Der Mythos Des Sisyphos

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Die folgenden Seiten handeln von einem Sinn für das Ab-surde, wie er in unserem Jahrhundert weit verbreitet ist –nicht von einer Philosophie des Absurden, die unsere Zeit,genaugenommen, nicht kennt. Es ist also eine An-standspflicht, gleich zu Beginn festzustellen, was diese Sei-ten gewissen zeitgenössischen Geistern verdanken – ichmöchte das keineswegs leugnen, man wird sie vielmehrüberall in meinem Buche zitiert und kommentiert finden.Gleichzeitig aber ist die Bemerkung angebracht, daß dasAbsurde bisher als Ergebnis verstanden wurde, in diesemVersuch aber als Ausgangspunkt betrachtet wird. In diesemSinne hat meine Auslegung wohl etwas Vorläufiges: man soll-te über den Standort, den sie bezieht, nicht voreilig urteilen.Man wird es hier nur mit der Beschreibung eines geistigenÜbels im Reinzustande zu tun haben. Keine Metaphysik, keinGlaube werden zunächst damit verbunden. Das sind die Ab-grenzungen dieses Buches und seine einzige Stellungnahme.Persönliche Erfahrungen veranlassen mich zu dieser aus-drücklichen Feststellung.

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I. EINE ABSURDE ÜBERLEGUNG

DAS ABSURDE UND DER SELBSTMORD

Es gibt nur ein wirklich ernstes philosophisches Problem: denSelbstmord. Die Entscheidung, ob das Leben sich lohne odernicht, beantwortet die Grundfrage der Philosophie. Allesandere – ob die Welt drei Dimensionen und der Geist neunoder zwölf Kategorien habe – kommt erst später. Das sindSpielereien; zunächst heißt es Antwort geben. Und wenn eswahr ist, daß – nach NIETZSCHE – ein Philosoph, der ernstgenommen werden will, mit gutem Beispiel vorangehen müs-se, dann begreift man die Wichtigkeit dieser Antwort, da ihrdann die endgültige Tat folgen muß. Für das Herz sind dasunmittelbare Gewißheiten, man muß sie aber gründlich un-tersuchen, um sie dem Geiste deutlich zu machen.

Wenn ich mich frage, weswegen diese Frage dringlicher alsirgendeine andere ist, dann antworte ich: der Handlungenwegen, zu denen sie verpflichtet. Ich kenne niemanden, derfür den ontologischen Beweis gestorben wäre. GALILEI, dereine schwerwiegende wissenschaftliche Wahrheit besaß,leugnete sie mit der größten Leichhhtttiiigggkkkeeeiiittt aaabbb,,, aaalllsss sssiiieee ssseeeiiinnn LLLeee---

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bbbeeennn gefährdete. In gewissem Sinne tat er recht daran1. DieseWahrheit war den Scheiterhaufen nicht wert. Ob die Erdesich um die Sonne dreht oder die Sonne um die Erde – das istim Grunde gleichgültig. Um es genau zu sagen: das ist einenichtige Frage. Dagegen sehe ich viele Leute sterben, weilsie das Leben nicht für lebenswert halten. Andere wiederlassen sich paradoxerweise, für die Ideen oder Illusionenumbringen, die ihnen einen Grund zum Leben bedeuten (wasman einen Grund zum Leben nennt, das ist gleichzeitig einausgezeichneter Grund zum Sterben). Also schließe ich, daßdie Frage nach dem Sinn des Lebens die dringlichste allerFragen ist. Wie sie beantworten? Über alle wesentlichen Pro-bleme (darunter verstehe ich Probleme, die möglicherweisedas Leben kosten, oder solche, die den Lebenswillen stei-gern) gibt es wahrscheinlich nur zwei Denkweisen: die von LAPALISSE2 und die von Don Quijote. Nur das Gleichgewicht von

1 Vom relativen Wert der Wahrheit aus gesehen. Freilich – vom Standpunkteiner männlichen Haltung aus kann man die Schwächlichkeit dieses Gele-hrten belächeln.2 Ein französischer Hauptmann, der 1525 in der Schlacht bei Pavia fiel undzu dessen Ehren seine Soldaten ein berühmtes Lied dichteten; darin heißtes: <Ein Viertelstund vor seinem Tod / Da war er noch am Leben.> Anm. d.Ü.

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Evidenz und Schwärmerei kann uns gleichzeitig Erregung undKlarheit verschaffen. Bei einem so bescheidenen und zugleichderart mit Pathos belasteten Thema sollte also an die Stelleder gelehrten, klassischen Dialektik eine bescheidenere Gei-steshaltung treten, die ebenso vom gesunden Menschenver-stand wie vom Mitgefühl ausgeht.

Man hat den Selbstmord immer nur als soziales Phänomendargestellt. Hier dagegen geht es darum, zunächst nach derBeziehung zwischen individuellem Denken und Selbstmord zufragen. Eine solche Tat bereitet sich in der Stille des Herzensmit demselben Anspruch vor wie ein bedeutendes Werk. DerMensch selber weiß nichts davon. Eines Abends schießt eroder geht ins Wasser. Von einem Immobilienhändler, der sichumgebracht hatte, erzählte man mir einmal, er habe vor fünfJahren seine Tochter verloren und habe sich seitdem sehrverändert, die Geschichte <habe ihn untergraben>. Einentreffenderen Ausdruck kann man sich nicht wünschen. Wennman zu denken anfängt, beginnt man untergraben zu wer-den. Die Gesellschaft hat mit diesen Anfängen nicht viel zutun. Der Wurm sitzt im Herzen des Menschen. Dort muß erauch gesucht werden. Diesem tödlichen Spiel, das von derErhellung der Existenz zur Flucht aus dem Leben fährt, mußman nachgehen, und man muß es begreifen.

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Ein Selbstmord kann vielerlei Ursachen haben, und im all-gemeine n sind die sichtbarsten nicht eben die wirksamstengewesen. Ein Selbstmord wird selten aus Überlegung began-gen (obwohl diese Hypothese nicht ausgeschlossen ist). Meistlöst etwas Unkontrollierbares die Krise aus. Die Zeitungensprechen dann oft von <heimlichem Kummer> oder von <un-heilbarer Krankheit>. Diese Erklärungen haben ihre Geltung.Man müßte aber wissen, ob nicht am selben Tage ein Freundmit dem Verzweifelten in einem gleichgültigen Ton gespro-chen hat. Das ist der Schuldige. Dergleichen kann nämlichGenügen, um allen Ekel und allen latenten Überdruß auszulö-sen3

Wenn es jedoch schmierig ist, den genauen Zeitpunkt, denwinzigen Schritt anzugeben, mit dem der Geist sich für denTod entschieden hat, so ist es leichter, aus der Tat an sichihre Voraussetzungen zu erschließen. Sich in bestimmterAbsicht, wie im Melodrama, umbringen heißt: ein Geständnisablegen. Es heißt gestehen, daß man vom Leben überwältigt

3Bei dieser Gelegenheit sei auf den relativen Charakter dieses Versuchshingewiesen. Der Selbstmord kann tatsächlich auch auf viel ehrenwertereBeweggründe zurückgehen. Beispiel: die politischen, als Protest gemeintenSelbstmorde während der chinesischen Revolution.

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wird oder das Leben nicht begreift. Wir wollen aber in diesenAnalogien nicht zu weit gehen und zur alltäglichen Aus-drucksweise zurückkehren. Es handelt sich einfach um dasGeständnis, daß es <nicht lohnt>. Leben ist naturgemäß nie-mals leicht. Aus vielerlei Gründen, vor allem aus Gewohn-heit, tut man fortgesetzt Dinge, die das Dasein verlangt.Freiwilliges Sterben hat zur Voraussetzung, daß man wenig-stens instinktiv das Lächerliche dieser Gewohnheit erkannthat, das Fehlen jedes tieferen Grundes zum Leben, die Sinn-losigkeit dieser täglichen Betätigung, die Nutzlosigkeit desLeidens.

Was für ein unberechenbares Gefühl raubt nun dem Geistden lebensnotwendigen Schlaf? Eine Welt, die sich – wennauch mit schlechten Gründen – deuten und rechtfertigenläßt, ist immer noch eine vertraute Welt. Aber in einem Uni-versum, das plötzlich der Illusionen und des Lichts beraubtist, fühlt der Mensch sich fremd. Aus diesem Verstoßen-seingibt es für ihn kein Entrinnen, weil er der Erinnerungen aneine verlorene Heimat oder der Hoffnung auf ein gelobtesLand beraubt ist. Dieser Zwiespalt zwischen dem Menschenund seinem Leben, zwischen dem Schauspieler und seinemHintergrund ist eigentlich das Gefühl der Absurdität. Da allenormalen Menschen an Selbstmord gedacht haben, wird es

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ohne weiteres klar, daß zwischen diesem Gefühl und derSehnsucht nach dem Nichts eine direkte Beziehung besteht.

Zusammenhang zwischen dem Absurden und dem Selbstmord

Gegenstand dieses Versuchs ist eben dieser Zusammenhangzwischen dem Absurden und dem Selbstmord, die genaueFeststellung, in welchem Maße der Selbstmord für das Absur-de eine Lösung ist. Man kann den Grundsatz aufstellen: dieHandlungsweise eines aufrichtigen Menschen müsse von dembestimmt werden, was er für wahr hält. Der Glaube an dieAbsurdität des Daseins sollte demnach die Richtschnur seinesVerhaltens sein. Mit berechtigter Neugier fragt man sich of-fen und ohne falsches Pathos, ob eine derartige Erkenntnisverlangt, daß man einen unbegreiflichen Zustand so raschwie möglich aufgebe. Wohlgemerkt: ich spreche hier vonMenschen, die fähig sind, mit sich selbst ins reine zu kom-men.

Klar formuliert mag dieses Problem ebenso einfach wieunlösbar erscheinen. Aber man vermutet zu Unrecht, daßeinfache Fragen ebenso einfache Antworten nach sich ziehenund daß daß Evidente nur Evidentes umschließt. Auch wennman umgekehrt die Frage stellt, ob man sich umbringen soll

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oder nicht, scheint es a priori nur zwei philosophische Lösun-gen zu geben: ein Ja und ein Nein. Das wäre jedoch zuschön. Wir müssen von den Menschen ausgehen, die fortge-setzt Fragen stellen und keine Schlüsse ziehen. Ich sage dasfast ohne Ironie: es handelt sich um die Mehrzahl. Ebensosehe ich, daß die Neinsager so handeln, als dächten sie ja.Wenn ich mir NIETZSCHEs Kriterium zu eigen mache, danndenken sie tatsächlich auf die eine oder andere Weise ja. BeiSelbstmördern dagegen kommt es oft vor, daß sie vom Sinndes Lebens überzeugt waren. Diese Widersprüche sind kon-stant. Man kann sogar sagen, daß sie immer dort besonderslebendig gewesen sind, wo ganz im Gegenteil Logik höchst-begehrenswert gewesen wäre. Es ist ein Gemeinplatz, diephilosophischen Theorien mit dem Verhalten derer zu ver-gleichen, die sich zu ihnen bekennen. Es muß aber betontwerden, daß keiner von jenen Denkern, die dem Leben jedenSinn absprachen, seine Logik so weit getrieben hat, das Le-ben selber auszuschlagen – außer Kirilow4, der der Literaturangehört, außer PEREGRINOS5, der der Legende entstammt,

4 Figur aus DOSTOJEWSKIJS <Dämonen>, s. unter S. 87ff. (Anm. d. Red.)5 Ich habe von einem Nachfolger PEREGRINOS gehört, von einem Nach-kriegs-Schriftsteller, der sich nach Vollendung seines ersten Buches das

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und außer JULES LEQUIER6, der das Geschöpf einer Hypothe-se ist. Man zitiert oft SCHOPENHAUER, der an seiner gutge-deckten Tafel den Selbstmord pries, und lacht über ihn. Dasist aber keineswegs zum Lachen. Diese Art, das Tragischenicht ernst zu nehmen, ist nicht so wichtig; sie beleuchtetnur den Mann selber.

Muß nun angesichts dieser Widersprüche und Unklarheitenangenommen werden, daß zwischen der Meinung, die manvom Leben haben kann, und dem Schritt, mit dem man esverläßt, keinerlei Beziehung herrscht? Wir wollen hier nichtsübertreiben. In der Bindung des Menschen an sein Leben gibtes etwas, das stärker ist als alles Elend der Welt. Die Ent-scheidung des Körpers gilt ebensoviel wie eine geistige Ent-scheidung, und der Körper scheut die Vernichtung. Wir ge-wöhnen uns ans Leben, ehe wir uns ans Denken gewöhnen.Bei dem Wettlauf, der uns dem Tode täglich etwas näher

Leben nahm, um die Aufmerksamkeit auf sein Werk zu lenken. DieAufmerksamkeit wurde tatsächlich erregt, das Buch aber vurde verrissen. –Anm. d. Ü.: LUCIAN berichtet, daß der Kyniker PEREGRINOS PROTEUS(Anfang des 2. Jahrh. n. Chr.) sich selbst vor allem Volk verbrannt habe.6 JULIUS LEQUIER (geb. 1814, französischer Philosoph) schwamm 1862 beiPlérin ins offene Meer und kehrte nicht zurück; man vermutet, daß erfreiwillig den Tod suchte.

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bringt, hat der Körper unwiderruflich den Vorsprung. DasWesentliche dieses Widerspruchs liegt letztlich im <Auswei-chen>, wie ich es nennen möchte; es ist nämlich mehr undgleichzeitig weniger als die <Zerstreuung>, von der PASCALspricht. Ausweichen – das ewige Spiel. Das typische Auswei-chen, das tödliche Ausweichen, das dritte Thema dieses Ver-suchs – das ist die Hoffnung. Die Hoffnung auf ein anderesLeben, das man sich <verdienen> muß, oder die Betrügereiderer, die nicht für das Leben an sich leben, sondern fürirgendeine große Idee, die über das Leben hinausreicht, eserhöht, ihm einen Sinn gibt und es verrät.

Leben ohne Sinn?

So ist alles dazu angetan, Verwirrung zu stiften. Nicht um-sonst haben wir bisher mit Worten gespielt und so getan, alsglaubten wir dem Leben einen Sinn abzusprechen, führe not-gedrungen zu der Erklärung, das Leben lohne sich nicht. Tat-sächlich gibt es zwischen diesen beiden Urteilen keinzwangsläufiges Verhältnis. Wir dürfen, uns nur nicht von denbisher angeführten Verwirrungen, Zerwürfnissen und Inkon-sequenzen irreführen lassen. Wir müssen das alles beiseite-lassen und geradewegs auf das wirkliche Problem losgehen.

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Man bringt sich um, weil das Leben sich nicht lohnt das istzweifellos eine Wahrheit, freilich eine unergiebige Wahrheit,weil sie ein Gemeinplatz ist. Aber rührt diese Beleidigung desDaseins, dieses Ableugnen, durch das man es verschwindenläßt, daher, daß es keinerlei Sinn hat? Verlangt seine Absur-dität, daß man ihm mittels der Hoffnung oder durch denSelbstmord entflieht? Das allein müssen wir herausbekom-men, untersuchen und klären; alles übrige müssen wir außeracht lassen. Verlangt das Absurde den Tod, so müssen wirdieses Problem allen anderen vorziehen – frei von aller Me-thodik, von allen Spielereien eines unbeteiligten Geistes.Feine Unterschiede und Widersprüche, die ganze Psycholo-gie, die ein <objektiver> Geist auf alle Probleme anzuwen-den weiß, haben bei dieser Untersuchung und bei dieser Sa-che des Herzens nichts zu suchen. Hier ist nurrücksichtsloses, d. h. logisches Denken am Platze. Keineleichte Aufgabe. Logisch zu sein, ist immer bequem. Nahezuunmöglich ist es aber, logisch bis ans Ende zu sein. Men-schen, die von eigener Hand sterben, folgen damit dem Zugeihres Herzens bis zum äußersten. Die Betrachtung desSelbstmordes gibt mir also Gelegenheit, das einzige michwirklich interessierende Problem zu fixieren: gibt es eineLogik bis zum Tode? Das kann ich nur herausbekommen,

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wenn ich mit gezügelter Leidenschaft, lediglich im Lichte derEvidenz, die Überlegung anstelle, deren Ausgangspunkt ichhier bezeichne. Ich nenne sie eine absurde Überlegung. Vielehaben sie begonnen. Ich weiß aber noch nicht, ob sie sichauch daran gehalten haben.

Wenn KARL JASPERS die Unmöglichkeit aufdeckt, die Ein-heitlichkeit der Welt zu begründen, und erklärt: <DieseGrenzsituation führt mich zu mir selbst, dorthin, wo ich michnicht mehr zurückziehe hinter einen objektiven Standpunkt,den ich nur vertrete, dorthin, wo weder ich selbst noch dieExistenz eines andern mir Objekt werden kann>, so be-schwört er – nach vielen anderen – die ausgedörrten Einöden,in denen das Denken seine äußerste Grenze erreicht. Nachvielen anderen – gewiß; aber wie viele haben sie schleunigstwieder verlassen! Diese letzte Kehre, an der das Denken un-sicher wird, haben viele Menschen erreicht und gerade auchdie Demütigsten. Die einen entsagten dem Teuersten, das siebesaßen: ihrem Leben. Andere, Fürsten im Reiche des Gei-stes, haben auch entsagt – aber sie sind zum Selbstmord desDenkens in seiner reinsten Auflehnung gekommen. Die wahreLeistung besteht vielmehr darin, sich dort solange wie mög-lich zu halten und die barocke Vegetation dieser fernen Ge-genden aus der Nähe zu erforschen. Ausdauer und Scharfblick

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sind begünstigte Zuschauer dieses unmenschlichen Spiels, beidem das Absurde, die Hoffnung und der Tod Rede und Gegen-rede wechseln. Ein Tanz, elementar und subtil zugleich –seine Figuren muß der Geist erst analysieren, bevor er sieanschaulich machen und selbst wieder zum Leben erweckenkann.

DIE ABSURDEN MAUERN

Tiefe Gefühle besagen – wie große Kunstwerke – immermehr, als sie bewußt aussagen. Das ständige Vorhandenseineiner Regung oder eines Widerwillens in einer Seele läßt sichin Gewohnheiten des Denkens und des Handelns feststellenund noch in Wirkungen aufspüren, von denen die Seele selbernichts weiß. Die großen Gefühle sind jeweils begleitet vonihrer Welt, mag sie glanzvoll oder jämmerlich sein. Sie er-hellen mit ihrer Leidenschaft eine geschlossene Welt, dieihrem Klima entspricht. So gibt es eine Welt der Eifersucht,des Ehrgeizes, des Egoismus oder des Großmuts. Eine Welt –das heißt: eine Metaphysik und eine Geisteshaltung. Was vonden bereits deutlich unterscheidbaren Gefühlen gilt, dastrifft noch viel mehr auf Regungen zu, die ihrem Ursprungnach ebenso unbestimmt sind und zugleich ebenso verworren

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und so <sicher>, so fern und so <gegenwärtig> wie die Emp-findungen, die das Schöne uns vermittelt oder die das Absur-de auslöst.

Das Gefühl der Absurdität kann einen beliebigen Menschenan einer beliebigen Straßenecke anspringen. Es ist in seinertrostlosen Nacktheit, in seinem glanzlosen Licht nicht zufassen. Doch ist gerade diese Schwierigkeit des Nachdenkenswert. Wahrscheinlich bleibt uns ein Mensch immer unbe-kannt; wahrscheinlich gibt es in ihm immer etwas Unauflös-bares, das uns entschlüpft. Praktisch aber kenne ich die Men-schen, und ich erkenne sie an ihrem Verhalten, an derGesamtheit ihrer Handlungen, an den Wirkungen, die ihrDasein im Leben hervorruft. Ebenso kann ich alle irrationalenEmpfindungen, die sich nicht analysieren lassen, praktischdefinieren und praktisch bewerten, indem ich die Summeihrer Folgeerscheinungen in verstandesmäßiger Ordnung zu-sammenfasse, alle ihre Erscheinungsformen verstehe undvermerke, ihre Welt nachzeichne. Wenn ich einen Schau-spieler auch hundertmal gesehen habe, kenne ich ihn persön-lich darum offensichtlich gewiß nicht besser. Wenn ich aberalle Helden, die er verkörpert hat, zusammennehme undbehaupte, daß ich ihn nach der hundertsten Rolle ein bißchenbesser kenne, so fühlt man, daß daran etwas Wahrheit ist.

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Dieses offenkundige Paradox ist nämlich auch ein Gleichnis.Es enthält eine Moral. Sie besagt, daß ein Mensch ebensosehraus seinen Verstellungen wie aus seinen aufrichtigen Regun-gen zu erklären ist. Im Unterton schwingen da Gefühle mit,die unzugänglich im Herzen verborgen sind; sie verraten sichaber teilweise durch Handlungen, die sie stillschweigendvoraussetzen, und durch Geisteshaltungen, denen sie zugrun-de liegen. Es ist wohl verständlich, daß ich damit eine Me-thode definiere. Es ist aber wohl auch klar, daß es eine Me-thode der Analyse und nicht eine Methode der Erkenntnis ist.Methoden schließen nämlich metaphysische Positionen einund lassen unabsichtlich Folgerungen sichtbar werden, die siemanchmal angeblich noch nicht kennen. So sind die letztenSeiten eines Buches schon in seinen ersten enthalten. DieseSchwierigkeit läßt sich nicht umgehen. Die hier definierteMethode gibt zu, daß jede wirkliche Erkenntnis unmöglich ist.Wir können immer nur Erscheinungsformen aufzählen und dasKlima spürbar machen.

Das Klima der Absurdität

Vielleicht können wir also dem unfaßbaren Gefühl des Absur-den in den verschiedenartigen und doch verwandten Welten

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des Geistes, der Lebenskunst und der Kunst überhaupt aufdie Spur kommen. Am Anfang steht das Klima der Absurdität.Das Ziel ist das absurde Universum und jene Geisteshaltung,die die Welt mit einem angemessenen Lichte erhellt und so inihr jenes bevorzugte und ununerbittliche Gesicht aufleuchtenläßt, das sie der Welt zuerkennen zu müssen glaubt.

Alle großen Taten und alle großen Gedanken haben in ih-ren Anfängen etwas Lächerliches. Die bedeutenden Werkewerden oft an einer Straßenecke oder in der Windfangtüreines Restaurants geboren. So ist es auch mit der Absurdität.Mehr als irgendeine andere Welt verdankt die Welt des Ab-surden ihren Adel dieser niedrigen Herkunft. Antwortet einMensch auf die Frage, was er denke, in gewissen Situationenmit <nichts>, so kann das Verstellung sein. Verliebte wissendas genau. Ist diese Antwort aber aufrichtig, stellt sie densonderbaren Seelenzustand dar, in dem die Leere beredtwird, die Kette alltäglicher Gebärden zerrissen ist und dasHerz vergeblich das Glied sucht, das sie wieder zusammen-fügt – dann ist sie gleichsam das erste Anzeichen der Absurdi-tät.

Dann stürzen die Kulissen ein. Aufstehen, Straßenbahn,vier Stunden Büro oder Fabrik, Essen, Straßenbahn, vierStunden Arbeit, Essen, Schlafen, Montag, Dienstag, Mitt-

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woch, Donnerstag, Freitag, Samstag, immer derselbe Rhyth-mus – das ist sehr lange ein bequemer Weg. Eines Tages abersteht das <Warum> da, und mit diesem Überdruß, in den sichErstaunen mischt, fängt alles an. <Fängt an> – das ist wich-tig. Der Überdruß ist das Ende eines mechanischen Lebens,gleichzeitig aber auch der Anfang einer Bewußtseinsregung.Er weckt das Bewußtsein und bereitet den nächsten Schrittvor. Der nächste Schritt ist die unbewußte Umkehr in dieKette oder das endgültige Erwachen. Schließlich führt diesesErwachen mit der Zeit folgerichtig zu der Lösung: Selbstmordoder Wiederherstellung. An sich hat der Überdruß etwas Wi-derliches. Hier jedoch muß ich zu der Überzeugung kommen,daß er gut ist. Denn mit dem Bewußtsein fängt alles an, undnur durch das Bewußtsein hat etwas Wert. Diese Feststellun-gen sind keineswegs originell. Sie liegen vielmehr auf derHand, und für eine summarische Bekanntschaft mit den Ur-sprüngen des Absurden genügen sie einstweilen. Die einfache<Sorge> ist, wie HEIDEGGER es ausdrückt, aller Dinge Anfang.

