Konstanze Baron Diderots Erzählungen · Ethik verbunden. Unser gemeinsames Seminar „Diderot –...

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Konstanze Baron Diderots Erzählungen

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Konstanze BaronDiderots Erzählungen

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Laboratorium Aufklärung

Herausgegeben von

Olaf Breidbach, Daniel Fulda, Hartmut Rosa

Wissenschaftlicher Beirat

Heiner Alwart (Jena), Harald Bluhm (Halle), Ralf Koerrenz (Jena), Klaus Manger (Jena), Stefan Matuschek (Jena), Gisela

Mettele (Jena), Georg Schmidt (Jena), Hellmut Seemann (Weimar), Udo Sträter (Halle), Heinz Th oma (Halle)

Band 17

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Konstanze Baron

Diderots Erzählungen

Die Charaktergeschichte als Medium der Aufklärung

Wilhelm Fink

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Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG WORT.

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© 2014 Wilhelm Fink, Paderborn(Wilhelm Fink GmbH & Co. Verlags-KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn)

Internet: www.fi nk.de

Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, MünchenPrinted in Germany

Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn

ISBN 978-3-7705-5471-3

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INHALTSVERZEICHNIS

VORWORT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

0. EINLEITUNG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13

0.1 Th ema und Th esen der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13

0.2 Zum Gegenstand: Die Erzählungen im Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . 16

0.3 Die moralphilosophische Auseinandersetzung mit Diderot . . . . . . . . . 21

0.4. Diderots Stellung in der literaturwissenschaftlichen Forschung . . . . . . 25

0.5. Weiterführende Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29

0.6. Zum Ansatz: ‚Refl exiver Realismus‘ als Verbindung von Ethik und Ästhetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33

0.7. Einige Anmerkungen zum Vorgehen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38

TEIL I: THEORETISCHE GRUNDLAGEN

1. DIE ERZÄHLUNG ALS KRITIK DES MORALISCHEN URTEILS . . . . 43

1.1 Merkmale des moralischen Urteils. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45

1.2 Diderots Kritik: Das moralische Urteil als Vorurteil und als Fiktion . . . 49 1.2.1 Das moralische Urteil als Vorurteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 1.2.2 Das moralische Urteil als Fiktion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 1.2.3 Zwei Varianten der Refl exion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58

1.3 Eine klassische Unterscheidung: physis vs. nomos . . . . . . . . . . . . . . . . . 63

2. NATURBEGRIFF UND REALITÄTSVERSTÄNDNIS BEI DIDEROT. . . 67

2.1 Der Naturbegriff in den dramentheoretischen Schriften . . . . . . . . . . . 69 2.1.1 Sittliche Natur als paradoxes Schauspiel (Jauß) . . . . . . . . . . . . 69 2.1.2 Materielle Grundlagen der Sittlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72

2.2 Das Naturbegriff in den naturphilosophischen Schriften. . . . . . . . . . . 78 2.2.1 Die lebendige Materie (nature animée vs. nature morte) . . . . . . 79

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2.2.2 Dispositive/Dispositionen der Erkenntnis (expérience und observation) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 2.2.3 Die Kommunikation der Naturphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . 89

3. DIE POETIK DES CHARAKTERS IM WERK DIDEROTS . . . . . . . . 93

3.1 Begriffl iches: Etymologie, Traditionen, Transformationen . . . . . . . . . . 95 3.1.1 Charakter als Ethos: Die antike Tugendlehre. . . . . . . . . . . . . . . 97 3.1.2 Charakter als Gattung: Die Tradition der Moralistik . . . . . . . . 100 3.1.3 Charakter und Genie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105

3.2 Die moralphilosophische Problematik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 3.2.1 Genie und soziale Norm: Das Beispiel Racine . . . . . . . . . . . . . 110 3.2.2 Charakter als Determination: Die Aporien des moral sense . . . . 114 3.2.3 Charakter als Freiheit: Von der Responsivität zur Selbstgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 3.2.4 Schicksal und Charakter: Der Kasus Pommeraye . . . . . . . . . . . 125

3.3 Vom Wesen zur Wirkung: Der Charakter als Resonanzraum. . . . . . . . 131 3.3.1 Der Charakter des Lesers in der Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . 133 3.3.2 Le Neveu de Rameau als wirkungsästhetisches Programm . . . . . 136

4. DIE CHARAKTERISTIK DER ERZÄHLUNGEN . . . . . . . . . . . . . . . 141

4.1 Charaktere auf der Ebene der Motive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 4.1.1 Charaktere lesen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 4.1.2 Charaktere gestalten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 4.1.3 Der Prozess der Charaktere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 4.1.4 Caractère und condition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 4.1.5 Die unheimliche Macht der Charaktere . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156

4.2 Charaktere auf der Ebene der Struktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 4.2.1 Der Charakter als Gegenpol zum moralischen Urteil (Figur) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 4.2.2 Der dramatisierte Erzähler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 4.2.3 Fiktiver und impliziter Leser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 4.2.4 Die Medialität der Charaktere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171

4.3 Diderots Erzählungen im Gattungssystem des 18. Jahrhunderts . . . . . 174 4.3.1 Defi nitionsfragen: Conte oder nouvelle? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 4.3.2 Grenzverhandlungen: Zwischen conte philosophique und conte moral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 4.3.3 Die Erzählung als Refl exions- und Interaktionsform . . . . . . . . 183 4.3.4 Die Eigenart der Charaktergeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187

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TEIL II: ANALYSE DER ERZÄHLUNGEN

5. DIE KRISE DER GATTUNG UND DAS PROGRAMM DES REFLEXIVEN REALISMUS (CECI N’EST PAS UN CONTE) . . . . . 193

5.1 Abkehr von alten Erzählformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195

5.2 Der Prozess der Norm: Urteil vs. Charakter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199

5.3 Das Problem des Schicksals: Ironie und Moral . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 5.3.1 Die Moral der Geschichte, die keine ist . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 5.3.2 Die Fatalität der Gefühle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 5.3.3 Die Gewissensfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213

5.4 Pragmatisierungen: Die Rolle des fi ktiven Zuhörers . . . . . . . . . . . . . . 215 5.4.1 Die Rolle des Zuhörers im Text . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 5.4.2 Der Leser als (An-)Teilnehmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 5.4.3 Der Charakter des Erzählens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222

6. AUFKLÄRERISCHE URTEILSPRAXIS UND KRITIK DER ÖFFENTLICHEN MEINUNG (MADAME DE LA CARLIÈRE) . . . 225

6.1 Der Prozess der öff entlichen Meinung: Kritik und Rechtfertigung . . . 227 6.1.1 Das Treueversprechen der Madame de La Carlière . . . . . . . . . . 229 6.1.2 Die Rechtfertigung des Monsieur Desroches . . . . . . . . . . . . . . 232 6.1.3 Prozess und Prozessualität des jugement public . . . . . . . . . . . . . 235

6.2 Aufklärung als erzählerisches Experiment . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 6.2.1 Die Gesetze der öff entlichen Meinung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 6.2.2 Die Rolle der Fiktion im aufklärerischen Erzählexperiment . . . 243 6.2.3 Zeit als Faktor und die Autoregulation der Systeme . . . . . . . . . 247

7. DER URSPRUNG DER VERBINDLICHKEIT: NATUR UND KULTUR IM KONFLIKT (SUPPLÉMENT AU VOYAGE DE BOUGAINVILLE) . . . 249

7.1 Die Struktur der Argumentation: Assertion und Revokation der Idylle. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 7.1.1 Die Idylle von Tahiti . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 7.1.2 Die Revokation der Idylle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 7.1.3 Verkehrte Verhältnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260

7.2 Die Funktion der Utopie: Kritik der Zivilisation und der Natur . . . . . 263 7.2.1 Utopie als heuristische Fiktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 7.2.2 Das Gesetz der Natur als Quelle der Verbindlichkeit . . . . . . . . 268

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7.2.3 Leben mit dem Widerspruch: Diderots moralischer Realismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272

8. DIDEROT UND DIE KASUISTIK DES GEWISSENS (ENTRETIEN D’UN PÈRE AVEC SES ENFANTS) . . . . . . . . . . . . . . . . 277

8.1 Diderot und das Problem väterlicher Autorität . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 8.1.1 Die Vaterfi gur in Le Père de famille. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 8.1.2 Vater und Sohn in Entretien d’un père avec ses enfants . . . . . . . . 285

8.2 Kasus-Variationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 8.2.1 Selbst-Gerechtigkeit als moralische Versuchung . . . . . . . . . . . . 290 8.2.2 Standesmoral und Berufsethik – Die Rolle der idiotismes moraux . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293

8.3 Die Weisheit des Philosophen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 8.3.1 Der Konfl ikt von Recht und Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . 298 8.3.2 Die Tugend der Diskretion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300

9. DER EINSATZ DER LITERATUR: ERKENNTNIS UND INTERESSE (LES DEUX AMIS DE BOURBONNE) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305

9.1 Werteverhandlungen zwischen Ethik und Ökonomie . . . . . . . . . . . . . 307 9.1.1 Félix und Olivier als Heroen der Freundschaft . . . . . . . . . . . . . 309 9.1.2 Rezeptionen: Die Leserin als falsche Freundin . . . . . . . . . . . . . 312 9.1.3 Das (Eigen-)Interesse des Textes und die Medialität des Erzählens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315

9.2 Ästhetik des Eigentümlichen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 9.2.1 Der conte historique als Eff ekt literarischer Hybridisierung . . . . 321 9.2.2 Gegen eine Poetik der Integrität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 9.2.3 Die Freundschaft zwischen Ideal und Wirklichkeit . . . . . . . . . 329 9.2.4 Kontexte: Diderots literarischer Pragmatismus . . . . . . . . . . . . . 332

10. AUFKLÄRUNG ALS CHARAKTER-SPIEL: PERFORMANZ UND REFLEXION (MYSTIFICATION). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337

10.1 Die Dialektik von Täuschung und Enttäuschung . . . . . . . . . . . . . . . . 339 10.1.1 Mystifi kation als Produktion von Unentscheidbarkeit . . . . . . . 341 10.1.2 Das Scheitern der Intrige und das Geheimnis der Charaktere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346

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9INHALTSVERZEICHNIS

10.1.3 Die (Ent-)Mystifi zierung des Lesers: Vom Refl ex zur Refl exion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350

10.2 Anstöße des Denkens: Die Mystifi kation als Medium der Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 10.2.1. Diderots Schock-Th eorie im Kontext der zeitgenössischen Physik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354 10.2.2 Paradoxe Kommunikation: Der Text als Schauspieler. . . . . . . . 357 10.2.3 Die Rolle des Erzählens: Mittel oder Selbstzweck? . . . . . . . . . . 361

