Der Gemeine Weißkittel

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Der Gemeine Weißkittel © Christof Wahner 2009 Liebe Vogelfreunde! Der heutige Fachvortrag mag wieder einmal für das ungeübte Ohr wie eine Satire klingen, weist jedoch bei eingehender Betrachtung eine ungeahnte Nähe zur Realität auf – vor allem, wenn man, wie ich selbst, im Verlauf vieler Jahre das große Vergnügen hatte, mehr als 200 Exemplare der Spezies Gemeiner Weißkittel in der freien Wildbahn zu studieren. www.vogelpark.at/kakadu_2.jpg Schon aus weiter Entfernung ist der Gemeine Weißkittel leicht erkennbar an seinem strahlend weißen Gefieder, das im Fachjargon der Vogelfreunde auch als weiße Weste bezeichnet wird und zu seinen sekundären Geschlechtsmerkmalen zählt. Von Natur aus ist der Gemeine Weißkittel mit segensreichen Waffen bzw. Werkzeugen ausgerüstet: mit einem stattlichen Schnabel , zwei Krallen und mit zwei Flügeln von beträchtlicher Spannw eite. Der Einsatz der Krallen wird im Fachjargon als Therapie bezeichnet. Gelegentlich versteht man darunter  jedoch auch die so genannte Handschrift , die der Gemeine Weißkittel z.B. auf Papier hinterlässt. Falls ein Gemeiner Weißkittel ein Mal seine Werkzeuge in unbeholfener oder legerer Weise gebraucht, so wird dies von den Vogelfreunden als Kunstfehler bezeichnet, und zwar wegen der bereits erwähnten weißen Weste, die selbst in der dunkelsten Nacht alle seine eventuellen Unzulänglichkei ten überstrahlt. Die Flügel werden vor allem verwendet, u m Missverständnisse vor- oder nachzubeugen. Im Fachjargon nennt man dies Intervention, während das liebliche Krächzen aus dem Schnabel als Diagnostik be- zeichnet wird. Das Herz eines jeden wahren V ogelfreundes dürft e höher schlagen, wenn sich die groß- artige Gelegenheit ergibt zu lauschen, wie die Gemeinen Weißkittel fröhlich vor sich hin diagnostizieren. Der Gemeine Weißkittel ist vorwiegend in Krankenhäusern und Arztpraxen beheimatet. Seine zentralen Brutstätten sind Universitä tskliniken, wo er am liebsten in oberen Etagen nistet. Intellektuell betrac htet kommt der Gemeine Weißkittel selbst in dünnster Luft bemerkenswe rt gut zurecht. Besonders die Exemplare der allgegenwärtigen Subspezies "Doktorvogel" lieben Schwindel erregende Höhenflüge.

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Der Gemeine Weißkittel © Christof Wahner 2009

Liebe Vogelfreunde! Der heutige Fachvortrag mag wieder einmal für das ungeübte Ohr wie eine Satire

klingen, weist jedoch bei eingehender Betrachtung eine ungeahnte Nähe zur Realität auf – vor allem,

wenn man, wie ich selbst, im Verlauf vieler Jahre das große Vergnügen hatte, mehr als 200 Exemplare

der Spezies Gemeiner Weißkittel in der freien Wildbahn zu studieren.

www.vogelpark.at/kakadu_2.jpg

Schon aus weiter Entfernung ist der Gemeine Weißkittel leicht erkennbar an seinem strahlend weißen

Gefieder, das im Fachjargon der Vogelfreunde auch als weiße Weste bezeichnet wird und zu seinen

sekundären Geschlechtsmerkmalen zählt.

Von Natur aus ist der Gemeine Weißkittel mit segensreichen Waffen bzw. Werkzeugen ausgerüstet:

mit einem stattlichen Schnabel, zwei Krallen und mit zwei Flügeln von beträchtlicher Spannweite. Der 

Einsatz der Krallen wird im Fachjargon als Therapie bezeichnet. Gelegentlich versteht man darunter 

 jedoch auch die so genannte Handschrift , die der Gemeine Weißkittel z.B. auf Papier hinterlässt.

Falls ein Gemeiner Weißkittel ein Mal seine Werkzeuge in unbeholfener oder legerer Weise gebraucht,

so wird dies von den Vogelfreunden als Kunstfehler bezeichnet, und zwar wegen der bereits erwähnten

weißen Weste, die selbst in der dunkelsten Nacht alle seine eventuellen Unzulänglichkeiten überstrahlt.

