Der Drachenteich: Ein Fall für Philo Vance. Kriminalroman aus New York.

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Ein Fall für Philo Vance Eine feuchtfröhliche Party in Inwood – einem ländlich geprägten Stadtteil im Norden von Manhattan: Der Schauspieler Sanford Montague springt zum Baden in den »Drachenteich« der gastgebenden Familie Stamm – und taucht nicht wieder auf. Dafür werden nach Ablassen des Wassers auf dem Teichgrund Spuren entdeckt, die denen eines Drachen ähneln. Stimmt die alte Indianer-Legende, nach der ein Seeungeheuer die Familie Stamm von ihren Feinden beschützt? Philo Vance ermittelt – und stößt auf eine in Eifersucht, Hass, Intrigen und Aberglauben verstrickte Gesellschaft, in der jeder verdächtig scheint …

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S. S. van Dine

Der Drachenteich

Ein Fall für Philo Vance.

Kriminalroman aus New York.

S. S. van Dine

Der Drachenteich

Ein Fall für Philo Vance.

Kriminalroman aus New York.

(The Dragon Murder Case)

Original: Goldmann, Leipzig 1935

Übersetzung: Hans Herdegen

Überarbeitung, Umschlaggestaltung: Null Papier Verlag

Published by Null Papier Verlag, Deutschland

Copyright © 2014 by Null Papier Verlag

1. Auflage, ISBN 978-3-95418-528-3

www.krimischaetze.de

Inhaltsverzeichnis

Über krimischaetze.de...........................................................6

Über den Autor.........................................................................8

Über den Romanhelden Philo Vance................................10

Über dieses Buch....................................................................13

Handelnde Personen.............................................................15

1. Die Tragödie.........................................................................17

2. Eine verblüffende Beschuldigung..................................37

3. Poolgeplansche..................................................................60

4. Eine Unterbrechung..........................................................77

5. Das Seeungeheuer............................................................95

6. Ein unglücklicher Zufall..................................................116

7. Auf dem Grund des Teiches..........................................133

8. Geheimnisvolle Fußspuren...........................................149

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9. Eine neue Entdeckung....................................................170

10. Der Vermisste.................................................................183

11. Eine düstere Prophezeiung.........................................203

12. Vernehmungen...............................................................220

13. Drei Frauen......................................................................237

14. Nächtliche Geräusche..................................................252

15. Blut und eine Gardenie.................................................274

16. Tod in doppelter Ausführung.....................................289

17. Anglerlatein.....................................................................304

18. Drachenspuren...............................................................310

19. Das letzte Glied in der Kette......................................325

20. Die Auflösung.................................................................341

krimischaetze.de..................................................................361

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Über krimischaetze.de

Kriminalromane sind heutzutage erfolgreich wie nie. Krimi-Klassiker? Da denken die meisten sofort an Aga-tha Christie (1890-1976) oder Edgar Wallace (1875-1932). Tatsächlich gehörten die britischen Autoren zu den ersten, die in den »wilden« 1920er Jahren ins Deutsche übersetzt wurden. Krimi-Fans kennen oft auch den Schweizer Friedrich Glauser (1896-1938), den Namensgeber des Glauser-Preises – eine der wichtig-sten Auszeichnungen für deutschsprachige Krimi-Autoren. Wie vielfältig die Krimi-Szene in der Weima-rer Republik war, ist in der breiten Öffentlichkeit je-doch vollkommen in Vergessenheit geraten. Für kri-mischaetze.de haben sich Jürgen Schulze, Verleger des Null Papier-Verlages, und Sebastian Brück, Autor und Journalist, zusammengetan, um alte Krimi-Bestseller

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neu zu entdecken und als E-Book verfügbar zu machen – überarbeitet, in neuer Rechtschreibung und mit er-klärenden Fußnoten versehen.

Das krimischaetze.de-Programm startet zunächst mit sechs Titeln – sowohl Übersetzungen aus dem Englischen (S.S. Van Dine) und Schwedischen (Julius Regis), als auch deutschsprachige Originale: In je zwei Fällen ermitteln Philo Vance, der »amerikanische Sher-lock Holmes«, und Maurice Wallion, der »Detektivre-porter« und »Urvater« von Stieg Larssons »Milleni-um«-Protagonist Mikael Blomqvist. Ebenfalls vertreten sind die vergessenen Werke zweier jüdischer Autoren: Die in Budapest, Paris und San Sebastián spielende Kri-mikomödie »Fräulein Bandit« des Österreichers Joseph Delmont sowie der humorvolle Kriminalroman »Das verschwundene Haus – oder: Der Maharadscha von Breckendorf« des Frankfurters Karl Ettlinger.

In Zukunft werden bei www.krimischaetze.de regel-mäßig weitere Titel erscheinen.

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Über den Autor

Noch heute wird S.S. Van Dine immer wieder gemein-sam mit Autoren wie Agatha Christie oder Dorothy L. Sayers als Mitbegründer des goldenen Zeitalters des Kriminalromans genannt. William Huntington Wright – so lautet der echte Name des US-Autors – wählte für seine Kriminalromane ein fiktives Ich-Erzähler-Pseud-onym: »Van« ist sein dritter Vorname und nicht mit dem niederländischen Adelsprädikat zu verwechseln, »S.S.« steht für »steamship« (Deutsch: »Dampf-schimpf«).

Wright wurde 1888 in Virginia geboren, wo seine El-tern ein Hotel führten. Er studierte mit mäßigem Er-folg an drei Colleges, unter anderem in Harvard. Da-nach ging er für ein Kunststudium nach München und Paris. Zurück in den USA machte er sich in den 1910er

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Jahren einen Namen als Literatur- und Kunstkritiker für die Los Angeles Times sowie als Redakteur eines Li-teraturmagazins. Außerdem veröffentlichte er ein Fachbuch über Friedrich Nietzsche (»What Nietzsche Taught«, 1915) – ein kommentierter Überblick über alle Werke des deutschen Philosophen – sowie mehrere Kurzgeschichten.

Seine Karriere als Krimi-Autor begann in New York, als er von seinem Arzt eine zweijährige Bettruhe ver-ordnet bekam – offiziell aufgrund von Herzproblemen, tatsächlich in Folge seiner heimlichen Kokainsucht. In dieser Zeit, ab 1923, wühlte er sich intensiv durch das Genre der Kriminal- und Detektivliteratur, die damals in literarischen Zirkeln einen schlechten Ruf hatte. Wright erschuf als Gegenpol seinen aus der reichen und eleganten Gesellschaft stammenden Protagonisten Philo Vance, der schnell zum erfolgreichsten Krimi-Ermittler seiner Zeit avancierte, bis er ab 1939 – dem Jahr in dem Wright verstarb – allmählich von Raymond Chandlers Detektiv Philip Marlowe abgelöst wurde.

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Über den Romanhelden Philo Vance

Ein amerikanischer Sherlock Holmes der 1920er und 1930er – bis heute ist Philo Vance immer wieder mit diesem Etikett versehen worden. In der Tat erinnert schon die Erzählweise an Arthur Conan Doyle: In die-sem Fall heißt der Chronist nicht Dr. Watson, sondern S.S. Van Dine (siehe: Über den Autor) – ein guter Freund von Philo Vance und dessen Berater und Pri-vatsekretär.

Philo Vance ist Mitte dreißig, groß und kräftig, scharf geschnittene Gesichtszüge, graue Augen – ein durchaus attraktiver Mann, aber kein Schönling. Zu-weilen wirkt er etwas snobistisch und distanziert. Dazu passen auch die stets tadellose Kleidung, seine private Kunstsammlung sowie exklusive Interessen wie Polo, Hundezucht oder Bogenschießen. Dieser Typ New

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Yorker kann nur aus der oberen Gesellschaftsschicht der Metropole stammen.

Vance hat im britischen Oxford studiert, ist durch eine Erbschaft finanziell unabhängig und wohnt mit seinem Butler Currie in der 38. Straße Ost in einem lu-xuriösen Stadthaus – ein sogenanntes Brownstone mit Dachgarten. Durch seine langjährige Freundschaft mit dem Generalstaatsanwalt John Markham wird Philo Vance immer wieder in spannende Kriminalfälle hin-eingezogen. Auch Sergeant Heath, Leiter der Mord-kommission des New York Police Department (NYPD), greift gerne auf den Scharfsinn und die hohe Bildung des Amateur-Detektivs zurück. Kriminalfälle als intel-lektuelle Herausforderung: Indizien sammeln, Fakten analysieren – darin ist Philo Vance ähnlich gut wie ei-nige Jahrzehnte vor ihm Sherlock Holmes.

Nach dem durchschlagenden Erfolg der Krimi-Rei-he wurden von 1929 bis 1947 insgesamt fünfzehn Filme mit wechselnden Philo Vance-Darstellern gedreht. Einmal (1930) übernahm auch der Amerikaner Basil Ra-thbone die Rolle, der ein paar Jahre später als Sherlock Holmes-Darsteller weltberühmt werden sollte. Auch

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für das Radio wurden die Philo Vance-Krimis adaptiert, NBC brachte in den 1940er Jahren drei Hörspielserien.

Einige Jahrzehnte später gab es das erste Revival: 1974 wagte das italienische Fernsehen eine filmische Neuauflage und drehte eine dreiteilige Mini-Serie, 2002 entstand ein tschechischer TV-Film.

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Über dieses Buch

Eine feuchtfröhliche Party in Inwood – einem ländlich geprägten Stadtteil im Norden von Manhattan: Der Schauspieler Sanford Montague springt zum Baden in den »Drachenteich« der gastgebenden Familie Stamm – und taucht nicht wieder auf. Dafür werden nach Ab-lassen des Wassers auf dem Teichgrund Spuren ent-deckt, die denen eines Drachen ähneln. Stimmt die alte Indianer-Legende, nach der ein Seeungeheuer die Fa-milie Stamm von ihren Feinden beschützt? Philo Vance ermittelt – und stößt auf eine in Eifersucht, Hass, Intri-gen und Aberglauben verstrickte Gesellschaft, in der jeder verdächtig scheint …

Der Krimi aus der Philo Vance-Reihe wurde 1934 erfolgreich verfilmt. Mit dieser Ausgabe bei krimis-

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chaetze.de ist die deutsche Erstübersetzung erstmals als E-Book verfügbar.