11. ZUSAMMENFASSUNG UND AUSBLICK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367

LITERATURVERZEICHNIS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377

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VORWORT

Die vorliegende Arbeit ist in einer Phase des persönlichen und institutionellen Übergangs von Konstanz am Bodensee nach Halle an der Saale entstanden. Das Buch versucht, diesen beiden sehr verschiedenen Kontexten auc h methodisch gerecht zu werden. Angefangen hat alles mit einem Forschungsvorhaben zur Meta-physik des Gewissens in Literatur und Philosophie. Auf der Suche nach materieller Erdung bin ich dann auf den Charakter bei Diderot gestoßen. Damit schien ein solider Anker für die Frage nach den Grundlagen der Moral gefunden zu sein. Doch erwies sich der Charakter – zumindest derjenige Diderots – als weitaus kap-riziöser als zunächst gedacht. Der Charakter, so wurde klar, erschöpft sich nicht im Wesen, sondern realisiert sich im Tun, d.h. konkret in seiner Wirkung auf einen Anderen (Leser, Betrachter, Rezipienten o.ä.), dem er strukturell verbunden ist. Als solcher steht er ganz zu Recht im Zentrum von Diderots interaktionistischem Kon-zept von Aufklärung. Aber der Charakter ist bei Diderot nicht nur Mittel der Auf-klärung, er gibt ihr auch – in den Erzählungen – eine ganz bestimmte Form. So hat nicht nur die literarische Poetik Einzug in diese Arbeit gehalten; es war auch die Formel von der Charaktergeschichte als Medium der Aufklärung gefunden.

Mein persönlicher Dank gilt all jenen, die sowohl am Graduiertenkolleg „Die Figur des Dritten“ als auch am „Interdisziplinären Zentrum für die Erforschung der Europäischen Aufklärung“ diese Arbeit begleitet und unterstützt haben, allen voran natürlich meiner Doktormutter Ulrike Sprenger (Konstanz) und meinem Hallenser Betreuer und Zweitgutachter Heinz Th oma. Michael Schwarze (Kons-tanz) hat freundlicherweise das dritte offi zielle Gutachten übernommen. In einer frühen Phase wurde dieses Projekt durch ein Stipendium der DFG gefördert. Im Anschluss daran habe ich ein Stipendium des Transatlantischen Netzwerkes der Universität Konstanz erhalten, für dessen Vermittlung ich Albrecht Koschorke zu großem Dank verpfl ichtet bin. Dieses Stipendium hat mir nicht nur ermöglicht, mich an der Johns Hopkins University in Baltimore ein Jahr lang unter hervorra-genden Arbeitsbedingungen auf mein Projekt zu konzentrieren; es hat mir auch erlaubt, mit neuer Intensität in die internationale Diderot-Forschung einzutauchen und dabei insbesondere von der direkten Zusammenarbeit mit Wilda Anderson zu profi tieren. In Halle wiederum gilt mein besonderer Dank Daniel Fulda, der mir den Raum und die Zeit gegeben hat, die für die Fertigstellung des Manuskripts nötig waren.

Arbeiten, die wie diese einen interdisziplinären Charakter affi chieren, sind in besonderem Maße darauf angewiesen, auch von der jeweils ‚anderen‘ Disziplin anerkannt und beraten zu werden. In diesem Sinne bin ich Anna Kusser (Kons-tanz) für zahlreiche Anregungen und Hinweise im Bereich der philosophischen Ethik verbunden. Unser gemeinsames Seminar „Diderot – Erzähler und Philo-soph“ gehört auch in persönlicher Hinsicht zu den schönsten Erinnerungen im Zusammenhang mit dieser Arbeit. Gisela Schlüter (Erlangen), die gleichfalls das

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12 VORWORT

Interesse an literarisch-philosophischen Th emen teilt, hat mich eingeladen, erste Ergebnisse dieser Arbeit im Rahmen ihrer Vorlesung über die französische Aufklä-rung zu präsentieren. Ich danke ihr sehr für ihre klugen Nachfragen, die mich bei der Überarbeitung begleitet haben, sowie für die vertrauensvolle Aushändigung eines unveröff entlichten Manuskripts. Janine Gürtler sei für ihre Mitarbeit beim Lektorat nun auch noch einmal in schriftlicher Form gedankt.

Mit diesem Buch fi ndet zugleich eine lange Phase der akademischen Ausbildung ihren Abschluss, und so ist dies auch der Moment, all jener ‚guten Geister‘ zu gedenken, die mir in dieser Zeit zur Seite gestanden haben, die mich herausgefor-dert, getröstet und inspiriert haben. Natürlich wäre das alles nicht möglich gewe-sen ohne die zuverlässige Unterstützung meiner Eltern, Ursula und Michael Baron. Ihnen ist dieses Buch daher gewidmet.

Die vorliegende Arbeit wurde im Dezember 2010 unter dem Titel „Diderots Erzäh-lungen. Die Problemnovelle im Spannungsfeld von Moralphilosophie und ästheti-scher Praxis“ am Fachbereich Literaturwissenschaft der Universität Konstanz zur Promotion angenommen und im darauff olgenden Jahr mit dem „Preis der Stadt Konstanz für die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses an der Universi-tät Konstanz“ ausgezeichnet. Das Manuskript wurde für die Veröff entlichung noch einmal überarbeitet.

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0 EINLEITUNG

0.1 Th ema und Th esen der Arbeit

Eine philosophische Ethik hat Diderot, obwohl ihn das Th ema zeitlebens beschäf-tigte, nicht vorgelegt. Zu groß war wohl, wie er selbst in seiner Réfutation d’Helvétius darlegt, die Angst, sich in Widersprüche zu verwickeln und damit am Ende womög-lich gar dem Laster das Wort zu reden:

[S]’il y a des questions en apparence assez compliquées qui m’ont paru simples à l’examen; il y en a de très simples en apparence que j’ai jugées au-dessus de me forces. Par exemple, je suis convaincu que, dans une société même assez mal ordonnée que la nôtre, où le vice qui réussit est souvent applaudi, et la vertu qui échoue presque tou-jours ridicule, je suis convaincu, dis-je, qu’à tout prendre, on n’a rien de mieux à fai-re pour son bonheur que d’être un homme de bien; c’est l’ouvrage, à mon gré, le plus important et le plus intéressant à faire; c’est celui que je me rappellerais avec le plus de satisfaction, dans mes derniers moments; c’est une question que j’ai méditée cent fois et avec toute la contention d’esprit dont je suis capable; j’avais, je crois, les données nécessaires. Vous l’avouerai-je? je n’ai pas même osé prendre la plume pour en écrire la première ligne. Je me disais, Si je ne sors pas victorieux de cette tentative, je deviens l’apologiste de la méchanceté. J’aurai trahi la cause de la vertu. J’aurai encouragé l’homme au vice. Non, je ne me sens pas bastant pour ce sublime travail. J’y consac-rerais inutilement toute ma vie.1

Die Passage illustriert sehr anschaulich die Schwierigkeit, die Diderot zu schaff en macht: Der philosophe ist zwar grundsätzlich der Meinung, dass es für das Glück eines Menschen gar nichts Besseres gebe, als ein tugendhaftes, moralisch-gutes Leben zu führen. Gleichwohl sei es ihm nicht gelungen, diese Überzeugung vom notwendigen Zusammenhang von Tugend und Glück auch theoretisch zu begrün-den. Aus Sorge, er könne an seinem philosophischen Vorsatz scheitern, habe er es daher vorgezogen, das schwierige Th ema zu meiden und sich fortan anderen Auf-gaben zu widmen.

Nun weiß jeder, der Diderots Schriften kennt, dass dessen Aussage, er habe „nie-mals auch nur die erste Zeile“ einer Ethik verfasst, nicht ganz richtig ist. Diderot ist unbestritten einer der großen Moral-Denker (d.h. Moralisten und Moralphiloso-phen) des 18. Jahrhunderts; doch seine Ansichten zur Moral fi nden sich nicht in einem zusammenhängenden Traktat niedergelegt, sondern verstreut an ganz ver-schiedenen Stellen seines Werkes, v.a. seines literarischen. Wenn Diderot somit kei-ne ‚Lösung‘ für das soeben beschriebene Problem gefunden hat, so hat sich ihm doch off enbar – an anderer Stelle, in anderer Form – ein Ausweg eröff net. Das legt auch

1 Réfutation suivie de l’ouvrage d’Helvétius intitulé L’Homme, in: Denis Diderot, Œuvres complètes, éd. critique par Jean Fabre, Herbert Dieckmann, Jacques Proust et Jean Varloot, Paris: Hermann 1975 sqq. (Im Folgenden abgekürzt als DPV), Bd. XXIV, S. 589.

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14 EINLEITUNG

die Fortsetzung der Passage aus der Antwort auf Helvétius nahe. Unmittelbar an den zitierten Ausschnitt schließt nämlich folgender Absatz an:

Voulez-vous une question plus simple? La voici. Le philosophe appelé au tribunal des lois, doit-il ou ne doit-il pas avouer ses sentiments, au péril de sa vie. Socrate fi t-il bien ou mal de rester dans la prison? Et combien d’autres questions qui appartiennent plus au caractère qu’à la logique!2

Die Strategie, die an dieser Stelle erkennbar wird, ist in gewisser Weise repräsenta-tiv für Diderots Vorgehen: Er bricht die theoretische Diskussion – hier: die Diskus-sion über die Bedingungen der Möglichkeit einer philosophischen Ethik – ab und wendet sich stattdessen einer Reihe von praktischen Fragen („Le philosophe doit-il…“) zu, die er dann anhand eines Beispiels („Sokrates“) noch weiter konkretisiert. So wird die zunächst reichlich abstrakte Problematik anschaulicher und für den Leser besser fassbar. Am Ende schließt er mit einem Ausruf, der als wegweisend für die vorliegende Untersuchung gelten darf: „Combien de questions qui appartiennt plus au caractère qu’à la logique!“

Nicht die Th eorie löst die Probleme der Moral, oder: moralische Fragen lassen sich nicht theoretisch klären, behauptet Diderot also, und führt stattdessen eine andere Kategorie ins Feld, von der er sich mehr Gewissheit erhoff t: die des Charak-ters. Moralische Fragen sind in Diderots Augen Charakterfragen. Nun hängt natür-lich viel davon ab, wie man den Begriff des ‚Charakters‘ hier versteht. Diderot scheint damit vor allem einen Bezug zur Praxis bzw. zur Lebenswelt intendiert zu haben: Moralische Fragen, so hieße das dann, können nicht mit dem Verstand gelöst, sondern müssen vom oder im Leben selbst beantwortet werden; jeder ‚Fall‘ verlangt nach einer eigenen Lösung.3 Darüber hinaus wird der Charakter in dieser Passage ausdrücklich als Alternative zur Logik (d.h. zur reinen Th eorie) in Stellung gebracht: Er bezeichnet die sittliche Substanz, das sittliche Wesen (physis) der Men-schen, das in seiner Komplexität nicht auf das moralische Gesetz (als thesis) redu-ziert werden kann. Schließlich beachte man auch die Art der Darstellung: Mit dem Charakter verbunden ist ein Verweis auf Geschichte(n), also zunächst auf eine his-torische Persönlichkeit (Sokrates), sowie darüber hinaus der Versuch, Fragen der Moral insgesamt auf narrative Weise anzugehen. Moralische Problemfälle werden, so scheint es letztlich, weniger gelöst als vielmehr erzählt, sie müssen in Geschichten gekleidet werden, die den Kern des Problems erfassen („Voulez-vous une question plus simple…“) und den Rezipienten zum (Nach- oder Selber-)Denken anregen.