Die Flügel werden vor allem verwendet, um Missverständnisse vor- oder nachzubeugen. Im Fachjargon

nennt man dies Intervention, während das liebliche Krächzen aus dem Schnabel als Diagnostik be-

zeichnet wird. Das Herz eines jeden wahren Vogelfreundes dürfte höher schlagen, wenn sich die groß-

artige Gelegenheit ergibt zu lauschen, wie die Gemeinen Weißkittel fröhlich vor sich hin diagnostizieren.

Der Gemeine Weißkittel ist vorwiegend in Krankenhäusern und Arztpraxen beheimatet. Seine zentralen

Brutstätten sind Universitätskliniken, wo er am liebsten in oberen Etagen nistet. Intellektuell betrachtet

kommt der Gemeine Weißkittel selbst in dünnster Luft bemerkenswert gut zurecht. Besonders die

Exemplare der allgegenwärtigen Subspezies "Doktorvogel" lieben Schwindel erregende Höhenflüge.

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Je nach seiner Mobilität lebt der Gemeine Weißkittel als Standvogel, als Strichvogel oder als Zugvogel.

Als Standvogel – vor allem in domestizierter Form – wird er im Volksmund als Hausarzt bezeichnet.

Als Strichvogel macht er sich mit großem Vergnügen als Aushängeschild für die Medizintechnik- und

Pharmaindustrie nützlich. Als Zugvogel tritt er unter der Bezeichnung "medicins sans frontieres" auf.

Anders als viele andere Vogelarten ist der Gemeine Weißkittel nicht vom Aussterben bedroht, weil er es

immer wieder schafft, sich für sein Ökosystem unersetzlich zu machen und weil nur wenige Exemplare

der Spezies Gemeiner Weißkittel vor Filmkameras zurückscheuen. Trotz seiner ungewöhnlich starkenMedienwirksamkeit und seines putzigen Gebarens lässt er sich nur sehr ungern ins Gefieder schauen

und ist daher mit äußerster Vorsicht zu genießen. Seine Konfliktbereitschaft zeigt sich außerdem darin,

dass es in der Hackordnung manche Rangeleien gibt, die meistens jedoch ein schnelles Ende finden.

Noch wesentlich schneller und gründlicher werden dagegen Nestbeschmutzer unschädlich gemacht.

Durch erblich bedingte Solidarität unter den Individuen der Spezies Gemeiner Weißkittel werden Angriffe

seitens artfremder Lebewesen sehr effizient abgewehrt. Mit der Spezies des Wundertätigen Naturheilers

hat er zwar einiges gemeinsam, befindet sich jedoch gerade deswegen zuweilen in erbitterter Rivalität.

Davon abgesehen hat er jedoch so gut wie keine natürlichen Feinde.

Selbst wenn sich die Machtverhältnisse im Ökosystem dramatisch ändern, wie sich dies etwa hier zuLande 1945 und 1989 ereignete, bleibt der Gemeine Weißkittel seinen Instinkten treu und lebt in erster 

Linie von seinen Wirten, die im Fachjargon als Patienten bezeichnet werden und deren Schicksal er 

nicht selten bis zu ihrer letzten Stunde leidenschaftlich mitverfolgt. Dieser symbiotische Instinkt trägt

die wundersame und ehrwürdige Bezeichnung "hippokratischer Eid ".

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(www.umdiewelt.de/Australien-und-Ozeanien/Australien/Reisebericht-4197/Kapitel-16.html )

Aus seiner Sicht ist das Ökosystem ein unerschöpfliches Nahrungsreservoir, das ihn dazu auffordert,

sich in ungenierter und eleganter Weise selbst zu bedienen. Außer dem Blut seiner Wirte nimmt der 

Gemeine Weißkittel als Nahrung ausgesprochen gern Spezialpapier, das mit großen Zahlen bedruckt ist.

Das Verflüssigen dieser Nahrung durch die Magensäure wird im Fachjargon Liquidation genannt.

Das Verhalten, wenn der Gemeine Weißkittel in majestätischer Manier sein Revier absteckt, wird im

Fachjargon der Vogelfreunde als Visite bezeichnet. Zumindest bei diesem Ritual tritt er meistens inübersichtlichen Scharen mit strenger hierarchischer Ordnung auf und hinterlässt nachhaltige Eindrücke.

So bleibt auch für die Zukunft zu hoffen, dass uns der Gemeine Weißkittel weiterhin durch sein rundum

possierliches Auftreten beglücken wird.