So trägt uns im Alltag eines geruhsamen Lebens die Zeit.Stets aber kommt ein Augenblick, da wir sie tragen müssen.Wir leben auf die Zukunft hin: <morgen>, <später>, <wenndu dazu in der Lage bist>, <wenn du älter bist, wirst du'sverstehen>. Diese Inkonsequenzen sind bewundernswert,

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denn schließlich müssen wir ja doch sterben. Es kommt einTag, da stellt der Mensch fest, daß er dreißig Jahre alt ist.Damit beteuert er seine Jugend. Zugleich aber bestimmt erseine Situation, indem er sich in Beziehung zur Zeit setzt. Ernimmt in ihr seinen Platz ein. Er erkennt, daß er sich an ei-nem bestimmten Punkt einer Kurve befindet, die er – dazubekennt er sich durchlaufen muß. Er gehört der Zeit, und mitjenem Grauen, das ihn dabei packt, erkennt er in ihr seinenschlimmsten Feind. Ein Morgen wünscht er sich, ein Morgen,während doch sein ganzes Selbst sich dem widersetzen soll-te. Dieses Aufbegehren des Fleisches ist das Absurde7

Verfremdung

Eine Stufe tiefer, – und die Verfremdung ergreift uns: dieWahrnehmung, daß die Welt <dicht> ist, die Ahnung, wiesehr ein Stein fremd ist, undurchdringbar für uns, und mitwelcher Intensität die Natur oder eine Landschaft uns ver-

7 Allerdings nicht im eigentlichen Sinne. Es handelt sich nicht um eineDefinition, sondern um eine Aufzählung der Gefühle, die Absurdes zulas-sen. Auch mit der vollständigen Aufzählung hat man das Absurde jedochnicht erschöpft.

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neint. In der Tiefe jeder Schönheit liegt etwas Unmenschli-ches, und diese Hügel, der sanfte Himmel, die Konturen derBäume – sie verlieren im Augenblick den trügerischen Sinn,mit dem wir sie bedachten, und liegen uns von nun an fernerals ein verlorenes Paradies. Die primitive Feindseligkeit derWelt, die durch die Jahrtausende besteht, erhebt sich wiedergegen uns. Eine Sekunde lang verstehen wir die Welt nichtmehr: jahrhundertelang haben wir in ihr nur die Bilder undGestalten gesehen, die wir zuvor in sie hineingelegt hatten,und nun verfügen wir nicht mehr über die Kraft, von diesemKunstgriff Gebrauch zu machen. Die Welt entgleitet uns: siewird wieder sie selbst. Die gewohnheitsmäßig maskiertenKulissen werden wieder was sie wirklich sind. Sie rücken unsfern. Wie es Tage gibt, an denen man unter dem vertrautenGesicht einer Frau jene andere wie eine Fremde wiederent-deckt, die man vor Monaten oder Jahren geliebt hatte, sowerden wir uns vielleicht gerade das wünschen, was unsplötzlich so einsam macht. Aber so weit ist es noch nicht.Eines nur: diese Dichte und diese Fremdartigkeit der Weltsind das Absurde.

Auch die Menschen sondern Unmenschliches ab. In gewis-sen hellsichtigen Stunden läßt das mechanische Aussehenihrer Bewegungen, ihre sinnlos gewordene Pantomime alles

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um sie herum stumpfsinnig erscheinen. Ein Mensch sprichthinter einer Glaswand ins Telephon, man hört ihn nicht, mansieht nur sein sinnloses Mienenspiel: man fragt sich, warumer lebt. Dieses Unbehagen vor der Unmenschlichkeit desMenschen selbst, dieser unberechenbare Sturz vor dem Bildedessen, was wir sind, dieser <Ekel>, wie ein zeitgenössischerSchriftsteller es nennt, ist auch das Absurde. Auch der Frem-de, der uns in gewissen Augenblicken in einem Spiegel be-gegnet, der vertraute und doch beunruhigende Bruder, denwir auf unseren eigenen Photographien sehen, ist wiederumdas Absurde.

Die blutige Mathematik, die über uns herrscht

Endlich komme ich auch zum Tode und zu unserem Gefühlihm gegenüber. Darüber ist schon alles gesagt worden, undwir haben uns davor zu hüten, pathetisch zu werden. Mankann jedoch nie genug darüber staunen, daß jeder so lebt,als ob niemand <wüßte>. Tatsächlich haben wir vom Todekeinerlei Erfahrung. Erprobt im eigentlichen Sinne hat mannur, was man erlebt und bewußt gemacht hat. Es ist alsoganz richtig, soweit es möglich ist, von der Erfahrung beimTode der anderen zu sprechen. Das ist Notbehelf, eine gei-

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stige Anschauung, die uns nie sehr überzeugt. Diese trübseli-ge Konvention kann nicht überzeugend sein. Das Grauenrührt in Wirklichkeit von der rechnerischen Seite des Ereig-nisses her. Die Zeit erschreckt uns mit ihrer praktischen Lek-tion, die Lösung kommt erst hinterher. Alle schönen Gesprä-che über die Seele bekommen hier, wenigstensvorübergehend, einen neuen Beweis ihres Gegenteils. Ausdem leblosen Körper, auf dem eine Ohrfeige kein Mal mehrhinterläßt, ist die Seele verschwunden. Diese elementareund endgültige Seite des Abenteuers ist der Inhalt des absur-den Gefühls. Im tödlichen Licht dieses Verhängnisses tritt dieNutzlosigkeit in Erscheinung. Keine Moral und keinerlei Stre-ben lassen sich a priori vor der blutigen Mathematik recht-fertigen, die über uns herrscht.

Noch einmal: all dieses ist immer wieder gesagt worden.Ich beschränke mich hier auf eine flüchtige Klassifizierungund auf die Andeutung dieser unabweisbaren Themen. Siespielen in der gesamten Literatur und in allen Philosophieneine Rolle. Auch das tägliche Gespräch lebt von ihnen. Eshandelt sich nicht darum, sie aufs neue zu entwickeln. Wirmüssen nur dieser evidenten Tatsachen sicher sein, um unsüber die Grundfrage verständigen zu können. Ich wiederholees noch einmal: mich interessiert nicht so sehr die Entdek-

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kung des Absurden wie deren Konsequenzen. Wenn man die-ser Tatsachen sicher ist – was muß man aus ihnen schließen?Wie weit muß man gehen, um nirgends auszuweichen? Mußman freiwillig sterben oder trotz alledem hoffen? Zuvor je-doch müssen wir dieselbe flüchtige Überprüfung auf der Ebe-ne des Verstandes vornehmen.

Bedürfnis nach Klarheit

Der erste Schritt des Geistes besteht darin, zwischen Wah-rem und Falschem zu unterscheiden. Dennoch ist die ersteEntdeckung des Denkens, das über sich selbst reflektiert, einWiderspruch. Es wäre eine unnötige Mühe, hier noch Über-zeugendes zu sagen. Seit Jahrhunderten gibt es hierüberkeine klarere und elegantere Darlegung als die des ARISTO-TELES: <Die oft belachte Konsequenz dieser Ansichten istdie, daß sie sich selbst zerstören. Denn mit der Behauptung,daß alles wahr sei, behaupten wir auch die Wahrheit derentgegengesetzten Behauptung und damit die Falschheitunserer eigenen These (denn die entgegengesetzte Behaup-tung kann dann nicht wahr sein). Wenn man aber sagt, allessei falsch, dann ist auch diese Behauptung falsch. Wenn manerklärt, einzig die unserer Aussage entgegengesetzte Behaup-

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tung sei falsch oder allein unsere Behauptung sei nichtfalsch, dann müssen wir nichtsdestoweniger eine Unzahlwahrer und falscher Urteile zulassen. Denn wer eine wahreBehauptung ausspricht, behauptet zugleich, daß sie wahr sei,und so fort bis ins Unendliche.>

Dieser circulus vitiosus ist nur der erste in einer Reihe, beiwelcher der sich selbst betrachtende Geist in einen schwin-delnden Wirbel gerät. Gerade die Einfachheit dieser Parado-xe macht sie unauflösbar. Wie die Wortspiele und die logi-schen Kniffe auch aussehen mögen – verstehen heißt vorallem zusammenfassen. Das tiefe Verlangen des Geistes stößtselbst bei seinen verwegensten Schritten noch auf das unbe-wußte Gefühl des Menschen vor seinem Universum: das Be-dürfnis nach Vertrautsein, das Verlangen nach Klarheit. DieWelt verstehen heißt für einen Menschen: sie auf dasMenschliche zurückführen, ihr ein menschliches Siegel auf-drücken. Die Welt der Katze ist nicht die Welt des Ameisen-bären. Nichts anderes besagt der Gemeinplatz: <Alles Denkenist antropomorph.> So kann der Geist, der die Wirklichkeitbegreifen will, erst dann zufrieden sein, wenn er sie aufDenkbegriffe zurückführt. Wenn der Mensch erkennen würde,daß auch das Universum lieben und leiden kann, dann wäreer versöhnt. Entdeckte das Denken im Wechselspiel der Er-

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scheinungen ewige Beziehungen, die sie und das Denkenselbst einem einzigen Prinzip unterordnen, dann könnten wirvon einem Glück des Geistes sprechen, an dem gemessen derMythos der Seligen nur ein lächerliches Surrogat wäre. DiesesHeimweh nach der Einheit, dieses Verlangen nach dem Ab-soluten enthüllt das wesentliche Agens des menschlichenDramas. Nur bedeutet das tatsächliche Vorhandensein diesesHeimwehs nicht, daß es unverzüglich gestillt werden müsse.Denn wenn wir den Abgrund zwischen Wunsch und Erfüllungüberspringen und mit PARMENIDES die Wirklichkeit des <Ei-nen> (wie immer es beschaffen sein möge) behaupten, danngeraten wir in den lächerlichen Widerspruch eines Geistes,der die totale Einheit behauptet und gerade durch die Be-hauptung sein eigenes Anderssein und die Mannigfaltigkeitbeweist, die er angeblich aufgehoben hat. Dieser weiterecirculus vitiosus genügt, um unsere Hoffnungen zunichte zumachen,

Heimweh und Unwissenheit

Auch diese Tatsachen sind unabweisbar. Ich wiederhole nocheinmal: sie sind nicht an sich interessant, sondern nur in denKonsequenzen, die daraus gezogen werden können. Noch

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etwas anderes ist klar: der Mensch ist sterblich. Man kannjedoch die Köpfe zählen, die daraus die letzten Schlüsse ge-zogen haben. Es gilt zu sehen, daß in diesem Versuch immer-fort Bezug genommen wird auf das ständige Ineinanderglei-ten dessen, was wir zu wissen glauben, und dessen, was wirwirklich wissen, des praktischen Einverständnisses und dervorgetäuschten Unwissenheit, die bewirkt, daß wir mit Vor-stellungen leben, die, wenn wir sie wirklich auf die Probestellten, unser ganzes Leben erschüttern müßten. Geradeangesichts dieses unentwirrbaren geistigen Widerspruchswerden wir die Kluft völlig begreifen, die uns von unsereneigenen Schöpfungen trennt. Solange der Geist in der reglo-sen Welt seiner Hoffnungen schweigt, spiegelt und ordnetsich alles zu jener Einheit, die sein Heimweh ersehnt. Beiseiner ersten Regung aber wird diese Welt brüchig, sie stürztein, und wir haben es mit einer Unzahl schillernder Bruch-stücke zu tun. Wir müssen es verzweifelt aufgeben, aus ih-nen jemals die vertraute, ruhige Oberfläche, die uns denFrieden des Herzens geben würde, wiederherzustellen. Nachjahrhundertelangem Forschen, nach der Resignation so vielerDenker wissen wir genau, daß das auf unser ganzes Wissenzutrifft. Außer den berufsmäßigen Rationalisten verzweifeltman heute an der wahren Erkenntnis. Wollte man die einzig

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gültige Geschichte des menschlichen Denkens schreiben, sowürde es die Geschichte seiner fortgesetzten Reue und sei-ner Ohnmacht werden.

Von wem oder wovon kann ich tatsächlich behaupten:<Das kenne ich!> Das Herz in mir kann ich fühlen, und ichschließe daraus, daß es existiert. Die Welt kann ich berüh-ren, und auch daraus schließe ich, daß sie existiert. Damitaber hört mein ganzes Wissen auf; alles andere ist Konstruk-tion. Wenn ich nämlich dieses ich, dessen ich so sicher bin,zu fassen, wenn ich es zu definieren und zusammenfassendzu bestimmen versuche, dann zerrinnt es mir wie Wasserzwischen den Fingern. Ich kann nacheinander alle Gesichternachzeichnen, die es annehmen kann, auch alle Gesichter,die man ihm gegeben hat – Erziehung, Herkunft, Leidenschaftoder Ruhe, Größe oder Niedertracht. Addieren aber kannman Gesichter nicht. Selbst dieses Herz, das doch meines ist,wird mir immer unerklärbar bleiben.

Die Kluft zwischen der Gewißheit meiner Existenz und demInhalt, den ich dieser Gewißheit zu geben suche, ist nie zuüberbrücken. Ich werde mir selbst immer fremd bleiben. Inder Psychologie wie in der Logik gibt es Wahrheiten, aberkeine Wahrheit. Das <Erkenne dich selbst> des SOKRATES istebensoviel wert wie das <Sei tugendhaft> unserer Beicht-

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stühle. Beide Aussprüche verraten Heimweh und gleichzeitigUnwissenheit. Das sind unfruchtbare Spielereien mit großenDingen. Sie sind nur genau in dem Maße berechtigt, als sieannähernd gemeint sind.

Auch das Denken führt nicht weiter

Bäume gibt es außerdem, deren runzlige Rinde ich kenne,und Wasser, dessen Geschmack ich koste. Dieser Grasduftund Sternenschein, die Nacht, Abende, an denen das Herzweit wird – wie könnte ich die Welt leugnen, deren Machtund Stärke ich erfahre? Trotzdem gibt mir alles Wissen überdiese Erde nichts, was mir die Sicherheit gäbe, daß dieseWelt mir gehört. Man kann sie mir beschreiben, und mankann mich lehren, sie zu klassifizieren. Man kann ihre Geset-ze aufzählen, und in meinem Wissensdurst halte ich sie fürwahr. Man kann ihren Mechanismus auseinandernehmen, undmeine Hoffnung wächst. Zuallerletzt lehrt man mich, dieseszauberhafte und farbenprächtige Universum lasse sich aufdas Atom zurückführen und das Atom wieder auf das Elek-tron. Das ist alles sehr schön, und ich warte, wie es, weiter-gehen soll. Da erzählt man mir aber von einem unsichtbarenPlanetensystem, in dem die Elektronen um einen Kern krei-

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sen. Man erklärt mir die Welt mit einem Bild. jetzt merkeich, daß wir bei der Poesie gelandet sind: nie werde ichwirklich etwas wissen. Habe ich etwa Zeit, darüber entrüstetzu sein? Man ist schon wieder bei einer anderen Theorie. Soläuft diese Wissenschaft, die mich alles lehren sollte,schließlich auf eine Hypothese hinaus, die Klarheit taucht ineiner Metapher unter, die Ungewißheit stellt sich als einKunstwerk heraus. Hatte ich so viele Anstrengungen nötig?Die sanften Linien dieser Hügel und die Hand des Abends aufmeinem erregten Herzen lehren mich viel mehr. Ich bin wie-der beim Ausgangspunkt angelangt. Ich begreife: wenn ichdie Erscheinungen wissenschaftlich fassen und aufzählenkann, dann kann ich damit noch nicht die Welt einfangen.Wenn ich ihre ganze Oberfläche mit dem Finger abtastete,wüßte ich auch nicht mehr von ihr. Und da soll ich wählenzwischen einer Beschreibung, die sicher ist, mich aber nichtslehrt, und Hypothesen, die mich angeblich etwas lehren,aber keineswegs sicher sind. Mir selber fremd und dieserWelt, ausgerüstet mit keinem anderen Hilfsmittel als miteinem Denken, das sich selbst negiert, sobald es eine Be-hauptung aufstellt – was ist das für eine Situation, in der ichnur Frieden finden kann durch die Ablehnung des Wissens unddes Lebens, in der die Eroberungslust an Mauern stößt, die

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diesen Begriffen trotzen? Wollen heißt Widersprüche wecken.Alles ist auf das Zustandekommen jenes vergifteten Friedenseingerichtet, den Sorglosigkeit, Trägheit des Herzens odertödliche Entsagung schenken.

Auch der Verstand sagt mir also auf seine Weise, daß dieseWelt absurd ist. Sein Widerpart, die blinde Vernunft, tutvergeblich so, als wäre alles klar; ich wartete auf Beweiseund wünschte, sie hätte recht. So vielen anmaßenden Jahr-hunderten zum Trotz, ja – auch so vielen und beredten über-zeugungskräftigen Männern zum Trotz weiß ich, daß es falschist. Auf dieser Ebene zumindest gibt es, wenn ich nicht wis-sen darf, kein Glück. Diese allgemeine, praktische oder mo-ralische Vernunft, dieser Determinismus, diese alles klären-den Kategorien haben für einen aufrichtigen Menschen etwasLächerliches. Sie haben mit dem Geist nichts zu tun. Sieleugnen seine tiefe Wahrheit: daß er in Fesseln liegt. In die-sem undeutbaren und begrenzten Universum bekommt dasSchicksal des Menschen nun seinen Sinn. Viele irrationaleGrößen sind aufgetaucht und bleiben bis zu seiner letztenStunde um ihn. In seiner neuen, nun auf Übereinkunft ge-gründeten Hellsichtigkeit wird das Gefühl für das Absurdeklarer und deutlicher. Ich sagte, die Welt sei absurd, undging damit zu rasch vor. An sich ist diese Welt nicht vernünf-

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tig – das ist alles, was man von ihr sagen kann. Absurd aberist die Gegenüberstellung des Irrationalen und des glühendenVerlangens nach Klarheit, das im tiefsten Innern des Men-schen laut wird. Das Absurde hängt ebensosehr vom Men-schen ab wie von der Welt. Es ist zunächst das einzige Bandzwischen ihnen. Es bindet sie so fest, wie nur der Haß dieGeschöpfe aneinanderketten kann. Das ist alles, was ich indieser maßlosen Welt, in der mein Abenteuer abläuft, klarerkennen kann. Halten wir hier einmal ein. Wenn ich dieseAbsurdität, die meine Beziehung zum Leben bestimmt, fürwahr halte, wenn ich mich von diesem Gefühl, das mich vordem Schauspiel der Welt ergreift, von dieser Hellsichtigkeit,die mir auf der Suche nach Erkenntnis erwächst, durchdrin-gen lasse, dann muß ich diesen Gewißheiten. alles opfernund muß ihnen ins Gesicht sehen, um sie aufrechterhalten zukönnen. Vor allem muß ich von ihnen mein Verhalten be-stimmen lassen und ihnen bis in ihre, letzten Konsequenzenhinein folgen. Ich spreche hier von Aufrichtigkeit. Zuvor aberwill ich wissen, ob in diesen Einöden das Denken gedeihenkann.

Das Absurde als Leidenschaft

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Ich weiß bereits, daß das Denken in diese Einöden zumindesteingedrungen ist. Es hat dort seine Nahrung gefunden. Es hatbegriffen, daß es bisher von Hirngespinsten gelebt hat. Es hateinigen ganz unabweisbaren Themen des menschlichenNachdenkens zum Vorwand gedient.

Ist die Absurdität erst einmal erkannt, dann wird sie zurLeidenschaft, zur herzzerreißendsten aller Leidenschaften.Aber wissen, ob man mit seinen Leidenschaften leben kann,wissen, ob man ihr tiefes Gesetz – nämlich das Herz zu ver-brennen, das sie gleichzeitig in Begeisterung versetzen – ak-zeptieren kann: das eben ist die Frage. Doch wollen wir unsdiese Frage noch nicht stellen. Sie steht im Mittelpunkt die-ser Untersuchung. Wir werden zu gegebener Zeit auf sie zu-rückkommen. Zunächst wollen wir die Themen und Regungenkennenlernen, die in der Einöde entstehen. Wir brauchen sienur aufzuzählen. Auch sie sind heute allen bekannt. Es hatimmer Menschen gegeben, die die Ansprüche des Irrationalenverteidigt haben. Die Tradition des demütigen Denkens, wiewir es einmal nennen wollen, ist immer lebendig geblieben.Der Rationalismus ist so oft kritisiert worden, daß man sichdamit offenbar nicht mehr abzugeben braucht. Trotzdemkommen heutzutage diese paradoxen Systeme wieder aufund grübeln darüber nach, wie man die Vernunft zum Strau-

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cheln bringen kann, als ob sie tatsächlich immer vorwärtsge-gangen wäre. Das aber ist nicht so sehr ein Beweis für dieWirksamkeit der Vernunft wie für die Intensität ihres Hof-fens. In der Geschichte illustriert diese Beharrlichkeit zweierHaltungen das Grundleiden des Menschen, der zwischen sei-nem Wunsch nach Einheitlichkeit und der klaren Erkenntnisder Mauern, die ihn einschließen, hin- und hergerissen wird.

Der Angriff gegen die Vernunft

Zu keiner Zeit aber war der Angriff gegen die Vernunft soheftig wie heute. Seit Zarathustras großem Ruf <Von Ohnge-fähr – das ist der älteste Adel der Welt, den gab ich allenDingen zurück ... als ich lehrte, daß über ihnen und durch siekein ewiger Wille – will>, seit KIERKEGAARDs <Krankheit zumTode>, diese Krankheit, <die zum Tode ist, bei der der Toddas Letzte und bei der das Letzte der Tod ist>, lösten be-zeichnende und quälende Themen des absurden Denkenseinander ab. Oder zumindest – und diese Nuance ist wesent-lich – Themen eines irrationalen und religiösen Denkens. VonJASPERS bis HEIDEGGER, von KIERKEGAARD bis SCHESTOW,von den Phänomenologen bis zu SCHELER sind – auf dem Ge-biet der Logik und auf dem Gebiet der Moral – alle Geister

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durch ihre Sehnsucht miteinander verwandt, wenngleich siein ihren Methoden und in ihren Zielen einander widerspre-chen, und sie sind eifrig darum bemüht, die königliche Straßeder Vernunft zu sperren und die echten Wege zur Wahrheitwiederzufinden. Ich setze diese Gedankengänge hier als be-kannt und durchlebt voraus. Was auch immer ihre Bestrebun-gen sein oder gewesen sein mögen – sie alle sind von diesemunaussprechlichen Universum ausgegangen, in dem Gegen-satz, Widerspruch, Angst und Ohnmacht herrschen. Und ge-meinsam sind ihnen gerade die Themen, die wir bisher auf-gezeigt haben. Auch für sie, muß man wohl annehmen, sindvor allem die Schlüsse wichtig, die sie aus diesen Entdeckun-gen ziehen konnten. So wichtig, daß sie gesondert untersuchtwerden müssen. Zunächst aber handelt es sich nur um ihreEntdeckungen und um ihre ersten Erfahrungen, nur um dieFeststellung ihrer Ubereinstimmung. So anmaßend es wäre,ihre Philosophien behandeln zu wollen, so ist es doch möglichund in jedem Falle ausreichend, ihr gemeinsames Klimaspürbar zu machen.