So macht die zitierte Textstelle aus der Réfutation d‘Helvétius einen philoso-phisch-denkerischen Gestus sichtbar, der durchaus typisch ist für Diderots Werk, wo immer sich dieses mit moralischen Fragen beschäftigt. Auf die ethische Begrün-dungsproblematik reagiert der Aufklärer mit einer ‚mise-en-narration‘ der Moral,

2 DPV XXIV, 590. 3 Diderot steht damit in einer philosophischen Tradition, die Moral und insbesondere moralische

Entscheidungen nur unter Bedingungen der Unsicherheit kennt. Rainer Schüßler hat diesem Phänomen eine umfangreiche Studie gewidmet, aber leider Diderot nicht darin einbezogen. Vgl. Schüßler, Moral im Zweifel, 2 Bde., Paderborn 2003 und 2006.

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die jedoch ihrerseits nicht theoretisch unbedarft ist, sondern lediglich der ‚Logik‘ eine andere Kategorie entgegenstellt: die des Charakters. Est-il bon? Est-il méchant?4 – das ist für Diderot gewissermaßen die Kernfrage aller Moral; sie zielt direkt ins Herz des Charakters. Auf die Begründungsproblematik der philosophischen Ethik antwortet Diderot also mit dem Charakter, genauer gesagt, mit einer jeweils spezi-fi schen Charaktergeschichte. Allerdings ist damit noch keine ‚Lösung‘ des Problems im klassischen Sinne impliziert. Denn der Charakter steht bei Diderot für die menschliche Natur in ihrer ganzen Bandbreite; die Charaktere, das sind die Men-schen, wie sie wirklich sind, und zwar in ihrer konkreten Mannigfaltigkeit und Vielheit. Die Frage Est-il bon? Est-il méchant? mag somit zwar an den moralischen Richter in uns appellieren; doch sie gibt uns kein Gesetz an die Hand, mit Hilfe dessen wir ein begründetes Urteil fällen könnten.

Die Tatsache, dass Diderots moralphilosophisches Denken wesentlich um Fragen des Charakters kreist, bringt somit nur scheinbar eine Reduktion von Komplexität mit sich. In Wirklichkeit eröff net der Charakterbegriff – im 18. Jahrhundert noch weitaus mehr als heute – eine große semantische Vielfalt und Off enheit. Natürlich ist mit dem Charakter (gr. „ethos“) zunächst ein zentrales Element der antiken Ethik aufgerufen, die im Gegensatz zur modernen Regel- eine Tugendethik ist. Die Vorbild-funktion antiker Philosophen für Diderot ist gut belegt.5 Homme de théâtre, der er war, wird Diderot jedoch auch an die antike Poetik und deren Konzept der ‚Maske‘ („persona“) gedacht haben. Dieses sieht den Charakter in erster Linie unter drama-tisch-performativen Vorzeichen, nämlich als Rolle. Dadurch gewinnt der Charakter eine strukturelle Mehrdeutigkeit: Er ist, was er ist (d.h. ein moralisches Faktum oder Schicksal), und dabei doch stets auch der Ironie fähig. Er kann folglich das wahre Wesen eines Menschen ebenso bezeichnen wie dessen öff entliche Repräsentation oder Darstellung. Das wiederum hat mit seiner Bedeutung als Bild oder Zeichen (Typus) zu tun. In seiner Eigenschaft als Autor und Mitherausgeber der Encyclopédie hat sich Diderot mit der Bedeutung und Funktionsweise von (Drucker-)Typen auseinander-gesetzt – ein Th ema, dessen anthropologische Dimen sion ihm und seinen Zeitgenos-sen auch durch das Erbe der Moralistik geläufi g war. Schließlich eignet dem Charak-ter im zeitgenössischen Vokabular sogar eine magische Qualität, die jedoch einen Aufklärer vom Schlage Diderots mehr gereizt als abgeschreckt haben dürfte.6

Gerade die semantische Ambivalenz ist es also, die Diderot am Begriff des Cha-rakters fasziniert haben dürfte. Zu der Ersetzung von ‚logique‘ durch ‚caractère‘ bei Diderot lassen sich somit bereits an dieser Stelle einige Th esen formulieren, die den Gang der nachfolgenden Untersuchung bestimmen werden. Der Übersicht halber und zur besseren Strukturierung halten wir diese hier in pointierter Form fest:

4 So auch der Titel eines von Diderot verfassten Theaterstücks. 5 U.a. Jean Seznec, Essais sur Diderot et l’antiquité, Oxford 1957. Die jüngere Forschung beschäftigt

sich vor allem mit dem Verhältnis Diderots zu Seneca. Vgl. Laurence Mall, „Une autobiolecture. L’Essai sur les règnes de Claude et de Néron de Diderot“, Diderot Studies 28 (2000), S. 111-122.

6 An dieser Stelle kann allenfalls ein kursorischer Überblick über die Bedeutungsfacetten des Be-griffs gegeben werden. Es wird die Aufgabe der Kapitel 3 und 4 dieser Arbeit sein, die Semantik des Charakters genauer zu definieren und aus ihren jeweiligen Kontexten herzuleiten.

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1. Der Charakter ist ein, wenn nicht sogar der entscheidende Dreh- und Angel-punkt von Diderots Moralphilosophie. Als solcher stellt er einen Knoten-punkt von – traditionellen und zeitgenössischen – Semantiken dar, an dem sich Diderots zentrale moralphilosophischen Anliegen verhandeln lassen. Dabei ‚löst‘ der Charakter die aufgeworfenen Probleme weniger, als dass er sie überhaupt erst zu formulieren erlaubt.

2. Der Charakter kann diese zentrale Aufgabe in Diderots Denken nur erfüllen, weil er kein rein moralphilosophisches Konzept ist, sondern auch eine ästhe-tische (dramatische, performative) Komponente aufweist. Der Charakter ist nicht nur Inhalt, sondern auch Form, vor allem eine Praxis-, Darstellungs- oder Repräsentationsform. In diesem Sinne ist er überhaupt kein Konzept, auch keine Kategorie, sondern ‚Text‘.

Diese beiden Th esen sollen in der hier vorliegenden Arbeit plausibilisiert und als Instrument für die Analyse von Diderots Narrativik fruchtbar gemacht werden. Das Hauptaugenmerk der Untersuchung richtet sich dabei auf die Erzählungen, genauer gesagt jene Gruppe von Erzählungen, die Diderot in den Jahren 1768 bis 1772 geschrieben hat. Diese sollen hier auf ihre narratologischen, moralphiloso-phischen und gattungstheoretischen Aspekte hin befragt und im Hinblick auf eine mögliche Poetik des Charakters (neu) verortet werden. Gezeigt werden soll – und das wäre gleichsam eine weitere, übergreifende Th ese –, dass Diderot in seinen Erzählungen eine literarisch und philosophisch gleichermaßen überzeugende Ant-wort auf jene moralphilosophischen (Begründungs-)Fragen gefunden hat, die ihn in der Th eorie vergeblich beschäftigt haben. Also:

3. Statt eine Fingerübung des alternden Philosophen, der sich nach der Beendi-gung seiner Arbeit an der Encyclopédie endlich den vergnüglichen (aber eben auch belanglosen) Dingen des Lebens widmen konnte,7 stellen die Erzählun-gen ganz im Gegenteil den höchsten Stand der Reife seines (moral-)philoso-phischen Denkens und in gewisser Weise dessen ‚Summe‘ dar.

0.2 Zum Gegenstand: Die Erzählungen im Kontext

Nun kann man sicherlich nicht behaupten, dass Diderots Erzählungen bislang kei-ne ausreichende Beachtung gefunden hätten.8 Dem großen Zuspruch, den die Erzählungen Diderots beim lesenden Publikum insbesondere in seinem Heimat-land genießen, steht derzeit allerdings eine relativ geringe Anzahl von wissenschaft-

7 Eine Ansicht, die von der Forschung lange Zeit vertreten wurde, und in der sich die klassische Geringschätzung der Novelle als Gattung wiederspiegelt.

8 Geht man von der Editionsgeschichte aus, so zeigt sich, dass es einen ersten Höhepunkt des Inte-resses in den 60er Jahren gab, verbunden mit den Ausgaben von Jacques Proust (Quatre contes, Genève 1964) und Herbert Dieckmann (Contes, London 1963). Seither hat es in Frankreich mindestens vier Taschenbuch-Ausgaben der Erzählungen in unterschiedlichen Zusammenstel-lungen gegeben; unlängst hat Michel Delon den Band Contes et romans für die Bibliothèque de la Pléiade (Paris 2004) aufbereitet.

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lichen Studien gegenüber. Zwar gibt es kaum eine literarische Anthologie, die nicht die eine oder andere dieser Erzählungen erwähnen und dann auch auf deren beson-ders innovatives Potenzial im Rahmen der aufklärerischen Narrativik hinweisen würde.9 Doch eine wissenschaftliche Untersuchung, die diese Erzählungen aus-führlich und vor allem im Zusammenhang würdigt, steht bislang noch aus. Eine einzige größere romanistische Arbeit – von Kathrin Ackermann – ist zumindest in Teilen den Erzählungen Diderots gewidmet.10 Diese begreift sich als Beitrag zur Gattungsgeschichte der Novelle; Diderots Erzählungen erscheinen hier als Wegbe-reiter für eine realistische Novellistik, die erst im 19. Jahrhundert zur vollen Blüte gelangt.