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Handelnde Personen

Philo Vance: Privater Ermittler in New York.

S.S. Van Dine: Privatsekretär von Philo Vance und im Hintergrund bleibender Ich-Erzähler. Wird von Philo Vance mit seinem dritten Vornamen »Van« angesprochen.

John Markham: Bezirksstaatsanwalt von New York.

Sergeant Heath: Leiter der Mordkommission des New York Police Department (NYPD)

Sanford Montague: Ein gutaussehender Schauspieler, der beim Baden im Drachenteich verschwunden ist.

Rudolph Stamm: Oberhaupt einer reichen New Yorker Familie

Mathilda Stamm: Seine Mutter

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Bernice Stamm: Seine Schwester und Verlobte von Montague

Leland: Guter Freund des Hauses Stamm, hat die Polizei informiert.

Alex Greeff: Bekannter Börsenmakler und Finanzberater der Familie Stamm

Kirwin Tatum: Lebenskünstler mit schlechtem Ruf, ist in Bernice Stamm verliebt

»Teeny« McAdam: Vergnügungssüchtige Witwe. Hat ein Auge auf Rudolph Stamm geworfen.

Ruby Steele: Exzentrische Künstlerin

Trainor: Butler im Hause Stamm

Dr. Holliday: Hausarzt der Stamms

Hennessey, Burke, Snitkin: Detectives des NYPD

Dr. Emanuel Doremus: New Yorker Polizeiarzt und Leichenbeschauer

Currie: Englischer Butler und Hausmeister von Philo Vance

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1. Die Tragödie

(Sonnabend, 11. August, 23.45 Uhr)

hilo Vance hatte eine Ferienreise nach Norwegen geplant, aber eine wissenschaftliche Arbeit über

Ägypten nahm ihn so in Anspruch, dass er in Amerika blieb. Auf diese Weise wurde er in die Untersuchung eines der seltsamsten Mordfälle der Kriminalgeschich-te hineingezogen.

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Kurz nach seiner Studentenzeit auf der Harvard-Universität hatte er mich gebeten, als Rechtsanwalt und Vermögensverwalter für ihn tätig zu sein, und ich fühlte eine so große Zuneigung und Bewunderung für ihn, dass ich darauf einging und aus der Firma meines Vaters Van Dine, Davis & Van Dine austrat. Diesen Ent-

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schluss habe ich niemals bereut, denn der Umgang mit Philo Vance ermöglichte es mir, authentisch über die verschiedenen Verbrechen zu berichten, die er ganz allein aufklärte.

Mit diesem besonderen Fall brachten ihn seine freundschaftlichen Beziehungen zu John Markham in Berührung, dem Bezirksstaatsanwalt von New York.

Es war am 11. August, und es ging auf Mitternacht zu. Markham hatte mit meinem Freund und mir zu-sammen im Dachgarten von Vances Wohnung zu Abend gegessen, und wir drei hatten uns zwanglos über die verschiedensten Dinge unterhalten. Wir wa-ren alle etwas müde und abgespannt, und allmählich entstanden immer größere Pausen im Gespräch. Drau-ßen war es schwül und drückend. Stundenlang hatte es geregnet, und erst gegen zehn Uhr abends hatte das Unwetter aufgehört. Vance hatte gerade einen kühlen Drink für uns gemischt, als Currie, sein Butler, in der Tür zum Dachgarten erschien.

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»Mr. Markham wird dringend am Telefon ge-wünscht«, meldete er. »Ich habe mir erlaubt, den Ap-parat gleich mitzubringen. Es ist Sergeant Heath.«

Markham sah ärgerlich und überrascht auf, nickte aber. Seine Unterredung mit dem Sergeant dauerte nicht lange, und als er den Hörer zurücklegte, runzelte er die Stirn.

»Sonderbare Geschichte«, brummte er. »Das sieht Heath gar nicht ähnlich. Er macht sich Gedanken über eine Sache und will mich unbedingt sehen. Um was es sich handelt, hat er nicht gesagt, und ich habe auch nicht darauf gedrungen. Er hat bei mir zu Hause erfah-ren, dass ich hier bin. Der merkwürdige Ton, in dem er mit mir sprach, gefiel mir nicht, deshalb sagte ich Heath, er solle herkommen. Hoffentlich haben Sie nichts dagegen, Vance.«

»Im Gegenteil«, erwiderte mein Freund und setzte sich bequemer in den Lehnstuhl. »Ich habe den tüchti-gen Sergeant schon monatelang nicht mehr gesehen … Currie«, rief er, »bringen Sie Whisky und Soda. Ser-geant Heath kommt.« Dann wandte er sich wieder zu

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Markham. »Ich hoffe, es ist kein Unglück geschehen. Vielleicht hat ihn die Hitze zu sehr mitgenommen.«

Markham schüttelte besorgt den Kopf.

»Es gehört mehr als diese Hitze dazu, um Heath aus dem Gleichgewicht zu bringen.« Er zuckte die Schul-tern. »Nun, wir werden ja bald hören, was los ist.« Un-gefähr zwanzig Minuten später kam der Sergeant. Als er auf den Dachgarten hinaustrat, wischte er sich die Stirn mit einem großen Taschentuch, und nachdem er uns alle etwas geistesabwesend begrüßt hatte, ließ er sich in einen Sessel sinken und griff nach dem Glas Whisky-Soda, das Vance ihm zuschob.

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»Ich war eben in Inwood«1 , erklärte er seinem Vor-gesetzten. »Es ist jemand verschwunden, und die Sa-che kommt mir verdächtig vor.«

Markham sah ihn düster an. »Weshalb?«

»Heute Abend um zehn Uhr fünfundvierzig ruft ein gewisser Leland die Mordkommission an und sagt, dass sich auf dem alten Landsitz der Familie Stamm in In-wood eine Tragödie abgespielt hätte, und dass ich so-fort hinkommen solle …«

»Das ist allerdings der gegebene Platz für ein Ver-brechen«, unterbrach ihn Vance. »Die Stamms haben eine der ältesten Parkvillen der Stadt. Vor ungefähr

1 Inwood ist ein Viertel im nördlichen Teil des New Yorker Stadt-bezirks Manhattan. Es ist eher hügelig, durch Hudson River und Harlem River an drei Seiten von Wasser umgeben und lediglich durch den Broadway und eine weitere Straße mit dem Hauptteil Manhattans verbunden. Zur Zeit der Romanhandlung war Inwood noch eher ländlich geprägt. Die Bewohner waren meist irischer oder jüdischer Abstammung. Von den 1960er bis zu den 1980er Jah-ren veränderte sich die Bevölkerungsstruktur, viele alteingesessene Familien zogen in Vororte oder andere Viertel New Yorks. Dafür wurden viele Zuwanderer aus der Dominikanischen Republik in In-wood heimisch.

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hundert Jahren wurde sie gebaut, und man erzählt sich viele sonderbare Geschichten darüber.«

Heath sah ihn erleichtert an. »Ja, ganz recht. Das-selbe Gefühl hatte ich auch, als ich hinkam. Natürlich habe ich Leland gefragt, was passiert ist. Darauf erfuhr ich, dass der Schauspieler Montague dort beim Baden in das Schwimmbassin getaucht und nicht mehr zum Vorschein gekommen war.«

»Handelt es sich vielleicht um den alten Drachen-teich?«, fragte Vance, richtete sich auf und langte nach einer Zigarette.

»Ja. Ich habe den Namen allerdings heute Abend zum ersten Mal gehört. Ich sagte Leland, dass ich mich nicht damit befassen könnte, aber er bestand darauf und erklärte, dass sich die Polizei sofort um die Ange-legenheit kümmern müsse. Er sprach so eindringlich, dass es Eindruck auf mich machte. Sein Englisch hatte keinen ausländischen Akzent, trotzdem glaube ich nicht, dass er Amerikaner ist. Ich fragte ihn, warum ge-rade er anriefe, wenn sich bei den Stamms etwas er-eignet hätte. Darauf erwiderte er, dass er ein alter

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Freund der Familie sei und die Tragödie miterlebt hät-te. Stamm wäre außerdem nicht in der Lage, selbst zu telefonieren, deshalb hätte er sich im Augenblick der Sache angenommen. Mehr konnte ich nicht aus ihm herausbringen.«

»Und daraufhin sind Sie hinausgefahren?«, fragte Markham.