Heidegger

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HEIDEGGER betrachtet kalt die Situation des Menschen undverkündet, dieses Dasein sei erniedrigt. Die einzige Realitätin der ganzen Rangordnung der Geschöpfe sei die <Sorge>.Für den Menschen, der an die Welt und ihre Zerstreuungenverloren ist, stellt diese Sorge sich als eine kurze und vor-übergehende Furcht dar. Wird diese Furcht aber ihrer selbstbewußt, dann wird sie zur Angst, zum dauernden Klima desklarsehenden Menschen, <indem das Dasein, sich wiederfin-det>. Dieser Philosophie-Professor scheut sich nicht, in derdenkbar abstraktesten Sprache zu schreiben, daß <die End-gültigkeit und Begrenztheit des menschlichen Daseins ur-sprünglicher ist als der Mensch selber>. KANT interessiert ihn– aber nur, um die Begrenztheit seiner <reinen Vernunft>festzustellen und um am Ende seiner Untersuchungen zuschließen, <daß die Welt dem verängstigten Menschen nichtsmehr zu bieten habe>. Diese Sorge scheint ihm soviel wichti-ger als alle Kategorien der Welt, daß er über nichts anderesnachdenkt und spricht. Er zählt ihre verschiedenen Formenauf: den Überdruß, den der Durchschnittsmensch in sich aus-zugleichen und zu ersticken sucht; das Erschrecken des Gei-stes, der an den Tod denkt. Auch er trennt das Bewußtseinnicht mehr vom Absurden. Das Wissen um den Tod ist dieStimme der Sorge, und <das Dasein appelliert dann an sich

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selbst durch Vermittlung des Bewußtseins>. Dieses Wissen isteben die Stimme der Angst, die das Dasein beschwört, <ausseiner Verlorenheit in das anonyme Man zurückzukehren>.Auch für ihn ist es nicht erlaubt zu schlafen, sondern manmuß bis zum Ende wachen. Er hält sich in dieser absurdenWelt und beklagt ihre Vergänglichkeit. Mitten durch dieseTrümmer sucht er seinen Weg.

Jaspers

JASPERS verzweifelt an der gesamten Ontologie und möchtebeweisen, daß wir die <Naivität> verloren haben. Er weiß,daß wir nichts erreichen können, was das vergängliche Spielder Erscheinungen transzendiert. Er weiß, daß der Geist amEnde verlieren muß. Er verbreitet sich des längeren über diegeistigen Abenteuer, die wir aus der Geschichte kennen, unddeckt rücksichtslos das Versagen aller Systeme auf – die Illu-sion, die alles gerettet, und die Predigt, die nichts verborgenhat. In dieser verwüsteten Welt, in der die Unmöglichkeitjeglicher Erkenntnis erwiesen ist, in der das Nichts die einzi-ge Realität und die ausweglose Verzweiflung die einzig mög-liche Haltung zu sein scheinen, versucht er den Ariadnefadenwiederzufinden, der zu den göttlichen Geheimnissen führt.

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Schestow

SCHESTOW wiederum zeigt in einem bewundernswert eintö-nigen, unaufhörlich auf dieselben Wahrheiten ausgerichtetenWerk immer wieder, daß auch das lückenloseste System undder umfassendste Rationalismus schließlich immer auf dasIrrationale des menschlichen Denkens hinauslaufen. Ihm ent-geht keine unabweisbare Ironie, kein lächerlicher Wider-spruch, der die Vernunft herabsetzt. Ihn interessiert nureins: die Ausnahme, ob sie nun der Geschichte des Herzensoder des Geistes entspringen mag. DOSTOJEWSKIJs Untersu-chungen über den zum Tode Verurteilten, die übersteigertengeistigen Abenteuer NIETZSCHEs, die Verwünschungen Ham-lets oder die bittere Vornehmheit eines IBSEN – dergleichendient ihm nur dazu, die menschliche Auflehnung gegen dasUnabwendbare zu verfolgen, aufzuhellen und zu verherrli-chen. Er versagt der Vernunft seine Gründe und dringt miteiniger Entschlossenheit nur in jene farblose Einöde vor, inder alle Gewißheiten Stein geworden sind.

Kierkegaard

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KIERKEGAARD, vielleicht der fesselndste von allen, tut we-nigstens teilweise mehr, als das Absurde nur zu entdecken:er lebt es. Wenn ein Mann schreibt: <Das sicherste Ver-schweigen ist nicht das Schweigen, sondern das Sprechen>,dann stellt er zunächst fest, daß es keine absolute Wahrheitgibt, die eine an sich unmögliche Existenz befriedigend ma-chen könnte. Ein Don Juan des Erkennens, bedient er sichzahlreicher Pseudonyme und Widersprüche und schreibtgleichzeitig die <Erbaulichen Reden> und jenes Handbucheines zynischen Spiritualismus, das <Tagebuch des Verfüh-rers>. Er lehnt jeden Trost ab, jede Moral und alle beruhi-genden Grundsätze. Er trachtet nicht danach, den Schmerz,den der Stachel in seinem Herzen verursacht, zu lindern. ImGegenteil: er weckt ihn und stellt mit der verzweifeltenFreude eines freiwillig Gekreuzigten Stück für Stück, klar,ablehnend und possenhaft, eine Kategorie des Dämonischenauf. Dieses empfindsame und gleichzeitig grinsende Gesicht,diese Kapriolen, denen ein Schrei aus tiefster Seele folgt,sind der absurde Geist selber im Kampf mit einer Wirklich-keit, die stärker ist als er. Und auch dieses, geistige Aben-teuer, das KIERKEGAARD. in seine geliebten Skandale verwik-kelt, beginnt im Chaos einer Erfahrung, die ihrer Kulissen

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beraubt und ihrer ursprünglichen Zusammenhanglosigkeitpreisgegeben ist.

Husserl und die Phänomenologen

Auf der ganz anderen Ebene der Methode stellen HUSSERLund die Phänomenologen gerade durch ihre Übertreibungendie Welt in ihrer Mannigfaltigkeit wieder her und leugnen dietranszendierende Macht der Vernunft. Die Welt des Geisteswird von ihnen unabsehbar bereichert. Das Rosenblatt, derKilometerstein oder die menschliche Hand sind ebenso be-deutsam wie die Liebe, das Verlangen oder die Gesetze derGravitation. Denken heißt nicht mehr zusammenfassen, dieErscheinungen unter einem großen Prinzip vertraut machen.Denken heißt wieder sehen lernen, aufmerksam sein, seinBewußtsein lenken, heißt aus jedem Gedanken und jedemBild (wie bei PROUST) etwas ganz Besonderes machen. Para-doxerweise ist alles etwas ganz Besonderes. Das Denken wirddurch äußerste Bewußtheit gerechtfertigt. Eindeutiger alsKIERKEGAARD und SCHESTOW leugnet jedoch HUSSERL ur-sprünglich die klassische Methode der Vernunft; er hintergehtdie Hoffnung und eröffnet der Intuition und dem Herzen eineimmer wachsende Menge von Phänomenen, deren Reichtum

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schon etwas Unmenschliches hat. Diese Wege führen zu je-dem Wissen oder zu keinem. Das heißt: hier ist das Mittelwichtiger als der Zweck. Es handelt sich nur um <eine Er-kenntnis-Haltung>, nicht um einen Trost. Ich wiederhole:ursprünglich wenigstens.

Spürt man nicht die tiefe Verwandtschaft dieser Geister?Sieht man nicht, daß sie sich um etwas Bitteres und ganzBesonderes scharen, das keine Hoffnung mehr zuläßt? Ich willentweder alles erklärt haben oder nichts. Und die Vernunftist vor diesem Schrei des Herzens machtlos. Der so geweckteGeist sucht und findet nur Widersprüche und Faseleien. Wasich nicht begreife, ist unvernünftig. Die Welt ist voller irra-tionaler Dinge. Sie allein, deren einzigartige Bedeutung ichnicht begreife, ist nur ein riesiges Irrationales. Könnte manein einziges Mal sagen: <Das ist klar>, dann wäre alles geret-tet. Diese Männer aber verkünden je nach Laune, daß nichtsklar und alles ein Chaos sei, daß der Mensch nichts klar sehenund genau erkennen könne – nur die Mauern, die ihn umge-ben.

Alle diese Untersuchungen stimmen miteinander übereinund überschneiden sich. Der Geist, der zur äußersten Grenzevorgedrungen ist, muß ein Urteil fällen und seine Schlüsseziehen. Hierher gehören der Selbstmord und dessen Widerle-

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gung. Ich will aber umgekehrt vorgehen, will von dem geisti-gen Abenteuer ausgehen und dann wieder auf das täglicheVerhalten zurückkommen. Die Erfahrungen, die ich hier be-schworen habe, sind in der Einöde zustande gekommen, diewir nicht wieder verlassen dürfen. Wenigstens müssen wirwissen, wie weit sie vorgedrungen sind. An diesem Punktseiner Bemühungen steht der Mensch vor dem Irrationalen.Er fühlt in sich sein Verlangen nach Glück und Vernunft. DasAbsurde entsteht aus dieser Gegenüberstellung des Men-schen, der fragt, und der Welt, die vernunftwidrig schweigt.Das dürfen wir nicht vergessen. Daran müssen wir uns klam-mern, weil die ganze Folgerichtigkeit eines Lebens daraushervorgehen kann. Das Irrationale, das Heimweh des Men-schen und das Absurde, das sich aus ihrem Zwiegesprächergibt, sind die drei Figuren des Dramas, das notwendiger-weise mit der ganzen Logik enden muß, deren eine Existenzfähig ist.

DER PHILOSOPHISCHE SELBSTMORD

Der Begriff des Absurden

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Das Gefühl für das Absurde ist nicht gleichbedeutend mitdem Begriff des Absurden. Es begründet ihn nur in gewisserHinsicht. Es verdichtet sich zum Begriff nur in dem kurzenAugenblick, in dem es sein Urteil über das Universum aus-spricht. Es darf dabei nicht stehenbleiben. Es ist etwas Le-bendiges, das heißt: es muß sterben oder weiterklingen. Da-her haben wir andere Themen mit ihm verbunden. Aber auchda interessieren mich keineswegs Werke oder Geister, die inanderer Form und in anderem Zusammenhang kritisch be-leuchtet werden müßten, sondern die Aufdeckung des Ge-meinsamen in ihren Schlußfolgerungen. Vielleicht hat es nieso viele verschiedene Geister gegeben. Trotzdem aber er-kennen wir die Identität der geistigen Landschaften, in de-nen sie sich bewegen. Ebenso erklingt am Ende des Weges,den uns sehr verschiedenartige Wissenschaften weisen, der-selbe Schrei. Man spürt genau, daß die Geister, von denenhier gesprochen wurde, ein gemeinsames Klima haben. Es istkaum eine Wortspielerei, wenn ich behaupte dieses Klima seimörderisch. Wenn man unter diesem schwülen Himmel lebt,muß man entweder fliehen oder ausharren. Im ersten Fallehandelt es sich darum, zu wissen, wie man flieht, im zwei-ten, warum man bleibt. So definiere ich das Problem des

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Selbstmordes und das Interesse, das man den Schlußfolge-rungen der Existenzphilosophie entgegenbringen kann.

Zuvor will ich noch einen Augenblick abschweifen. Bisherhaben wir das Absurde von außen her umschreiben können.Man kann sich jedoch fragen, was an diesem Begriff klar ist,und kann versuchen, durch direkte Analyse einerseits seineBedeutung, andererseits die aus ihm sich ergebenden Folge-rungen zu finden.

Wenn ich einen Unschuldigen eines ungeheuerlichen Ver-brechens bezichtige, wenn ich von einem tugendhaften Men-schen behaupte, er habe seine leibliche Schwester begehrt,so wird er mir antworten, das sei absurd. Diese Entrüstunghat ihre komische Seite. Sie hat aber auch ihren tiefen Sinn.Der tugendhafte Mensch bringt mit dieser Entgegnung denabsoluten Widerspruch zwischen der ihm unterstelltenHandlung und seinen Lebensgrundsätzen zum Ausdruck. <Dasist absurd> bedeutet: <Das ist unmöglich>, aber auch: <Dasist ein Widerspruch in sich>. Wenn ich sehe, wie ein Menschsich mit blanker Waffe auf eine Maschinengewehrgruppestürzt, dann werde ich sein Unternehmen absurd finden.Aber das ist es nur auf Grund des Mißverhältnisses zwischenseiner Absicht und dem, was ihn wirklich erwartet, auf Grunddes Widerspruchs, den ich zwischen seinen wirklichen Kräf-

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ten und seinem Ziele feststellen kann. Ebenso erachten wireinen Urteilsspruch als absurd, wenn wir ihn dem durch denTatbestand offensichtlich geforderten Urteil entgegenhalten.In gleicher Weise ergibt sich ein weiterer Aufweis des Absur-den, wenn man die Konsequenzen dieser Überlegung mit derlogischen Realität vergleicht, die wir herstellen wollen. Inallen diesen Fällen, vom einfachsten bis zum verzwicktesten,wird die Absurdität um so größer sein, je mehr meine Ver-gleichsobjekte voneinander abweichen. Eine Ehe, eine Her-ausforderung, ein Groll, ein Schweigen, ein Krieg und auchein Frieden können absurd sein. Bei jedem entsteht die Ab-surdität durch einen Vergleich. Ich darf also wohl sagen, daßdas Gefühl der Absurdität nicht aus der einfachen Untersu-chung einer Tatsache oder eines Eindrucks entsteht, sonderndaß es seinen Ursprung in einem Vergleich hat, in einem Ver-gleich zwischen einem Tatbestand und einer bestimmtenRealität, zwischen einer Handlung und der Welt, die, stärkerist als sie. Das Absurde ist im wesentlichen ein Zwiespalt. Esist weder in dem einen noch in dem anderen verglichenenElement enthalten. Es entsteht durch deren Gegenüberstel-lung.

Im Bereich und auf der Ebene des Verstandes kann ich alsosagen, daß das Absurde nicht im Menschen (wenn eine solche

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Metapher einen Sinn hätte) und auch nicht in der Welt liegt,sondern in ihrem gemeinsamen und gleichzeitigen Vorhan-densein. Das ist zunächst das einzige Band, das sie verbindet.Wenn ich mich dabei an die augenscheinlichen Tatsachenhalten will, dann weiß ich, was der Mensch will und was dieWelt ihm bietet; und jetzt kann ich auch sagen: außerdemweiß ich noch, was beide miteinander verbindet. Ich brauchenicht weiterzugrübeln. Dem Forschenden genügt eine einzigeGewißheit. Es handelt sich nur darum, alle Konsequenzendaraus zu ziehen.

Die unmittelbare Konsequenz ist gleichzeitig eine metho-dische Regel. Die eigentümliche Dreieinigkeit, die dabei ansLicht kommt, ist durchaus kein plötzlich entdecktes Amerika.Nur hat sie mit den Erfahrungstatsachen das gemein, daß siezugleich unendlich einfach und unendlich kompliziert ist.Ihre erste Eigenschaft in dieser Hinsicht ist, daß sie unteilbarist. Zerstört man eines ihrer Glieder, dann zerstört man sieganz und gar. Außerhalb eines menschlichen Geistes kann esnichts Absurdes geben. So endet das Absurde wie alle Dingemit dem Tode. Es kann aber auch außerhalb dieser Weltnichts Absurdes geben. Und aus diesem grundlegenden Krite-rium schließe ich, daß der Begriff des Absurden etwas We-sentliches ist und als meine erste Wahrheit gelten kann. So

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lautet die oben erwähnte methodische Regel. Wenn ich et-was als wahr erkenne, muß ich daran festhalten. Wenn ichein Problem lösen will, dann darf ich zumindest durch dieseLösung nicht einen Bestandteil dieses Problems verschwindenlassen. Das einzig Gegebene ist für mich das Absurde. DasProblem ist: zu wissen, wie man da herauskommt und ob ausdiesem Absurden der Selbstmord zu folgern ist. Die erste undim Grunde einzige Voraussetzung für meine Untersuchungenist, gerade das, was mich vernichtet, festzuhalten und infol-gedessen das, was ich darin für wesentlich halte, zu respek-tieren. Ich habe es als eine Gegenüberstellung und als einenpausenlosen Kampf definiert.

Absurde Logik

Und wenn ich diese absurde Logik zu Ende denke, dann mußich erkennen, daß dieser Kampf jede Hoffnung auszuschlie-ßen zwingt (was nichts mit Verzweiflung zu tun hat), daß erfortgesetzte Ablehnung voraussetzt (die nicht mit Entsagungzu verwechseln ist) und bewußtes Unbefriedigtsein (das mannicht mit jugendlicher Unrast gleichsetzen sollte). Alles, wasdiese Forderungen zerstört, verschwinden läßt oder verrin-gert (in erster Linie also die Zustimmung, die den Zwiespalt

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beseitigt), vernichtet das Absurde und entwertet die Hal-tung, die nun vorzuschlagen wäre. Das Absurde hat nur inso-weit einen Sinn, als man sich mit ihm nicht' einverstandenerklärt.

Ausweichen der Existenzphilosophie

Es gibt einen offenkundigen und anscheinend durchaus mora-lischen Tatbestand: ein Mensch ist immer das Opfer seinerWahrheiten. Hat er sie einmal erkannt, so kann er sich vonihnen nicht frei machen. Man muß eine Kleinigkeit bezahlen.Ein Mensch, dem das Absurde bewußt geworden ist, bleibtfür immer daran gebunden. Ein Mensch, der keine Hoffnunghat und sich dessen bewußt ist, hat keine Zukunft mehr. Dasist in Ordnung. Aber es ist gleichermaßen in Ordnung, daß ersich bemüht, dem von ihm geschaffenen Universum zu ent-rinnen. Alles Vorhergesagte hat eben nur im Hinblick aufdieses Paradox einen Sinn. In dieser Beziehung ist nichts auf-schlußreicher als eine Untersuchung darüber, wie die Men-schen, die von einer Kritik des Rationalismus aus das absurdeKlima erkannt haben, ihre Schlußfolgerungen weiterentwik-kelten.

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Nun, wenn ich mich an die Lehren der Existenzphilosophiehalte, so sehe ich, daß ausnahmslos alle mir ein Ausweichenvorgeschlagen haben. Sie gehen, vom Absurden aus, auf denTrümmern der Vernunft in eine geschlossene, auf dasMenschliche begrenzte Welt, und durch eine sonderbareÜberlegung vergöttlichen sie das, was sie zerschmettert, undsie finden einen Grund zur Hoffnung in dem, was sie hilflosmacht. Diese gewaltsame Hoffnung ist bei allen wesenhaftreligiös. Sie verdient es, daß wir näher auf sie eingehen.

Ich werde hier nur als Beispiele einige Themen analysie-ren, die SCHESTOW und KIERKEGAARD eigentümlich sind.Aber JASPERS wird uns, bis zur Karikatur überspitzt, ein typi-sches Beispiel für diese Haltung liefern. Dadurch wird allesandere klarer werden. JASPERS bleibt ohnmächtig, das Tran-szendente zu realisieren, unfähig, die Tiefe der Erfahrungauszuloten, behält aber dieses durch die Niederlage einge-stürzte Universum im Bewußtsein. Wird er weitergehen oderwenigstens Schlüsse aus dieser Niederlage ziehen? Er bringtnichts Neues. Er ist bei der Untersuchung nur zu dem Einge-ständnis seiner Ohnmacht gekommen und hat dabei nur einenVorwand für die Ableitung irgendeines zufriedenstellendenPrinzips gefunden. Dennoch bejaht er – ohne Rechtfertigung,wie er selber sagt – in einem Zuge zugleich das Transzenden-

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te, das Sein der Erfahrung und den übermenschlichen Sinndes Lebens, wenn er schreibt: <Das Scheitern zeigt jenseitsaller möglichen Erklärung und Auslegung doch nicht dasNichts, sondern das Sein der Transzendenz.> Dieses Sein, dasplötzlich durch einen blinden Akt des menschlichen Vertrau-ens alles erklärt, definiert er als <die unbegreifliche Einheitdes Allgemeinen und Individuellen>. So wird das AbsurdeGott (im weitesten Sinne des Wortes), und das Nichtverste-henkönnen wird das Sein, das alles erleuchtet. Nichts machtdiese Überlegung logisch. Ich kann sie einen Sprung nennen.Und paradoxerweise versteht man JASPERS Beharrlichkeitund seine unendliche Geduld, die Erfahrung des Transzen-denten unvollziehbar zu machen. Denn je mehr sich dieseAnnäherung verflüchtigt, desto deutlicher erweist sich dieAussichtslosigkeit dieser Definition und desto wirklicher istdas Transzendente selbst; denn die Leidenschaft, mit der eres bejaht, entspricht genau dem Abstand zwischen seinemDeutungsvermögen und der Irrationalität der Welt und derErfahrung. So scheint JASPERS mit um so größerer Erbitte-rung die Vorurteile der Vernunft zu zerstören, je radikaler erdurch sie die Welt zu erklären versucht. Dieser Apostel desdemütigen Denkens findet gerade in der äußersten Demüti-

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gung etwas, woraus er das Sein in seiner ganzen Tiefe wie-dererstehen läßt.

Umschlagen in Mystik

Das mystische Denken hat uns mit diesen Verfahren bekannt-gemacht. Sie sind genauso berechtigt wie irgendeine andereGeisteshaltung. Im Augenblick aber tue ich so, als nähme ichdieses Problem ernst. Ohne zunächst über den allgemeinenWert dieser Haltung oder über Ihren lehrhaften Sinn urteilenzu wollen, möchte ich sie nur daraufhin betrachten, ob sieden Bedingungen entspricht, die ich mir gestellt hatte, undob sie des Konflikts würdig ist, der mich interessiert. Sokomme ich wieder zu SCHESTOW. Ein Kommentator überlie-fert uns einen interessanten Ausspruch von ihm: <Der einzigwahre Ausweg liegt genau da, wo es nach menschlichem Er-messen keinen Ausweg gibt. Wäre es nicht so – wozu brauch-ten wir dann Gott? Gott wendet man sich nur zu, um dasUnmögliche zu erreichen. Für das Mögliche genügen die Men-schen.> Wenn es eine SCHESTOWsche Philosophie gibt, dannist sie darin gewiß vollständig enthalten. Wenn SCHESTOWnämlich am Schluß seiner leidenschaftlichen Analysen diefundamentale Absurdität des ganzen Daseins enthüllt, sagt er

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keineswegs: <Hier ist das Absurde>, sondern <Hier ist Gott:auf ihn dürfen wir uns berufen, wenn er auch in keine unse-rer Verstandeskategorien hineinpaßt.> Um jede Verwirrungzu vermeiden, läßt der russische Philosoph sogar durchblik-ken, daß dieser Gott vielleicht gehässig und hassenswert,unbegreiflich und widerspruchsvoll ist, daß er aber geradeda, wo sein Antlitz am scheußlichsten ist, am deutlichstenseine Macht offenbare. Seine Größe liegt in seiner Inkonse-quenz. Seine Unmenschlichkeit ist sein Beweis. Man muß inihn hineinspringen und sich mit diesem Sprung von allen ra-tionalen Illusionen frei machen. So bedeutet für SCHESTOWdie Anerkennung des Absurden gleichzeitig das Absurdeselbst. Es feststellen heißt: es anerkennen, und die logischeAufgabe seines Denkens ist es, das Absurde ans Licht zu brin-gen und damit gleichzeitig die gewaltige Hoffnung aufleuch-ten zu lassen, die es mit sich bringt. Noch einmal: diese Hal-tung ist berechtigt. Aber ich versteife mich hier darauf, eineinziges Problem mit allen seinen Konsequenzen zu erörtern.Ich habe nicht die Erhabenheit eines Gedankens oder einesGlaubensaktes zu untersuchen. Das kann ich mein ganzesLeben lang tun. Ich weiß, daß der Rationalist dieSCHESTOWsche Haltung aufreizend findet. Aber ich fühleauch, daß SCHESTOW dem Rationalisten gegenüber recht

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hat, und ich will nur wissen, ob er den Geboten des Absurdentreu bleibt.