Damit ist Ackermanns Buch repräsentativ für eine Herangehensweise, die lange bestimmt hat, wie Diderots Narrativik gelesen wurde und z.T. auch noch gelesen wird: nämlich im Zusammenhang mit einer Préhistoire du Réalisme.11 Nun ist gegen literaturgeschichtliche Darstellungen und speziell solche zur Entwicklung einer bestimmten Gattung nichts einzuwenden; sie sind geradezu unverzichtbar, will man die historischen Verlaufsformen der Literatur bzw. bestimmter literari-scher Genres einsichtig machen. Bei einem Autor wie Diderot, der sich – wie auch die Erzählung mit dem programmatischen Titel Ceci n’est pas un conte beweist – durchweg kritisch mit klassischen Gattungsnormen auseinandersetzt, steht die gat-tungsgeschichtliche Herangehensweise jedoch schon insofern vor einem Problem, als sie bei der Defi nition ihres Gegenstands Gattungsmerkmale als gegeben voraus-setzen muss, die in den fraglichen Texten gerade zur Disposition gestellt werden. Zudem tendiert diese Art von Untersuchung bisweilen dazu, Überlegungen inhalt-licher Art auszublenden oder zumindest hintanzustellen. Grundsätzlich bringt es das Primat der Diachronie mit sich, dass andere, synchrone Kontexte wie etwa – in diesem Falle – die Frage nach der Spezifi k aufklärerischen Schreibens, die Wechsel-beziehungen mit anderen Aspekten des Werkes oder auch dessen Einordnung in die wissenschaftlichen Diskussionen der Zeit aus dem Fokus geraten.

Die vorliegende Arbeit möchte sich daher um eine andere Art der Kontextuali-sierung bemühen, wobei als Referenz- bzw. Bezugspunkt in erster Linie die Erzäh-lungen, in zweiter Linie das weitere Werk Diderots und erst danach das Feld auf-

9 Stellvertretend für die gattungsgeschichtlichen Übersichten sei hier der Band von Wolfram Krömer (Die französische Novelle, Düsseldorf 1976) genannt, der eine Einzelstudie zu Diderots Erzählung Madame de La Carlière enthält, aber auch Karl Alfred Blüher, Die französische Novelle (Tübingen 1985), der Diderots Erzählungen unter dem Stichwort der aufgeklärten ‚Problemnovelle‘ verhan-delt. Die Zusammenstellung von Wolfgang Eitel mit dem Titel Die romanische Novelle (Darmstadt 1977) enthält einen überaus bündigen Beitrag von Werner Krauss zu Diderot (S. 220ff.).

10 Kathrin Ackermann, Von der philosophisch-moralischen Erzählung zur modernen Novelle. Contes und nouvelles von 1760 bis 1830, Frankfurt/Main 2004.

11 So der Buchtitel von Raymond Joly, Deux études sur la préhistoire du réalisme. Diderot, Rétif de la Bretonne, Québec 1969. Vgl. auch Herbert Dieckmann, „The Presentation of Reality in Diderot’s Tales“, Diderot Studies III (1961), S. 101-128. Jüngere Arbeiten legen den Akzent dagegen eher auf den Konstruktionscharakter von Wirklichkeit, z.B. Joachim Ozdoba, Heuristik der Fiktion. Künst-lerische und philosophische Interpretation der Wirklichkeit in Diderots ‚contes‘ (1748-1772), Frank-furt/Main 1980, sowie Christiane Frémont, Que me contez-vous là? Diderot, la fabrique du réel, Brest 2010.

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klärerischer Erzählformen in den Blick genommen werden soll. Statt um die Erstel-lung einer literaturgeschichtlichen Synthese oder Genealogie wird es uns zunächst einmal darum gehen, die Erzählungen in einem Kontext zu betrachten, den sie sel-ber bilden. Für eine solche ‚systematische‘ Betrachtung von Diderots Erzählungen, die inhaltliche mit formalen und/oder Gattungsfragen verbindet, gibt es gute Gründe. Zum einen sind die Entstehungsbedingungen dieser Texte in Erinnerung zu rufen: Diderots Erzählungen sind – mit einer einzigen Ausnahme12 – in überaus dichter zeitlicher Abfolge und dem kurzen Zeitraum von insgesamt nur ca. fünf Jahren entstanden. Man kann daher davon ausgehen, dass diesen Texten eine gemeinsame künstlerische und philosophische Intention zugrunde liegt. Ein weite-rer Grund für eine eher ‚horizontale‘ Einbettung der Erzählungen liegt in der Geschichte der Novellenliteratur. So steht die Novelle traditionell in einem Zyklus, d.h. sie ist konzipiert als Teil eines übergeordneten Ganzen. Selbst da, wo – nach dem „endgültige[n] Verschwinden des Decameron-Modells“13 in der Aufklärung – der traditionelle Rahmen in Form einer eigenständigen Meta-Handlung entfällt, ist keineswegs ausgeschlossen, dass diese Idee nicht doch unterschwellig fortlebt und in anderen Kontexten eine neue Verwendung fi ndet.

Tatsächlich weisen Diderots Erzählungen untereinander eine Vielzahl von formalen und inhaltlichen Korrespondenzen auf. Bisweilen sind sie sogar mit expliziten ‚renvois‘ ausgestattet, die – darin dem Verfahren der Encyclopédie nicht unähnlich – Anschlüsse zwischen den verschiedenen Texten konstruieren. Folgt man diesen Hinweisen, wird sehr schnell deutlich, dass die Programmatik der Erzählungen über die rein serielle Darstellung von einzelnen moralischen Problem- oder Streitfällen, als die sie immer gesehen werden, weit hinausgehen. Zwar schließt sich die Reihe der erzählerischen Interventionen Diderots niemals zu einem kohärenten philosophischen System; das ist auch gar nicht deren Absicht. Jede Erzählung stellt eine autonome Einheit dar, die auch als solche publiziert und gelesen werden kann und die vielfältige Interpretations- und Kontextualisiserungsmöglichkeiten bietet. Nichtsdestotrotz lässt sich so etwas wie ein roter Faden ausmachen, der die Texte miteinander verbindet und in gewisser Wei-se auch deren übergeordnete philosophische Bedeutung ausmacht. Betrachtet man die Erzählungen im Zusammenhang, so zeigt sich, dass jede einzelne von ihnen einen Baustein bildet in einem größeren Ganzen, dessen gemeinsamer Nenner in der Frage nach der Natur und Reichweite der moralischen Verbindlichkeit besteht.

Was die Erzählungen mit- und untereinander verbindet ist also eine ebenso strin-gente wie konsequente Refl exion über den Wert des Phänomens ‚Moral‘. Diderots Erzählungen, so könnte man es auch ausdrücken, betreiben ‚Moralphilosophie‘ im anspruchsvollen Sinne, d.h. als Problematisierung von Moral.14 Diese Eigenschaft

12 Es handelt sich um die Erzählung L’Oiseau blanc – Conte bleu, die Diderot um 1748 verfasst hat. Da es sich bei dieser Erzählung ursprünglich um eine Fortsetzung des Romans Les Bijoux in-discrets handeln sollte, werden wir sie nicht in unsere Untersuchung einbeziehen, obwohl sie durchaus thematische Parallelen zu den Erzählungen des Spätwerks aufweist.

13 Ackermann, op. cit., S. 21. 14 Zu dieser Begrifflichkeit s. William K. Frankena, Analytische Ethik. Eine Einführung, dt. Erstaus-

gabe, 5. Aufl., München 1994, S. 20f.

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erklärt zugleich ihre (Sonder-)Stellung im Rahmen der aufklärerischen Erzählformen: Anders als die zeitgenössischen ‚contes moraux‘ wollen Diderots Erzählungen ethi-sche Normen nicht einfach propagieren, sondern deren Sinn und Bedeutung für das menschliche Leben kritisch hinterfragen. Diesen kritisch-problematisierenden Zug wiederum teilen sie mit den ‚contes philosophiques‘ Vol taire’scher Prägung, mit denen sie daher auch gerne verglichen worden sind.15 Im Gegensatz zu letzteren neh-men sie jedoch weniger die philosophische Th eoriebildung, als vielmehr die konkre-ten moralischen Urteilspraktiken der Zeitgenossen aufs Korn. Indem sie es sich zur Aufgabe machen, moralische Urteile als Scheingebilde zu entlarven, reihen sich Dide-rots Erzählungen gleichwohl ein in das übergreifende Unterfangen einer aufkläreri-schen (Vorurteils-)Kritik: hinterfragen sie doch eine populäre moralische doxa, die in dem Maße, wie sie der kritischen Betrachtung nicht standhält, als revisions- und reformationsbedürftig ausgewiesen wird.

Die Erzählungen untereinander bilden also einen Kontext, den wir in unserer Arbeit darstellen und untersuchen wollen. Darüber hinaus gilt es aber auch, den viel-fältigen Bezügen der Erzählungen zum (Gesamt-)Werk Diderots Rechnung zu tra-gen. Denn wenn es einerseits stimmt, dass die Erzählungen einen Schlüssel zum Werk Diderots enthalten, so bedarf es andererseits eben dieses Werkes, um die Bedeutung der Erzählungen vollständig zu ermessen. Das liegt nicht nur daran, dass Diderot – wie bereits angedeutet – dazu tendiert, die Grenzen zwischen den verschiedenen lite-rarischen Gattungen bewusst zu überschreiten oder zumindest zu irritieren.16 Auch im Verhältnis der Erzählungen zu den wissenschaftlichen oder philosophischen Tex-ten unseres Autors fällt eine eindeutige Abgrenzung schwer. Der Grund dafür liegt in Diderots spezifi scher Konzeption des Erzählens. Das Erzählen hat für Diderot immer ‚experimentell-exploratorischen‘ Charakter, d.h. es dient in erster Linie der Erkennt-nis und der interaktiven Bearbeitung von Wirklichkeit.17 Anders als man vielleicht meinen könnte, ist die Literatur bei Diderot daher nicht in Konkurrenz, sondern in Kontinuität zur (Natur-)Philosophie konzipiert, gewissermaßen als deren methodi-sche Transposition auf ein anderes Terrain – wobei in den literarischen Texten bevor-zugt soziale, anthropologische oder eben, wie hier bereits angedeutet, moralische Th e-men zur Sprache kommen.

