen Nachfolgern wird das Geheimnis durchAusschaltung der eigenen Vernunft willkrlich befohlen immer auch gegen das

    bessere Wissen. Es geht ja auch gar nicht anders, weil Historie nun einmal keineweitere Begrndung erlaubt. Aus dieser unterschiedlichen Stellung zum mndigenDenken resultiert der Widerstand der Wissenschaften gegen die traditionelleReligion, der seit dem 17. Jahrhundert die europische Geistesgeschichte prgte.Derselbe Unterschied erklrt aber auch, warum gerade das Denken der Mystikvielen Wissenschaftlern als geistesverwandt erscheint.

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    Rckblick (rationale Mystik):In ihrem Protest gegen jede Art Autorittsanmaung wozu auch dieOffenbarungen historischer Religionen zhlen hat sich die Mystik nie damitabfinden knnen, dass irgendetwas nur deshalb wahr sein sollte, weil dieseWahrheit in der Vergangenheit dekretiert worden ist. Gegen die verordnete

    Wahrheit hat der Mystiker die zeitlose Wahrheit gesetzt, die jede Generation und jeder Mensch aufs Neue zu finden imstande ist. Sie musste daher an eineErkenntnisfhigkeit appellieren, ber die im Prinzip alle Menschen verfgen.Manchmal tendierte sie dabei mehr zum rationalen Argument, manchmal mehrdazu, den Menschen bewusst zu machen, dass sie die Welt keineswegs nur aufrationale Weise begreifen. Auffallend ist, dass gerade zwei der grten Mystiker,der eine aus Indien, der andere ein Abendlnder, dem Denken als Mittel zurWahrheitsfindung eine berragende Stellung zuteilten. Bei beiden Denkern kannkeine Rede davon sein, dass sie besondere psychische Zustnde bei ihren

    Anhngern erzeugen wollten oder sie auch nur vorausgesetzt htten. Die Wahrheitlie sich, so waren sie berzeugt, schon dadurch ermitteln, dass es dem Denkengelingt, alle ihr entgegenstehenden Hemmnisse wegzurumen. Selbst Eckhartverlsst sich auf die berzeugungskraft der rationalen Beweisfhrung. Und sokann Rudolf Otto in seinem herausragenden Werk ber West-stliche Mystik mitgutem Grund behaupten:

    Niemand ist weiter entfernt [als Shankara und Eckhart] von demangeblichen Grundbekenntnis der Mystik: Gefhl ist alles, Name istSchall und Rauch, [beide zielen sie auf] ein Wissen, das mit allen Mittelnder Prfung und Darstellung und scharfer Dialektik in greifbare Lehreberfhrt werden soll. Ja, ein fast unglaubliches Schauspiel ergibt sich: diesebeiden Verkndiger eines letztlich schlechthin Irrationalen, Unfasslichenund Unerfasslichen, das jedem Begriffe sich versagt, vor dem Wort undVerstand umkehren, werden formal zu schrfsten Theoretikern

    Und Spinoza war berhaupt davon berzeugt, sich ganz und gar auf die Vernunftverlassen zu knnen. Er sah seine Aufgabe darin, die Wahrheit mit der seinerAuffassung nach denkbar schrfsten Methode, nmlich dem geometrischen Beweis

    (more geometrico) zu erfassen und zur Evidenz zu bringen. Wenn wir, wie ichweiter unten zeigen werde, auch Albert Einstein - und manch anderenNaturwissenschaftler zu den Mystikern rechnen drfen, dann zeigt sich, wie engdas Verhltnis von Mystik und kritischer Ratio ist.

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    Irrationalismus?

    Die Gewohnheit ist eine zweite Natur, welche die erste zerstrt. Pascal,Penses, 89.

    Das Verhltnis der Mystik gegenber der Vernunft ist also keinesfalls eindeutig.Die Vernunft kann dazu dienen, Hindernisse wegzurumen und zu diesemZweck wird sie auch von der groen Mystik in der Tradition Shankaras undEckharts bewusst eingesetzt. Aber sie kann das Denken auch so in Routineneinfangen und beengen, dass damit alle Offenheit fr das Geheimnis der Welt unddes eigenen Selbst vllig erstickt wird. Je nachdem, ob Mystik sich die Vernunftzunutze macht oder umgekehrt Denkroutinen zerstren will, erscheint sie demBetrachter als wesentlich rational oder im Gegenteil betont irrational ausgerichtet.Wenn das Wort Mystik so oft den Beigeschmack der Mystifikation, d. h. der