Wenn man also zugibt, daß das Absurde das Gegenteil vonHoffnung ist, so sieht, man: das existentielle Denken setztfür SCHESTOW zwar das Absurde voraus, beweist es aber nur,um es wieder aufzulösen. Diese gedankliche Spitzfindigkeitist ein rührendes Jongleurspiel. Wenn SCHESTOW anderer-seits sein Absurdes der landläufigen Moral und der Vernunftgegenüberstellt, dann nennt er es Wahrheit und Erlösung. Inder Grundlegung wie in dieser Definition des Absurden istalso eine Zustimmung enthalten, die SCHESTOW ihm erstbeilegt. Erkennt man an, daß die ganze Macht dieses Begrif-fes darauf beruht, daß er unsere elementaren Hoffnungenzerstört, und fühlt man, daß das Absurde nur bestehen kann,sofern man mit ihm keineswegs einverstanden ist, dann hates, wie man wohl sieht, sein wahres Antlitz, seinen mensch-lichen und relativen Charakter verloren, um in eine unbe-greifliche und zugleich befriedigende Ewigkeit einzugehen.Wenn es das Absurde gibt, so nur im Universum des Men-schen. Sobald dieser Begriff sich in ein Sprungbrett zur Ewig-keit verwandelt, ist er nicht mehr auf die menschliche Klar-heit angewiesen. Dann ist das Absurde nicht mehr dieEvidenz, die der Mensch feststellt und nicht anerkennt. Der

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Kampf ist dann vermieden. Der Mensch integriert das Absur-de und löscht damit sein eigentliches Wesen aus: Auflehnung,Zerrissenheit und Zwiespalt. Dieser Sprung ist ein heimlichesAusweichen. Wenn SCHESTOW so gern das Hamlet-Wort <Thetime is out of joint> (<Die Zeit ist aus den Fugen>) zitiert, sotut er das mit einer Art wilder Hoffnung, die er ganz persön-lich hineinbringt. Denn nicht so sagt es Hamlet und schreibtes SHAKESPEARE. Die Trübung des Irrationalen und das Her-aufrufen der Ekstase verleiden einem klaren Geist das Absur-de. Für SCHESTOW ist die Vernunft eitel, aber jenseits derVernunft gibt es noch etwas. Für den absurden Geist ist dieVernunft eitel, und jenseits der Vernunft gibt es nichts.

Wenigstens kann dieser Sprung uns ein bißchen mehr überdie wahre Natur des Absurden aufklären. Wir wissen, daß esnur in einem Gleichgewicht gilt und daß es vor allem im Ver-gleich und ganz und gar nicht in den verglichenen Begriffensteckt. SCHESTOW aber legt das Schwergewicht gerade aufeinen dieser Begriffe und zerstört das Gleichgewicht. UnserBegreifenwollen, unser Heimweh nach dem Absoluten sindnur in dem Maße erklärlich, in dem wir viele Dinge begreifenund erklären können. Es ist sinnlos die Vernunft absolut zunegieren. Sie hat ihren Bereich, in dem sie wirksam ist. Es istgenau der Bereich der menschlichen Erfahrung. Von da aus

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wollten wir alles klarmachen. Wenn wir es nicht können undwenn dabei das Absurde entsteht, dann eben in dem Zusam-menstoß dieser wirksamen aber begrenzten Vernunft mitdem stets neu entstehenden Irrationalen. Wenn nunSCHESTOW an einem HEGELschen Satz wie diesem Anstoßnimmt: <Die Bewegungen des Sonnensystems vollziehen sichnach unwandelbaren Gesetzen, und diese Gesetze sind seineVernunft>, wenn er sich leidenschaftlich darum bemüht, denRationalismus SPINOZAs zu zerfasern, so schließt er darausgerade auf die Sinnlosigkeit jeglicher Vernunft. Und von daaus mit einer natürlichen und unberechtigten Wendung, aufden Vorrang des Irrationalen8.

Dieser Schritt aber ist nicht überzeugend. Denn hier kön-nen Begriffe wie Grenze und Ebene störend dazwischentre-ten. Die Naturgesetze können bis zu einer bestimmten Gren-ze gelten, darüber hinaus wenden sie sich gegen sich undlassen das Absurde entstehen. Oder sie lassen sich noch aufder Ebene der Beschreibung rechtfertigen, ohne deshalb aufder Ebene der Auslegung zu stimmen. Hier wird alles demIrrationalen geopfert, und wenn das Gebot der Klarheit bei-seitegelassen wird, verschwindet das Absurde mit einem

8 Beim Begriff der Ausnahme insbesondere und gegen ARISTOTELES.

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seiner Vergleichsbegriffe. Der absurde Mensch dagegenkommt nicht zu diesem Ausgleich. Er erkennt den Kampf an,verachtet nicht durchaus die Vernunft und gibt das Irratio-nale zu. Er beachtet also alle Erfahrungstatsachen und istwenig geneigt zu springen, bevor er weiß. Er weiß nur, daß indieser aufmerksamen Bewußtheit für die Hoffnung kein Platzmehr ist.

Kierkegaards Sprung

Was bei LEO SCHESTOW spürbar ist, wird bei KIERKEGAARDvielleicht noch deutlicher. Gewiß, bei einem so schwer greif-baren Autor ist es eine klare Lehre herauszuschälen. Abertrotz anscheinend gegensätzlicher Schriften und über allenPseudonymen, über allem Spiel und Lächeln taucht überall inseinem Werk so etwas wie die Ahnung (und gleichzeitig derBegriff) einer Wahrheit auf, die schließlich in den letztenWerken offen zutage tritt: auch KiERKEGAARD macht denSprung. Zum Christentum, dem Schrecken seiner Kindheit,kehrt er am Ende zurück, zu dessen strengster Gestalt. Auchbei ihm werden Widerspruch und Paradox Prüfsteine für denFrommen. Gerade das, was ihn am Sinn und an der Tiefedieses Lebens verzweifeln ließ, schenkt ihm jetzt seine

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Wahrheit und seine Klarheit. Das Christentum ist das Ärger-nis, und KIERKEGAARD verlangt ganz einfach nach dem drit-ten, von IGNATIUS VON LOYOLA geforderten Opfer, das Gottam meisten freut: <Das Opfer des Verstandes>9. Diese Wir-kung des <Sprunges> ist sonderbar, sie darf aber nicht mehrüberraschen. Er macht das Absurde zum Kriterium des Jen-seits, während es nur ein Rückstand diesseitiger Erfahrungist. <In seiner Niederlage>, sagt KIERKEGAARD, findet derGläubige seinen Sieg.>

Ich brauche mich nicht zu fragen, auf welche rührendePredigt diese Haltung zurückgeht. Ich muß mich nur fragen,ob die Erscheinung des Absurden und sein eigentliches Wesendiese Haltung rechtfertigen. Hier weiß ich aber, daß demnicht so ist. Wenn man den Inhalt des Absurden wiederumbetrachtet, wird man die Methode, von der KIERKEGAARDsich leiten läßt, besser verstehen. Er hält nicht das Gleich-

9 Man könnte meinen, ich vernachlässigte hier das wesentliche Problem:das Problem des Glaubens. Aber ich untersuche nicht die PhilosophieKIERKEGAARDS oder SCHESTOWS oder, weiter unten, HUSSERLS (dazubedarf es eines anderen Zusammenhanges und einer anderen Geist-eshaltung), ich greife bei ihnen nur ein Thema heraus und stelle fest obseine Folgerungen den bereits aufgestellten Regeln entsprechen. Das istnichts anderes als Eigensinn.

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gewicht zwischen dem Irrationalen der Welt und der aufge-führten Sehnsucht nach dem Absurden. Er mißachtet dieBeziehung zwischen beiden, die in Wahrheit das Gefühl derAbsurdität ausmacht. In der Gewißheit, dem Irrationalennicht entgehen zu können, will er sich wenigstens vor dieserverzweifelten Sehnsucht retten, die ihm unfruchtbar undbelanglos erscheint. Aber wenn dieser Punkt seiner Begrün-dung stimmen mag, so hat er nicht recht mit seiner Vernei-nung. Wenn er seinen Empörungsschrei durch eine besin-nungslose Zustimmung ersetzt, dann muß er schließlich dasAbsurde, das ihn bisher erleuchtete, ignorieren und die ein-zige Gewißheit, die er nun hat, das Irrationale, vergöttli-chen. Der Abbé GALIANI sagte zu Madame D’EPINAY: wichtigist nicht, gesund zu werden, sondern mit seinen Krankheitenzu leben. KIERKEGAARD will gesund werden. Gesund werden– das ist sein rasender Wunsch, jener, der immer wieder inseinem Tagebuch auftaucht. Sein Verstand gibt sich, alleMühe, dem Widerspruch der menschlichen Situation zu ent-rinnen. Eine um so verzweifeltere Anstrengung, als er inplötzlichen Lichtblicken ihrer Nutzlosigkeit gewahr wird,wenn er von ihr spricht, so als könnten weder Gottesfurchtnoch Frömmigkeit ihm den Frieden geben. So gibt er in qual-voller Flucht dem Irrationalen das Antlitz und seinem Gott

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die Eigenschaften des Absurden: ungerecht, inkonsequentund unbegreiflich. Nur sein Verstand versucht, das tiefeVerlangen des menschlichen Herzens zu unterdrücken. Danichts bewiesen ist, kann alles bewiesen werden.

KIERKEGAARD selbst klärt uns über den eingeschlagenenWeg auf. Ich will hier nichts hineingeheimnissen, aber wiesollte man aus seinen Büchern nicht die Anzeichen einer na-hezu freiwilligen seelischen Verstümmelung herauslesen, daja die Verstümmelung zum Absurden gutgeheißen wird? Sieist das Leitmotiv des <Tagebuchs>. <Sie hat mich im Stichgelassen, die Bestie, die auch zum menschlichen Schicksalgehört... Aber gebt mir doch einen Körper.> Und später:<Oh! was hätte ich nicht, besonders in früher Jugend, dafürgegeben, ein Mensch zu sein, nur ein halbes Jahr... was mirim Grunde fehlt, sind ein Körper und die physischen Grundla-gen der Existenz.> Im übrigen macht derselbe Mann sichtrotzdem den großen Hoffnungsschrei zu eigen, der so vieleJahrhunderte lang erscholl und so viele Herzen – außer demHerzen des absurden Menschen – bewegt hat: <Aber für denChristen ist der Tod keineswegs das Ende von allem; er ent-hält schließlich mehr Hoffnung, als das Leben uns bietet,selbst wenn es von Kraft und Gesundheit strotzt.> Die Ver-söhnung durch das Ärgernis ist immer noch Versöhnung. Sie

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erlaubt, wie man sieht, Hoffnung zu schöpfen aus dem Ge-genteil der Hoffnung, dem Tode. Aber selbst, wenn man ausMitgefühl zu dieser Haltung neigen wollte, so muß man dochsagen, daß die Maßlosigkeit nichts rechtfertigt. Das über-steigt, wie es heißt, jedes menschliche Maß, es muß alsoübermenschlich sein. Aber dieses <also> ist zu viel. Es gibthier keinerlei logische Gewißheit. Auch keine durch Erfah-rung gewonnene Wahrscheinlichkeit. Ich kann nur sagen, daßes tatsächlich mein Maß übersteigt. Wenn ich daraus keinennegativen Schluß ziehe, so will ich wenigstens auf dem Unbe-greiflichen nichts aufbauen. Ich will wissen, ob ich mit dem,was ich weiß, und nur damit leben kann. Weiter sagt manmir, der Verstand müsse hier seinen Stolz ablegen, und dieVernunft müsse sich beugen. Aber wenn ich die Grenzen derVernunft anerkenne, so leugne ich deshalb nicht die Vernunftselber, sondern erkenne ihre relative Macht an. Ich will michnur auf dem Mittelweg halten, auf dem der Verstand klarbleiben kann. Wenn das sein Stolz ist, dann sehe ich keinenhinreichenden Grund dafür, auf ihn zu verzichten. Beispiels-weise gibt es nichts Tieferes als KIERKEGAARDs Ansicht, daßdie Verzweiflung keine Tatsache, sondern ein Zustand sei:der Zustand der Sünde. Denn die Sünde entfernt von Gott.Das Absurde, der metaphysische Zustand des bewußten Men-

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schen, führt nicht zu Gott10. Vielleicht wird dieser Begriffklarer, wenn ich das Ungeheuerliche auszusprechen wage:das Absurde ist die Sünde ohne Gott.

Es geht darum, in diesem Zustande des Absurden zu leben.Ich weiß, worauf sie gegründet sind – dieser Geist und dieseWelt, die sich gegenseitig stützen und sich nicht umarmenkönnen. Ich brauche für diesen Zustand eine Lebensregel;was man mir aber vorschlägt, läßt das Grundlegende außeracht, leugnet den einen Begriff des schmerzlichen Gegensat-zes und befiehlt mir, etwas aufzugeben. Ich brauche etwas,das der Lage, die ich als die meine erkenne, gerecht wird;ich weiß, daß sie Dunkel und Unwissenheit einschließt, undman versichert mir, diese Unwissenheit erkläre alles, unddiese Nacht sei mein Licht. Man gibt mir aber keine Antwort,mit der ich etwas anfangen kann, und diese begeisterndeSchwärmerei kann mir das Paradox nicht verbergen. Man mußalso einen anderen Weg einschlagen. KIERKEGAARD ruft undverkündet: <Wenn der Mensch kein ewiges Gewissen hätte,wenn am Grund aller Dinge nichts anderes wäre als eine wil-de, brodelnde Kraft, die alles, das Große und das Geringe,

10 Ich habe nicht gesagt <schließt Gott aus>, was sich erst bestätigenmüßte.

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aus dem Strudel dunkler Leidenschaften hervorbrächte, wennunter den Dingen sich die bodenlose, durch nichts zu füllendeLeere verberge – was wäre dann das Leben anderes als Ver-zweiflung?> Dieser Schrei ist nicht dazu angetan, den absur-den Menschen zurückzuhalten. Das Wahre suchen heißt nicht:das Wünschenswerte suchen. Wenn man sich, um der angst-vollen Frage: <Was wäre dann das Leben?> zu entgehen, wieder Esel von den Rosen der Illusionen nähren muß, dann wirdder absurde Geist, statt in der Lüge zu resignieren, sich lie-ber ohne Zagen KIERKEGAARDs Antwort zu eigen machen:<die Verzweiflung>. Wenn man alles recht betrachtet, wirdeine entschlossene Seele stets damit fertig werden.

Die Verneinung ist Gott

Ich nehme mir die Freiheit, die existentielle Haltung hier<philosophischen Selbstmord> zu nennen. Das schließt aberkein Urteil ein. Es ist nur eine bequeme Art, die Regung zukennzeichnen, mit der ein Gedanke sich selber leugnet unddazu neigt, sich zu seiner Verneinung zu überschlagen. Fürdie Existentialisten ist die Verneinung Gott. Genaugenommenbehauptet dieser Gott sich nur durch die Verneinung der

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menschlichen Vernunft11. Aber die Götter ändern sich – wiedie Selbstmorde – mit den Menschen. Man kann auf vielerleiArt springen, wesentlich aber bleibt immer, daß man springt.Diese erlösenden Verneinungen, diese endgültigen Wider-sprüche, die das noch nicht übersprungene Hindernis leug-nen, können (das ist das Paradox, das diese Überlegung imAuge hat) ebensogut aus einer gewissen religiösen Inspirationwie aus einer rationalen Weisung kommen. Sie trachten im-mer nach dem Ewigen, und das eben heißt hier: sie machenden Sprung.

Eines muß noch gesagt werden: die Überlegung, die in die-sem Versuch angestellt wird, läßt ganz und gar die geistigeHaltung außer acht, die in unserem erleuchteten Jahrhundertam weitesten verbreitet ist, jene, die sich auf den Grundsatzstützt: alles sei Vernunft, und die darauf abzielt, die Welt zuerklären. Es ist natürlich, eine klare Anschauung von ihr zugeben, wenn man gelten läßt, daß die Welt klar sein muß.Das ist sogar berechtigt, nur ohne Belang für die Überlegung,die wir hier anstellen. Wir wollen hier lediglich den geistigenSchritt beleuchten, der von einer Philosophie der Sinnlosig-

11 Um es noch einmal zu präzisieren: nicht um die Bestätigung Gottes gehtes hier, sondern um die Logik, die zu dieser Bestätigung führt.

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keit der Welt ausgeht und ihr schließlich Sinn und Tiefe zuge-steht. Der pathetischste Schritt ist religiöser Art; er wirdsichtbar bei der Frage des Irrationalen. Der paradoxeste undbezeichnendste Schritt aber ist wohl der, der seine vernünf-telnden Erklärungen einer Welt zuteil werden läßt, die ersich ursprünglich ohne ein ordnendes Prinzip vorgestellt hat-te. Wir könnten jedenfalls nicht zu den Schlüssen kommen,die uns interessieren, wenn wir von dieser neuen Errungen-schaft geistiger Sehnsucht keine Vorstellung gegeben hätten.

Husserls <Intention>

Ich werde nun das Thema der <Intention> untersuchen, dasdurch HUSSERL und die Phänomenologen modern wurde. Ichhatte schon darauf angespielt, HUSSERLs Methode leugnetganz einfach das klassische Verfahren der Vernunft. Um es zuwiederholen: denken heißt nicht zusammenfassen, unterdem Gesichtspunkt eines großen Prinzips die Erscheinungvertraut machen; denken heißt wieder sehen lernen, heißtsein Bewußtsein lenken und aus jeder Vorstellung etwas Be-sonderes, Bevorzugtes machen. Oder anders ausgedrückt: diePhänomenologie weigert sich, die Welt zu erklären, sie willnur Erlebtes beschreiben. Mit ihrer Ausgangs-Behauptung,

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daß es keine Wahrheit, sondern nur Wahrheiten gebe, stößtsie auf das absurde Denken. Vom Abendwind bis zu dieserHand auf meiner Schulter hat jedes Ding seine Wahrheit. DasBewußtsein erhellt sie durch die Aufmerksamkeit, die es ihrzuwendet. Das Bewußtsein formt nicht den Gegenstand sei-ner Erkenntnis, es fixiert nur, ist nur ein Akt der Aufmerk-samkeit und gleicht, um ein Bild BERGSONs zu gebrauchen,dem Projektionsapparat, der sich plötzlich auf ein Bild rich-tet. Der Unterschied besteht darin, daß es kein Szenariumgibt, sondern nur nach und nach eine unzusammenhängendeIllustration. Bei dieser laterna magica sind schließlich alleBilder bevorzugt. Das Bewußtsein hält in der Erfahrung dieObjekte seiner Aufmerksamkeit in der Schwebe. Durch seinewunderbare Fähigkeit trennt es sie voneinander. Von nun anliegen sie außerhalb jeder Beurteilung. Diese <Intention> alsocharakterisiert das Bewußtsein. Dieser Ausdruck schließtkeine Vorstellung eines Endzwecks ein: er gilt nur im Sinnevon <Richtung>, er hat nur topographischen Wert.

Auf den ersten Blick scheint also dem Geist des Absurdennichts zu widersprechen. Diese offensichtliche Bescheiden-heit des Denkens, das nur beschreiben will, was es zu erklä-ren ablehnt, diese freiwillige Selbstzucht, von der parado-xerweise die tiefe Bereicherung der Erfahrung und eine

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Wiedergeburt der Welt in all ihrer Weite ausgehen, sind ab-surde Verfahren. Wenigstens auf den ersten Blick. Denn dieMethoden des Denkens nehmen in diesem wie in jedem ande-ren Falle zwei Aspekte an: einen psychologischen und einenmetaphysischen12. Damit bergen sie zwei Wahrheiten. Wennder Begriff der Intentionalität angeblich nur eine psychologi-sche Haltung erklärt, durch die das Wirkliche erschöpft undnicht gedeutet würde, dann trennt ihn in der Tat nichts vomGeist des Absurden. Er geht nur darauf aus aufzuzählen, waser nicht transzendieren kann. Er bestätigt nur, daß auchbeim Fehlen jedes Einheitsprinzips das Denken noch an derDarstellung und am Begreifen jeglicher Erscheinung der Er-fahrungswelt Freude haben kann. Die Wahrheit, um. Die essich bei jeder dieser Erscheinungen handelt, ist psychologi-scher Art. Sie bezeugt nur das <Interesse>, das die Wirklich-keit bieten kann. Das ist eine Art, eine schläfrige Welt wach-zurütteln und sie dem Geiste lebendig zu machen. Aber wennman diesen Begriff der Wahrheit erweitern und vernünftigbegründen will, wenn man so das <Wesen> jedes Erkenntnis-

12 Selbst die rigorosesten Epistemologien (Erkenntnistheorien) setzen Meta-physisches voraus. So gesehen besteht die Metaphysik der meisten zeit-genössischen Denker nur aus einer Epistemologie.

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Objektes zu entdecken meint, dann überläßt man seine Tiefewieder der Erfahrung. Für einen absurden Geist ist das unbe-greiflich. In der intentionellen Haltung ist ja gerade dasGleichgewicht von Bescheidenheit und Gewißheit spürbar,und dieses Schillern des phänomenologischen Denkens wirdbesser als alles andere die absurde Überlegung erläutern.

Abstrakter Polytheismus

HUSSERL spricht nämlich auch von <außerzeitlichen Wesen-heiten>, die die Intention so ans Licht bringt, und man glaubtPLATON zu hören. Man erklärt nicht alle Dinge durch ein ein-ziges, sondern durch alle. Ich sehe hier keinen Unterschied.Gewiß sollen diese Ideen oder Wesenheiten, die das Bewußt-sein am Ende jeder Beschreibung <verwirklicht>, noch nichtvollendete Muster sein. Man behauptet aber, sie seien injeder wahrgenommenen Gegebenheit direkt gegenwärtig. Esgibt keine einzige Idee mehr, die alles erklärt, sondern un-endlich viele Wesenheiten, die unendlich vielen Dingen Sinngeben. Die Welt wird unbeweglich, aber hell. Der PLATONi-sche Realismus wird intuitiv, ist aber immer noch ein Realis-mus. KIERKEGAARD versenkte sich in seinen Gott, PARMENI-DES stürzte das Denken in das <Eine>. Hier aber wirft sich

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das Denken in einen abstrakten Polytheismus. Mehr noch:auch die Halluzinationen und Fiktionen werden ein Teil der<außerzeitlichen Wesenheiten>. In der neuen Welt der Ideenwirkt die Kategorie des Kentauren mit der bescheidenerendes Großstädters zusammen.

Für den absurden Menschen steckt eine Wahrheit und zu-gleich eine Bitterkeit in der rein psychologischen Ansicht,daß alle Gesichter der Welt ein Vorrecht hätten. Wenn jedesDing bevorzugt ist, so heißt das: alle sind wieder gleichwer-tig. Aber der metaphysische Aspekt dieser Wahrheit führtden absurden Menschen in solche Ferne, daß er sich infolgeeiner elementaren Reaktion vielleicht PLATON näher fühlt.Man lehrt ihn tatsächlich, jeder Vorstellung liege eine We-senheit mit den gleichen Vorrechten zugrunde. In dieseridealen Welt ohne Hierarchie besteht die formelle Armee nuraus Generalen. Zweifellos war die Transzendenz ausgemerztworden. Aber eine plötzliche Wendung des Denkens führt indie Welt wieder eine Art fragmentarischer Immanenz ein, diedem Universum wieder Tiefe gibt.