Bei Diderot gibt es also, wie Jüttner und andere herausgearbeitet haben, eine Heuristik der Fiktion (Ozdoba), aufgrund derer sich seine ‚literarischen‘ nicht ein-deutig von seinen philosophischen oder allgemein wissenschaftlichen Unterneh-mungen abgrenzen lassen. Der dezidiert philosophische Gehalt dieser Texte, der zugleich ihren besonderen Reiz ausmacht, beruht demnach in mannigfacher Weise auf Voraussetzungen, die innerhalb der Erzählungen selbst nicht garantiert werden

15  Robert Niklaus, „Diderot et le conte philosophique“, Cahiers de l’Association Internationale des Etudes Françaises 13 (Juni 1961), S. 299-315.

16 Das spiegelt sich auch in dem Umstand wieder, dass die Herausgeber die Erzählungen mal mit den Entretiens, mal mit den Romans zusammenschließen. Und in der Tat enthalten Diderots Er-zählungen sowohl epische als auch dialogische Elemente. Vgl. auch Anm. 8.

17 Vgl. Siegfried Jüttner, „Experimentell-Exploratorisches Erzählen. Zur Analyse des Jacques le Fata-liste et son maître von Diderot“, Romanische Forschungen 90 (1978), S. 192-225.

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können. Das gilt in erster Linie für den Naturbegriff, der in den Schriften zur Naturphilosophie (v.a. in den Pensées sur l’interprétation de la nature oder auch im Rêve de d’Alembert) entwickelt wird.18 Etwas ganz ähnliches gilt aber auch für die spezifi sch poetologische Dimension der Erzählungen. Diderot selbst gibt seinen Lesern keine explizite Th eorie des novellistischen Erzählens an die Hand, die als Folie für die Interpretation seiner Erzählungen dienen könnte. Zwar enthalten einige seiner Erzählungen (wie etwa Ceci n’est pas un conte oder auch Les deux amis de Bourbonne) eine Art immanenter Poetik; doch wirft diese bei genauerer Betrach-tung mehr Fragen auf, als sie zu klären vermag. Wir müssen also davon ausgehen, dass Diderot die poetologischen Grundlagen seiner Erzählungen an anderer Stelle entwickelt hat.19 Dabei ist es neben der bereits erwähnten Naturphilosophie insbe-sondere die Dramentheorie, die hier eine wichtige Rolle spielt. Diderot hat sich nicht nur Zeit seines Lebens mit dem Th eater beschäftigt; er, der die klassische Gat-tungssystematik mit ihren rigiden Grenzziehungen strikt ablehnte, hat auch immer wieder seine dramentheoretischen Einsichten für die Narrativik fruchtbar zu machen versucht.20 Auch diese gilt es daher mit zu bedenken, wenn man sich den Erzählungen widmet.

Wenn somit das (Gesamt-)Werk Diderots bzw. ausgewählte Aspekte desselben die erste Referenz für unsere Lektüre der Erzählungen darstellt, so bewegen wir uns damit in Bezug auf die Forschung dennoch nicht in einem luftleeren Raum. Viel-mehr tangieren die in den Erzählungen behandelten Th emen viele Diskussionen, die sich in der Sekundärliteratur um die Arbeiten Diderots herum entzündet haben. Einige dieser Diskussionen, seien sie nun literaturwissenschaftlicher oder philosophischer Natur, werden in der vorliegenden Arbeit Berücksichtigung fi nden und unsere Untersuchung anleiten. Allerdings tritt dabei sogleich ein Problem zutage: Bislang werden die ästhetischen und die (moral-)philosophischen Belange des Diderot’schen Werkes in der Regel getrennt voneinander diskutiert. Dadurch kommt es zu disziplinären Verkürzungen, die der Komplexität Diderots –„l’esprit le plus universel de son temps“21 – nicht gerecht werden. Die vorliegende Arbeit wird daher einen anderen Weg gehen und einen interdisziplinären Zugang wählen. Im Folgenden soll es nun bewusst nicht darum gehen, den aktuellen Stand der Diderot-Forschung abzubilden, sondern einige herausragende Interpretationsan-sätze zu identifi zieren, die entweder vom Anspruch oder von ihrer Wirkmächtig-keit her repräsentativen Charakter besitzen.

18 S. dazu unser Kapitel 2. 19 Auch Herbert Dieckmann spricht sich für einen Interpretationsansatz aus, in dem die Theorie des

‚conte‘ nicht von Diderots anderen ästhetischen Überlegungen abgekoppelt wird. Vgl. Dieck-mann, „Zu Diderot’s contes“, in: ders., Studien zur französischen Aufklärung, München 1974, S. 438-450, hier: S. 439.

20 Robert Niklaus, „Diderot’s Moral Tales“, SVEC 8 (1966), S. 309- 318, hier: S. 310. 21 Gerhardt Stenger, Diderot. Le combattant de la liberté, Paris 2013, S. 10.

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0.3 Die moralphilosophische Auseinandersetzung mit Diderot

Schon früh hat man damit begonnen, Diderots moralphilosophisches Œuvre im Hinblick auf seine systematischen Schwierigkeiten zu befragen. Unmittelbar ein-schlägig und noch dazu von der Gesamtargumentation her typisch für einen gan-zen Strang der moralphilosophischen Diderot-Rezeption ist Carl Beckers „Th e Dilemma of Diderot“ aus dem Jahr 1915.22 Becker setzt bei der Beobachtung an, dass Diderot nach 1765 – also nach der Fertigstellung der Encyclopédie – kaum mehr eigene Texte publiziert habe. Wie kommt es, fragt er sich daher, dass Diderot just zu der Zeit, als er durch die Zuwendung Katharinas fi nanziell unabhängig und durch die Beendigung seiner Herausgebertätigkeiten auch wieder zeitlich sein eige-ner Herr geworden war, zwar nicht mit dem Schreiben als solchem, wohl aber mit dem Publizieren eigener Texte aufgehört habe? Die Antwort auf diese Frage, so Becker, liege in dem, was er Diderots Dilemma nennt: „Th e explanation I think is partly to be found in what may be called the dilemma of Diderot; and the explana-tion is perhaps worth noting because the dilemma of Diderot brings into relief tho-se social and intellectual conditions which gave to French thought in the latter part of the century a peculiar direction and a distinctive character.“23 Nicht eine wie auch immer geartete persönliche Problematik, sondern eine übergreifende intellek-tuelle und soziale Konstellation sei es, die sich in dem Verstummen des Philoso-phen bemerkbar mache, und deren Untersuchung daher ein erhellendes Licht auf die Rahmenbedingungen der französischen Spätaufklärung zu werfen erlaube.

Doch worin besteht nun das genannte Dilemma? Becker beginnt mit einer gro-ßen Th ese: Obwohl Diderot in seinen Werken eine erstaunliche Vielfalt der Inter-essen und Talente an den Tag gelegt habe, so habe er doch zeitlebens immer nur eine Fragestellung als wirklich wesentlich erachtet, nämlich die nach einer ange-messenen Grundlegung der Moral.24 Mehr als alles andere sei Diderot daran inter-essiert gewesen, ein guter Mensch zu sein und andere Menschen nicht nur durch sein eigenes gelebtes Vorbild, sondern auch durch seine Schriften dazu zu bewegen, den Pfad der Tugend einzuschlagen.25 Doch hier beginnt das Problem: Diderots theoretische Schriften seien nämlich aufgrund ihrer skeptischen Tendenz wenig geeignet für eine solche Grundlegung der Moral. Der vitalistische Materialismus, den Diderot vertrete, räume auf mit den Ideen von Freiheit und praktischer Selbst-bestimmung; doch wo keine Freiheit herrscht, da sei auch kein Platz mehr für die Tugend. Seine theoretischen Einsichten mussten Diderot also in eine Richtung

22 The Philosophical Review 24 (1915), S. 54-71. 23 Ibid., S. 57. 24 „Although he professed a profound contempt for metaphysics and religion, it is not too much to

say that the only thing which interested him vitally […] were precisely metaphysics and religion. […] Of these two interests, the more fundamental was that which centered in the theoretical and practical aspects of conduct.“ Ibid. S. 58f.

25 „His devotion to virtue and morality was something more vital than the intellectual interest of the student of ethics; he wished not only to analyze virtue, but to practice it, and to induce others to practice it.“ Ibid., S. 59.

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führen, die seinen moralisch-praktischen Interessen diametral zuwiderlief. Genau darin bestand das von Becker diagnostizierte ‚Dilemma‘:

[I]t was one of the ironies of fate that the speculative thinking of Diderot, of which the principal purpose was to furnish a fi rm foundation for natural morality, ended by destroying the foundation of all morality as he understood it. Th is was the dilemma, that if the conclusions of speculative philosopher were valid, the aspirations of Dide-rot the moral man, all the vital purposes and sustaining hopes of his life, were but as the substance of a dream.26

Becker zufolge sah sich Diderot hin- und hergerissen zwischen den Einsichten sei-ner Vernunft, die ihn in metaphysischen Fragen einen kühlen Determinismus ver-treten ließen, und seinem leidenschaftlichen Engagement für Tugend und ‚sociabi-lité‘. Weil beides sich jedoch zumindest theoretisch nicht verbinden ließ, zog Dide-rot es vor, seine Erkenntnisse (vorerst) nicht zu publizieren, um auf diese Weise sein moralisch-praktisches Lebenswerk, das unter anderem in der Erziehung seiner geliebten Tochter bestand, nicht zu gefährden.

Für Becker war Diderot also gefangen in einem Konfl ikt zwischen seinen theo-retischen Erkenntnissen, die zum Determinismus führten, und seinen praktischen Anliegen, die auf eine Verteidigung der Tugend abzielten. Die späten Schriften Diderots, insbesondere der Dialog Le Neveu de Rameau, deutet er als ein beredtes Zeugnis für diese innere Zerrissenheit. Doch das Dilemma ist, wie bereits angedeu-tet, in Beckers Augen kein rein persönliches; es ist vielmehr symptomatisch für die übergreifende Situation der französischen Spätaufklärung. So hätten die französi-schen Philosophen zwar ebenso wie ihre englischen Kollegen – allen voran natür-lich John Locke – den Wert empirischer Methoden erkannt und auch zu schätzen gewusst. Doch die mit dem Empirismus verbundene Identifi kation von Mensch und Natur habe für sie ein Problem aufgeworfen, das sich in dieser Form jenseits des Kanals nicht stellte. Was nämlich die Franzosen Becker zufolge brauchten, war eine philosophische Grundlage, auf deren Basis sie nicht nur die Natur erklären, sondern auch die bestehenden Verhältnisse, also das absolutistische Regime Lud-wigs, kritisieren konnten.27 Bei den französischen Autoren dominierte vor allem das Interesse an einer philosophisch fundierten Kritik der Gesellschaft; diese jedoch konnte der Empirismus mit der für ihn typischen Identifi kation von Mensch und Natur, Sein und Sollen nicht leisten.28 Aus genau diesem Grund gewannen dualis-

26 Ibid., S. 63. 27 „In France, men were not content with things as they found them. If the French ‚philosophers‘

were certain of anything, they were certain that the existing régime, so far from being the best, was not even relatively good, but evil, and the parent of all evil. What they needed was a standard for judging society rather than a principle for explaining it.“ Becker, op. cit., S. 70.