    gewollten Geheimnistuerei und Verrtselung, annahm, so ist das zwar einerseitsauf das Betreiben ihrer Gegner zurckzufhren, denen stets daran lag, die Mystikals Ketzerei zu verdammen, aber dies ist nicht der einzige Grund. Dieses Urteilberuht auch darauf, dass es in der Mystik immer auch Strmungen gab, die ganzgezielt auf die Zerstrung des in Vorurteilen erstarrten Denkens ausgingen. Stattwie die rationale Mystik durch Beobachtung und unbeirrbares Denken imscheinbar Geheimnislosen das Geheimnis neu zu entdecken, versuchten ihreAnhnger es dadurch zu finden, dass sie sich selbst und andere knstlich durchTrance oder Drogen in besondere Seelenzustnde versetzten. Diese bewussterzeugte Irrationalitt ist mit dem Wort Mystifikation treffend charakterisiert,wobei Geheimnis im Sinne von Unverstndlichkeit, Unlogik, Verspottung desgesunden Menschenverstandes zu verstehen ist. Fr solche Tendenzen war derislamische Sufismus ebenso anfllig wie das Zen als fernstliche Variante derMystik. Auf den ersten Blick knnte das Zen sogar den Anschein erwecken, dasses ihm berhaupt um eine Verneinung des Denkens gehe, denn das sogenannteKoan, ein ganz wesentliches Instrumenten der Erleuchtung, besteht in einerabsichtlichen Verdrehung der Logik und aller Regeln des gesundenMenschenverstands. Sprche wie Wenn du den Buddha triffst, tte ihn (Linji

    jap. Rinzai - 9. Jahrhundert) scheinen fr einen glubigen Buddhisten eine etwas

    merkwrdige Aufforderung zu sein. Blicken wir allerdings ein wenig mehr in dieTiefe, dann sind wir zu einem vorsichtigeren Urteil gentigt. Auch dieZenbuddhisten zhlen wenn auch auf eine sehr unbliche und eigenwillige Art -zu den Denkern. Denn sie sehen die grte Gefahr fr die Erkenntnis desMenschen in der Autoritt des normalen, des blichen, des nicht hinterfragendenDenkens. Im Sinne Goethes gesprochen, sehen sie in Wagner den eigentlichenFeind der Erkenntnis, in jenen Menschen also, fr die alle Rtsel gelst sind oderfr die es berhaupt nie Rtsel gegeben hat. Die Meister des Zen betrachten denMenschen als eine Marionette seiner jeweiligen Zeit und der in dieser Zeit

    gngigen berzeugungen und Denkroutinen. Jeder, der nach der Wahrheit sucht,

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    msse sich daher zuerst einmal von der Illusion befreien, sie bereits zu besitzen.Das Koan ist als eine Art logischer Peitschenhieb zu verstehen, um das Gehirn desAdepten in Erschtterung zu versetzen.

    In seiner Wirkung, wenn auch ganz und gar nicht in seiner Methode, ist dasfernstliche Vorgehen dem des mystischen Logikers gar nicht so unhnlich. Mit

    dem Paradox konfrontiert, gelangen beide am Ende dazu, das Wirkliche in seinerRtselhaftigkeit neu zu begreifen und zu erleben. Die einen gelangen an diesenPunkt, indem sie die Logik in aller Strenge ihren Weg zu Ende verfolgen lassen,bis diese an ihre Grenzen prallt und das Paradox sichtbar macht; die anderenversuchen mit dem Koan eine Abkrzung einzuschlagen. Sie setzen dieAlltagslogik, die dem Menschen eine durch und durch geordnete Welt vorgaukelt,von vornherein auer Kraft.