»Ja.« Heath nickte verlegen. »Ich nahm Hennessey, Burke und Snitkin mit, und wir fuhren in einem Dienst-auto hin.«

»Und was fanden Sie?«

»Nichts!«, entgegnete Heath nervös. »Ich fand nur bestätigt, was ich am Telefon gehört hatte. Zum Wo-chenende hatte Stamm einige Damen und Herren ein-geladen. Montague gehörte auch zu den Gästen und hatte zur Erholung ein Bad im Drachenteich vorge-schlagen. Vorher hatten die Leute anscheinend etwas zu viel getrunken. Sie gingen zum Wasser hinunter und zogen sich aus …«

»Einen Augenblick, Sergeant«, unterbrach ihn Van-ce. »War Leland auch betrunken?«

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»Nein. Er hatte einen klaren Kopf bewahrt, aber er machte trotzdem einen etwas merkwürdigen Eindruck. Es schien ihn sehr zu beruhigen, dass ich kam. Er nahm mich beiseite und sagte mir, ich solle die Augen offen-halten. Natürlich fragte ich ihn, was er damit meine, aber nun tat er plötzlich gleichgültig und erwiderte nur, dass sich früher seltsame Vorgänge in dieser Ge-gend abgespielt hätten und heute Abend etwas Beson-deres passiert wäre.«

»Ich glaube, ich weiß, was er meint«, entgegnete Vance. »Dieser Stadtteil ist von vielen Legenden um-sponnen — Altweibermärchen und abergläubische Ge-schichten, die von Indianern überliefert wurden.«

»Nun gut«, nahm der Sergeant seinen Bericht wie-der auf. »Nachdem alle an den Teich gegangen waren, trat Montague auf das Sprungbrett und machte einen Kopfsprung, aber er kam nicht mehr zum Vorschein.« »Woher wussten denn die anderen so bestimmt, dass er nicht wieder an die Oberfläche kam?«, fragte Mark-ham. »Es muss doch nach dem Regen sehr dunkel ge-wesen sein. Jetzt ist es ja noch bewölkt.«

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»Der Teich war hell erleuchtet«, erklärte Heath. »Sie haben mindestens ein Dutzend Lampen am Was-ser.«

»Gut, fahren Sie fort!« Markham griff ungeduldig nach seinem Glas. »Was ereignete sich dann?«

»Nicht viel. Die anderen Herren tauchten nach ihm und versuchten, ihn im Wasser zu finden, aber nach ungefähr zwanzig Minuten gaben sie es auf. Leland sagte ihnen, es wäre besser, wenn sie wieder ins Haus gingen. Er würde die Behörden verständigen.«

»Seltsam, dass er das getan hat, die Sache sieht nicht nach einem Kriminalfall aus«, meinte Markham nachdenklich.

»Gewiss ist das seltsam«, stimmte Heath eifrig zu. »Aber was ich fand, war noch viel seltsamer.«

Vance blies eine Rauchwolke zur Decke. »Diese ro-mantische Gegend von New York macht also schließ-lich doch noch ihrem Ruf Ehre. Was haben Sie denn gefunden, Sergeant?«

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»Zunächst war Stamm schwer betrunken, und ein Doktor aus der Nachbarschaft bemühte sich, ihn wie-der zu sich zu bringen. Stamms jüngere Schwester ein hübsches Mädchen von ungefähr fünfundzwanzig Jah-ren – hatte einen Weinkrampf und fiel von einer Ohn-macht in die andere. Die vier oder fünf übrigen Gäste machten Ausflüchte und Entschuldigungen, statt sofort offen Auskunft zu geben. Und während der ganzen Zeit ging Leland hin und her, zog die Augenbrauen hoch und machte ein Gesicht, als ob er viel mehr wüsste, als er mir gesagt hatte. Dann haben sie dort draußen einen sonderbaren Butler, der umherschleicht wie auf Filzsohlen.«

»Ja, ja.« Vance nickte ernst. »Alles sehr geheimnis-voll … wie in einem Schauerroman. Der Wind fuhr stöhnend durch die Fichten, und eine Eule schrie in der Ferne. Vom Dachgeschoss her kamen raschelnde Laute, eine Tür knarrte, und dann klopfte es, nicht wahr, Sergeant? Hier, trinken Sie noch einen Whisky-Soda, Sie zittern ja an allen Gliedern.« Seine Stimme klang belustigt, aber unter halbgeschlossenen Augen sah er Heath scharf an, und der Ton seiner Stimme

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verriet, dass er den Bericht viel ernster nahm, als man nach seinen Worten hätte vermuten können. Ich er-wartete, dass sich Heath verletzt fühlen würde, aber ich täuschte mich.

»Sie schildern die Situation ganz richtig, Mr. Van-ce«, sagte er.

Markham wurde ärgerlich. »Ich finde wirklich nichts Besonderes an dem Fall«, widersprach er. »Ein Mann springt in ein Schwimmbassin, stößt mit dem Kopf auf den Grund und ertrinkt. Und was Sie sonst berichtet haben, lässt sich auch auf ganz natürliche Weise erklären. Es ist nicht ungewöhnlich, dass jemand betrunken ist, und dass eine Frau nach einem solchen Unglück hysterische Zustände bekommt, hat man doch schon oft genug erlebt. Selbstverständlich wollten sich die anderen Gäste nach dem traurigen Vorfall empfeh-len. Leland hat die einfache Geschichte eben aufge-bauscht. Außerdem haben Sie ja schon immer eine Ab-neigung gegen den Butler gehabt. Die Mordabteilung hat nichts mit diesem Fall zu tun, denn ein Mordver-dacht ist schon dadurch ausgeschlossen, dass Mon-tague selbst das Bad im Teich vorschlug. Das war an ei-

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nem so heißen Abend ein sehr vernünftiger Einfall. Dass er nicht wieder auftauchte, muss doch nicht ein Verbrechen voraussetzen.«

Heath zuckte die Schultern und steckte sich eine Zigarre an. »Das habe ich mir auch gesagt«, erwiderte er hartnäckig. »Aber die Geschichte hat bestimmt einen Haken.«

Markham verzog den Mund und sah den Sergeant nachdenklich an. »Haben Sie noch einen anderen Grund für diese Annahme?«, fragte er nach einer Pau-se.

Heath antwortete nicht sofort. Offenbar wusste er noch mehr, überlegte aber, ob er davon erzählen sollte. Schließlich richtete er sich auf und nahm die Zigarre aus dem Mund. »Die Fische gefallen mir nicht!«, sagte er plötzlich.

»Fische?«, wiederholte Markham erstaunt. »Was für Fische?«

Der Sergeant zögerte wieder.

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»Ich glaube, ich kann Ihnen das erklären, Mark-ham«, warf Vance ein. »Rudolph Stamm ist einer der bedeutendsten Aquarienbesitzer in Amerika und hat eine hervorragende Sammlung von Tropenfischen. Vor allem ist es ihm gelungen, seltene, wenig bekannte Ar-ten zu züchten. Seit zwanzig Jahren ist das seine Lieb-haberei, und er macht dauernd Expeditionen – an den Amazonas, nach Siam, Indien, Paraguay, Brasilien und auf die Bermudas. Er hat auch schon Reisen nach China und den Orinoco hinauf unternommen. Erst vor einem Jahr waren die Zeitungen voll von Berichten über seine Reise nach Liberia und den Kongo.«

»Es sind sonderbare Geschöpfe«, sagte Heath. »Ei-nige sehen aus wie Seeungeheuer, die nicht ausge-wachsen sind.«

»Trotzdem sind sie in Form und Farbe sehr schön«, meinte Vance lächelnd.

»Aber das war noch nicht alles«, fuhr Heath fort, ohne auf die letzte Bemerkung zu achten. »Dieser Stamm hat auch Eidechsen und kleine Krokodile …«

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»Wahrscheinlich auch Schildkröten, Frösche und Schlangen?«

»Natürlich hat er Schlangen!« Der Sergeant schnitt eine verächtliche Grimasse. »Eine ganze Menge! Sie kriechen aus flachen Wassertanks heraus …«

»Ja.« Vance nickte. »Stamm besitzt auch ein Terra-rium neben seinen Fischen. Man findet ja häufig beides zusammen.«

Markham brummte. »Vielleicht hat sich Montague nur einen Scherz mit den anderen Gästen erlaubt«, sagte er schließlich. »Woher wissen Sie denn, dass er nicht unter Wasser zur anderen Seite des Teiches ge-schwommen und am jenseitigen Ufer verschwunden ist? Es war doch dunkel genug, dass die anderen ihn nicht sehen konnten.«

»Gewiss, das Licht der Lampen reicht nicht ganz über das Wasser, aber diese Erklärung scheidet aus. Ich dachte zunächst auch, dass sich die Sache so ver-halten könnte, nachdem die Gesellschaft so viel ge-trunken hatte, aber das jenseitige Ufer des Teiches wird von einer steilen Felsenklippe gebildet. Sie dürfte

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etwa dreißig Meter hoch sein. Am oberen Ende des Teichs, wo der Zufluss einmündet, befindet sich ein großer Filter. Es würde einem Mann schwer fallen, hin-aufzuklettern, außerdem liegt der Filter noch im Be-reich der Lampen, so dass alle Gäste Montague hätten sehen müssen. Das untere Ende des Teichs ist durch eine hohe Zementmauer abgedämmt, die jenseits etwa sechs Meter auf felsigen Grund abfällt. Niemand wird es riskieren, dort hinunterzuspringen, nur um sich einen Scherz zu erlauben. An der dem Haus zugekehr-ten Seite, wo sich das Sprungbrett befindet, ist eine Stützmauer aus Beton gezogen, die ein Schwimmer er-klettern kann, aber dann gerät er auch in das helle Licht der Uferlampen.«

»Und Montague hätte den Teich auf keinem ande-ren Weg ungesehen verlassen können?«

»Doch, es gibt noch einen, aber den hat er nicht ge-wählt. Zwischen dem Filter und der Felsenklippe jen-seits des Teiches liegt nämlich eine freie Stelle von un-gefähr fünf Metern, die zu dem niedriger gelegenen Teil des Parks führt. Dort ist es sehr dunkel, und man kann von drüben aus nicht hinübersehen.«

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»Dann klärt sich der Fall wahrscheinlich auf diese Weise auf.«

»Nein, Mr. Markham«, versicherte Heath nach-drücklich. »Sobald ich die Lage des Teichs und des Ge-ländes übersehen konnte, nahm ich Hennessey mit, und wir suchten an dem fünf Meter breiten Uferstrei-fen nach Fußspuren. Sie wissen, dass es den ganzen Abend geregnet hat. Fußabdrücke irgendwelcher Art wären deutlich zu sehen gewesen, aber der ganze Bo-den war eben. Wir gingen sogar weiter bis zu der klei-nen Rasenfläche, weil wir dachten, Montague wäre vielleicht auf einen Felsvorsprung geklettert und von dort auf den Rasen gesprungen. Aber wir entdeckten nichts.«

»Dann wird man ihn wahrscheinlich finden, wenn der Teich abgesucht wird«, sagte Markham. »Haben Sie veranlasst, dass das geschieht?«

»Das hat heute Nacht keinen Zweck mehr. Es wür-de zwei oder drei Stunden dauern, bis wir ein Boot und lange Haken an Ort und Stelle hätten, und im Dunkeln

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kann man sowieso nicht viel erreichen. Aber morgen in aller Frühe machen sich die Leute sofort daran.«

»Nun, dann wüsste ich nicht, was wir heute Abend noch tun sollten«, erwiderte Markham ungeduldig. »Sobald der Tote gefunden ist, wird der Polizeiarzt ge-rufen, und der wird Ihnen wahrscheinlich erklären, dass der Mann sich den Schädel gebrochen hat und dass es sich um einen Unglücksfall handelt.«

Diese Worte bedeuteten eigentlich eine Verab-schiedung, aber Heath ließ sich nicht fortschicken. Ich hatte den Sergeant noch niemals so zäh und hartnäckig gesehen.