28 „And so, in France, the Absolute, so contemptuously thrown out of the window early in the cen-tury, had to be brought in again, by some back stair, at its close. To weigh the ancien régime in the balance and find it wanting, it was necessary to separate society from nature once more, to make a distinction between the natural and the artifical man, to disengage the abstract man, naturally good, from the tangled skein of temporary circumstances which made him bad.“ Ibid.

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tische Modelle – wie etwa die Rousseau’sche Unterscheidung von Natur und Zivi-lisation – gegen Ende des Jahrhunderts erneut die Oberhand. Diderot habe die Aufrechterhaltung bzw. Wiedereinsetzung normativer Standards zwar in seinen Schriften nicht selbst realisiert (dazu war er wohl zu konsequent), aber er habe doch intuitiv deren Notwendigkeit erfasst, und genau darauf verweise der fragliche Konfl ikt.

Die Th ese von der Nicht-Begründbarkeit der Moral im Rahmen einer radikal-aufklärerischen Naturphilosophie rückt die Analyse Beckers in die Nähe einer ande-ren, nicht minder skeptischen Diderot-Rezeption, nämlich der des amerikanischen Moralphilosophen und Kulturkritikers Alasdair MacIntyre. Anders als Becker beschränkt sich MacIntyre jedoch nicht darauf, die Spannungen und Widersprüche im Werk Denis Diderots herauszuarbeiten. Er ist auch nicht vorrangig an einer Ana-lyse des französischen Kontextes interessiert, sondern an der Aufklärung als solcher. In seinem Buch After Virtue (2007) präsentiert MacIntyre – und zwar durchaus in polemischer Absicht – die Th ese vom Scheitern der Aufklärung als eines (moral-)philosophischen Projekts. Die Aufklärung habe es sich zur Aufgabe gemacht, Moral als eine eigenständige Sphäre menschlichen Handelns jenseits von Recht, Th eologie und Ästhetik zu etablieren.29 Dieser Versuch, die Moral als autonome Sphäre des Handelns rational (also mit den Argumenten der Vernunft) zu begründen, sei jedoch gescheitert, wie MacIntyre an drei prominenten Beispielen aus der Geschich-te der europäischen Moralphilosophie nachzuweisen versucht. Weder Kant noch Hume noch Diderot sei es gelungen, ihre moralischen Überzeugungen auf ein soli-des theoretisches Fundament zu stellen. Sei es, dass sie – wie Kant – die Moral aus der Vernunft der Menschen herleiten, oder sie – wie Diderot und Hume – auf das sittliche Gefühl des Menschen gründen wollten, in keinem Fall sei eine theoretisch stringente Begründung der Moral zustande gekommen. Das Fazit seiner Studie lau-tet daher: „Th e project of providing a rational vindication of morality had decisively failed; and from henceforward the morality of our predecessor culture – and subse-quently of our own – lacked any public, shared rationale or justifi cation.“30

Mit Becker teilt MacIntyre zwei zentrale Annahmen: So geht auch er davon aus, dass die Moralphilosophie gewissermaßen das Herzstück des aufklärerischen Pro-jektes darstellt. Auch MacIntyre ist davon überzeugt, dass der Erfolg der Aufklä-rung daran zu bemessen sei, ob und inwiefern es ihr gelungen sei, eine (neue) Ethik glaubhaft zu begründen. Wie Becker kommt auch er zu der Einschätzung, dass die-ser Versuch als fehlgeschlagen gelten müsse. Allerdings führt er dafür keine sozialen und kulturellen, sondern innerphilosophische Gründe an. Die Aufklärer seien mit ihren moralphilosophischen Projekten vor allem daran gescheitert, so MacIntyre, dass sie mit einem überlieferten theoretischen Rüstzeug operierten, dessen Voraus-setzungen sie nicht durchschauten. Dies galt vor allem für die Idee der (menschli-chen) Natur als Fundament des moralphilosophischen Projektes. Zwar stimmten die Aufklärer darin überein, dass sie die Moral – wie schon Aristoteles – auf die

29 Alasdair MacIntyre, After Virtue, Notre Dame 2007, S. 36ff. 30 Ibid., S. 50.

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menschliche Natur gründen wollten; doch hatte sich die Idee der menschlichen Natur seit der Antike inzwischen so weit gewandelt, dass dieses Vorhaben nunmehr unmöglich wurde:

[T]he eighteenth-century moral philosophers engaged in what was an inevitably unsuccessful project; for they did indeed attempt to fi nd a rational basis for their moral beliefs in a particular understanding of human nature, while inheriting a set of moral injunctions on the one hand and a conception of human nature on the other which had been expressly designed to be discrepant with each other. […] Th ey inhe-rited incoherent fragments of a once coherent scheme of thought and action and, since they did not recognize their own peculiar historical and cultural situation, they could not recognize the impossible and quixotic character of their self-appointed task.31

Hatten klassische Autoren wie Aristoteles ihren moralphilosophischen Überlegun-gen noch eine teleologische Sicht der menschlichen Natur zugrunde gelegt, die den faktischen Zustand des Menschen von seinem idealen Zustand bzw. von seiner ‚wahren‘ – wenn auch erst noch zu realisierenden – Natur unterschied, so entfalle diese Voraussetzung in der Moderne. Das ursprünglich dreistufi ge Konzept (beste-hend aus der faktischen Natur des Menschen, dem angestrebten Ideal und den praktischen Anleitungen für die Überwindung der Diff erenz) sei auf ein zweiglied-riges Modell reduziert worden, dessen Elemente allerdings strukturell nicht mitei-nander harmonierten. Am Ende blieb allein die Vorstellung der faktischen, aber mangelhaften Natur des Menschen übrig, auf die sich keine Moral gründen ließ.

Die Aufklärer scheiterten also MacIntyre zufolge daran, dass sie – mehr oder weniger wissentlich – ein überkommenes Th eoriedesign rezipierten, über dessen Voraussetzungen sie sich off ensichtlich nicht (mehr) im Klaren waren. Die Auswir-kungen dieses Dilemmas sind MacIntyre zufolge bis in die Gegenwart hinein zu spüren. Nachdem die aufklärerischen Bemühungen um eine rationale Begründung der Moral gescheitert waren, ließ sich in der Folge nämlich gar keine Begründung für moralisches Handeln mehr angeben. Die Entscheidung, ob man moralisch sein solle oder nicht, wurde nunmehr allein dem Belieben des Einzelnen anheimge-stellt. Dies, so MacIntyre, sei der Grund, warum in unserer modernen, zeitgenössi-schen Kultur willkürliche bzw. rein gefühlsmäßige Setzungen eine so große Rolle spielen.32 Wo dem Handelnden keine rationalen Kriterien mehr zur Verfügung ste-hen, um seine Entscheidungen zu begründen, da gebe am Ende das spontane Gefühl den Ausschlag. Die theoretische und vor allem praktische Orientierungs- und Prinzipienlosigkeit, deren erste Anzeichen sich im Werk der Aufklärer und ins-besondere Diderots beobachten lassen, fi nden sich laut MacIntyre also auch in aktuellen (moral-)philosophischen Debatten wieder.33

31 Ibid., S. 55. 32 MacIntyre spricht in diesem Zusammenhang von ‚emotivism‘. Ibid., S. 23ff. 33 Seine Auseinandersetzung mit der Aufklärung erfolgt daher gewissermaßen in zeitdiagnostischer

Absicht. Ähnlich wie bei den großen Aufklärungskritikern Adorno und Horkheimer ist auch bei Alasdair MacIntyre die Kritik der Aufklärung in einen kulturkritischen Rahmen eingebunden.

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So weisen die Interpretationen Beckers und MacIntyres letztlich in verschiedene Richtungen: Während Becker mit Blick auf die zeitgenössische politische Situation in Frankreich die Notwendigkeit von kritischen Maßstäben betont, interessiert sich MacIntyre – vor dem Hintergrund unserer eigenen, (post-)modernen Konstellation – vor allem für die konstruktive Begründungsleistung der Aufklärer. Ob Kritik oder Konstruktion – beide Lesarten treff en sich jedoch da, wo sie das – vermeintlich defi -zitäre – Verhältnis Diderots zur Norm berühren. Dank der Übernahme empirischer Paradigmen aus England sei Diderots Naturverständnis wesentlich anti-normativ ausgerichtet. Dies sei sowohl der Grund dafür, dass er sich schwer damit tue, kriti-sche Maßstäbe für die Begründung einer politisch einschlägigen Kritik zu formulie-ren (Becker), als auch dafür, dass es ihm nicht gelinge, eine angemessene anthropo-logische Basis für die Begründung einer philosophischen Ethik zu fi nden (MacInty-re). In der einen wie in der anderen Diagnose ist es folglich die wissenschaftliche Modernisierung (etwa durch die Einführung des Empirismus), die in einem tiefen Konfl ikt zu stehen scheint mit den praktisch-pragmatischen Anliegen der Aufklä-rung.