    Was das chinesisch-japanische Koan durch absichtliche Verdrehung derLogik herbeifhren will: die Einsicht in die Begrenztheit menschlicher Vernunft,

    haben andere Spielarten der Mystik durch deren bewusste Unterdrckung zuerreichen versucht. Der islamische Sufismus macht sich die Ekstase des Tanzeszunutze, um aus dem Zustand der Alltagsbefindlichkeit in einen Zustandauerordentlicher Empfnglichkeit zu gelangen, in dem das vernnftige Denkendurch die Trance berwltigt wird. Auch hier geht es um die Abkrzung einesWeges. In der Trance, manchmal auch durch Drogen verstrkt oder ausgelst, sollder Mensch fr Stimmen und Stimmungen empfnglich werden, die der Panzerseiner Alltagsbefindlichkeit normalerweise weit von ihm fernhlt. Diese Arten derMystik sind immer in Gefahr, die knstlich erzeugten Zustnde im eigenen Innerenmit dem Geschehen der ueren Welt gleichzusetzen. Mit anderen Worten, sietendieren dazu, die uere Realitt von bestimmten inneren Zustnden abzuleiten.Wenn Mystik sich auf den Weg der bewussten Ausschaltung der Vernunft begibt,ist sie in Gefahr in Esoterik und Beliebigkeit abzugleiten. Wie alle Esoterik wirdsie zur Geheimlehre unter Auserwhlten, die sich als neue Autoritt mit eigenenDogmen auffhren. Sie verliert ihren Anspruch auf universale Geltung.

    Aldous Huxley hat fr die Mystik die Bezeichnung philosophia perennisverwendet, einen Ausdruck, der einst von Leibniz fr die von ihm so gesehenenunvernderlichen Grundwahrheiten der Philosophie geprgt worden war. Perennis,d. h. ewig, werden wir eine Philosophie von nun an nur nennen drfen, wenn sie

    nach einem pltzlichen Aufhren der berlieferten Geschichte vom Einzelnen zujeder Zeit neu entdeckt werden wrde, so wie man auch die Gesetze der Natur nacheinem Totalverlust aller Lehrbcher der Physik von neuem finden wrde, ganzeinfach deshalb, weil Natur und Mensch dieselben geblieben sind. Wenn es wahrist, dass der Einzelne, unabhngig von seiner jeweiligen historischen Erfahrung niezu den zeitgebundenen Wahrheiten einer historischen Religionen finden wird, sehrwohl aber zu religisen Grundwahrheiten, wie sie die Mystik von jeher geahnt undmanchmal explizit beschrieben hat, dann ist philosophia perennis zweifellos

    jener Begriff, der das Wesen der Mystik am besten beschreibt.

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    Am Beispiel der Antimystik

    Bis zu diesem Punkt stand der Zugang der Mystik zur Wirklichkeit imVordergrund der Betrachtung. Wir haben uns mit ihrer Methode, aber noch nichtmit dem Inhalt der von ihnen gefundenen Wahrheiten befasst. Davon wird imFolgenden noch ausgiebig die Rede sein. Zuerst mchte ich davon sprechen, was

    Mystik nicht ist. Eine der Grund- und Haupterkenntnisse der Mystik ist dieErfahrung der Einheit von Beobachter und Beobachtetem. Das aber ist gewiss allesandere als eine Erfahrung, die sich dem Menschen in seinem Alltagslebenaufdrngt. Die Alltagserfahrung weist ihn im Gegenteil stndig darauf hin, dass dieihn umgebenden Menschen anders sind als er selbst und dass die sogenannte toteNatur ihm ohnehin als etwas Getrenntes entgegentritt. Mit anderen Worten daspraktische Alltagsleben lsst in ihm gewhnlich keine mystische Haltungaufkommen.

    Denn alles, was uns umgibt, erscheint uns im normalen Erleben als Gegen-

    stand, als Gegen-ber und sehr oft als Gegen-Macht. Wir drcken damit eineVerschiedenheit und Andersartigkeit aus, die auf den ersten Blick unberwindbarerscheint. Auf der einen Seite steht das beobachtende Ich, das in der tglichenSelbstbehauptung zwangslufig die Rolle des Machers einnimmt, auf der anderenSeite befinden sich Dinge, die von uns beobachtet werden und die wir zupraktischen Zwecken manipulieren. Diese Dinge machen uns gegenber ihrenWiderstand und Eigensinn geltend, mit denen wir rechnen mssen, um mit ihnenumgehen zu knnen. Das gilt auch von den uns umgebenden Menschen. Nicht nur,dass sie ihre eigenen, keineswegs immer freundlichen, manchmal geradezufeindlichen Absichten uns gegenber bekunden, sie knnen uns als schlechterdingsfremd und unbegreiflich erscheinen, Misstrauen in uns erwecken, weil es unsunmglich erscheint, bis in ihr Inneres vorzudringen. Im uersten Fall erleben wirdie Welt wie Autisten, denen sie als bedrohliche Kulisse erscheint, sozusagen alsein feindlicher Grtel, der das einzige uns vertraute Terrain umlagert, nmlich dieBefindlichkeit des eigenen nach auen abgeschlossenen Ich. Wenn der Autist dieseSpaltung der Welt in das eigene Ich und das ihn umgebende radikal Fremde zueiner Philosophie aufwertet, dann wird daraus die qualvolle Vorstellung, alsEinzelner existenziell in die Leere einer ebenso sinnlosen wie feindlichen Weltgeschleudert zu sein. Sich selbst erlebt dieses heillos vereinsamte Ich als eine