»Sie mögen recht haben«, entgegnete er zögernd, »aber ich bin anderer Ansicht und vor allem hergekom-men, um Sie zu bitten, nach Inwood hinauszufahren und sich selbst einmal dort umzusehen.«

Ein gewisser Unterton in der Stimme des Beamten ließ Markham aufhorchen. »Was haben Sie denn ei-gentlich bis jetzt unternommen?«, fragte der Staatsan-walt nach einer Pause.

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»Noch nicht viel«, gestand der Sergeant. »Ich hatte ja kaum Zeit dazu. Natürlich schrieb ich die Namen und Adressen aller Anwesenden auf und befragte sie in der üblichen Weise. Stamm konnte ich nicht sprechen, weil der Arzt sich noch um ihn bemühte. Die meiste Zeit habe ich damit verbracht, mich am Teich umzuschau-en, weil ich hoffte, dabei etwas herauszubekommen, aber ich hatte keinen Erfolg. Schließlich ging ich ins Haus und rief Sie an. Ich ließ die drei Beamten dort zu-rück und sagte den anderen, dass sie nicht fortgehen dürften, bis ich zurückkäme. Und dann fuhr ich zu Ih-nen.«

»Sie sind also davon überzeugt, dass ein Verbre-chen vorliegt?«, fragte Markham.

»So weit will ich nicht gehen, aber die Geschichte gefällt mir nicht. Die Beziehungen der Leute unterein-ander sind auch sehr merkwürdig, jeder scheint auf je-den eifersüchtig zu sein. Mehrere der Männer sind ver-liebt in dasselbe Mädchen, und niemand – mit Ausnah-me von Stamms Schwester – schien sich etwas daraus zu machen, dass Montague nicht mehr auftauchte. Ich glaube, es schien ihnen sogar entgegenzukommen, und

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das konnte ich nicht verstehen. Auch Miss Stamm trauerte offenbar nicht so sehr um Montague. Ich kann es nur schwer erklären, aber ich meine, dass sie sich über etwas ganz anderes aufregte, das mit seinem Ver-schwinden zusammenhängt.«

»Trotzdem halte ich es für richtig, bis morgen zu warten«, erwiderte Markham.

Während sich der Staatsanwalt und Heath unter-hielten, lehnte sich Vance bequem in seinem Sessel zu-rück und rauchte. Er wirkte abwesend, aber ich wus-ste, dass er sich stark für alles interessierte, was ge-sprochen wurde. Plötzlich drückte er seine Zigarette aus und erhob sich. »Markham, alter Junge, wir sollten wirklich mit dem Sergeant hinausfahren. Es kann nicht im Geringsten schaden, und die Nacht ist sowieso zu heiß zum Schlafen. Ein wenig Ablenkung hilft uns über die Hitze weg.«

Markham sah ihn überrascht an. »Warum wollen Sie denn mitkommen?«

»Weil ich mich ungeheuer für Stamms Fische inter-essiere«, entgegnete Vance und unterdrückte ein Gäh-

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nen. »Ich habe mich nämlich selbst früher einmal mit der Zucht siamesischer Kampffische und ähnlicher Tiere abgegeben.«

Markham schaute ihn einige Sekunden an, ohne et-was zu erwidern. Er kannte Vance gut und wusste, dass ganz andere Gründe für ihn maßgebend waren. Schließlich stand er auch auf und sah auf seine Uhr. »Es ist schon nach Mitternacht«, sagte er widerwillig. »Natürlich ist das die passendste Zeit, ein Aquarium zu besuchen! Wollen wir im Dienstauto fahren, oder neh-men wir Ihren Wagen?«

»Selbstverständlich nehmen wir meinen.«

Vance klingelte Currie und ließ sich Hut und Stock bringen.

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2. Eine verblüffende Beschuldigung

(Sonntag, 12. August, 0.30 Uhr)

ergeant Heath fuhr voraus, Markham, Vance und ich folgten in dem Wagen meines Freundes. Von

der Dyckman Street wandten wir uns westlich zur Pay-son Avenue und von dort zu der sich steil nach oben windenden Bolton Road. Als wir den höchsten Punkt erreicht hatten, bogen wir in einen breiten Privatweg ein und fuhren bis zur Höhe des Hügels, auf dem das bekannte Haus der Familie Stamm stand. Das Grund-stück lag zwischen Zedern, Eichen und Fichten, ruhi-gen Rasenflächen und Felspartien. Und obwohl man fast zu jeder Seite einen Ausblick auf das moderne New York hatte, überkam mich doch ein Gefühl von Abge-schiedenheit in dieser Gegend. Plötzlich schien ich

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weit entfernt zu sein von all dem geschäftigen Treiben der Weltstadt und erkannte, wie wenig Inwood in die jetzige Zeit passte. Das Gelände mit seinen großen Bäumen, seinen alten Häusern, seiner Wildnis und sei-ner ländlichen Stille gehörte wohl zu Manhattan, aber es schien weit weg in einem anderen Land zu liegen.

Als wir auf einen kleinen Parkplatz am Ende des Pri-vatweges einbogen, sahen wir einen alten Ford unge-fähr fünfzig Meter vor der Haustür stehen.

»Er gehört dem Arzt«, bemerkte Heath, als er aus-stieg. »Die Garage liegt weiter unten östlich vom Haus.«

Er führte uns zu der Bronzetür hinauf. Wir trafen Detective Snitkin in der kleinen Vorhalle, deren Wände mit dunklem Eichenholz verkleidet waren. »Ich bin froh, dass Sie wieder hier sind, Sergeant«, sagte der Beamte, nachdem er uns begrüßt hatte.

»Ihnen gefällt es hier wohl auch nicht?«, fragte Vance.

»Es ist hier unheimlich«, erwiderte Snitkin und ging auf die innere Tür zu.

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»Ist noch etwas passiert?«, fragte Heath.

»Nein. Aber Stamm ist wieder zu sich gekommen.« Snitkin klopfte dreimal an die Tür.

Gleich darauf öffnete der Butler, der uns misstrau-isch betrachtete. »Ist es wirklich notwendig, dass so viele Beamte ins Haus kommen?«, fragte er den Ser-geant höflich, während er die Tür zögernd aufhielt. »Sie müssen wissen, dass Mr. Stamm …«

»Ich habe hier zu bestimmen«, schnitt ihm Heath kurz das Wort ab, »und Sie haben meine Aufträge aus-zuführen und keine Fragen zu stellen.«

Der Butler verneigte sich und schloss die Tür hinter uns. »Was befehlen Sie?«

»Sie bleiben hier an der Haustür«, entgegnete Heath schroff, »und lassen niemand herein.« Dann wandte er sich an Snitkin, der uns in die geräumige Halle gefolgt war. »Wo sind die Stamms und die Gäste, und was machen sie?«

»Stamm ist mit dem Doktor drüben in der Biblio-thek.« Snitkin deutete mit dem Daumen auf einen

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schweren Türvorhang im Hintergrund der Halle. »Die anderen habe ich auf ihre Zimmer geschickt, wie Sie mir sagten. Burke bewacht die Hintertür, und Hennes-sey ist unten beim Teich.«

Heath brummte. »Was soll nun zuerst geschehen?«, wandte er sich an Markham. »Soll ich Ihnen die Lage des Geländes erklären und Ihnen den Teich zeigen, oder wollen Sie zuerst jemand vernehmen?«

»Ich bin dafür, dass wir erst ein paar Fragen an die Leute richten«, sagte Vance. »Vor allem möchte ich er-fahren, was sich vorher zugetragen hat und die Ansich-ten der einzelnen Gäste hören. Der Teich kann bis spä-ter warten. Wir müssen erst einmal die Hintergründe dieses merkwürdigen Vorfalls kennen.«

»Mir ist es gleich, was wir zuerst unternehmen«, erwiderte Markham skeptisch. »Je eher wir wissen, was hier los ist, desto besser.«

*

Vance sah sich flüchtig in der Halle um. Große, verbli-chene Ölgemälde hingen an den Wänden, an der Tür

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schwere Faltenvorhänge. Der Raum machte einen dü-steren Eindruck. Die Luft war muffig.

»Wir wollen ins Wohnzimmer gehen«, sagte Mark-ham ärgerlich. »Wo ist es, Sergeant?«

Heath zeigte auf einen schweren Vorhang zur Rechten, und wir setzten uns gerade in Bewegung, als jemand leise die Treppe herunterkam und aus dem Schatten zu uns sprach: »Kann ich irgendwie behilflich sein, meine Herren?« Ein großer Mann kam auf uns zu. Als er in den Lichtschein eines altertümlichen Kristall-kronleuchters trat, sahen wir eine ungewöhnliche und – wie mir schien – düstere Gestalt.