0.4 Diderots Stellung in der literaturwissenschaftlichen Forschung

Diderots Verhältnis zur Norm hat auch die literaturwissenschaftliche Forschung beschäftigt. Anlass ist hier allerdings weniger das Interesse an einer ethischen Begründungsleistung Diderots, als vielmehr die Frage nach einer möglichen Vor-reiterrolle seiner Schriften im Hinblick auf die Ausarbeitung eines neuen ästheti-schen Selbst- und Textverständnisses. Im Zentrum der Debatte stehen dabei Begrif-fe wie ‚Realismus‘ und ‚Moderne‘. Wie schwierig sich diese Auseinandersetzung gestaltet, mögen zwei Beispiele belegen: Raymond Joly, der sich in seiner Studie zu Diderot und Rétif de la Bretonne auf die Suche nach einer Préhistoire du réalisme begibt, kommt zu dem ernüchternden Schluss, dass Diderots genre sérieux trotz sei-nes Anspruches auf Wahrheit und Natürlichkeit keinesfalls für ‚realistisch‘ befun-den werden könne, sondern vielmehr da, wo es über die manifesten sozialen Wider-sprüche der Gegenwart hinwegsehe, gar als ideologisch verzerrter Ausdruck eines bürgerlichen Klassenbewusstseins gelten müsse.34 Rainer Warning hingegen, der sich weniger für Diderots frühe Dramen als für die Begründung eines modernen

Von den genannten Autoren unterscheidet er sich jedoch grundsätzlich im Hinblick auf die Kon-sequenzen, die er aus seinen aufklärungsskeptischen Diagnosen zieht. Wo Horkheimer und Ador-no allen Einschränkungen zum Trotz auch weiterhin auf die Kraft der Vernunft vertrauen, die es im Zuge der ‚Selbstaufklärung der Aufklärung‘ nunmehr reflexiv auf sich selbst zu wenden gelte, da plädiert MacIntyre für einen radikalen Bruch mit den Prinzipien der Aufklärung: Nur im Aus-stieg aus dem Rationalisierungsprojekt der Moderne und im Rückgriff auf die antike Tradition der Moralphilosophie sei es möglich, das ethische Dilemma der Gegenwart zu überwinden. Nicht die Weiterentwicklung der Aufklärung in verbessernder Absicht, sondern ein radikaler Neuan-fang ist somit das Ziel von MacIntyres Kritik.

34 Vgl. Anm. 11.

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ästhetischen Selbstverständnisses in der Prosa des ausgehenden 18. Jahrhunderts interessiert, unterzieht Diderots Roman Jacques le Fataliste et son maître einem kri-tischen Vergleich mit Laurence Sternes Tristram Shandy.35 Dabei kommt auch er zu einem negativen Befund. So möchte Warning zeigen, dass Diderot im Vergleich zu seinem Zeitgenossen Sterne einem eher traditionellen Literaturverständnis anhängt, das eine Ausbildung spezifisch-moderner ästhetischer Praktiken, obwohl im Ansatz vorhanden, gar nicht zum Austrag kommen lässt.

Im Zentrum von Warnings Diderot-Interpretation steht der Begriff des Bizar-ren. Das Bizarre erlaube es, so Warning, die Spezifik von Diderots aufklärerischer Narrativik zu ergründen, und zwar im Hinblick auf das ihr zugrunde liegende Wirklichkeitsverständnis ebenso wie auf die besondere Art und Weise ihres Leser-bezugs. Bizarre ist – Diderots eigenem Wortgebrauch zufolge – zunächst einmal die Realität selbst, die sich kategorisch den menschlichen (insbesondere moralischen) Interpretations- und Sinnstiftungsversuchen entziehe. Warning zeigt, wie Diderot die Struktur des heroisch-galanten Romans von ihrer Intention her ins Gegenteil verkehrt, indem er statt einer progressiven Enträtselung eine progressive Verrätse-lung der Geschehnisabfolge vornimmt: Die Abenteuer von Jacques und seinem Herrn fügen sich nicht zu einem sinnhaltigen Ganzen, dessen Motivation sich dem Leser vom Ende her erschließen würde, sondern sie bilden eine Kette ‚verlorener Motive‘, die sich zu keiner übergreifenden Einheit zusammenfügen.36 Das off ene bzw. hypothetische Ende des Romans, das die Verwicklungen der beiden Abenteu-rer noch einmal potenziert, statt sie autoritativ aufzulösen, ist in dieser Hinsicht symptomatisch für eine Form der Wirklichkeit, die sich dauerhaft gegen die integ-rativen Sinnbestrebungen des Lesers und der Kunstform des Romans (als einem ‚mythischen Analogon‘37) zu sperren vermag.

Das bizarre Realitätsverständnis von Jacques le Fataliste et son maître determiniert Warning zufolge auch das Verhältnis des Textes zu seinem (impliziten) Leser. Wäh-rend die Reisefabel vor allem darauf abziele, die Künstlichkeit traditioneller Roman-typen zu entlarven, also in erster Linie eine kritische Stoßrichtung verfolge, so komme den in die Reisefabel eingebetteten Geschichten die Aufgabe zu, die vom Erzähler beschworene vérité de l’histoire positiv zu bestimmen. Diese Geschichten inszenieren daher eine ‚Kasuistik des Bizarren‘, die den Leser mit der Notwendig-keit moralischer Beurteilungen konfrontieren soll. Allerdings ergibt sich laut War-ning auch auf dieser Ebene eine Aporie: Denn während die Realität einerseits vehe-ment nach einer moralischen Deutung zu verlangen scheint, so verwehrt doch andererseits just die bizarrerie der Ereignisse und der Charaktere die Bildung eines unproblematischen moralischen Urteils.38 Ebenso wenig wie die Haupthandlung einen schlüssigen Sinn ergibt, ermöglichen die Erzählung ein bündiges moralisches

35 Rainer Warning, Illusion und Wirklichkeit in „Tristram Shandy“ und „Jacques le Fataliste“. Mün-chen 1965.

36 Warning, op. cit., S. 94. 37 Der Begriff des ‚mythischen Analogons‘ stammt von Clemens Lugowski, auf dessen Studie Die

Form der Individualität im Roman (Erstveröffentlichung 1932) sich Warning mehrfach beruft. 38 Warning, op. cit., S. 96f.

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Urteil, denn die Realität wie auch die in ihr agierenden Figuren bleibe für den Betrachter letztlich undurchschaubar. Im Angesicht dieser ungelösten Ambivalenz des Geschehens werde der (implizite) Leser in die Position eines Kasuisten versetzt, der die moralische Problematik durch einen persönlichen Entscheid austragen muss, der allerdings jeglicher sozialer Verbindlichkeit entbehrt.39 Auch die Bilanz der eingebetteten Geschichten sei daher genau besehen eine negative: Wo die Rea-lität selbst keine eindeutigen Verhaltensnormen vorgibt, da versagt, so muss man wohl schließen, auch die Moral als System und es bleibt allein der Gewissensent-scheidung des Einzelnen überlassen, eine Lösung für die Praxis zu formulieren.

Mit dem Begriff des ‚Bizarren‘ versucht Warning also, ein hervorstechendes Merkmal von Diderots Narrativik zu benennen, das man als Ungefügigkeit bzw. Widerspenstigkeit der Wirklichkeit gegenüber der Norm defi nieren könnte. Dide-rots Werke führten vor, wie sich nicht nur die Realität selbst, sondern auch der Ver-such ihrer moralischen Auslegung gegen die Allgemeinverbindlichkeit des Gesetzes sperre. Diderot bricht dieser Interpretation zufolge mit einem grundlegenden auf-klärerischen Denkmuster, das darin besteht, Wirklichkeit auf eine begrenzte Anzahl konstitutiver Gesetze zu reduzieren, die es ermöglichen, die Realität in ihren unter-schiedlichen Konkretionen umfassend zu erklären. Stattdessen mache Diderot sich zum Verfechter des Bizarren (des Besonderen, des Außergewöhnlichen, des Extra-vaganten), dessen Irreduzibilität gegenüber jeglicher Form der Normalisierung er in seinen Texten stets aufs Neue inszeniert. Dieser anti-normative Gestus seiner Narrativik, so Warning, stelle Diderot jedoch zugleich vor ein nicht lösbares ästhe-tisches Dilemma:

Die Illusion des Bizarren ist, im Gegensatz zur autonom-ästhetischen Spielwelt des Hobby-Horse, eine als Vermittlung exemplarischer Wirklichkeit begriff ene illusion de la réalité. Sie gründet in einer täuschend echten Darstellung der Wirklichkeit, welche den Schein der Nachahmung zum Verschwinden bringt, um durch ihn hindurch die Wahrheit des Nachgeahmten sichtbar zu machen. Weil aber diese Wahrheit sich dem erkennenden Zugriff immer wieder entzieht, stellt sich die Frage, ob eine auf den Begriff des Bizarren bezogene illusion de la réalité von der dargestellten Wirklichkeit selbst garantiert wird, oder aber ob der Wahrheitsanspruch hier nur noch usurpiert werden kann. Diderot beantwortet sie bald in diesem, bald in jenem Sinne. Die Tat-sache, dass er keine defi nitive Lösung fand, verweist auf jenes ästhetische Dilemma, zu dem er sich in Jacques le Fataliste indirekt bekennt: die Wirklichkeit des Bizarren ist ein stets nur subjektiv realisierbarer Kontext, und also ist es unmöglich, die Dinge so darzustellen, wie sie in ihrer Wahrheit sind.40

Ebenso wie Laurence Sterne in seinem Tristram Shandy dringt Diderot in Warnings Lesart mit seiner Ästhetik des Bizarren zur Erkundung jener irreduzibel subjektiven Seinsbereiche vor, die sich dem Geltungsbereich der allgemeinverbindlichen Norm

39 Zur Rolle des Lesers bei Diderot vgl. auch Rainer Warning, „Opposition und Kasus. Zur Leser-rolle in Diderots Jacques le Fataliste et son maître“, in: ders. (Hg.), Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis, München 1975, S. 467-493.

40 Warning, Illusion und Wirklichkeit, op. cit., S. 121/122.

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entziehen. Anders als Sterne könne sich Diderot jedoch nicht dazu durchringen, die Ästhetik des Bizarren zu ihrer vollen Entfaltung kommen zu lassen.41 Wo es Sterne nämlich gelinge, in bzw. neben der Wirklichkeit einen ausgegrenzten und moralisch indiff erenten Raum für das ästhetische Spiel zu schaff en, in dem sich das hobby horse der Charaktere als ein subjektiver Fluchtraum in Abgrenzung und in Konkurrenz zur Faktizität des Wirklichen manifestieren könne, da bleibe Diderot gerade durch sein praktisches Erkenntnisinteresse der Welt der Tatsachen verhaftet. So ist das Bizarre Warning zufolge – anders als etwa die Sternesche oddity – auch kein subjektiver Charakterzug, sondern eine Kategorie der objektiven Wirklich-keit. Darüber hinaus bleibe das Bizarre bei Diderot stets einem moralischen Impe-rativ unterstellt: Auch wenn es sich einer konkreten moralischen Festlegung entzie-he, so habe es letztlich doch den Zweck, den Leser zu ethischen Betrachtungen ein-zuladen bzw. ihn zu einer moralischen Stellungnahme zu provozieren.