Muß ich fürchten, ein Thema, das von seinen Urhebernweit klüger behandelt wurde, zu weit geführt zu haben? Ichlese nur HUSSERLs Behauptungen, die anscheinend paradoxsind, deren rücksichtslose Logik man aber spürt, wenn man

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das Vorhergehende zugibt: <Was wahr ist, ist absolut und ansich wahr; die Wahrheit ist nur eine Einheit, identisch mitsich selbst – welche Wesen es auch sein mögen, die sie wahr-nehmen: Menschen, Riesen, Engel oder Götter.> Die Vernunfttriumphiert und dröhnt in dieser Stimme, das kann ich nichtbestreiten. Was besagt ihre Bejahung in der absurden Welt?Die Annahme eines Engels oder eines Gottes ist für michsinnlos. Dieser geometrische Ort, an dem die göttliche Ver-nunft meine eigene rechtfertigt, wird mir immer unverständ-lich bleiben. Ich entdecke auch da einen Sprung, und wenner auch ein Drang ins Abstrakte ist: er bedeutet für michdarum nicht weniger das Vergessen dessen, was ich geradenicht vergessen will. Wenn HUSSERL sich weiter ereifert:<Würden alle gravitierenden Massen verschwinden, so wäredamit nicht das Gravitationsgesetz aufgehoben, sondernwürde einfach ohne mögliche Anwendung weiter bestehen>,dann weiß ich, daß ich es mit einer tröstlichen Metaphysik zutun habe. Und wenn ich die Wendung entdecken will, mit derdas Denken den Weg der Evidenz verläßt, dann brauche ichnur die entsprechende Überlegung wiederzulesen, dieHUSSERL für den Geist bereithält: <Wenn wir die exaktenGesetze der psychischen Vorgänge klar betrachten könnten,würden sie sich ebenso ewig und unveränderlich erweisen

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wie die grundlegenden Gesetze der theoretischen Naturwis-senschaften. Sie würden also gültig sein, selbst wenn es kei-ne psychischen Vorgänge gäbe.> Selbst wenn es den Geistnicht gäbe, wären seine Gesetze doch vorhanden! Nun ver-stehe ich: HUSSERL glaubt aus einer psychologischen Wahr-heit eine rationale Regel ableiten zu müssen. Nachdem er dieintegrierende Macht der menschlichen Vernunft geleugnethat, springt er mit diesem Winkelzug in die ewige Vernunft.

HUSSERLs Begriff vom <konkreten Universum> kann michdann auch nicht weiter überraschen. Wenn er mir erklärt,alle Wesenheiten seien nicht formal, sondern es gäbe auchmaterielle Wesenheiten, und die einen seien Gegenstand derLogik, die anderen Gegenstand der Wissenschaften, so ist dasnur eine Frage der Definition. Das Abstrakte, versichert manmir, sei nur ein nicht durch sich selbst existierender Teileines universalen Konkreten. Aber das bereits entdeckteGleichgewicht erlaubt mir, die Verwirrung dieser Begriffe zulichten. Das kann nämlich heißen: das konkrete Objekt mei-ner Aufmerksamkeit, dieser Himmel oder der Reflex diesesWassers auf diesem Mantel behalten allein jenen Nimbus desWirklichen, das mein Interesse in der Welt isoliert. Das wer-de ich nicht leugnen. Es kann aber auch heißen: der Mantelselber sei universell, habe seine besondere und befriedigen-

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de Wesenheit und gehöre der Welt der Formen an. Ich ver-stehe dann, daß nur die Reihenfolge eine andere gewordenist. Diese Welt spiegelt sich nicht mehr in einem höherenUniversum, sondern der Himmel der Formen stellt sich dar inden vielen Bildern dieser Erde. Das ändert gar nichts fürmich. Nicht die Vorliebe fürs Konkrete, -nicht den Sinn fürdie menschliche Situation finde ich hier, sondern einen In-tellektualismus, der zügellos genug ist, das Konkrete selberzu verallgemeinern.

Demütige und triumphierende Vernunftkommen zum gleichen Ziel

Man sollte nicht erstaunt sein über den paradoxen Umstand,daß das Denken auf den entgegengesetzten Wegen einerdemütigen und einer triumphierenden Vernunft seiner eige-nen Verneinung zugeführt wird. Zwischen dem abstraktenGott HUSSERLs und dem blitzeschleudernden Gott KIERKE-GAARDs ist der Abstand nicht beträchtlich. Die Vernunft unddas Irrationale führen zu derselben Predigt. Das bedeutet,daß der Weg in Wahrheit nicht so wichtig ist, es genügtdurchaus der Wille, ans Ziel zu kommen. Der abstrakte Phil-osoph und der religiöse Philosoph gehen von derselben Ver-

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wirrung aus und fußen auf derselben Angst. Wesentlich istdie Auslegung. Die Sehnsucht ist hier stärker als das Wissen.Es ist bezeichnend, daß das Denken unserer Zeit – wie seltenein Denken – von einer philosophisch begründeten Sinnlosig-keit der Welt durchdrungen und gleichzeitig in seinen Schlüs-sen äußerst zerrissen ist. Es schwankt fortwährend zwischender äußersten Rationalisierung des Wirklichen, die zu dessenZerstückelung in Vernunft-Typen verleitet, und seiner äußer-sten Irrationalisierung, die zu seiner Vergöttlichung verführt.Dieser Zwiespalt ist aber nur scheinbar, Es geht darum, sichwieder auszusöhnen, und dazu genügt in beiden Fällen derSprung. Ganz zu Unrecht hält man den Begriff der Vernunftfür eindeutig. So rücksichtslos die Vernunft in ihrem Ehrgeizsein mag – tatsächlich ist dieser Begriff ebenso wandelbarwie alle anderen. Die Vernunft hat ein durchaus menschli-ches Gesicht, kann sich aber auch dem Göttlichen zuwenden.Seit PLOTIN, der sie als erster mit dem Klima des Ewigenauszusöhnen verstand, hat sie es gelernt, sich von ihremliebsten Prinzip, dem Widerspruch, loszusagen und dafür dasfremdeste, durchaus magische Prinzip des Teilhabens aufzu-nehmen13. Sie ist ein Instrument des Denkens und nicht das

13 A.: In diesem Zeitalter müßte die Vernunft sich anpassen oder sterben.

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Denken selbst. Das Denken eines Menschen ist vor allem sei-ne Sehnsucht.

Wie die Vernunft die Melancholie PLOTINs zu besänftigenverstand, so gibt sie auch der modernen Angst die Möglich-keit, sich in den vertrauten Kulissen des Ewigen zu beruhi-gen. Der absurde Geist hat weniger Möglichkeiten. Für ihn istdie Welt weder rational in diesem Grade noch irrational. Sieist unvernünftig, nichts weiter. Bei HUSSERL hat die Vernunftschließlich keine Grenzen mehr. Das Absurde dagegen fixiertihre Grenzen, da sie nicht imstande ist, die Angst zu beruhi-gen. Andererseits behauptet KIERKEGAARD, eine einzigeGrenze genüge, um sie zu leugnen. Soweit aber geht dasAbsurde nicht. Diese Grenze zielt für das Absurde nur auf denEhrgeiz der Vernunft. Der Begriff des Irrationalen, wie er vonden Existenzphilosophen verstanden wird, ist die Vernunft,die sich zersetzt und sich durch Selbstverneinung befreit. DasAbsurde ist die erhellte Vernunft, die ihre Grenzen feststellt.

Sie paßt sich an. Mit PLOTIN wird aus der logischen eine ästhetische Ver-nunft. Die Metapher ersetzt den Syllogismus.> B.: <Übrigens ist das nichtder einzige Beitrag PLOTINS zur Phänomenologie. Diese Halfung stecktschon in dem Gedanken, der dem alexandrinischen Denker so teuer war: esgebe nicht nur eine Idee vom Menschen, sondern auch eine Idee von SOK-RATES.>

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Die Rechte des absurden Menschen

Am Ende dieses schwierigen Weges erkennt der absurdeMensch seine wahren Rechte. Wenn er seinen tiefen An-spruch mit dem vergleicht, was ihm geboten wird, fühlt erplötzlich, daß er sich abwenden muß. In HUSSERLs Universumklärt sich die Welt, und dieser dem Menschen eigene Hangzur Vertraulichkeit wird nutzlos. In KIERKEGAARDs Apokalyp-se muß dieser Wunsch nach Klarheit, wenn er befriedigt wer-den will, sich selbst verleugnen. Die Sünde besteht nicht sosehr im Wissen (in dieser Hinsicht sind alle unschuldig) wieim Verlangen nach Wissen. Gerade das aber ist die einzigeSünde, von der der absurde Mensch spürt, daß sie zugleichseine Schuld und seine Unschuld ist. Man schlägt ihm eineLösung vor, derzufolge alle vergangenen Widersprüche nurpolemische Spielereien sind. So aber hat er diese Widersprü-che nicht empfunden. Er muß sich an ihre Wahrheit halten –nämlich daran, daß sie nicht befriedigend gelöst sind. Erwünscht keine Predigt.

Meine Überlegung möchte dem Unabweisbaren, das sieaufgedeckt hat, treu bleiben. Diese Evidenz ist das Absurde.Es ist jener Zwiespalt zwischen dem sehnsüchtigen Geist und

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der enttäuschenden Welt, es ist mein Heimweh nach derEinheit, dieses zerplitterte Universum und der Widerspruch,der beide verbindet. KIERKEGAARD unterdrückt mein Heim-weh, und HUSSERL bringt dieses Universum wieder zusam-men. Nicht das hatte ich erwartet. Es ging darum, mit dieserZerrissenheit zu leben und zu denken, zu wissen, ob manannehmen oder ablehnen soll. Es kann sich nicht darum han-deln, das Unabweisbare zu maskieren, das Absurde zu unter-drücken, indem man eine Seite dieser Gleichung leugnet. Wirmüssen wissen, ob wir damit leben können oder ob die Logikes verlangt, daß wir daran sterben. Ich interessiere michnicht für den philosophischen Selbstmord, sondern für denSelbstmord an sich. Ich will ihn nur von allen Sentimentalitä-ten befreien und seine Logik und Rechtlichkeit erkennen.Jede andere Stellungnahme verlangt vom absurden Geist,daß er den Geist hinter dem verschwinden läßt, was er ansLicht bringt. HUSSERL sagt: man müsse dem Wunsch nachge-ben, sich frei zu machen <von der eingefleischten Gewohn-heit, in gewissen, bereits wohlbekannten und bequemenDaseinsbedingungen zu leben und zu denken>, aber am Endestellt auch bei ihm der Sprung das Ewige und dessen Behag-lichkeit wieder her. Der Sprung bedeutet keine äußerste Ge-fahr, wie KIERKEGAARD es gern möchte. Die Gefahr liegt im

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Gegenteil in dem kaum meßbaren Augenblick vor demSprung. Die Redlichkeit besteht darin, sich auf diesemschwindelnden Grat zu halten; alles andere ist Ausflucht. Ichweiß auch, daß die Ohnmacht nie so ergreifende Akkordeerzeugt hat wie bei KIERKEGAARD. Aber wenn die Ohnmachtin die gleichgültigen Landschaften der Geschichte gehört,dann sollte sie in einer Überlegung, deren Anspruch wir jetztkennen, nichts zu suchen haben.

DIE ABSURDE FREIHEIT

Was zählt?

Jetzt ist die Hauptsache getan. Ich verfüge über einigeWahrheiten, von denen ich nicht mehr loskommen kann. Wasich weiß, was sicher ist, was ich nicht leugnen kann, was ichnicht verwerfen kann – das zählt. Ich kann von diesem neuenStandpunkt aus alles leugnen, was von ungewissen Sehnsüch-ten lebt, nur nicht das Verlangen nach Einheit, den Wunsch,Entscheidungen zu treffen, den Anspruch auf Klarheit undZusammenhang. Ich kann in dieser Welt alles widerlegen,was mich umgibt, mich vor den Kopf stößt oder begeistert,nur nicht dieses Chaos, diesen König Zufall und diese göttli-

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che Gleichwertigkeit, die aus der Anarchie erwächst. Ichweiß nicht, ob diese Welt einen Sinn hat, der über mich hin-ausgeht. Aber ich weiß, daß ich diesen Sinn nicht kenne unddaß ich ihn zunächst unmöglich erkennen kann. Was bedeu-tet mir ein Sinn, der außerhalb meiner Situation liegt? Ichkann nur innerhalb menschlicher Grenzen etwas begreifen.Was ich berühre, was mir Widerstand leistet – das begreifeich. Und ich weiß außerdem: diese beiden Gewißheiten –mein Verlangen nach Absolutem und nach Einheit und dasUnvermögen, diese Welt auf ein rationales, vernunftgemäßesPrinzip zurückzuführen – kann ich nicht miteinander vereini-gen. Was für eine andere Wahrheit kann ich erkennen, ohnezu lügen, ohne eine Hoffnung einzuschalten, die ich nichthabe und die innerhalb meiner Situation nichts besagt?

Wenn ich Baum unter den Bäumen wäre, Katze unter denTieren, dann hätte dieses Leben einen Sinn oder vielmehr:dieses Problem bestünde überhaupt nicht, denn dann wäreich ein Teil dieser Welt. Ich wäre diese Welt, zu der ich michjetzt mit meinem ganzen Bewußtsein und mit meinem gan-zen Anspruch auf Vertrautheit in Gegensatz befinde. Ebendiese so höhnische Vernunft setzt mich in Widerspruch zurganzen Schöpfung. Ich kann sie nicht mit einem Federstrichabtun. Was ich für wahr halte, daran muß ich also festhalten.

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Was mir so unabweisbar erscheint, darauf muß ich bestehen,auch wenn es sich gegen mich richtet. Und worauf beruhtdenn dieser Konflikt, dieser Bruch zwischen der Welt undmeinem Geist, wenn nicht auf dem Bewußtsein, das ich vonihm habe? Wenn ich also an ihm festhalten will, dann nurdurch ein beständiges, immer wieder neues, stets ange-spanntes Bewußtsein. Daran muß ich mich zunächst halten.Mit diesem Augenblick tritt das Absurde, das so evident undgleichzeitig so schwer faßbar ist, in das Leben eines Men-schen ein und wird dort heimisch. In diesem Augenblick kannder Geist noch den unfruchtbaren, von hellsichtiger Anstren-gung ausgedörrten Weg verlassen. Der mündet jetzt ins tägli-che Leben ein. Der führt in die Welt des anonymen <man>,aber der Mensch begeht ihn von nun an mit seiner Aufleh-nung und mit seinem Scharfblick. Er hat es verlernt zu hof-fen. Endlich ist die Hölle des Gegenwärtigen sein Reich. AlleProbleme erhalten ihre Schärfe wieder. Die abstrakte Evi-denz zieht sich vor dem Lyrismus der Formen und Farbenzurück. Die geistigen Konflikte werden Fleisch und Blut undfinden die armselige und großartige Heimstatt des menschli-chen Herzens wieder. Nichts ist entschieden. Aber alles istverwandelt. Soll man sterben, durch den Sprung entschlüp-fen, ein Gebäude von Ideen und Formen nach seinem Maß

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erstellen? Oder soll man im Gegenteil auf die zerstörendeund wunderbare Wette des Absurden eingehen? Machen wirin dieser Hinsicht noch eine letzte Anstrengung und ziehenwir alle unsere Schlußfolgerungen. Der Körper, die Zärtlich-keit, die Schöpfung, die Tätigkeit, der menschliche Adelwerden dann in dieser sinnlosen Welt ihren Platz einnehmen.Der Mensch wird hier endlich den Wein des Absurden findenund das Brot der Gleichgültigkeit, mit dem er seine Größespeist.

Bestehen wir wiederum auf der Methode: es handelt sichdarum, hartnäckig zu sein. An einem bestimmten Punkt sei-nes Weges wird der absurde Mensch gereizt. Der Geschichtefehlt es weder an Religionen noch an Propheten, nicht ein-mal an Göttern. Man verlangt von ihm, daß er springt. Erkann bloß antworten, daß er nicht richtig begreift, daß diesnicht evident ist. Er will gerade nur das tun, was er richtigbegreift. Man versichert ihm, daß das die Sünde des Hoch-muts sei – aber er versteht den Begriff der Sünde nicht; daßihn am Ende vielleicht die Hölle erwarte, aber er hat nichtgenug Phantasie, um sich diese sonderbare Zukunft vorzu-stellen; daß er das ewige Leben verliere, aber das will ihmbelanglos erscheinen. Man möchte ihn zur Erkenntnis seinerSchuld führen. Er fühlt sich unschuldig. Offen gesagt: er fühlt

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nur diese seine unersetzliche Unschuld. Sie erlaubt ihm alles.So fordert er von sich selber, nur mit dem zu leben, was erweiß, sich nur mit dem einzurichten, was ist, und nichts ein-zuschalten, was nicht gewiß ist. Man gibt ihm zur Antwort,nichts sei gewiß.

Aber das ist immerhin eine Gewißheit. Mit ihr hat er es zutun: er will wissen, ob es möglich ist, unwiderruflich zu le-ben.

Dem Absurden ins Auge sehen

Ich kann jetzt den Begriff des Selbstmordes zu fassen suchen.Man hat schon gemerkt, welche Erklärung ihm möglicherwei-se gegeben werden kann. Hier liegt das Problem gerade um-gekehrt. Vorher handelte es sich darum zu wissen, ob dasLeben, um gelebt zu werden, einen Sinn haben müsse. Hierdagegen hat es den Anschein, daß es um so besser gelebtwerden wird, je weniger sinnvoll es ist. Eine Erfahrung, einSchicksal leben heißt: es ganz und gar auf sich nehmen. Nunwird man aber dieses Schicksal, von dem man weiß, daß esabsurd ist, nicht leben, wenn man nicht alles tut, um vor sichselbst am Absurden, das das Bewußtsein zutage geförderthat, festzuhalten. Auch nur eine Seite des Gegensatzes, von

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dem es lebt, aufgeben heißt: dem Problem ausweichen. DasMotiv der permanenten Revolution überträgt sich so auf dieindividuelle Erfahrung. Leben heißt: das Absurde leben las-sen. Das Absurde leben lassen heißt: ihm ins Auge sehen. ImGegensatz zu Eurydike stirbt das Absurde nur, wenn man sichvon ihm abwendet. Eine der wenigen philosophisch stichhal-tigen Positionen ist demnach die Auflehnung. Sie ist eineständige Konfrontation des Menschen mit seiner eigenenDunkelheit. Sie ist der Anspruch auf eine unmögliche Tran-sparenz. Sie stellt die Welt in jeder Sekunde in Frage. Wiedie Gefahr dem Menschen die unersetzliche Gelegenheit ver-schafft, sich des Bewußtseins zu bemächtigen, so breitet diemetaphysische Auflehnung des Bewußtseins sich über dieganze Erfahrung aus. Sie ist die ständige Anwesenheit desMenschen bei sich selbst. Sie ist kein Sehnen, sie ist ohneHoffnung. Diese Auflehnung ist die Gewißheit eines nieder-werfenden Schicksals, nicht so sehr die Resignation, die siebegleiten sollte.

Hier sehen wir, wie weit die absurde Erfahrung sich vomSelbstmord entfernt. Man könnte meinen, der Selbstmord seieine Folge der Auflehnung. Aber zu Unrecht. Denn er stelltnicht deren logischen Abschluß dar. Er ist dank der Zustim-mung, die ihm zugrunde liegt, genau ihr Gegenteil. Der

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Selbstmord ist, wie der Sprung, die Anerkennung ihrer Gren-zen. Da alles verloren ist, kehrt der Mensch zu seinem we-sentlichen Anliegen zurück. Er erkennt seine Zukunft, seineeinzige und furchtbare Zukunft, und stürzt sich in sie hinein.Der Selbstmord hebt das Absurde auf seine Art auf. Er ziehtes mit in den gleichen Tod. Ich weiß aber, daß das Absurde,um sich zu behaupten, sich nicht auflösen darf. Es entgehtdem Selbstmord in dem Maße, wie es gleichzeitig Bewußtseinund Ablehnung des Todes ist.

Es ist in der äußersten Spannung des Gedankens dessen,der zum Tode verurteilt ist, jenes Schuhband, das er trotzallem ein paar Meter entfernt liegen sieht, selbst am Randeseines schwindelnden Sturzes. Das genaue Gegenstück zumSelbstmörder ist der zum Tode Verurteilte.

Revolte

Diese Auflehnung gibt dem Leben seinen Wert. Erstreckt siesich über die ganze Dauer einer Existenz, so verleiht sie ihrihre Größe. Für einen Menschen ohne Scheuklappen gibt eskein schöneres Schauspiel als die Intelligenz im Kampf miteiner ihr überlegenen Wirklichkeit. Das Schauspiel desmenschlichen Stolzes ist unvergleichlich. Alle Erwartungen

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können ihm nichts anhaben. Diese Zucht, die der Geist sichselber vorschreibt, dieser gehörig gehämmerte Wille, diesesAug-in-Auge haben etwas Einzigartiges. Diese Wirklichkeit,deren Unmenschlichkeit die Größe des Menschen ausmacht,entleeren heißt: gleichzeitig sich selber entleeren. Ich ver-stehe also, warum die Doktrinen, die mir alles erklären, michgleichzeitig schwächen. Sie befreien mich von dem Gewichtmeines eigenen Lebens, und ich muß es dennoch allein ertra-gen. An dieser Wegbiegung kann ich nicht begreifen, daßeine skeptische Metaphysik sich mit einer Moral des Verzichtsverbinden kann.

Bewußtsein und Auflehnung – diese abschlägigen Antwor-ten sind das Gegenteil von Verzicht. Allen Eigensinn und alleLeidenschaft, deren ein menschliches Herz fähig ist, belebensie mit ihrem Leben. Es geht darum, unversöhnt und nichtaus freiem Willen zu sterben. Der Selbstmord ist ein Verken-nen. Der absurde Mensch kann nur alles ausschöpfen und sichselber erschöpfen. Das Absurde ist seine äußerste Anspan-nung, an der er beständig mit einer unerhörten Anstrengungfesthält; denn er weiß: in diesem Bewußtsein und in dieserAuflehnung bezeugt er Tag für Tag seine einzige Wahrheit,die Herausforderung. Das ist eine erste Schlußfolgerung.

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Die Freiheit interessiert nicht

Wenn ich bei jener vereinbarten Haltung beharre, d. h. wennich alle Konsequenzen ziehe, die eine neue Erkenntnis mitsich bringt (und wenn ich nichts als diese Konsequenzen gel-ten lasse), dann sehe ich mich einem zweiten Paradox ge-genüber. Um dieser Methode treu zu bleiben, lasse ich michnicht auf das Problem der metaphysischen Freiheit ein. Zuwissen, ob der Mensch frei ist, interessiert mich nicht. Ichkann nur meine eigene Freiheit beweisen. Für sie kann ichkeine allgemeingültigen Begriffe aufstellen, ich kann über sieaber einige klare Bemerkungen machen. Das Problem der<Freiheit an sich> hat keinen Sinn. Es ist nämlich auf eineganz andere Art an das Gottesproblem gebunden. Wissen, obder Mensch frei ist, verlangt, daß man weiß, ob er einen Herrhaben kann. Die besondere Absurdität dieses Problemskommt daher, daß der Begriff selber, der das Problem derFreiheit möglich macht, ihm gleichzeitig jeden Sinn entzieht.Denn vor Gott gibt es weniger ein Problem der Freiheit alsein Problem des Bösen. Wir kennen die Alternative: entwedersind wir nicht frei, und der allmächtige Gott ist für das Böseverantwortlich. Oder wir sind frei und verantwortlich, aberGott ist nicht allmächtig. Alle scholastischen Spitzfindigkei-

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ten haben der Schärfe dieses Paradoxons nichts hinzugefügtund nichts genommen.