Er war über einen Meter achtzig groß, dabei schlank und elastisch. In seinem dunklen Gesicht leuchteten kühne, ruhige schwarze Augen. Seine Lip-pen waren dünn und gerade, und das Haar hatte er aus der niedrigen, breiten Stirn gekämmt, in dem ge-dämpften Licht der Halle erschien es schwarz. Er war tadellos und elegant gekleidet, aber es lag eine gewisse Nachlässigkeit in seiner Art. »Mein Name ist Leland«, erklärte er, als er vor uns stand. »Ich bin seit Jahren ein

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Freund dieses Hauses und war auch heute Abend hier zu Gast, als sich dieser traurige Unglücksfall ereigne-te.«

Er sprach mit peinlicher Korrektheit, aber mit ei-genartigem Tonfall, so dass ich gut verstand, warum der Sergeant am Telefon so merkwürdig von dieser Stimme berührt worden war.

Vance betrachtete ihn kritisch. »Wohnen Sie in In-wood, Mr. Leland?«, fragte er scheinbar gleichgültig.

Der andere nickte leicht. »Ja. In einem Haus des al-ten Indianerdorfes auf der Hügelseite, von wo man den Spuyten Duyvil Creek2 überschauen kann.«

»Kennen Sie Mr. Stamm schon lange?«

»Seit fünfzehn Jahren«, entgegnete Leland zögernd. »Ich habe ihn auf vielen seiner Expeditionen begleitet, wenn er Tropenfische sammelte.«

2 Ein Flussabschnitt im Norden von Manhattan, der die Insel vom Stadtbezirk Bronx trennt und Hudson River und Harlem River ver-bindet. Nach Süden grenzt er an den Inwood Hill Park, nördlich be-finden sich die Stadtteile Spuyten Duyvil und Riverdale.

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Vance blickte den seltsamen Mann unverwandt an. »Vielleicht haben Sie Mr. Stamm auch in die Karibik begleitet, als er nach dem verlorenen Schatz suchte?«, fragte er kühl. »Ich meine mich erinnern zu können, dass in der Presse Ihr Name in Zusammenhang mit die-sem romantischen Abenteuer erwähnt worden ist.«

»Sie haben recht«, gab Leland zu, ohne dass sich sein Gesichtsausdruck änderte.

Vance wandte sich ab. »Dann können Sie uns wahr-scheinlich bei der Lösung dieses merkwürdigen Falls helfen. Ich schlage vor, wir sprechen im Wohnzimmer miteinander.« Er zog die schweren Vorhänge beiseite, und der Butler kam, um das elektrische Licht einzu-schalten. Wir befanden uns in einem großen Raum von mindestens sechs Metern Höhe. Ein Aubusson-Tep-pich lag auf dem Boden, und die Ausstattung bestand aus massiv geschnitzten Louis XV.-Möbeln. Auch die-ses Zimmer wirkte altmodisch und ungemütlich. Als Vance sich umschaute, überlief ihn ein leichter Schau-der.

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»Offenbar kein besonders behaglicher Aufenthalts-raum«, meinte er.

Leland beäugte ihn abschätzend. »Nein. Das Zim-mer wird nur selten gebraucht. Seit dem Tod Robert Stamms benutzt die Familie vor allem die Räume im hinteren Teil des Hauses, besonders die Bibliothek und das Vivarium, das Stamm vor zehn Jahren anbaute. Er verbringt die meiste Zeit dort.«

»Natürlich bei den Fischen«, erwiderte Vance.

»Die sind seine große Leidenschaft«, entgegnete Leland gleichgültig.

Vance nickte abwesend, setzte sich und zündete eine Zigarette an. »Da Sie so freundlich waren, uns Ihre Unterstützung anzubieten, Mr. Leland«, sagte er dann, »erzählen Sie uns vielleicht einmal, was an diesem Abend vor der Tragödie im Haus vorging. Von Sergeant Heath hörte ich, dass Sie auf einer behördlichen Un-tersuchung bestanden – stimmt das?«

»Gewiss«, erwiderte Leland gelassen. »Es kam mir äußerst merkwürdig vor, dass der junge Montague nicht mehr auftauchte, nachdem er in den Teich ge-

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sprungen war. Er ist ein ausgezeichneter Schwimmer und auch in vielen anderen Sportarten geübt und ge-wandt. Außerdem kennt er den Teich genau, und es ist kaum anzunehmen, dass er mit dem Kopf auf dem Grund aufgeschlagen sein könnte. Die andere Seite ist etwas seicht und hat ein abfallendes Ufer, aber an die-ser Seite bei den Badekabinen und dem Sprungbrett ist das Wasser mindestens acht Meter tief.«

»Immerhin kann er einen Krampf bekommen ha-ben, oder er hat durch die plötzliche Erschütterung bei dem Sprung das Bewusstsein verloren«, meinte Vance. »Solche Fälle sind, wie Sie wissen, mehrfach vorge-kommen.« Wieder sah er ihn an. »Warum drängten Sie denn so sehr darauf, dass der Fall untersucht werden sollte?«

»Das war nur eine Vorsichtsmaßnahme …« begann Leland, aber Vance unterbrach ihn.

»Ja, ja, natürlich. Aber warum hielten Sie unter die-sen Umständen eine solche Vorsicht für notwendig?«

Leland lächelte ironisch. »In diesem Haushalt hier spielt sich das Leben nicht in gewöhnlicher Weise ab«,

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erwiderte er. »In der Familie Stamm heiratete man häufig unter sich. Robert Stamm und seine Frau waren Cousin und Cousine, und auch beide Großelternpaare waren eng miteinander verwandt. Daher sind die bei-den letzten Generationen der Stamms unruhig und un-zuverlässig, und man muss sich auf alle möglichen un-erwarteten Zwischenfälle gefasst machen. Es gibt keine Beständigkeit in der Familie, weder körperlich noch geistig.«

»Aber was könnte die erbliche Veranlagung der Fa-milie Stamm mit Montagues Verschwinden zu tun ha-ben?«, fragte Vance.

»Montague war mit Stamms Schwester Bernice verlobt«, entgegnete Leland niedergeschlagen.

Vance zog den Rauch der Zigarette tief ein. »Wollen Sie damit andeuten, dass Stamm vielleicht nicht mit dieser Verbindung einverstanden war?«

»Ich mache keine Andeutungen.« Leland nahm sei-ne Pfeife und einen Tabakbeutel aus der Tasche. »Wenn Stamm die Wahl seiner Schwester nicht billigte, hat er mir gegenüber nichts davon erwähnt. Er gehört

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nicht zu den Menschen, die ihre Gedanken und Gefüh-le auf der Zunge tragen, aber seine Veranlagung lässt die verschiedensten Möglichkeiten zu, und es kann sein, dass er Montague gehasst hat.« Geschickt füllte er die Pfeife und steckte sie an.

»Sollen wir dann annehmen, dass Sie nur deshalb angerufen haben, weil Sie das Mendelsche Verer-bungsgesetz3 auf die Familie Stamm anwenden?«

Wieder lächelte Leland ironisch. »Das ist nicht ganz richtig, obwohl es dazu beigetragen haben mag, mei-nen Verdacht zu erregen.«

»Welche anderen Faktoren spielten dabei eine Rol-le?«

»Es wurde während der letzten vierundzwanzig Stunden hier sehr viel getrunken.«

3 Gregor Mendel (1822-1884) kam mit Pflanzenexperimenten den Grundlagen der Vererbungslehre auf die Spur. Inzwischen spricht man nicht mehr von »Mendelschen Gesetzen«, sondern von »Men-delschen Regeln«.

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»Ja, der Alkohol beseitigt viele Hemmungen. Aber wir wollen uns jetzt nicht auf akademische Erörterun-gen einlassen.«

Leland ging zu dem Tisch, der in der Mitte des Zim-mers stand, und lehnte sich dagegen. »Den Leuten, die zum Wochenende hier sind, kann man alles Mögliche zutrauen.«

Vance nickte. »Das klingt schon anders«, entgegne-te er. »Erzählen Sie uns doch etwas mehr von ihnen.«

»Außer Stamm und seiner Schwester ist Mr. Alex Greeff hier, ein bekannter Börsenmakler, der zweifellos gewisse Absichten auf das Stammsche Vermögen hat. Dann ist Kirwin Tatum hier, ein verschwenderischer junger Mann, der keinen guten Ruf hat und, soviel ich weiß, ständig seinen Freunden auf der Tasche liegt. Außerdem hat er sich in Bernice Stamm verliebt …«

»Wie steht es in dieser Beziehung mit Greeff?«

»Da kann ich nichts sagen. Er ist jedenfalls der fi-nanzielle Berater der Familie, und ich weiß, dass Stamm einen beträchtlichen Teil seines Vermögens auf

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Greeffs Vorschläge hin angelegt hat. Aber ob Greeff das Vermögen erheiraten will, steht nicht fest.«

»Danke. Und was wissen Sie von den anderen Teil-nehmern der Gesellschaft?«

»Mrs. McAdam, die Teeny genannt wird, ist eine et-was geschwätzige, vergnügungssüchtige Witwe, die es nicht so genau nimmt. Sie ist klug und weltgewandt und hat ein Auge auf Stamm geworfen. Als der junge Tatum betrunken war, erzählte er mir im Vertrauen, dass Montague und Mrs. McAdam früher einmal zu-sammengelebt haben.«

»Die Geschichte wird ja immer interessanter«, meinte Vance etwas spöttisch. »Ist sonst noch jemand zu erwähnen?«

»Ja, Miss Ruby Steele, eine stets aufgedrehte Frau, deren Alter man nicht einschätzen kann. Sie kleidet sich gern auffällig und muss immer irgendeine Rolle spielen. Sie malt, singt und spricht ständig von ihrer ›Kunst‹. Ich glaube, sie war früher bei der Bühne. Das wäre die ganze Gesellschaft – mit Ausnahme von Mon-tague und mir selbst. Stamm erzählte mir, er habe

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noch eine Dame eingeladen, aber in letzter Minute eine Absage von ihr erhalten.«

»Nannte er zufällig ihren Namen?«

»Nein. Aber Sie können ihn ja fragen, wenn der Arzt ihn wieder zu sich gebracht hat.«

»Und wie steht es mit Montague?«, erkundigte sich Vance. »Können Sie uns etwas Näheres über ihn sa-gen?«

Leland zögerte, klopfte die Asche aus seiner Pfeife und füllte sie wieder. »Montague war ein ausgespro-chen schöner Mann«, erwiderte er schließlich. »Von Beruf war er Schauspieler, aber er scheint es nicht sehr weit gebracht zu haben, obwohl er in mehreren Holly-wood-Filmen zu sehen war. Immer lebte er auf großem Fuß in einem der teuren Luxus-Hotels, erschien bei Theaterpremieren und besuchte häufig die Nachtklubs in der East Side. Er hatte ein angenehmes Wesen und besaß große Anziehungskraft auf Frauen.« Leland machte eine kurze Pause. »Sonst weiß ich wenig über ihn.«

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»Ich kenne diese Art von Menschen.« Vance schau-te auf seine Zigarette. »Trotzdem könnte ich nicht sa-gen, dass diese Wochenendgesellschaft einen unge-wöhnlichen Eindruck macht, oder dass einer von den Gästen notwendigerweise eine verbrecherische Ab-sicht gehabt haben muss.«

»Gewiss nicht«, gab Leland zu. »Aber es fiel mir auf, dass heute Abend fast jeder einen Grund gehabt haben könnte, Montague beiseitezuschaffen.«

Vance hob die Augenbrauen. »Wie meinen Sie das?«, fragte er schnell.