    flackernde Kerze inmitten eines unendlichen und unendlich dsteren Universums,er sieht sich - ohne jemals zu wissen warum und wozu - als einsame Nussschale indem grenzenlos weiten Meer einer ihm wesensfremden Wirklichkeit ausgesetzt.Dieses vor allem in Zeiten zwischenmenschlicher Brutalitt immer neuaufkommende Lebensgefhl knnte man als Antimystik bezeichnen, weil esziemlich exakt den geistigen Gegenpol zum mystischen Erleben bildet. Die Weltwird als ein von dem sie beobachtenden Ich radikal verschiedenes Gegenbererlebt.[9]

    Es erhebt sich dann allerdings die Frage, ob es noch legitim ist, dieses

    antimystische Lebensgefhl in den Rang einer Philosophie aufzuwerten? Blicken

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    wir etwas genauer hin, dann zeigt sich nmlich, dass der Existenzialismus vorallem in der ihm von Camus gegebenen Prgung an einem inneren Widerspruchleidet, der ihn von vornherein dazu verdammt, nie ber ein Zeugnis eigenerBefindlichkeit hinauszugelangen - wenn wir uns nmlich zuvor darin einig sind,dass Philosophie, um einen Sinn zu ergeben, sich notwendig an verstehende und

    mitfhlende Menschen richtet. Doch eben diesen ihn verstehenden, mit ihmfhlenden anderen Menschen hat das autistische, das existenzialistische Ich ausseinem Weltbild von vornherein ausgeklammert. Eine solche Philosophie scheitertdaher an widerstreitenden Aussagen. Es macht keinen Sinn, die eigene Angst ineine als vllig leer und taub gedachte Welt hinauszuschreien. Da ist ja niemand,der diesen Schrei hren knnte. Die Schreie des autistischen Ich widersprechen dereigenen Lehre: Tatschlich machen sie nur einen Sinn, wenn ihnen dieunausgesprochene Hoffnung zugrunde liegt, dass diese Lehre eben doch falsch seinknnte, weil der zum Fremden erklrte andere Mensch oder die taube uere Welt

    diesen Schrei vielleicht doch hren knnte. Freilich, in den unglcklichen Zeiten,in denen der Mensch die Welt fr seinesgleichen zur Hlle macht, kann Antimystikdurchaus zu einem herrschenden Lebensgefhl werden.[10]

    Der Mystiker nhert sich der Welt und den anderen Menschen vonvornherein auf ganz andere Weise. Natrlich kann und will er den Dingen derAlltagserfahrung nicht ihre Gegenstndlichkeit nehmen. Auch ihm mssen sie imgewhnlichen Leben als Objekte erscheinen. Denn nur so kann er sie seinerManipulation und Herrschaft unterwerfen, um dadurch fr seineberlebensbedrfnisse zu sorgen. Doch ist fr ihn damit nur eine Dimension seinerErkenntnis bezeichnet, jene, die sein Verhltnis zur Welt zu Zwecken desberlebens beschreibt. Der Baum, den wir fllen, um ihn als Feuerholz zuverwenden, der Berg, den wir aushhlen, um daraus Eisen oder Bauxit zugewinnen - all dies steht fr unser Vorgehen gegenber einer Natur, die uns alsReservoir und Ersatzteillager zur Befriedigung unserer Bedrfnisse dient. Bis zueinem gewissen Grade sind wir selbst noch gezwungen, das gleiche Verhltnis derManipulation auch auf andere Menschen zu bertragen. In jedem Konzern, in jederBrokratie treten Menschen in streng definierten Rollen auf. Bis zu einemgewissen Grade mssen sie in diesen Rollen fr andere berechenbar sein, ihreLeistungen, Funktionen und der aus ihnen zu schpfende Gewinn mssen genauso

    kalkulierbar bleiben wie die Leistungen, Funktionen und der Ertrag materiellerObjekte. Aber diese Verwertung,