Deshalb darf ich mich nicht in die Überspannung oder andie einfache Definition eines Begriffs verlieren, der mir indem Augenblick entgleitet und sinnlos wird, in dem er überden Rahmen meiner individuellen Erfahrung hinausgeht. Ichkann nicht verstehen, was eine Freiheit bedeuten soll, diemir von einem höheren Wesen verliehen wäre. Ich habe denSinn für die Hierarchie verloren. Von der Freiheit kann ichnicht bloß die Vorstellung des Gefangenen oder die des mo-dernen Individuums im Staate haben. Die einzige Freiheit,die ich kenne, ist die des Geistes und des Handelns. Wennaber das Absurde alle meine Chancen einer ewigen Freiheitzunichte macht, dann gibt es mir ja eine Handlungsfreiheitwieder und steigert sie sogar noch. Dieser Verlust der Hoff-nung und der Zukunft bedeutet für den Menschen einen Zu-wachs an Verfügungsrecht.

Bevor er dem Absurden begegnet, lebt der Mensch täglichmit Zielen, mit einer Sorge um die Zukunft oder um eineRechtfertigung (in welcher Hinsicht, danach fragen wirnicht). Er wägt seine Chancen, er rechnet mit der spätestenZukunft, mit seiner Pensionierung oder mit der Arbeit seinerSöhne. Er glaubt noch, daß irgend etwas in seinem Leben

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gelenkt werden könne. Tatsächlich handelt er, als wäre erfrei, wenn auch alle Tatsachen gegen diese Freiheit, spre-chen. Aber nach der Begegnung mit dem Absurden ist alleserschüttert. Diese Vorstellung <ich bin>, meine Art zu han-deln, als hätte alles einen Sinn (selbst wenn ich gelegentlichsage, daß nichts Sinn habe) – alles dieses wird durch die Ab-surdität eines möglichen Todes auf eine schwindelerregendeWeise Lügen gestraft. An dem kommenden Tag denken, sichein Ziel setzen, diese und jene Vorliebe hegen – das allessetzt den Glauben an die Freiheit voraus, selbst wenn mansich manchmal versichert, nichts von ihr zu spüren. Aberjetzt weiß ich, daß diese höhere Freiheit, diese Freiheit zusein, die allein eine Wahrheit begründen kann, nicht exi-stiert. Der Tod ist da, als die einzige Realität. Nach ihm istalles vorbei. Ich habe nicht mehr die Freiheit fortzudauern,ich bin ein Sklave und obendrein ein Sklave, der auf keineewige Revolution hoffen, sich auf keine Verachtung stützenkann. Und wer könnte ohne Revolution und ohne VerachtungSklave bleiben? Welche Freiheit im vollen Sinne des Worteskann es geben ohne die Gewähr einer Ewigkeit?

Gleichzeitig aber begreift der absurde Mensch, daß er bis-her durch die Illusion, von der er lebte, an dieses Postulatder Freiheit gebunden war. In gewissem Sinne behinderte ihn

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das. Im selben Maße, wie er sich ein Ziel seines Lebens aus-dachte, paßte er sich den Forderungen eines angestrebtenZieles an und wurde der Sklave seiner Freiheit. Demnachwüßte ich nichts anderes zu tun als der Familienvater (oderder Ingenieur, der Volksvertreter oder der Rundfunkbeamte),der ich werden will. Ich glaube, daß ich die Wahl habe, die-ses zu sein und nicht etwas anderes. Ich glaube es unbewußt,das stimmt. Gleichzeitig aber stütze ich meine Forderung aufdie Überzeugungen meiner Umgebung, auf die Vorurteilemeiner menschlichen Umwelt (die anderen sind so sicher,daß sie frei sind, und diese gute Laune ist so ansteckend!).Selbst wenn man sich von allen moralischen oder sozialenVorurteilen fernhalten kann, erträgt man sie teilweise, undden besten von ihnen (es gibt gute und schlechte Vorurteile)paßt man sogar sein Leben an. So begreift der absurdeMensch, daß er in Wirklichkeit gar nicht frei war. Um esdeutlich auszusprechen: je mehr ich hoffe, je mehr ich michvon einer mir gehörigen Wahrheit, von einer Art zu sein oderzu schaffen, beunruhigen lasse, je mehr ich schließlich meinLeben ordne und dadurch beweise, daß ich ihm einen Sinnunterstelle, um so mehr Schranken schaffe ich mir, in die ichmein Leben einzwänge. Ich mache es wie so viele Beamtedes Geistes und des Herzens, die mir nur Abscheu einflößen

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und die, das sehe ich jetzt genau, nichts anderes tun, als dieFreiheit des Menschen ernst zu nehmen.

Das Absurde klärt mich über diesen Punkt auf: es gibt keinMorgen. Das ist von nun an die Begründung meiner tiefenFreiheit, Ich will hier zwei Vergleiche aufstellen. Zunächstverschaffen die Mystiker sich eine Freiheit. Sie versenkensich in ihren Gott, stimmen seinen Geboten zu und werdendadurch heimlich auf ihre Weise frei. In der freiwillig aner-kannten Abhängigkeit entdecken sie eine tiefe Unabhängig-keit. Was aber bedeutet diese Freiheit? Vor allem können wirbehaupten: sich selbst gegenüber fühlen sie sich frei – undzwar weniger frei als befreit. Ebenso fühlt der absurdeMensch, der ganz und gar dem Tode zugewandt ist (der hierals die offensichtlichste Absurdität verstanden wird), sichlosgelöst von allem, was nicht zu dieser leidenschaftlichenAufmerksamkeit gehört, die sich in ihm kristallisiert. Er ge-nießt eine Freiheit im Hinblick auf die allgemein anerkanntenGebote. Man sieht hier, daß die von der Existenzphilosophieabgeleiteten Sätze durchaus ihre Gültigkeit behalten. DieRückkehr zum Bewußtsein, die Flucht aus dem täglichenSchlaf stellen die ersten Schritte der absurden Freiheit dar.Damit aber wird auf die existentielle Predigt abgezielt undmit ihr auf den geistigen Sprung, der im Grunde dem Be-

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wußtsein entschlüpft. Ebenso (das ist mein zweiter Ver-gleich) gehörten die Sklaven der Antike nicht sich selbst.Aber sie kannten die Freiheit, die darin bestehlt, sich nichtverantwortlich zu fühlen14.

Auch der Tod hat Patrizierhände, die vernichten und dochbefreien. Sich in diese grundlose Gewißheit stürzen, sich vonnun an dem eigenen Leben gegenüber recht fremd fühlen,um es größer werden zu lassen und ohne die Kurzsichtigkeiteines Verliebten zu durchmessen – darin liegt das Prinzipeiner Befreiung. Diese neue Unabhängigkeit ist zeitlich be-grenzt wie jede Handlungsfreiheit. Sie stellt keinen Wechselauf die Ewigkeit aus. Aber sie ersetzt die Illusionen der Frei-heit, die alle vor dem Tode haltmachen. Die göttliche Verfü-gungsmacht des zum Tode Verurteilten, vor dem sich einmalim frühesten Morgenlicht die Gefängnistore öffnen, dieseunglaubliche Interesselosigkeit allem gegenüber, außer derreinen Flamme des Lebens – ,man spürt es genau: der Todund das Absurde sind hier die Prinzipien der einzig vernünfti-gen Freiheit, jener Freiheit, deren Wirklichkeit ein menschli-

14 Es handelt sich hier um einen sachlichen Vergleich, nicht um eine Apolo-gie der Demut. Der absurde Mensch ist das Gegenteil von einem versöhntenMenschen.

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ches Herz erfahren kann. Das ist eine zweite Schlußfolge-rung. Der absurde Mensch ahnt so ein glühendheißes undeiskaltes, durchsichtiges und begrenztes Universum, in demnichts möglich, aber alles gegeben ist und jenseits dessender Zusammenbruch und das Nichts liegen. Nun kann er sichdazu entschließen, das Leben in einem solchen Universumanzuerkennen und aus ihm seine Kraft zu gewinnen, seinenVerzicht auf Hoffnung und die eigensinnige Bekundung einesLebens ohne Trost.

Quantität statt Qualität

Was aber bedeutet das Leben in einem solchen Universum?Nichts anderes zunächst als die Gleichgültigkeit der Zukunftgegenüber und das leidenschaftliche Verlangen, alles Gege-bene auszuschöpfen. Der Glaube an den Sinn des Lebenssetzt immer eine Wertskala voraus, eine Wahl, unsere Vor-lieben. Der Glaube an das Absurde lehrt nach unseren Defini-tionen das Gegenteil. Es lohnt, dabei zu verweilen.

Mich interessiert nur, ob man unwiderruflich leben kann.Ich will diese Ebene nicht verlassen. Kann ich mich mit demGesicht des Lebens, so wie es mir gegeben ist, abfinden? Nun– angesichts dieser besonderen Sorge will der Glaube an das

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Absurde wieder die Qualität der Erfahrungen durch derenQuantität ersetzen. Wenn ich mich davon überzeuge, daß dasLeben einzig das Gesicht des Absurden hat, wenn ich erfahre,daß sein ganzes Gleichgewicht auf diesem ewigen Gegensatzzwischen meiner bewußten Auflehnung und der Dunkelheitberuht, in der diese sich abspielt, wenn ich zugebe, daßmeine Freiheit nur in ihrer Beziehung auf ihre schicksalhafteBegrenzung sinnvoll ist – dann muß ich sagen, daß es nichtgilt, so gut wie möglich, sondern so lange wie möglich zuleben. Ich brauche mich nicht zu fragen, ob das gewöhnlichoder widerwärtig, fein oder bedauerlich ist. Ein für alle Male:die Werturteile sind hier zugunsten der sachlichen Urteilebeseitigt. Ich darf nur von dem aus schließen, was ich sehenkann, und ich darf nichts riskieren, was eine Hypothese ist.Angenommen, es wäre nicht anständig, so zu leben, dannwürde die wahre Anständigkeit mir gebieten, unanständig zusein.

Möglichst lange leben: im weiteren Sinne bedeutet dieseLebensregel nichts. Man muß sie präzisieren. Zunächst hat esden Anschein, als hätten wir diesen Quantitätsbegriff nichtgenügend ergründet. Er kann nämlich über sehr vielemenschliche Erfahrungen Rechenschaft ablegen. Die Moraleines Menschen, seine Wertskala, hat nur einen Sinn durch

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die Quantität und durch die Mannigfaltigkeit der Erfahrungendie er hat sammeln können. Nun drängen aber die modernenLebensbedingungen den meisten Menschen dieselbe Quanti-tät von Erfahrungen auf, mithin die gleiche tiefe Erfahrung.Gewiß, man muß auch den spontanen Beitrag des Individu-ums berücksichtigen, das, was ihm <gegeben> ist. Aber dar-über kann ich nicht urteilen, und – ich betone es noch einmal– mein Gebot hier lautet: mit dem auszukommen, was unmit-telbar evident ist. Ich sehe also, daß der eigentümliche Cha-rakter einer allgemeingültigen Moral weniger auf der idealenBedeutung der Prinzipien beruht, die sie beleben, als auf derNorm einer meßbaren Erfahrung. Wenn ich die Dinge einwenig zurechtbiege, hatten die Griechen ihre Mußestunden-Moral, wie wir unsere Achtstundentag-Moral haben. Aberviele Menschen, und darunter die tragischsten, lassen unsbereits ahnen, daß eine längere Erfahrung diese Wertskalaverändert. Sie vermitteln uns die Vorstellung dieses alltägli-chen Abenteurers, der einfach durch die Quantität der Erfah-rungen alle Rekorde schlagen (ich gebrauche absichtlich die-sen Sportausdruck) und so eine eigene Moral gewinnenwürde15. Lassen wir jedoch die Romantik beiseite und fragen

15 Quantität bedeutet manchmal Qualität. Wenn ich den letzten Errungen-

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wir danach, was diese Haltung für einen Menschen bedeutenkann, der entschlossen ist, die Wette anzunehmen und strengzu beachten, was er für die Spielregel hält.

Alle Rekorde schlagen heißt: zuallererst und einzig undallein der Welt so oft wie möglich ins Auge sehen. Wie ist dasohne Widersprüche und ohne Wortspiele möglich? Denn dasAbsurde lehrt einerseits, daß alle Erfahrungen gleichgültigsind, andererseits treibt es zur größten Quantität von Erfah-rungen. Wie sollte man sich da nicht wie soviele Menschenverhalten, von denen ich weiter oben sprach, die Lebensformwählen, die möglichst viel von diesem menschlichen Stoffbeibringt, und dadurch eine Wertskala einführen, die manandererseits angeblich verwirft?

Aber es ist wieder das Absurde und sein widerspruchsvollesLeben, das uns belehrt. Der Irrtum besteht nämlich in derMeinung, daß die Quantität der Erfahrungen von unserenLebensumständen abhinge; sie hängt nur von uns selber ab.

schaften der wissenschaftlichen Theorie glauben darf, besteht jede Ma-terie aus Energiezentren. Deren mehr oder minder große Quantität bes-timmt ihre mehr oder minder spezifische Eigenart. Eine Milliarde Ionen undein Ion unterscheiden sich nicht nur durch die Quantität, sondern auchdurch die Qualität. Die Analogie auf dem Gebiete menschlicher Erfahrungist leicht zu finden.

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Wir müssen hier vereinfachen. Zwei Menschen, die die glei-che Anzahl von Jahren leben, liefert die Welt stets auch diegleiche Menge von Erfahrungen. Wir müssen uns ihrer nurbewußt werden. Sein Leben, seine Auflehnung und seineFreiheit so stark wie möglich empfinden – das heißt: so inten-siv wie möglich leben. Wo die Klarheit regiert, wird dieWertskala nutzlos. Seien wir noch einfacher. Sagen wir: daseinzige Hindernis, der einzige <Mangel an Gewinn> liegt imvorzeitigen Tod. Das hier entworfene Universum lebt nur vomGegensatz zur konstanten Ausnahme, dem Tode. Keine Tiefe,keine Erregung, keine Leidenschaft und kein Opfer könntendemnach in den Augen des absurden Menschen (selbst wenner es wünschte) ein bewußtes Leben von vierzig Jahren undeine sechzig Jahre währende Klarheit einander gleichwertigmachen16. Die Narrheit und der Tod sind seine unheilbarenÜbel. Der Mensch hat nicht die Wahl. Das Absurde und derZuwachs an Leben, den es mit sich bringt, hängen also nicht

16 Dieselbe Überlegung über einen andersgearteten Begriff: die Idee desNichts. Sie fügt dem Realen nichts hinzu, nimmt ihm aber auch nichts weg.In der psychologischen Erfahrung des Nichts erhält unser eigenes Nichtsseinen wahren Sinn bei der Betrachtung dessen, was in zweitausend Jahrengeschehen wird. Unter einem seiner Aspekte besteht das Nichts genau ausder Summe der künftigen Leben, die nicht die unsrigen sein werden.

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vom Willen des Menschen ab, sondern von seinem Gegenteil,vom Tode17. Wenn ich die Worte richtig wäge, ist alles einzigund allein eine Sache des Glücks. Damit muß man sich abzu-finden wissen. Zwanzig Jahre Leben und Erfahrung lassensich nie mehr ersetzen.

Dank einer Inkonsequenz, die bei einem so gewitzten Volkmerkwürdig ist, meinten die Griechen, daß Menschen, die injugendlichem Alter sterben, Lieblinge der Götter wären. Dasstimmt nur, wenn man sich damit abfinden kann, daß derEintritt in die lächerliche Welt der Götter zugleich den end-gültigen Verlust der reinsten Freude bedeutet: nämlich zufühlen, und zwar auf dieser Erde zu fühlen. Das Gegenwärti-ge und die Abfolge von Gegenwärtigkeiten vor einer unauf-hörlich bewußten Seele sind das Ideal des absurden Men-schen. Aber das Wort <Ideal> hat hier einen falschen Klang.Es steht nicht in seiner Urbedeutung, sondern nur als dritteSchlußfolgerung aus einer Überlegung. Nachdem das Nach-denken über das Absurde von einem angstvollen Bewußtseindes Unmenschlichen ausgegangen war, kehrt es am Ende

17 Der Wille ist hier nur der Bevollmächtigte: er sucht das Bewußtseinaufrechtzuerhalten. Er liefert, was nicht zu unterschätzen ist, eine Le-bensdisziplin.

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seines Weges wieder zum innersten Bereich des leiden-schaftlichen Feuers menschlicher Auflehnung zurück18.

Drei Schlußfolgerungen

So leite ich vom Absurden drei Schlußfolgerungen ab: meineAuflehnung, meine Freiheit und meine Leidenschaft. Durchdas bloße Spiel des Bewußtseins verwandle ich in eine Le-bensregel, was eine Aufforderung zum Tode war – und ichlehne den Selbstmord ab. Ich kenne zweifellos die dumpfeResonanz, die heutzutage üblich ist. Aber ich sage mir daseine: sie ist notwendig. Wenn NIETZSCHE sagt: <Es scheintklar zu sein: die Hauptsache im Himmel und auf der Erde ist,lange und in derselben Richtung zu gehorchen. Auf die Dauer

18 Wichtig ist der Zusammenhang. Wir gehen hier von einem Einverständnismit der Welt aus. Aber das östliche Denken lehrt, daß man sich derselbenlogischen Anstrengung widmen kann, indem man sich gegen die Weltentscheidet. Das ist auch berechtigt und gibt diesem Essay seine Perspek-tive und seine Grenzen. Wenn aber die Verneinung der Welt mit derselbenStrenge geübt wird, gelangt man (in gewissen indischen Schulen) oft zuähnlichen Ergebnissen, beispielsweise hinsichtlich der Gleichgültigkeit derWerke. In einem sehr bedeutenden Budie <Die Wahl> begründet JEANGRENIER auf diese Weise eine wahre <Philosophie der Gleichgültigkeit>.

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entsteht daraus etwas, das die Mühe des Lebens lohnt, bei-spielsweise Tugend, Kunst, Musik, Tanz, Vernunft, Geist,etwas Umbildendes, etwas Erhabenes, Närrisches oder Gött-liches>, dann erläutert er damit die Regel einer anspruchs-vollen Moral. Aber er zeigt auch den Weg des absurden Men-schen. Der Flamme gehorchen ist zugleich das Leichteste unddas Schwierigste, was es gibt. Es ist jedoch gut, daß derMensch zuweilen sich selber richtet. Er allein ist imstande, eszu tun.

<Das Gebet>, sagt ALANUS AB INSULIS19, <stellt sich ein,wenn die Nacht das Denken überkommt.> – <Es ist aber not-wendig, daß der Geist der Nacht begegne>, antworten dieMystiker und die Existentialisten. Gewiß, aber nicht dieserNacht, die bei geschlossenen Augen und allein durch denWillen des Menschen entsteht – einer trüben und völligdunklen Nacht, die der Geist hervorbringt, um sich darin zuverlieren. Wenn er einer Nacht begegnen muß, dann möge eslieber die Nacht der Verzweiflung sein, die hell bleibt, Polar-nacht, Nachtwache des Geistes, aus der sich vielleicht diehelle und unberührte Klarheit erhebt, in der sich jeder Ge-genstand im Lichte der Vernunft abzeichnet. Auf dieser Stufe

19 Französischer Scholastiker. Anm. d. Ü.

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begegnet die Gleichwertigkeit dem leidenschaftlichen Be-griffsvermögen. Da handelt es sich gar nicht mehr darum,den existentiellen Sprung zu verurteilen. Er erhält auf demjahrhundertealten Fresko menschlicher Haltungen wiederseinen Platz. Wenn der Zuschauer bewußt ist, ist für ihn die-ser Sprung immer noch absurd. Im selben Maße, wie er dasParadox aufzulösen glaubt, stellt er es völlig wieder her. Indieser Hinsicht ist er erregend. Da rückt alles wieder an sei-nen Platz, und die absurde Welt ersteht wieder in ihremGlanz und in ihrer Mannigfaltigkeit.

Aber es ist nicht gut, sich bei einer einzigen Sehweise auf-zuhalten, und es ist schwer, sich mit ihr zu begnügen, sichvielleicht des Widerspruchs der subtilsten aller geistigenKräfte zu berauben. Bisher wurde nur eine Denkweise dar-gelegt. Es gilt aber zu leben.

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II. DER ABSURDE MENSCH

<Wenn Stawrogin glaubt, dannglaubt er nicht, daß er glaubt.Wenn er nicht glaubt, dannglaubt er nicht, daß er nichtglaubt> DOSTOJEWSKIJ, Die Dä-monen

Was ist Ewigkeit?

<Mein Acker>, sagt GOETHE, <ist die Zeit.> Das ist wahrhaftdas absurde Losungswort. Wer aber ist der absurde Menschwirklich? Derjenige, der das Ewige nicht leugnet und dochnichts dafür tut. Nicht, daß das Heimweh ihm fremd wäre.Aber er zieht ihm seinen Mut und seine Urteilskraft vor. Er-sterer lehrt ihn, ohne Widerruf zu leben und sich mit dem zubegnügen, was er hat; letztere unterrichtet ihn über seineGrenzen. Seiner Freiheit auf Zeit ebenso sicher wie seineraussichtslosen Auflehnung und seines vergänglichen Bewußt-seins, geht er seinem Abenteuer in der Zeit seines Lebensnach. Dort liegt sein Acker, dort seine Tatkraft, die er jegli-cher Beurteilung entzieht – nur seiner eigenen nicht. Ein län-

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geres Leben bedeutet für ihn kein zweites Leben. Das wäreunanständig. Ich spreche hier gar nicht von jener lächerli-chen Ewigkeit, die wir Nachwelt nennen. Madame ROLANDüberantwortete sich ihr. Diese Torheit bekam ihre Lektion.Die Nachwelt führt gern ihren Ausspruch an, vergißt aber,sich ein Urteil darüber zu bilden. Madame ROLAND20 ist derNachwelt gleichgültig.

Es kann sich nicht um eine Erörterung der Moral handeln.Ich habe Leute gesehen, die mit großem moralischem Auf-wand Böses taten, und ich stelle täglich fest, daß die An-ständigkeit keiner Gebote bedarf. Der absurde Mensch kannnur eine Moral gelten lassen – die Moral, die sich von Gottnicht unterscheidet: die man sich vorschreiben läßt. Aber erlebt ja gerade außerhalb dieses Gottes. Für die anderen(auch für den Immoralismus) sieht der absurde Mensch hiernur Rechtfertigungen, und er hat nichts zu rechtfertigen. Ichgehe hier vom Prinzip seiner Unschuld aus.

20 MANON ROLAND DE LA PLATIÈRE (1754 – 1793) unterhielt in Paris eineneinflußreichen politischen Salon und endete auf dem Schafott mit demAusSpruch: <0 Freiheit – was für Verbrechen werden in deinem Namenbegangen!> Anm. d. Ü.

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Diese Unschuld ist fürchterlich. <Alles ist erlaubt>, schreitIwan Karamasow. Auch das schmeckt nach Absurdität. Sofernes nicht im gewöhnlichen Sinne verstanden wird. Ich weißnicht, ob es richtig verstanden wurde: nicht um einen Schreider Erlösung und der Freude handelt es sich, sondern umeine bittere Feststellung. Die Gewißheit eines Gottes, derdem Leben seinen Sinn gäbe, ist viel verlockender als dieMacht, ungestraft Böses zu tun. Die Wahl wäre nicht schwer.Aber es gibt keine Wahl, und da beginnt die Bitternis. DasAbsurde befreit nicht, es bindet. Es rechtfertigt nicht alleHandlungen. Alles ist erlaubt – das bedeutet nicht, daß nichtsverboten wäre. Das Absurde gibt nur den Folgen dieserHandlungen ihre Gleichwertigkeit. Es empfiehlt nicht dasVerbrechen – das wäre kindisch, aber es gibt dem Gewissenseine Nutzlosigkeit wieder. Ebenso ist, wenn alle Erfahrungengleichgültig sind, die der Pflicht doch genauso berechtigt wiejede andere. Man kann auch aus Laune tugendhaft sein.