»Stamm könnte zum Beispiel der Verbindung seiner Schwester mit Montague schroff ablehnend gegen-übergestanden haben. Er hat Bernice sehr gern und sah natürlich, dass eine Heirat zwischen den beiden ein trauriger Irrtum gewesen wäre. Der junge Tatum ist zweifellos in einer Gemütsverfassung, in der er es fertigbringt, jeden Rivalen zu ermorden. Greeff ist ein Mann, der vor nichts zurückschrecken würde, und Montagues Heirat hätte vielleicht einen großen Strich durch seine ehrgeizigen finanziellen Pläne über die

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Verwaltung des Stammschen Vermögens gemacht. Vielleicht hoffte er auch, selbst Bernice gewinnen zu können. Dann bestanden früher gewisse Beziehungen zwischen Teeny McAdam und Montague – ich bemerk-te das, nachdem Tatum mir von ihrem Verhältnis er-zählt hatte. Es mag ihr nicht gepasst haben, dass er sich einer anderen zuwandte, denn sie gehört nicht zu den Frauen, die sich einfach abschütteln lassen. Außer-dem fürchtete sie vielleicht, Montague könnte durch Andeutungen über ihre Vergangenheit ihre Aussichten bei Stamm zerstören.«

»Und wie steht es mit Miss Steele?«

Ein harter Ausdruck trat in Lelands Züge. »Ihr traue ich am wenigsten von allen«, erwiderte er mit finsterer Entschlossenheit. »Es bestand ein scharfer Gegensatz zwischen ihr und Montague. Dauernd machte sie abfäl-lige Bemerkungen über ihn, machte ihn vor allen ande-ren lächerlich und sagte überhaupt kaum ein höfliches Wort zu ihm. Als Montague das Bad im Teich vor-schlug, ging sie mit ihm zu den Umkleidekabinen und sprach heftig auf ihn ein. Ich konnte nicht verstehen, was sie sagte, aber ich hatte den entschiedenen Ein-

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druck, dass sie ihm Vorwürfe machte. Als wir in unse-ren Badeanzügen herauskamen und Montague zum Sprungbrett ging, trat sie zu ihm und sagte so laut, dass ich es hören musste: ›Ich hoffe, Sie kommen nie wieder heraus.‹ Nun tauchte Montague tatsächlich nicht mehr auf, und diese Bemerkung kam mir deshalb besonders wichtig vor. Vielleicht begreifen Sie jetzt …«

»Oh ja, natürlich«, erwiderte Vance. »Ich über-schaue alle Möglichkeiten. Eine hübsche Gesellschaft!« Er sah scharf auf. »Und Sie selbst, Mr. Leland? Hatten Sie zufällig auch ein Interesse an Montagues Tod?«

»Vielleicht ein größeres als alle anderen«, gestand er mit grimmiger Offenheit ein. »Ich verabscheute ihn, und ich hielt es für ein Verbrechen, dass er Bernice Stamm heiraten wollte. Das sagte ich nicht nur ihr, sondern auch ihrem Bruder.«

»Und warum nahmen Sie sich die Sache so sehr zu Herzen?«

»Bernice Stamm ist ein sehr feines, ungewöhnliches junges Mädchen.« Leland sprach langsam und wählte seine Worte sorgfältig. »Ich bewundere sie. Seit ihrer

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Kindheit kenne ich sie, und in den letzten Jahren sind wir sehr gute Freunde geworden. Montague war ihrer nicht würdig.« Er hielt inne, wollte weitersprechen, än-derte seine Absicht jedoch und schwieg. Vance beob-achtete ihn genau.

»Sie sind sehr aufrichtig, Mr. Leland«, sagte er, nickte langsam und schaute dann zur Decke. »Ich fürchte, Sie hatten allen Grund, den blendenden, ele-ganten Montague aus dem Weg zu räumen.«

In diesem Augenblick kam eine unerwartete Unter-brechung. Der Türvorhang zum Wohnzimmer war of-fengeblieben, und plötzlich hörten wir schnelle Schrit-te auf der Treppe. Wir schauten auf die Tür, und eine Sekunde später trat eine große Frau, die wie eine Schauspielerin aussah, aufgeregt herein.

Sie mochte ungefähr fünfunddreißig Jahre alt sein, hatte ein ungewöhnlich bleiches Gesicht und grellrot geschminkte Lippen. Ihr dunkles Haar war in der Mitte geteilt und hinten zu einem Knoten aufgesteckt. Sie trug ein langes, schwarzes Chiffonkleid, das offenbar aus einem Stück geschnitten war und ihre Gestalt

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deutlich nachzeichnete. Dazu hatte sie eine Brosche und eine Kette aus Jade angelegt.

Ihr Blick richtete sich sofort auf Leland. Sie ging ei-nige Schritte auf ihn zu, sprungbereit und drohend wie eine Tigerin. Dann sah sie uns schnell an, schaute aber gleich wieder auf Leland, der sie mit unerschütterli-cher Ruhe betrachtete. Langsam hob sie den Arm und deutete auf ihn.

»Der ist es!«, rief sie leidenschaftlich mit tiefer, volltönender Stimme.

Vance hatte sich erhoben. Er klemmte das Monokel ins Auge und musterte die Frau kritisch.

»Vielen Dank«, erwiderte er dann, »Mr. Leland hat sich uns bereits vorgestellt. Aber wir hatten noch nicht das Vergnügen …«

»Mein Name ist Ruby Steele«, schnitt sie ihm heftig das Wort ab, »und ich habe gehört, was dieser Mann über mich sagte, aber er lügt! Er versucht nur, den Verdacht von sich auf andere zu lenken!«

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Mit zornigen Blicken sah sie von Vance wieder zu Leland.

»Der ist für Montagues Tod verantwortlich! Er hat den Mord geplant und ausgeführt! Er hasste Monty, weil er selbst in Bernice Stamm verliebt ist, und er sag-te ihm, dass er von ihr ablassen sollte, sonst würde er ihn umbringen. Monty hat mir das selbst erzählt. Schon seit gestern Morgen, als ich in dieses Haus kam, hatte ich ein beklemmendes Gefühl hier«, sie presste die Hände mit dramatischer Geste auf die Brust, »dass et-was Fürchterliches geschehen würde! … Dass dieser Mann seine Drohungen wahrmachen könnte!« Mit ei-ner theatralischen Geste verschränkte sie die Finger und hob sie an die Stirn. »Und er hat es wirklich getan! Oh, er ist hinterlistig und gefährlich …«

»Darf ich fragen«, wandte Vance mit kühler Stimme ein, »wie Mr. Leland diese Tat beging?«

Sie drehte sich verächtlich zu ihm um.

»Woher soll ich das denn wissen?«, erwiderte sie empört. »Aber Sie als Polizeibeamter müssen doch in der Lage sein, das herauszufinden! Dieser Mann hier

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hat Sie angerufen – ach, ich sage Ihnen ja, er ist hinter-listig! Er dachte, wenn er Sie verständigt, würde er nicht in Verdacht kommen, falls der arme Monty ge-funden wird.«

»Höchst interessant.« Vance nickte ironisch. »Sie klagen also Mr. Leland an, Mr. Montague nach dem Le-ben getrachtet zu haben?«

»Ja!«, erklärte sie und streckte die Arme aus. »Und ich weiß, dass ich recht habe, obwohl ich nicht sagen kann, wie er die Tat beging. Aber er verfügt über selt-same Kräfte. Er ist ein Indianer – wussten Sie das? Ein Indianer! Er braucht nur auf die Rinde eines Baums zu schauen, dann kann er Ihnen sagen, ob Leute daran vorübergekommen sind. Durch ganz Inwood verfolgt er die Spuren von Menschen an geknickten Zweigen und Blättern. Wenn er die Asche eines Feuers betrach-tet, weiß er, seit wann die Glut erloschen ist, und am Geruch stellt er fest, wem ein Kleidungsstück oder ein Hut gehört. Er kann viel, von dem die Weißen keine Ahnung haben! Alle Geheimnisse dieser Berge kennt er, denn seine Vorfahren haben seit Generationen hier ge-

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lebt. Er ist ein Indianer – ein listiger, heimtückischer Indianer!«

»Aber meine liebe Miss Steele«, protestierte Vance freundlich, »all die Eigenschaften, die Sie hier anfüh-ren, sind doch kein Grund, um Mr. Leland eines Ver-brechens zu beschuldigen. Wenn das der Fall wäre, müssten Tausende von Pfadfindern in dem gleichen Verdacht stehen.«

Sie sah ihn düster an und presste die Lippen wü-tend zusammen. Dann streckte sie resigniert die Hän-de aus und lachte hysterisch.