Aufgrund dieser zweifachen Rückbindung des Bizarren an die objektive Wirk-lichkeit einerseits und die Belehrung des Lesers andererseits steht Diderot Warning zufolge vor dem Dilemma, das Bizarre zwar richtig erkannt zu haben, es jedoch nicht konsequent darstellen zu können. Zwar sei es Diderot gelungen, zu einem Verständnis der subjektiven Bedingtheit der Wirklichkeit vorzudringen, doch stün-de dieses Verständnis in einem direktem Gegensatz zu den Imperativen der imita-tio naturae, für die Diderot nach wie vor an der strikten Objektivität der Darstel-lung festhalte. Die Wirklichkeit, so wie sie in Wahrheit sei (nämlich ‚bizarr‘), gera-te daher bei Diderot immer nur als das bloß Negative in den Blick. Über die pole-mische Wendung der vielfach postulierten, aber inhaltlich nicht näher bestimmten verité de l’histoire gegen die Künstlichkeit des roman kommt Diderots Werk laut Warning also in gewisser Weise nicht hinaus. Zwar könne Diderot in seiner Narra-tivik sehr erfolgreich die Künstlichkeit traditioneller Romanklischees denunzieren; es gelinge ihm jedoch nicht, dieser kritischen eine spezifi sch konstruktive Erzählwei-se entgegenzusetzen, die der ästhetischen Subjektivität der Literatur, also dem Bereich der Darstellung auch in Ablösung vom Dargestellten, angemessen Rech-nung tragen würde.42 Statt als Anwalt einer selbstbewussten Fiktion präsentiere sich Diderot daher als Advokat einer von Illusionen befreiten Realität, an dem sich die großen Vertreter des französischen Desillusionsromans im darauff olgenden Jahrhundert nicht von ungefähr ein Vorbild nehmen konnten.43

41 Ibid., S. 118. 42 Daran ändert auch die vermeintlich offensive Selbstreflexivität seines Erzählstils nichts: Während

bei Sterne die zahllosen Selbstthematisierungen des Erzählers dazu führen, den Eigenwert des Er-zählens zu unterstreichen, haben die entsprechenden Selbstthematisierungen bei Diderot vor al-lem den Zweck, die Illusion der Literatur zu unterbrechen und den Blick auf eine vermeintlich unverstellte, wenn auch rätselhafte Realität preiszugeben. Warning folgt hier der Argumentation von Hans-Robert Jauß. Vgl. dessen „Diderots Paradox über das Schauspiel“, in: Germanisch-Ro-manische Monatszeitschrift; NF 11 (1961), S. 380-413, hier: S. 410.

43 Warning, Illusion und Wirklichkeit, op. cit., S. 123.

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0.5 Weiterführende Fragen

Die vorherigen Abschnitte dieser Einleitung haben einen Überblick über die Rezep-tion von Diderots Werken in unterschiedlichen Kontexten und akademischen Tra-ditionen gegeben. Sowohl aus literaturwissenschaftlicher wie auch aus moralphilo-sophischer Sicht ist Diderots Werk erheblicher Kritik unterzogen worden. Ziel unserer Übersicht war es dabei zunächst lediglich, anhand ausgewählter Beispiele die Bandbreite der kritischen Argumente zu illustrieren. Doch bei aller Verschieden-heit sowohl der Herkunft als auch der Zielrichtung ließen sich bei den hier darge-stellten Positionen doch auch einige Gemeinsamkeiten erkennen: Sowohl Warning als auch Becker/MacIntyre machen Diderot die Negativität seines Ansatzes zum Vorwurf. Diderot sei es zwar gelungen, so argumentieren sie, überkommene Vorur-teile und Ideologien – unter anderem auf dem Feld der Literatur – zu denunzieren, als Philosoph und Autor sei er jedoch den im eigentlichen Sinne konstruktiven Bei-trag zur Philosophie bzw. Ästhetik der Aufklärung schuldig geblieben. Weder habe er es geschaff t, zu einem Begriff ästhetischer, d.h. zweckfreier und von praktischen Erkenntniszielen unabhängiger Refl exion vorzudringen, noch sei es ihm vergönnt gewesen, die (Th eorie der) Moral auf eine neue, solide und kritikresistente Grund-lage zu stellen. Stets habe die skeptische Dimension seines Werkes – also die Inten-tion der Infragestellung und der Kritik – den Sieg davongetragen über eine zwar in Aussicht gestellte, letztlich aber nicht erbrachte Begründungsleistung.

Was die hier referierten Ansätze aus Literaturwissenschaft und Moralphiloso-phie zudem verbindet, ist das Vokabular des ‚Dilemmas‘ oder der ‚Aporie‘. In bei-den Lesarten fi ndet sich die Idee einer strukturellen Selbstverhinderung des Aufklä-rers.44 Dabei scheint zumindest Rainer Warning implizit davon auszugehen, dass Diderot das Bizarre in Abgrenzung von einem spezifi sch normativen Wirklichkeits-begriff entwickelt habe, dem er selber – ohne es zu bemerken – auf einer anderen Ebene, nämlich der Ebene der Wirkungsästhetik, verhaftet geblieben sei. So heißt es an einer Stelle etwa: „Wenn Diderot daher zur Begründung der paradoxen Wahr-heit des Bizarren auf expérience und observation verweist, so beruft er sich auf ein Begriff spaar, das, ursprünglich einer normativen Wirklichkeitsvorstellung zugeord-net, dem irreduzibel Bizarren wesentlich nicht adäquat ist.“45 Während Diderot somit einerseits eine Ästhetik des Bizarren zu begründen versuchte, so habe er andererseits – in seiner Eigenschaft als philosophe – an dem Anspruch auf allgemei-ne Gültigkeit festgehalten, wie er der aristotelischen Poetik gemäß allein der Dich-tung (also der Fiktion) zukomme. Da es Diderot in erster Linie um die Vermittlung eines praktischen Wissens zu tun war, musste er, so Warning, an einem normativen Begriff von Wirklichkeit festhalten, obwohl er diesen auf einer anderen Ebene

44 Insbesondere Alasdair MacIntyre betont dabei den symptomatologischen Wert seiner Diderot-Kritik. Kaum anders verhält es sich in den anderen Fällen. In allen hier dargestellten Lesarten wird die Kritik an Diderot über die reine Werkexegese hinaus zum Aufhänger bzw. Vorwand für eine Auseinandersetzung mit dem Projekt der Aufklärung oder gar dem der ‚Moderne‘ als solchem.

45 Warning, op. cit., S. 115.

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längst verabschiedet hatte. Genau dieser ästhetisch-philosophische ‚double bind‘ war es dann auch, der Diderot in die literarische Aporie geführt habe.

Nun stellt sich jedoch die Frage, ob diese Argumentation wirklich so zwingend ist, wie sie sich an dieser Stelle präsentiert. Ist es wirklich notwendig, in einem wir-kungsästhetischen Kontext wie dem der aufklärerischen Literatur mit einem nor-mativen, also an objektiven und allgemeinverbindlichen Gesetzen orientierten Wirklichkeitsbegriff zu operieren, wie Warning das im Falle Diderots unterstellt? Oder ist diese Konzeption der Wirklichkeit zusammen mit dem daraus entstehen-den Dilemma nicht vielleicht eine Setzung des Interpreten, der seinerseits mit einem klassisch-normativen Wirklichkeitsbegriff operiert? Dieser Verdacht drängt sich auf, wenn man einige der verwendeten Formulierungen genauer besieht. So heißt es zum Beispiel in Bezug auf die Kasuistik des Bizarren: „Damit wird deut-lich, dass die Verfälschung aller Wirklichkeitserfahrung und Wirklichkeitsdarstel-lung durch caractère, intérêt, goût und passions nicht im Sinne romantischer Subjek-tivität zu verstehen ist. Denn als Kasuistik, als Provokation also des moralischen Gewissens bleibt das Bizarre objektbezogen.“46 Zwar stellt Warning hier – ganz zu Recht – eine proto-romantische Filiation Diderots in Abrede; doch fällt er sogleich ins andere Extrem, wenn er die Kasuistik der eingebetteten Geschichten als einen Beweis für die Objektbezogenheit des Diderot’schen Textes liest. Eine solche Deu-tung muss jedoch sehr überraschen, wenn man bedenkt, wovon hier die Rede ist: nämlich der durchweg subjektiven Gewissensentscheidung des Lesers.

Dieses und ähnliche Beispiele zeigen, dass Warnings Analyse off enbar eine dichotomische Begriffl ichkeit zugrunde liegt, die Diderots Texten nicht oder nur sehr eingeschränkt gerecht wird. Warnings zentrale Aussage, Diderot habe über keinen Begriff literarischer Subjektivität verfügt, ist so lange mit Vorsicht zu behan-deln, wie noch nicht geklärt ist, was ‚Subjektivität‘ im Kontext aufklärerischer Tex-te eigentlich genau bedeuten kann. Denn ganz off ensichtlich sind die gängigen Muster von Subjektivität und Objektivität hier nur bedingt tragfähig. Dass Dide-rot in keines der literaturgeschichtlich bekannten Muster von Subjektivität einzu-ordnen ist, besagt demnach nicht schon zwangsläufig, dass er sich zu gar keiner Art von Subjektivität bekennen konnte, oder dass ihm als einzig verbleibende Alterna-tive eine rein gegenständliche, objektivistische Vorstellung von Wirklichkeit zur Verfügung gestanden habe.47 Vielmehr ist davon auszugehen, dass Diderot ein

46 Ibid., S. 117f. 47 Ruth Groh fordert daher im Anschluss an Rainer Warning, die Dimension der Ironie in Diderots

Werk stärker zu berücksichtigen. Die Struktur der ironischen Kommunikation bei Diderot erlau-be es durchaus, neben der skeptischen Infragestellung von Ordnung und Gesetz bei Diderot auch eine normativ-erläuternde Textebene zu identifizieren, welche den eigentlich aufklärerischen Ge-halt des Werkes ausmache. Vgl. Groh, Ironie und Moral im Werk Diderots, München 1984, S. 15-48. Grohs Interpretationsansatz, der den einseitig dekonstruktiven Zug in Warnings Diderot-Lektüre korrigiert, ist insofern zuzustimmen, als sie den dialektischen Gestus Diderots, der sich dualistischen Denkmustern verweigert, angemessen würdigt. Kritisch zu sehen ist hingegen die Art und Weise, wie sie diese Dialektik in der Analyse konkret durchführt. Diderots Texte im Sin-ne von These, Antithese und Synthese auf einen quasi-mechanischen Dreischritt zu reduzieren, heißt, seinem Denken genau jene Mobilität und Agilität abzusprechen, die Warning unter dem

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