Jedwede Moral beruht auf der Vorstellung, daß eine TatFolgen hat, die sie rechtfertigen oder entwerten. Ein Geist,der vom Absurden durchdrungen ist, meint nur, daß dieseFolgen mit heiterer Ruhe betrachtet werden müssen. Er istbereit zu zahlen. Anders ausgedrückt: wenn es für ihn Ver-antwortliche geben kann, dann gibt es keine Schuldigen.

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Höchstens wird er damit einverstanden sein, die frühere Er-fahrung zur Begründung seiner künftigen Taten zu benutzen.Die Zeit wird die Zeit hervorbringen, und das Leben wird demLeben dienen. Auf diesem begrenzten und gleichzeitig vonMöglichkeiten strotzenden Felde kommt ihm alles in seinemIch unberechenbar vor – außer seiner Klarheit. Welche Regelkönnte sich also von dieser unvernünftigen Ordnung herlei-ten? Die einzige Wahrheit, die ihm lehrreich erscheinenkann, ist nicht formulierbar: sie entzündet sich und entwik-kelt sich in den Menschen. Also kann der absurde Geist amEnde seiner Überlegung nicht ethische Regeln suchen, son-dern Erklärungen und den Atem menschlichen Lebens. Diewenigen Bilder, die im folgenden gegeben werden, sind vondieser Art. Sie folgen der absurden Überlegung und geben ihrihre Haltung und ihre eigene Wärme.

Muß ich besonders darlegen, daß ein Beispiel nichtzwangsläufig ein nachahmenswertes Beispiel ist (um so weni-ger, wenn es in der absurden Welt möglich ist) und daß dieseErläuterungen nicht als Muster zu nehmen sind? Abgesehendavon, daß es hierzu der Berufung bedarf, macht man sichlächerlich, wenn man – ohne daß ich die rechten Maßstäbeaußer acht lassen möchte – von ROUSSEAU die Notwendigkeitableitet, auf allen Vieren zu gehen, und von NIETZSCHE das

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Recht, seine Mutter zu mißhandeln. <Wir müssen absurdsein>, schreibt ein moderner Autor, <wir dürfen nicht törichtsein.> Die Verhaltensweisen, von denen die Rede sein wird,können nur bei Betrachtung der entgegengesetzten Haltun-gen ihren vollen Sinn bekommen. Ein Postbeamter gleichteinem Eroberer, wenn beide das gleiche Bewußtsein haben.In dieser Hinsicht sind alle Erfahrungen indifferent. Manchedienen dem Menschen, manche schaden ihm. Sie dienen ihm,wenn er bewußt ist. Andernfalls sind sie unwichtig: die Nie-derlagen eines Menschen verurteilen nicht die Verhältnisse,sondern ihn selber.

Ich wähle nur Menschen, die bloß darauf aus sind, sichauszuschöpfen oder von denen mir – statt ihnen selber – be-wußt ist, daß sie sich ausschöpfen. Das führt nicht zu weit.Ich will zunächst nur von einer Welt reden, in der das Denkenund das Leben jeder Zukunft beraubt sind. Alles, was denMenschen zu Arbeit und Tätigkeit anhält, nützt die Hoffnungaus. Das einzige Denken, das keine Lüge ist, ist demnach einsteriles Denken. In der absurden Welt mißt sich der Werteines Begriffs oder eines Lebens an seiner Unergiebigkeit.

DER DON-JUANISMUS

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Die <Wiederholung> in der Liebe

Genügte es einfach zu lieben, dann wären die Dinge zu sim-pel. Je mehr man liebt, um so mehr festigt sich das Absurde.Nicht aus Mangel an Liebe geht Don Juan von Frau zu Frau. Esist lächerlich, ihn als einen Trunkenen auf der Suche nachder allumfassenden Liebe darzustellen. Aber weil er allegleich stürmisch und jedesmal mit Einsatz seiner ganzen Per-son liebt, muß er diese Gabe und diese Vertiefung wieder-holen. Daher hofft jede ihm zu geben, was ihm bis dahinkeine gegeben hat. Sie alle täuschen sich jedesmal völlig,und es gelingt ihnen nur, ihn die Notwendigkeit dieser Wie-derholung empfinden zu lassen. <Endlich>, ruft eine, <habeich dir die Liebe geschenkt!> ist es verwunderlich, wenn DonJuan darüber lacht: <Endlich? Nein, nur einmal mehr!> War-um sollte man selten lieben, um stark zu lieben?

Ist Don Juan traurig? Das ist nicht wahrscheinlich. Ichbrauche, an die ]Fabel kaum zu erinnern. Dieses Lachen, diesieghafte Frechheit, das Sprunghafte und die Freude amTheatralischen – alles das ist hell und fröhlich. Jedes gesundeWesen ist darauf aus, sich zu vermehren. So auch Don Juan.Darüber hinaus aber haben die Traurigen zwei Gründe fürihre Trauer: sie leben in Unwissenheit, oder sie hoffen. Don

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Juan weiß, und er hofft nicht. Er erinnert an jene Artisten,die die Grenzen ihrer Möglichkeiten kennen, sie nie über-schreiten und in diesem unsicheren Spielraum, auf den ihrGeist sich einstellt, über alle wunderbare, meisterlicheLeichtigkeit verfügen. Und eben das kennzeichnet das Genie:die Klugheit, die ihre Grenzen kennt. Bis zur Grenze des phy-sischen Todes weiß Don Juan nichts von der Traurigkeit. So-bald er weiß, erschallt sein Gelächter und entschuldigt alles.Er war traurig, solange er hoffte. Jetzt findet er auf denLippen dieser Frau den bitteren und stärkenden Geschmackdes einzigartigen Wissens. Bitter? Kaum: es ist diese notwen-dige Unvollkommenheit, die das Glück spürbar macht!

Es wäre eine große Torheit, wollte man in Don Juan einenMenschen sehen, dessen geistige Nahrung aus dem PredigerSalomonis stammte. Denn nichts ist für ihn so eitel wie dieHoffnung auf ein anderes Leben. Er beweist das, da er siegegen den Himmel selber ausspielt. Das Bedauern darüber,im Genuß die Sehnsucht verloren zu haben – dieser Gemein-platz der Ohnmacht liegt ihm fern. Der gilt wohl für Faust,der stark genug an Gott glaubt, um sich dem Teufel zu ver-schreiben. Bei Don Juan liegt die Sache einfacher. Der Burla-

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dor MOLINAS21 antwortet auf alle Drohungen der Hölle: <Oh,daß du mir eine lange Frist gewährtest!> Was nach dem Todekommt, ist belanglos – und wie lang ist die Reihe der Tage fürden, der zu leben weiß! Faust begehrte die Güter dieserWelt: der Unglückliche brauchte nur die Hand auszustrecken.Es hieße schon seine Seele verkaufen, wenn man sie nicht zuerfreuen wüßte. Don Juan dagegen lenkt den Überdruß.Wenn er eine Frau verläßt, so tut er das absolut nicht, weiler sie nicht mehr begehrt. Eine schöne Frau ist immer begeh-renswert. Aber er begehrt eine andere, und das ist – wahr-lich! – nicht dasselbe.

Dieses Leben füllt ihn ganz aus, und das Schlimmste wäre,es zu verlieren. Dieser Narr ist ein großer Weiser. Die Men-schen aber, die von der Hoffnung leben, richten sich schlechtein in dieser Welt, in der die Güte der Freigebigkeit weicht,die Zärtlichkeit dem männlichen Schweigen, die Gemein-schaft dem einsamen Mut. Und dann sagen alle: <Er war einSchwächling, ein Idealist oder ein Heiliger.> Eine beleidigen-de Größe muß man wohl herabsetzen.

21 <El burlador de Sevilla> (1630) von TIRS0 DE MOLINA, Urbild der DonJuan-Dichtungen. (Anm. d. Red.)

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Man entrüste sich, soviel man will (oder mit diesem Kom-plizen-Lächeln, das den Gegenstand seiner Bewunderungherabsetzt) über die Reden Don Juans und über diese ewiggleiche Phrase, deren er sich bei allen Frauen bedient. Aberfür den, der die Quantität der Freuden sucht, zählt allein dieWirkung. Sollte er bewährte Paßworte komplizieren? Nie-mand, weder Frau noch Mann, hören auf sie; viel stärkervernehmen sie die Stimme, die sie ausspricht. Sie sind dieRegel, sind Konvention, und Höflichkeit. Man sagt sie, danachbleibt das Wichtigste noch zu tun. Don Juan bereitet sichschon darauf vor. Warum sollte er sich ein moralisches Pro-blem stellen? Er verurteilt sich nicht wie MILOCZ’ Mañara22,weil ein Heiliger sein möchte. Die Hölle ist für ihn etwas, dasman herausfordert. Für den göttlichen Zorn kennt er nur eineAntwort: die männliche Ehre. <Ich habe Ehre im Leib>, sagteer zum Komtur, <und ich halte mein Wort, weil ich ein Edel-mann bin.> Aber ebenso groß wäre der Irrtum, wollte manaus ihm einen Immoralisten machen. Er ist in dieser Hinsicht<wie jedermann>: er hat die Moral von Sympathie und Anti-pathie. Man versteht Don Juan nur dann richtig, wenn man

22 <Miguel Mañara>, Mysterienspiel des 1939 gestorbenen französischen,Dichters DE LUBICZ-MILOCZ über den Don Juan-Stoff. (Anm. d. Red.)

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sich auf das bezieht, was er gemeinhin symbolisiert: dengewöhnlichen Verführer und Weiberhelden. Er ist ein ge-wöhnlicher Verführer23. Nur daß er bewußt und infolgedessenabsurd ist. Ein hellsichtig gewordener Verführer wird sichnicht sosehr ändern. Verführen ist sein Element. Nur in denRomanen ändert man seine Haltung, oder man wird besser.Man kann jedoch behaupten, daß nichts geändert und gleich-zeitig alles verwandelt ist. Was Don Juan in Tätigkeit ver-setzt, ist eine Ethik der Quantität – im Gegensatz zum Heili-gen, der zur Qualität neigt. An den tiefen Sinn der Dingenicht glauben – das ist die Eigentümlichkeit des absurdenMenschen. Er überprüft rasch diese warmen oder erstauntenGesichter, bringt sie in die Scheuer und eilt ohne Aufenthaltweiter. Die Zeit geht mit ihm. Der absurde Mensch trenntsich nicht von der Zeit. Don Juan denkt nicht daran, dieFrauen zu <sammeln>. Er verbraucht viele und damit auchseine Lebens-Chancen. Sammeln heißt: von seiner Vergan-genheit leben können. Er aber weist das Bedauern zurück,diese andere Form der Hoffnung. Er kann nicht Bildnisse be-trachten.

23 Im wahrsten Sinne des Wortes und mit seinen Fehlern. Eine gesundeHaltung schließt auch Fehler in sich.

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Ist er deswegen egoistisch? Auf seine Art zweifellos. Aberdarüber müssen wir uns noch verständigen. Die einen sindfürs Leben geschaffen, die anderen fürs Lieben. Don Juanwenigstens würde das gern behaupten. Aber das hieße einenSeitenweg wählen. Denn die Liebe, von der hier gesprochenwird, ist vor den Illusionen des Ewigen geschützt. Alle Kennerdieser Leidenschaft lehren uns das. Ewige Liebe ist stets wi-derspruchsvoll. Es gibt auch kaum Leidenschaft ohne Kampf.Eine solche Liebe findet ihr Ende nur im letzten Widerspruch,dem Tod. Man muß Werther sein oder nichts. Auch da gibt esnoch mehrere Arten, Selbstmord zu begehen; eine davon istdie völlige Hingabe und Selbstaufgabe. Don Juan weiß wiejeder andere, daß das erregend sein kann. Er weiß aber auchfast als einziger, daß das nicht die Hauptsache ist. Er weiß essehr gut, daß diejenigen, die eine große Liebe von all ihrempersönlichen Leben ablenkt, möglicherweise reicher werden,daß aber diejenigen, die ihre Liebe auserwählt hat, ebensogewiß ärmer werden. Eine Mutter, eine leidenschaftlicheFrau haben notwendigerweise ein nüchternes Herz, denn esist von der Welt abgewandt. Ein einziges Gefühl, ein einzigesWesen, ein einziges Gesicht – aber alles wird verschlungen.Eine andere Liebe erschüttert Don Juan, und die macht frei.Sie bringt alle Gesichter der Welt mit sich, und ihr Schauder

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kommt aus dem Wissen, daß sie vergänglich ist. Don Juan hatgewählt, nichts zu sein.

Für ihn handelt es sich darum, klarzusehen. Liebe nennenwir das, was uns an bestimmte Wesen bindet, nur in bezugauf eine kollektive Sehweise, für die die Bücher und die Mär-chen verantwortlich sind. Ich verstehe indessen unter Liebenur die Mischung von Verlangen, Zärtlichkeit und Klugheit,die mich an irgendein Wesen bindet. Diese Zusammensetzungist nicht bei jedem gleich. Ich habe nicht das Recht, allediese Erfahrungen mit demselben Namen zu belegen. Dasentbindet davon, sie aus denselben Heldenliedern abzulei-ten. Der absurde Mensch vervielfacht auch hier, was er nichtvereinfachen kann. So hat er eine neue Art des Seins ent-deckt, die ihn mindestens ebenso befreit, wie sie diejenigenbefreit, die sich ihm nähern. Großmütig ist die Liebe nur,wenn sie sich zugleich vergänglich und einzigartig weiß. Allediese Tode und alle diese Wiedergeburten sind für Don Juandie Ernte seines Lebens. Darin besteht seine Art, zu gebenund leben zu spenden. Ich stelle anheim, ob man da vonEgoismus reden kann.

Strafe für Don Juan?

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Ich denke hier an alle, die Don Juan durchaus bestraft wissenwollen, nicht erst in einem anderen Leben, sondern noch indiesem. Ich denke an alle Erzählungen, Legenden und an dasGelächter über den alten Don Juan. Aber Don Juan ist schondarauf gefaßt. Für einen bewußten Menschen sind das Alterund die Dinge, die es ankündigt, keine Überraschungen. Er istnur genau in dem Maße bewußt, wie er sich das, was daranschrecklich ist, nicht verschleiert. In Athen gab es einenTempel, der dem Alter geweiht war. Dorthin wurden dieKinder geführt. Bei Don Juan ist es so: je mehr man über ihnlacht, um so deutlicher verrät sich seine Gestalt. Damitwehrt er sich gegen die Gestalt, die die Romantiker ihm ga-ben. Über diesen gemarterten und bejammernswerten DonJuan will keiner lachen. Man bedauert ihn. Der Himmel sel-ber wird ihn entschädigen? Aber das ist es nicht. In dem Uni-versum, das Don Juan ahnt, ist auch der Lächerliche mitent-halten. Er fände es nur richtig, gezüchtigt zu werden. DieSpielregel verlangt das so. Und das ist ja gerade seine Groß-mut, daß er die ganze Spielregel angenommen hat. Er weißaber, daß er recht hat und daß es sich nicht um Züchtigunghandeln kann. Ein Schicksal ist keine Strafe.

Das ist sein Verbrechen, und wie verständlich ist es, daßdie Anhänger der Ewigkeit seine Bestrafung fordern. Er er-

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reicht ein illusionsloses Wissen, das alles leugnet, was siebekennen. Lieben und Besitzen, Erobern und Ausschöpfen –das ist seine Art zu erkennen. (Dieses Lieblingswort der Heili-gen Schrift, die unter <erkennen> den physischen Liebesaktversteht, hat schon einen Sinn.) Und durch das Ausmaß, indem er sie ignoriert, ist er der schlimmste Feind jenerFrommen.

Ein Chronist erzählt, der wahre <Burlador> sei von Fran-ziskanern ermordet worden, weil sie <den Exzessen und derRuchlosigkeit Don Juans, dem seine vornehme Geburt Straf-losigkeit zusicherte, ein Ende machen wollten>. Sie verkün-deten dann, der Himmel hätte ihn mit einem Blitz erschla-gen. Niemand hat dieses merkwürdige Ende nachgeprüft.Niemand hat das Gegenteil bewiesen. Aber ohne mich zufragen, ob es wahrscheinlich sei, kann ich behaupten, daß eslogisch ist. Ich will mich hier nur an den Begriff <Geburt>halten und mit den Worten spielen: das Leben selber sicherteseine Unschuld. Nur vom Tode her hat er eine jetzt legendä-re Schuld bekommen.

Was anderes bedeutet jener steinerne Gast, diese kalteStatue, die da in Gang gesetzt wird, um das Blut und den Mutzu rächen, die zu denken wagten? Alle Mächte der ewigenVernunft, der Ordnung, der allgemeinen Moral, die ganz selt-

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same Größe eines dem Zorne zugänglichen Gottes vereinigensich in ihm. Dieser gigantische und seelenlose Stein symboli-siert nur die Mächte, die Don Juan für immer geleugnet hat.Und da hört die Mission des Komturs auf. Blitz und Donnerkönnen wieder in den fiktiven Himmel eingehen, aus demman sie gerufen hat. Die wahre Tragödie spielt sich fern vonihnen ab. Nein, nicht von einer steinernen Hand ist Don Juangestorben. Ich glaube gern an den legendären Hohn, an dasunsinnige Gelächter des gesunden Mannes, der einen nichtexistierenden Gott herausfordert. Aber ich glaube vor allem,daß der Komtur an jenem Abend, an dem Don Juan bei Annawartete, nicht kam, und daß der Gottlose, als die Mitter-nacht vorüber war, die furchtbare Bitterkeit derer fühlensollte, die recht hatten. Noch lieber akzeptiere ich die Er-zählung seines Lebens, nach der er sich schließlich in einKloster vergräbt. Nicht, daß man die erbauliche Seite derGeschichte für wahrscheinlich halten könnte. Was für eineZuflucht, Gott anzubeten? Dies stellt vielmehr den logischenAbschluß eines vom Absurden ganz und gar durchdrungenenLebens symbolisch dar, die verwegene Auflösung einer Exi-stenz, die ganz auf Freuden ohne ein Morgen eingestellt war.Der Genuß vollendet sich hier in der Askese. Man muß begrei-fen, daß das gleichsam die beiden Gesichter ein und dersel-

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ben Not sein können. Was für ein schrecklicheres Bild könnteman sich wünschen: ein Mensch, den sein Körper verrät undder es versäumte, rechtzeitig zu sterben, vollendet die Ko-mödie, indem er Aug in Auge mit dem Gott, an den er nichtglaubt, das Ende erwartet, ihm dient, wie er dem Leben ge-dient hat, kniend vor der Lehre und die Arme zu einemstummen Himmel ausgestreckt, der für ihn auch keine Tiefehat.

Ich sehe Don Juan in einer Zelle jener spanischen Klöster,die einsam auf einer Höhe liegen. Und wenn er etwas an-schaut, so sind es nicht die Phantome verflüchtigter Lieb-schaften, sondern vielleicht, durch einen glühenden Spalt,irgendeine schweigende Ebene Spaniens, die großartige undseelenlose Erde, in der er sich wiedererkennt. Ja, bei diesemmelancholischen und strahlenden Bilde müssen wir verhar-ren. Was zuletzt kommt, das Ende, erwartet, aber nie ge-wünscht, das endgültig Letzte ist verächtlich.

DIE KOMÖDIE

<Das Schauspiel>, sagt Hamlet, <sei die Schlinge, in der ichdas Gewissen des Königs einfange.> Einfangen ist der richtigeAusdruck. Denn das Gewissen eilt rasch vorbei oder ver-

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kriecht sich. Man muß es im Flug erhaschen, an der kaumwahrnehmbaren Stelle, an der es einen flüchtigen Blick aufsich selber wirft. Der Alltags-Mensch hält sich nicht gern auf.Im Gegenteil: ihn treibt alles zur Eile. Gleichzeitig aber in-teressiert ihn nichts mehr als seine eigene Person, vor allemdas, was er sein könnte. Daher seine Vorliebe für das Thea-ter, für das Schauspiel, wo ihm so viele Schicksale vorgeführtwerden, deren Poesie er aufnimmt, ohne ihre Bitterkeit zuerleiden. Daran wenigstens erkennt man den unbewußtenMenschen, der fortwährend irgendeiner Hoffnung nachläuft.Der absurde Mensch fängt da an, wo jener aufhört, wo derGeist das Spiel nicht mehr bewundert, sondern mitspielenwill. Eindringen in all diese Leben, sie in ihrer Verschieden-artigkeit erforschen – das eigentlich heißt: sie spielen. Ichbehaupte nicht, daß die Schauspieler im allgemeinen dieserForderung gehorchen und absurde Menschen sind, wohl aber,daß ihr Schicksal ein absurdes Schicksal ist, das ein hellsich-tiges Herz verführen und anziehen könnte. Dies muß festge-stellt werden, damit das folgende richtig verstanden werdenkann. Der Schauspieler herrscht im Vergänglichen. Von allemRuhm ist bekanntlich der seine der flüchtigste. So heißt eswenigstens allgemein. Aber jeder Ruhm ist flüchtig. VomSirius aus gesehen werden GOETHEs Werke in zehntausend

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Jahren Staub, wird sein Name vergessen sein. Ein paar Ar-chäologen werden vielleicht nach <Zeugnissen> unserer Epo-che suchen. Diese Vorstellung ist immer lehrreich gewesen.Denkt man recht über sie nach, so reduziert sie unsereHandlungen auf den tiefen Adel, der in der Gleichgültigkeitzu finden ist. Vor allein lenkt sie unsere Sorgen auf das Si-cherste, das heißt auf das unmittelbar Naheliegende. Vonallem Ruhm ist der am wenigstens trügerisch, der erlebtwird.

Der Schauspieler hat also den unzählbaren Ruhm gewählt,den Ruhm, der ständig bestätigt und erfahren wird. Aus derTatsache, daß eines Tages alles sterben muß, zieht er denbesten Schluß. Ein Schauspieler hat Erfolg oder nicht. EinSchriftsteller behält eine kleine Hoffnung, auch wenn er ver-kannt wird. Er nimmt an, seine Werke werden bezeugen, waser war. Der Schauspieler wird uns bestenfalls eine Photogra-phie hinterlassen, und nichts von dem, was er war, von sei-nen Gebärden und von seinen Pausen, von seinen Atemstö-ßen und seinem zärtlichen Hauchen wird auf uns kommen.Unbekannt sein heißt für ihn: nicht spielen, und nicht spielenheißt für ihn: hundertmal mit all den Wesen sterben, die erbeseelt oder auferweckt hätte.