»Wenn Sie in Ihrer Beschränktheit es nicht einse-hen wollen, kann ich es auch nicht ändern«, entgegne-te sie mit erzwungener Gleichgültigkeit. »Aber eines Tages werden Sie zu mir kommen und zugeben, dass ich recht hatte.«

»Das wird uns ein Vergnügen sein«, erklärte Vance lächelnd. »Aber in der Zwischenzeit muss ich so unhöf-lich sein und Sie ersuchen, in Ihrem Zimmer zu warten, bis wir weitere Fragen an Sie richten. Vorher haben wir noch verschiedene andere Dinge zu erledigen.«

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Ohne uns noch eines weiteren Wortes zu würdigen, drehte sie sich um und rauschte majestätisch aus dem Zimmer.

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3. Poolgeplansche

(Sonntag, 12. August, 1.15 Uhr)

ie ganze Zeit, während Ruby Steele Leland an-klagte, hatte er ruhig geraucht und sie gelassen

betrachtet. Ihre Anschuldigungen schienen ihn nicht im Geringsten zu berühren. Als sie den Raum verlassen hatte, zuckte er nur die Schultern und sah Vance mit einem müden Lächeln an.

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»Wundern Sie sich jetzt noch?«, fragte er mit leich-ter Ironie, »dass ich anrief und auf dem Eingreifen der Polizei bestand?«

Vance schaute ihn teilnahmslos an.

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»Sie sahen voraus, dass man Sie anklagen würde, an Montagues Verschwinden schuld zu sein.«

»Das stimmt nicht ganz. Ich wusste nur, dass aller-hand Gerüchte und Vermutungen auftauchen würden, deshalb hielt ich es für gut, den Vorfall sofort bei der Behörde zu melden. Die Beamten sollten die Möglich-keit haben, die Sache gleich zu klären und den Schuldi-gen zu finden. Eine solche Szene, wie wir sie eben er-lebt haben, erwartete ich allerdings nicht. Ich brauche Ihnen wohl nicht erst zu sagen, dass die Frau schwer hysterisch ist. Nur eine ihrer Angaben ist richtig, und auch die nur halb. Meine Mutter war tatsächlich eine Algonkin-Indianerin – die Prinzessin ›Weißer Stern‹. Eine stolze, edle Frau, die schon als Kind von ihren Verwandten getrennt und in einem Kloster im Süden erzogen worden war. Mein Vater war Architekt und stammte aus einer alten New Yorker Familie. Er war viele Jahre älter als meine Mutter. Beide sind tot.«

»Sind Sie hier geboren?«, fragte Vance.

»Ja. In Inwood. Aber das Haus steht schon lange nicht mehr. Ich wohne hier, weil ich die Gegend liebe.

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Ich habe hier viel Schönes erlebt, bevor ich zum Ab-schluss meiner Ausbildung nach Europa geschickt wurde.«

»Gleich als ich Sie sah, vermutete ich, dass Sie In-dianerblut in sich haben«, bemerkte Vance distanziert, streckte die Beine aus und zog den Rauch seiner Ziga-rette behaglich ein. »Vielleicht erzählen Sie uns jetzt einmal, was sich vor dem Unfall alles ereignete. Sie er-wähnten doch, dass Montague selbst den Vorschlag machte, schwimmen zu gehen?«

»Ja.« Leland setzte sich. »Ungefähr um halb acht aßen wir zu Abend. Vorher hatten wir schon mehrere Cocktails getrunken, und während des Essens ließ Stamm verschiedene schwere Weine servieren. Nach dem Kaffee wurden noch Kognak und Portwein ge-reicht, und meiner Meinung nach hatten alle ein wenig zu viel getrunken. Wie Sie wissen, regnete es und wir konnten uns nicht draußen aufhalten. Später gingen wir in die Bibliothek, und dort bekamen wir Whisky-Soda. Der junge Tatum spielte wilde Melodien auf dem Klavier, und Miss Steele sang dazu. Aber das dauerte

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nicht lange, denn der Alkohol tat seine Wirkung, und alle wurden unruhig.«

»Und was machte Stamm?«

»Der hatte besonders viel Alkohol zu sich genom-men. Ich habe selten gesehen, dass er so trank, obwohl er es schon seit Jahren übertreibt. Er nahm reinen Whisky. Nachdem er mindestens eine halbe Flasche geleert hatte, machte ich ihm Vorwürfe, aber er war vernünftigen Argumenten nicht mehr zugänglich, wur-de nur mürrisch und schwieg. Und als es zehn Uhr ge-worden war, kümmerte er sich nicht mehr um die an-deren und war halb eingeschlafen. Seine Schwester versuchte, ihn aufzumuntern, aber ohne den gering-sten Erfolg.«

»Wieviel Uhr war es genau, als sie zum Schwimmen gingen?«

»Es muss kurz nach zehn gewesen sein. Montague und Bernice traten auf die Terrasse hinaus, kamen aber sofort wieder zurück, und Montague erklärte, es habe aufgehört zu regnen. Dann schlug er vor, dass wir ein Bad im Teich nehmen sollten. Mit Ausnahme von

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Stamm stimmten alle begeistert zu. Er war ohnehin so betrunken, dass er nicht hätte schwimmen können. Bernice und Montague drängten ihn mitzukommen, er jedoch wurde unangenehm und gab Trainor den Auf-trag, ihm noch eine weitere Flasche Whisky zu brin-gen.«

»Wer ist denn Trainor?«

»Der Butler. Wir gingen zu den Badekabinen, und ich selbst drehte den Schalter in der hinteren Halle an, um die Treppe zum Wasser und das Ufer zu beleuch-ten. Montague erschien zuerst im Badeanzug, und die anderen waren eine Minute später ebenfalls zur Stelle. Dann ereignete sich der Unglücksfall.«

»Einen Augenblick, Mr. Leland«, unterbrach ihn Vance, neigte sich vor und klopfte die Asche seiner Zi-garette in den Kamin ab. »War Montague der erste, der ins Wasser ging?«

»Ja. Er wartete in imponierender Haltung auf dem Sprungbrett, bis wir alle heraustraten. Er war stolz auf seine schöne Gestalt, deshalb schlug er auch bei jeder Gelegenheit vor, ein Bad im Teich zu nehmen. Als er

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wusste, dass alle Augen auf ihn gerichtet waren, mach-te er den Kopfsprung.«

»Und was geschah dann?«

»Der Sprung war wunderbar ausgeführt. Der Mann verstand es zu tauchen, das muss man ihm lassen. Wir warteten alle darauf, dass er wieder an die Oberfläche kommen würde, aber es dauerte unendlich lange – in Wirklichkeit war es nur eine Minute oder etwas länger, aber uns erschien es wie eine Ewigkeit. Dann stieß Mrs. McAdam einen Schrei aus, und wir eilten alle ans Ufer und suchten die Wasseroberfläche ab. Nun war uns klar, dass etwas geschehen sein musste, denn nie-mand kann sich so lange unter Wasser halten. Miss Stamm packte mich heftig am Arm, aber ich schüttelte sie ab, eilte zum Sprungbrett und tauchte an derselben Stelle, an der Montague verschwunden war.« Leland presste die Lippen zusammen und blickte zur Seite.

»Ich schwamm nach unten, so gut ich konnte. Dann tauchte ich auf, um Luft zu schöpfen, ging aber kurz darauf wieder nach unten. Als ich zum zweiten Mal nach oben kam, sah ich direkt neben mir einen Mann

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im Wasser und glaubte im ersten Augenblick, es wäre Montague. Aber es war nur Tatum, der auch nach Montague suchte. Dann bemerkte ich Greeff im Was-ser, aber er konnte nicht viel ausrichten, weil er ein schlechter Schwimmer ist. Wir blieben mindestens zwanzig Minuten im Teich, dann gaben wir es auf.«

»Was dachten Sie denn über den ganzen Vorfall?«, fragte Vance, ohne aufzusehen. »Hatten Sie sofort je-mand in Verdacht?«

Leland zögerte einen Augenblick. »Ich kann jetzt nicht mehr sagen, was ich in dem Moment dachte, aber ich war ganz außer mir und hatte das Gefühl, dass ich ins Haus gehen und mit der Polizei telefonieren müs-ste. Vielleicht kam das daher, dass ich mich in diesem Augenblick an all die Gerüchte erinnerte, die über den Drachenteich kursieren. Als ich noch ein Kind war, er-zählte mir meine Mutter verschiedene merkwürdige Dinge …«

»Ja, ja, ich weiß, es wird manches Märchen davon berichtet«, entgegnete Vance, und seine Stimme klang

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etwas ironisch. »Wie verhielten sich denn die Damen nach dem Unglücksfall?«

»Miss Stamm hatte sich auf die Brüstungsmauer am Ufer gesetzt. Sie verbarg das Gesicht in den Händen und schluchzte krampfhaft. Ich glaube nicht, dass sie uns überhaupt bemerkte oder auch nur wusste, was um sie her vorging. Sie schien sehr verängstigt zu sein. Miss Steele stand dicht neben ihr, hatte den Kopf zu-rückgeworfen und rang die Hände …«

»Klingt, als habe sie für die Rolle der Iphigenie auf Aulis vorspielen wollen. Und was können Sie von Mrs. McAdam berichten?«

Leland runzelte die Stirn. »Als Montague nicht mehr an die Oberfläche kam, stieß sie einen marker-schütternden Schrei aus, aber als ich nachher aus dem Wasser stieg, war sie vom Ufer zurückgetreten und stand ruhig und kühl unter einer der großen elektri-schen Lampen, als ob nichts Außergewöhnliches ge-schehen wäre. Sie sah über das Wasser hinüber, als ob ihre Gedanken in der Ferne weilten und sie keiner der anderen mehr interessierte. Ein hartes Lächeln lag um

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ihren Mund. Ich sagte ihr, dass wir Montague nicht ge-funden hatten. Warum ich gerade sie und keinen der anderen ansprach, kann ich mir nicht erklären. Ohne den Blick vom jenseitigen Ufer zu wenden, entgegnete sie: ›Also, das wäre das.‹«

Auf Vance machte dieser Bericht wenig Eindruck. »Und daraufhin sind Sie ins Haus gegangen und haben telefoniert?«

»Ich sagte den anderen, dass sie sich anziehen und sofort ins Haus zurückkehren sollten. Nachdem ich die Polizei angerufen hatte, ging ich zum Umziehen in die Badekabine.«

»Und wer hat den Arzt über Stamms Zustand infor-miert?«

»Ich. Als ich zuerst ins Haus kam, um zu telefonie-ren, ging ich nicht in die Bibliothek. Ich suchte Stamm erst auf, nachdem ich meine Sachen wieder angezogen hatte. Ich hoffte, dass er nun nüchtern genug sein wür-de, die Tragweite des Vorfalls zu erfassen. Aber ich fand ihn bewusstlos, und die Flasche, die auf dem klei-nen Tisch neben dem Schreibtisch stand, war vollkom-

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men leer. Ich tat, was ich konnte, um ihn zu sich zu bringen, hatte aber keinen Erfolg.« Leland machte eine Pause.

»Ich hatte Stamm noch nie sinnlos betrunken gese-hen, und ich war entsetzt über seinen Zustand. Er konnte kaum atmen und hatte eine grauenvolle Ge-sichtsfarbe. Bernice kam in dem Augenblick herein, und als sie ihren Bruder wie leblos im Sessel sitzen sah, rief sie: ›Er ist auch tot! Ach, mein Gott!‹ Sie war so er-regt, dass sie ohnmächtig zu Boden sank, bevor ich sie stützen konnte. Ich ließ sie in der Obhut von Mrs. McAdam, die äußerst ruhig und kaltblütig blieb, und rannte sofort zum Telefon, um Dr. Holliday zu rufen. Er ist seit vielen Jahren der Hausarzt und wohnt in der 207. Straße, ganz hier in der Nähe. Ich hatte Glück, dass ich ihn zu Hause antraf, und er kam auch bald darauf.«

Im hinteren Teil des Hauses wurde eine Tür laut zugeschlagen, und gleich darauf näherte sich jemand mit schweren Schritten dem Wohnzimmer. Einige Se-kunden später erschien Detective Hennessey.

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Er nickte Markham kurz zu, dann wandte er sich erregt an den Sergeant.

»Unten am Teich ist etwas passiert«, sagte er und zeigte mit dem Daumen über die Schulter. »Ich hielt beim Sprungbrett Wache, wie Sie angeordnet hatten, und rauchte gerade eine Zigarre, als ich plötzlich ein sonderbares Geräusch auf der Spitze der Klippen am anderen Ufer hörte. Dann fiel mit furchtbarem Getöse etwas in den Teich. Es klang, als ob eine ganze Wagen-ladung von Ziegelsteinen ins Wasser gestürzt wäre. Ich wartete noch ein paar Minuten, ob sonst noch etwas geschehen würde, aber dann hielt ich es für besser, ins Haus zu gehen und Ihnen Meldung darüber zu ma-chen.«

»Haben Sie etwas gesehen?«, fragte Heath etwas gereizt.

»Nein, nicht das Geringste, Sergeant«, entgegnete Hennessey mit Nachdruck. »Am anderen Ufer ist es ganz dunkel, und ich bin nicht auf dem kleinen Lauf-steg über den Filter gegangen, weil Sie sagten, dass niemand das Ufer dort betreten sollte.«

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»Ich habe angeordnet, dass keiner dorthin gehen soll«, erklärte der Sergeant, »weil ich morgen bei Ta-geslicht die Stelle noch einmal genau nach Fußspuren absuchen will.«

Er wandte sich wieder an Hennessey. »Was für ein Geräusch war es Ihrer Meinung nach?«

»Das kann ich auch nicht sagen.«

Leland erhob sich und trat einen Schritt auf den Sergeant zu. »Verzeihung, ich kann Ihnen vielleicht eine Erklärung geben. Verschiedene große Felsblöcke hatten sich an der Spitze der Klippe gelockert, und ich befürchtete schon seit langem, dass sie in den Teich stürzen könnten. Erst heute Morgen bin ich mit Mr. Stamm hinaufgestiegen, und wir haben uns die Stelle genau angesehen. Wir versuchten sogar, die Felsblöcke nach unten zu stoßen, aber es gelang uns nicht. Es ist leicht möglich, dass der andauernde Regen heute Abend die Erde aufgeweicht hat, so dass sie hinabroll-ten.«

Vance nickte. »Das klingt zumindest logisch.«

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»Vielleicht verhält es sich so«, gab Heath zögernd zu. Hennesseys Bericht hatte ihn ziemlich verwirrt. »Aber warum ausgerechnet heute Abend?«

»Mr. Leland hat uns doch eben erzählt, dass er mit Mr. Stamm versuchte, die Steine zu lockern. Der Regen hat das übrige getan, und nun ist ein Block in die Tiefe gestürzt.«

Heath kaute wütend an seiner Zigarre, dann schick-te er Hennessey mit einer Handbewegung aus dem Zimmer: »Gehen Sie auf Ihren Posten zurück. Wenn sich noch etwas am Teich ereignen sollte, kommen Sie sofort her und berichten es.«

Hennessey verschwand. Aber es kam mir vor, als ob er sich nicht gerade sehr beeilte.

Markham hatte während der ganzen Zeit gelang-weilt zugehört. Als Hennessey fortgegangen war, erhob er sich. »Ich verstehe nicht, was Sie hier eigentlich wollen, Vance«, sagte er gereizt. »Ich gebe ja zu, dass vielleicht manches ungeklärt ist und zu Vermutungen Anlass geben kann, aber all dieses Gerede von sonder-baren Gerüchten scheint mir doch recht weit herge-

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holt zu sein. Wahrscheinlich haben die Leute die Ner-ven verloren. Wir gehen am besten nach Hause und überlassen es dem Sergeant, den Fall in der üblichen Weise zu untersuchen. Meiner Meinung nach lag kei-nerlei Absicht vor, Montague umzubringen, schließlich hat er selbst vorgeschlagen, ein Bad zu nehmen. Er ist auch ins Wasser gesprungen und verschwunden, wäh-rend alle anderen zuschauten.«

»Aber mein lieber Markham«, protestierte Vance, »Sie sind in solchen Dingen immer zu logisch. Das kommt natürlich durch Ihre juristische Ausbildung. Aber die Welt wird nun einmal nicht durch Logik re-giert, und ich folge lieber meinem Gefühl.«

»Was schlagen Sie denn vor?«, entgegnete Mark-ham ärgerlich.

»Fragen Sie den Doktor nach dem Befinden des Hausherrn«, entgegnete Vance mit einem entwaffnen-den Lächeln.

»Was kann denn Stamm mit der ganzen Sache zu tun haben? Er war doch vollständig unbeteiligt daran!«

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Heath war ungeduldig aufgestanden und zur Tür gegangen.

»Ich werde den Arzt rufen«, sagte er und ging hin-aus in die dunkle Halle.

Ein paar Minuten später kehrte er mit einem älte-ren Herrn zurück, der einen kurzgeschnittenen Bart trug. Der Doktor neigte zu Korpulenz und bewegte sich ziemlich unsicher, machte aber einen vertrauener-weckenden Eindruck.

Vance erhob sich, um ihn zu begrüßen, und erklärte kurz, aus welchem Grund er gekommen war. »Mr. Le-land hat uns eben von dem unglücklichen Zustand er-zählt, in dem sich Mr. Stamm befindet. Wir möchten nun gern wissen, wie es ihm zurzeit geht, und ob er bald wieder zu sich kommt.«

»Die Sache verläuft ganz normal!«, entgegnete der Doktor. »Als ich herkam, fand ich Mr. Stamm in be-wusstlosem Zustand. Ich hörte, wieviel Whisky er seit dem Abendessen getrunken hatte, und gab ihm sofort eine große Dosis Apomorphin. Darauf musste er sich übergeben, und dann schlief er ruhig ein. Eine so

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schwere Alkoholvergiftung habe ich allerdings selten erlebt. Er kommt nur langsam zu sich, und ich war ge-rade im Begriff, eine Krankenschwester ins Haus zu bestellen, als ich hörte, dass Sie mich sehen wollten.«

Vance nickte verständnisvoll.

»Können wir jetzt mit Mr. Stamm sprechen?«

»Etwas später geht es vielleicht. Wenn ich ihn erst oben zu Bett gebracht habe, können Sie ihn sehen. Aber Sie werden begreifen«, fügte er hinzu, »dass er noch ziemlich schwach ist.«

Vance dankte ihm kurz. »Würden Sie so freundlich sein und uns Bescheid sagen, wenn es so weit ist?«

Der Doktor nickte und wandte sich zum Gehen.

»In der Zwischenzeit«, sagte Vance zu Markham, »halte ich es für angebracht, dass wir uns einmal kurz mit Miss Stamm unterhalten. Sergeant, könnten Sie die junge Dame rufen?«

»Warten Sie einen Augenblick«, warf der Doktor ein und drehte sich in der Tür noch einmal um. »Ich möchte Sie bitten, Miss Stamm jetzt nicht zu stören.

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Als ich kam, war sie sehr aufgeregt über das unglückli-che Ereignis, deshalb gab ich ihr eine starke Dosis Bro-mid und sagte ihr, dass sie sich zur Ruhe legen sollte. Vielleicht können Sie die Unterredung bis morgen ver-schieben.«

»Natürlich«, entgegnete Vance.

Der Doktor ging in die Halle, und gleich darauf hör-ten wir, dass er am Telefon eine Nummer wählte.

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