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Die Mission des Komödianten

Ist es erstaunlich, daß ein flüchtiger Ruhm auf die vergängli-chen Schöpfungen der Kunst gegründet ist? Drei Stunden ste-hen dem Schauspieler zur Verfügung, um Jago oder Alkestis,Phädra oder Glocester zu sein. In dieser kurzen Spanne läßter sie auf fünfzig Quadratmetern Bretterboden erstehen undsterben. Nie sonst ist das Absurde so treffend und so aus-führlich dargestellt worden. Die wundersamen Lebensläufe,diese einzigartigen und vollständigen Schicksale, die in weni-gen Stunden zwischen drei Wänden ansteigen und sich erfül-len – welcher gedrängte Abriß könnte uns mehr enthüllen?Abgetreten vom Schauplatz, ist Sigismund nichts mehr. ZweiStunden später sieht man ihn in der Stadt speisen. Dann istdas Leben vielleicht ein Traum. Aber nach Sigismund kommtein anderer. An die Stelle des Mannes, der nach Racheschreit, tritt der Held, der unter Ungewißheit leidet. Indemer so die Jahrhunderte und die Geister durchläuft und denMenschen spielt, so wie er sein kann und so wie er ist, be-gegnet der Schauspieler sich mit jener anderen absurdenFigur: dem Reisenden. Wie jener schöpft er etwas aus, umunaufhaltsam weiterzueilen. Er ist der Reisende der Zeit und(das gilt für die besten) der Reisende der Seele. Wenn je die

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Moral der Quantität Nahrung finden könnte, dann auf diesersonderbaren Bühne. In welchem Maße der Schauspieler vonseinen Rollen profitiert, ist schwer zu sagen. Das ist aberauch nicht so wichtig. Wir müssen nur wissen, an welchemPunkt er sich mit diesen einmaligen Leben identifiziert. Tat-sächlich geschieht es, daß er sie mit sich herumträgt, daß sieleichtfüßig über die Zeit und den Raum hinausgehen, denensie entstammen. Sie begleiten den Schauspieler, er trenntsich nicht mehr so leicht von dem, was er gewesen ist.Nimmt er sein Glas, so fällt er vielleicht in die GebärdeHamlets, der seinen Becher hebt. Nein, der Abstand, der ihnvon den Gestalten trennt, die er lebendig macht, ist nicht sogroß. So verdeutlicht er reichlich, Tag für Tag und Monat fürMonat, die fruchtbare Wahrheit, daß es zwischen dem, wasein Mensch sein will, und dem, was er tatsächlich ist, keineGrenze gibt. Wieweit der Schein das Sein ist, das beweist er,stets damit beschäftigt, es besser darzustellen. Denn daseben ist seine Kunst: vollkommen zu täuschen und so tief wiemöglich in Leben, die nicht seine Leben sind, einzudringen.Am Ziel seiner Anstrengung wird seine Berufung deutlich:sich mit allen Kräften darum zu bemühen, nichts zu sein odermehreres. je enger ihm die Grenzen gezogen sind, innerhalbderer er seine Figur erschaffen muß, um so. nötiger braucht

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er seine Begabung. Er wird in drei Stunden mit dem Gesichtsterben, das heute sein Gesicht ist. In drei Stunden muß erein außergewöhnliches Schicksal erleben und ausdrücken.Das heißt: er muß sich verlieren, um sich wiederzufinden. Indiesen drei Stunden geht er den Weg ohne Ausflucht, für dender Mensch im Parkett sein ganzes Leben braucht, bis ansEnde.

Als Darsteller des Vergänglichen übt und vollendet derSchauspieler sich nur in der Welt des Sichtbaren. Es gehörtzur Konvention des Theaters, daß das Herz sich nur durch dieGebärden und im Körperlichen verständlich macht - oderdurch die Stimme, die gleichermaßen Körper und Seele ist.Nach dem Gesetz der Kunst wird alles vergröbert und inFleisch und Blut übertragen. Müßte man auf der Bühne solieben, wie man wirklich liebt, müßte man die unnachahmli-che Stimme des Herzens verwenden und so schauen, wie manwirklich dreinschaut, dann bliebe unsere Sprache geheimnis-voll und unverständlich. Die Pausen müssen hier hörbar wer-den. Die Liebe steigert ihren Ton, und selbst die Bewe-gungslosigkeit wird ein Schauspiel. Der Körper ist König.<Theatralisch> ist nicht jeder, der es sein will, und dieses zuUnrecht in Verruf geratene Wort umschließt eine ganze Äs-thetik und eine ganze Moral. Die Hälfte eines Menschenle-

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bens geht in stillem Gewährenlassen dahin, im Wegblickenund Schweigen. Der Schauspieler dringt hier ein. Er löst denBann dieser gefesselten Seele, und die Leidenschaften stür-zen sich endlich auf die Bühne. Sie sprechen aus allen Ge-bärden, sie leben nur, im Schrei. So komponiert der Schau-spieler seine Gestalten für die Schau. Er zeichnet odermeißelt sie, er schleicht sich in ihre imaginäre Gestalt einund leiht ihren Phantomen sein Blut. Selbstverständlich spre-che ich nur vom großen Theater, das dem Schauspieler dieGelegenheit bietet, sein ganz physisches Schicksal zu erfül-len. Nehmen wir SHAKESPEARE. In diesem Theater führen vonder ersten Bewegung an die Rasereien des Körpers den Rei-gen. Sie erklären alles. Ohne sie würde alles verfließen. Kö-nig Lear würde nie dem Wahnsinn begegnen ohne die brutaleGeste, mit der er Cordelia verbannt und Edgar verurteilt. Esist richtig so, wenn diese Tragödie sich dann im Zeichen desWahnsinns abspielt. Die Seelen sind den Dämonen und ihremReigen ausgeliefert. Nicht weniger als vier Narren – einer ausBeruf, einer aus Neigung, die beiden anderen aus Qual: vierverwirrte Körper, vier unaussprechliche Gesichter ein unddesselben Zustandes.

Selbst die Ausdrucks-Skala des menschlichen Körpers ge-nügt noch nicht. Die Maske und der Kothurn, die Schminke,

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die das Gesicht verjüngt und in seinen wesentlichen Zügensichtbar macht, das Kostüm, das übertreibt und diese ganzauf Sicherheit gerichtete Welt vereinfacht – alles dieses dientnur dem Auge. Durch ein absurdes Wunder vermittelt derKörper uns auch noch die Erkenntnis. Ich würde Jago nurganz verstehen, wenn ich ihn spielte. Es nützt mir nichts,wenn ich ihn nur höre; ich erfasse ihn nur dann, wenn ich ihnsehe. Von der absurden Figur hat der Schauspieler infolge-dessen die Monotonie, diese einzigartige, eigensinnige, zu-gleich fremdartige und vertraute Silhouette, die er all seinenHelden verleiht. Auch da wieder dient das große theatrali-sche Kunstwerk dieser Eintönigkeit24. In dieser Hinsicht wi-derspricht der Schauspieler sich selbst: er ist derselbe unddoch so verschiedenartig und vereinigt in einem einzigenLeib so viele Seelen. Aber das ist der absurde Widerspruch ansich: dieses Individuum, das alles erfassen und alles auslebenmöchte, dieser eitle Versuch, dieser ergebnislose Eigensinn.Was sich stets widerspricht, das eint sich trotzdem in ihm. Er 24 Ich denke hier an MOLlERES <Alceste>. Alles ist so einfach, so offenkun-dig und so grob. Alceste gegen Philinte, Célimène gegen Elianthe, dasganze Thema ist gegeben in der absurden Konsequenz eines bis zum Äußer-sten getriebenen Charakters, und der Vers selber, der <schlechte Vers>, istwie die Monotonie des Charakters kaum skandiert.

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steht an jener Stelle, an der Körper und Geist sich treffenund umschlingen, an der der Geist, seiner Niederlagen müde,zu seinem treuesten Bundesgenossen zurückkehrt. <Und ge-segnet>, sagt Hamlet, <wes Blut und Urteil sich so gut ver-mischt, daß er zur Pfeife nicht Fortunen dient, den Ton zuspielen, den ihr Finger greift.>

Die Hölle wählen

Wie hätte die Kirche nicht dergleichen im Schauspieler verur-teilen sollen? Sie verpönte in dieser Kunst die ketzerischeVervielfältigung der Seelen, das Schwelgen in Erregungen,den anstößigen Anspruch eines Geistes, der sich weigert, nurein Schicksal zu leben und sich in sämtliche Ausschweifungenstürzt. Sie ächtete in den Schauspielern die Lust am Gegen-wärtigen und diesen Triumph des Proteus, die die Verneinungalles dessen sind, was sie lehrt. Die Ewigkeit ist kein Scherz.Ist ein Geist unsinnig genug, ihr eine Komödie vorzuziehen,dann hat er sein Seelenheil verloren. Zwischen <überall> und<immer> gibt es kein Kompromiß. Daher könnte dieser soentwertete Beruf einen unermeßlichen geistigen Konfliktheraufbeschwören. <Wichtig ist nicht das ewige Leben>, sagt

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NIETZSCHE, <sondern die ewige Lebendigkeit.> In dieserWahl liegt tatsächlich das ganze Drama.

ADRIENNE LECOUVREUR25 wollte auf ihrem Sterbebettbeichten und das Abendmahl nehmen, aber sie weigerte sich,ihrem Beruf abzuschwören. Dadurch verlor sie die Wohltatder Beichte. Was bedeutet das denn tatsächlich, wenn nicht:für ihre tiefe Leidenschaft und gegen Gott Partei nehmen?Und diese Frau, die sich im Todeskampf unter Tränen weiger-te zu verleugnen, was sie ihre Kunst nannte, bezeugte damiteine Größe, die sie vor der Rampe nie erreicht hatte. Daswar ihre schönste Rolle, und sie war am schwersten durchzu-halten. Zwischen dem Himmel und einer zum Spott heraus-fordernden Treue wählen, sich selbst der Ewigkeit vorziehenoder sich in Gott versenken – in dieser, Tragödie unseresJahrhunderts müssen wir uns behaupten.

Die Komödianten jener Zeit wußten, daß sie exkommuni-ziert waren. Diesen Beruf ergreifen hieß: die Hölle wählen.Und die Kirche erkannte in ihnen ihre schlimmsten Feinde.Einige Literaten entrüsten sich: <Was – MOLIÈRE konnte man

25 Französische Schauspielerin (1692 – 1730) an der Comédie Française,Heldin in Stücken von CORNEILLE und RACINE, Freundin VOLTAIREs,Titelfigur eines Dramas von SCRIBE. (Anm. d. Red.)

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den letzten Beistand versagen?> Es war aber richtig so, zumalbei ihm, der auf der Bühne starb und unter der Schminke einLeben abschloß, das ganz und gar der Zerstreuung gewidmetwar. Man beruft sich im Zusammenhang mit ihm auf das Ge-nie, das alles entschuldige. Aber das Genie entschuldigtnichts, eben weil es sich dem versagt.

Der Schauspieler wußte also, welche Strafe ihm verspro-chen war. Aber welchen Sinn konnten derart vage Drohungenhaben angesichts der letzten Züchtigung, die das Leben sel-ber für ihn bereithielt? Gerade diese Strafe empfand er vor-aus, und er nahm sie ganz und gar an. Für den Schauspielerwie für den absurden Menschen ist ein vorzeitiger Tod irrepa-rabel. Nichts kann all die Gesichter und Jahrhunderte auf-wiegen, durch die er sonst hindurchgegangen wäre. Aber sooder so – man muß eben sterben. Denn der Schauspieler istfraglos überall, aber die Zeit nimmt auch ihn mit und tut ihreWirkung an ihm.

Man braucht nicht viel Einbildungskraft, um jetzt zu füh-len, was ein Schauspielerschicksal bedeutet. In der Zeitkomponiert er seine Gestalten und zählte sie auf. In der Zeitlernt er sie auch beherrschen. Je mehr verschiedene Lebener gelebt hat, um so besser trennt er sich von ihnen. Eskommt die Zeit, da er auf der Bühne und in der Welt sterben

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muß. Was er gelebt hat, steht ihm vor Augen. Er sieht klar.Er fühlt das Herzzerreißende und Unersetzliche dieses Aben-teuers. Er weiß – und kann jetzt sterben. Es gibt Heime füralte Komödianten.

DIE EROBERUNG

<Nein>, sagte der Eroberer, <glaubt nicht, ich hätte der Tatzuliebe das Denken verlernen müssen. Im Gegenteil: ichkann, was ich glaube, durchaus definieren. Denn ich glaubees mit aller Kraft, und ich übersehe es mit einem klaren,sicheren Blick. Mißtraut denen, die da sagen: „Das weiß ichzu gut, um es ausdrücken zu können.“ Sie können es nämlichdeshalb nicht, weil sie es nicht wissen oder weil sie ausTrägheit an der Oberfläche geblieben sind.

Ich habe nicht viele Ansichten. Am Ende eines Lebens wirdder Mensch gewahr, daß er Jahre damit verbracht hat, sicheiner einzigen Wahrheit zu versichern. Aber eine einzigeWahrheit – wenn sie evident ist – genügt, um ein Dasein zuführen. Ich jedenfalls habe entschieden, etwas über das Indi-viduum auszusagen. Mit Härte muß man von ihm sprechenund, wenn nötig, mit der angemessenen Verachtung.

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Ein Mensch ist mehr ein Mensch durch das, was er ver-schweigt, als durch das, was er sagt. Ich werde viel ver-schweigen. Aber ich glaube steif und fest, daß alle, die überdas Individuum geurteilt haben, ihr Urteil mit viel wenigerErfahrung als ich begründet haben. Der Verstand, der rührigeVerstand, hat vielleicht geahnt, was festzustellen wäre. Aberdas Zeitalter, seine Trümmer und sein Blut überhäufen unsmit evidenten Tatsachen. Alten Völkern, selbst den jüngstenbis in unser Maschinenzeitalter hinein, war es möglich, dieTugenden der Gesellschaft und die des Individuums imGleichgewicht zu halten, dem nachzugehen, was dem ande-ren dienlich war. Das war zunächst möglich dank einer hart-näckigen Verwirrung des menschlichen Herzens, nämlichdank der Meinung, die Lebewesen seien in die Welt gesetztworden, um zu dienen oder um bedient zu werden. Es warferner möglich, weil weder die Gesellschaft noch das Indivi-duum ihre ganze Geschicklichkeit entwickelt hatten.

Ich habe es erlebt, daß kluge Menschen sich über die Mei-sterwerke der holländischen Maler wunderten, die währendder blutigen flandrischen Kriege geschaffen wurden, und daßsie sich über die Predigten der schlesischen Mystiker erreg-ten, die mitten in dem fürchterlichen Dreißigjährigen Kriegeentstanden. Die ewigen Werte schweben in ihren erstaunten

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Augen über den weltlichen Wirren. Aber inzwischen ist dieZeit weitergegangen. Die Maler heute haben nicht mehr die-se heitere Ruhe. Selbst wenn sie im Grunde den Mut haben,den der schöpferische Mensch braucht, ich meine: einennüchternen Mut, dann nützt das nichts, denn jedermann,selbst der Heilige, ist heute mobilisiert. Gerade das habe ichvielleicht am tiefsten empfunden. Mit jeder Form, die in denSchützengräben umkommt, mit jedem Strich, jeder Metapherund jedem Gebet, das vom Stahl zermalmt wird, verliert dasEwige eine Partie. Da ich weiß, daß ich mich von meiner Zeitnicht trennen kann, bin ich entschlossen, mich mit ihr zuverbünden. Deshalb mache ich vom Individuum nicht sovielAufhebens, weil es mir lächerlich und erniedrigt erscheint.Da ich weiß, daß es keine siegreichen Prozesse gibt, liebe ichdie verlorenen Prozesse: sie fordern – in der Niederlage wiebei vorübergehenden Erfolgen – eine ganze Seele. Wer sichdem Schicksal dieser Welt verbunden fühlt, für den hat dieErschütterung der Zivilisationen etwas Beängstigendes. Ichhabe diese Angst in demselben Augenblick zu der meinengemacht, da ich mich mit der Welt eingelassen habe. Bei derWahl zwischen der Geschichte und dem Ewigen habe ich dieGeschichte gewählt, weil ich die Gewißheiten liebe. Ihrer

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wenigstens bin ich sicher, und wie sollte ich diese Kraft, diemich vernichtet, leugnen?

Es kommt immer eine Zeit, in der man zwischen dem Zu-schauen, und der Tat zu wählen hat. Das heißt: ein Menschwerden. Diese inneren Spannungen sind fürchterlich. Aberfür ein stolzes Herz gibt es keinen Mittelweg. Es gibt Gottoder die Zeit, Kreuz oder Schwert. Entweder hat diese Welteinen höheren Sinn, der ihre Unruhe überdauert, oder alleindiese Unruhe ist wahr. Man muß mit der Zeit leben und mitihr sterben, oder man muß sich ihr entziehen um eines höhe-ren Lebens willen. Ich weiß, daß man sich abfinden und daßman in der Zeit leben und an die Ewigkeit glauben kann. Dasheißt: sich bescheiden. Ich aber sträube mich gegen die Be-schränkung, ich will alles oder nichts. Wenn ich die Tatwähle, so glaubt nicht, daß die Kontemplation mir fremdwäre. Sie kann mir nur nicht alles geben, und da ich derEwigkeit beraubt bin, will ich mich mit der Zeit verbünden.Ich will weder Heimweh noch Bitternis auf meine Rechnungsetzen lassen, ich will hier einzig und allein klarsehen. Ichsage es euch, morgen werdet ihr mobilisiert sein. Für euchwie für mich ist das eine Befreiung. Das Individuum kannnichts und vermag dennoch alles. Angesichts dieser wunder-baren Möglichkeiten begreift ihr, warum ich das Individuum

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gleichzeitig erhöhe und vernichte. Die Welt zerschmettertes, und ich befreie es. Ich setze es in alle seine Rechte ein.>

Absurde Anstrengung

<Die Eroberer wissen, daß die Tat an sich nutzlos ist. Es gibtnur eine nützliche Tat: die den Menschen und die Erde ver-bessert. Ich werde nie die Menschen verbessern. Aber manmuß so tun „als ob“. Denn auf dem Weg des Kampfes begeg-ne ich dem Fleisch. Selbst wenn es erniedrigt wird, bleibt dasFleisch meine einzige Gewißheit. Nur mit ihm kann ich leben.Die Kreatur ist meine Heimstatt. Deshalb habe ich diese ab-surde und aussichtslose Anstrengung gewählt. Eben deshalbstehe ich auf der Seite des Kampfes. Die Zeit eignet sichdazu, ich sagte es schon.

Bisher war die Größe eines Eroberers geographischer Na-tur. Sie bemaß sich nach der Ausdehnung der besiegten Ter-ritorien. Nicht umsonst hat dieses Wort eine andere Bedeu-tung angenommen und bezeichnet nicht mehr densiegreichen General. Die Größe hat das Feld gewechselt. Sieliegt im Protest und im aussichtslosen Opfer. Auch da nichtetwa aus Freude an der Niederlage. Der Sieg wäre wün-schenswert. Aber es gibt nur einen Sieg, und der ist ewig.

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Und den werde ich nie erreichen. Dorthin ziele ich, und dar-an klammere ich mich. Eine Revolution erfüllt sich immer alsRevolution gegen die Götter – angefangen bei der Revolutiondes Prometheus, des ersten modernen Eroberers. Sie ist eineForderung des Menschen seinem Schicksal gegenüber: dieForderung des Armen ist nur ein Vorwand. Ich kann diesenGeist nur in seiner historischen Tat erfassen, und dabei ver-einige ich mich mit ihm. Glaubt indessen nicht, daß ich Ge-fallen daran fände: angesichts des wesentlichen Wider-spruchs halte ich an meinem menschlichen Widerspruch fest.Ich stelle meine Klarheit mitten in das hinein, was sie leug-net. Ich erhebe den Menschen angesichts dessen, was ihnvernichtet, und meine Freiheit, meine Auflehnung und meineLeidenschaft vereinigen sich dann in dieser Spannung, indiesem Scharfblick, in dieser maßlosen Wiederholung.

Ja, der Mensch ist sein eigenes Ziel. Und er ist sein einzi-ges Ziel. Wenn er etwas sein will, dann nur in diesem Leben.Jetzt – ich weiß es nur zu gut. Die Eroberer sprechenmanchmal von Siegen und von überwinden. Aber sie verste-hen darunter immer nur: „sich überwinden“. Ihr wißt genau,was das bedeutet. Jeder Mensch hat sich in gewissen Augen-blicken Gott gleich gefühlt. So heißt es wenigstens. Aber daskommt daher, daß er blitzartig die erstaunliche Größe des

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menschlichen Geistes verspürt hat. Die Eroberer sind nurdiejenigen Menschen, die ihre Kraft stark genug fühlen undso die Sicherheit haben, beständig auf diesen Höhen und imvollen Bewußtsein dieser Größe zu leben. Es ist mehr oderweniger eine Frage der Berechnung. Die Eroberer können ammeisten. Aber sie können nicht mehr als der Mensch an sich,wenn er nur will. Deshalb verlassen sie nie den menschlichenSchmelztiegel und tauchen mit höchster Leidenschaft in dieSeele der Revolutionen.

Dort finden sie die verstümmelte Kreatur, aber dort be-gegnen sie auch den einzigen Werten, die sie lieben und diesie bewundern, dem Menschen und seinem Schweigen. Das istgleichzeitig ihre Armut und ihr Reichtum. Für sie gibt es nureinen einzigen Luxus: den der menschlichen Beziehungen.Wie sollte man nicht begreifen, daß in diesem verwundbarenUniversum alles, was menschlich und nichts als menschlichist, einen lebendigeren Sinn annimmt? Gespannte Gesichter,bedrohte Brüderlichkeit, eine ebenso starke wie schamhafteFreundschaft der Männer untereinander sind die wahrenReichtümer, da sie vergänglich sind. In ihrer Mitte spürt derGeist am besten seine Machtvollkommenheiten und seineGrenzen. Gleichsam seine Wirksamkeit. Einige haben vonGenie gesprochen. Ich aber ziehe dem Genie – das sagt sich

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so leicht – die Intelligenz vor. Man muß sagen, daß sie groß-artig sein kann. Sie erhellt diese Einöde und beherrscht sie.Sie kennt ihre Abhängigkeiten und macht sie sichtbar. Siestirbt gleichzeitig mit dem Leib. Und das zu wissen, ist ebenihre Freiheit.>

<Wir wissen sehr gut: alle Kirchen sind gegen uns. Ein soangespanntes Herz entzieht sich dem Ewigen, und alle göttli-chen und politischen Kirchen streben nach dem Ewigen.Glück und Mut, Lohn und Gerechtigkeit sind für sie Zielezweiter Ordnung. Sie liefern eine Doktrin, und man muß sieunterschreiben. Aber ich habe mit Ideen oder mit der Ewig-keit nichts zu tun. Die Wahrheiten, die mir entsprechen,kann ich mit Händen greifen. Ich kann mich von ihnen nichttrennen. Deshalb könnt ihr Euch auch nicht auf mich verlas-sen: beim Eroberer ist nichts von Dauer, nicht einmal seineDoktrinen.

Am Ende von alledem steht, trotz alledem, der Tod. Wirwissen es. Wir wissen auch, daß er allem eine Grenze setzt.Deshalb sind diese Friedhöfe, die Europa bedecken und diemanche von uns stören, scheußlich. Man verschönt nur, wasman liebt, und der Tod ist uns zuwider und ermüdet uns.Auch er muß erobert werden. Der letzte CARRARA, Gefange-ner in einem Padua, das von der Pest entvölkert und von den

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Venetianern belagert wurde, lief brüllend durch die Säleseines verödeten Palastes: er rief den Teufel an und fordertevon ihm den Tod. Das war eine Art, ihn zu überwinden. Undes ist ein weiteres Zeichen des dem Abendland eigenen Mu-tes, daß man, die Plätze, an denen der Tod geehrt zu werdenglaubt, so abscheulich eingerichtet hat. In der Welt des Em-pörers übertrumpft der Tod die Ungerechtigkeit. Er ist dasschlimmste Vergehen.

Andere, die sich auch nicht abfinden wollen, haben dieEwigkeit gewählt und verkündet, diese Welt sei eine Illusion.Ihre Friedhöfe lächeln unter lauter Bäumen und Vögeln. Dasist dem Eroberer nur recht und gibt ihm die klare Vorstellungvon dem, was er ausgeschlagen hat. Er hat im Gegenteil dieEinzäunung mit schwarzem Eisengitter oder die namenloseGrube gewählt. Die besten unter den Anhängern der Ewigkeitempfinden zuweilen mit Hochachtung und Mitleid gemischtesEntsetzen vor Geistern, die mit einem solchen Bild ihres To-des leben können. Aber trotzdem schöpfen diese Menschendaraus ihre Kraft und ihre Rechtfertigung. Unser Schicksalsteht uns vor Augen, und wir fordern es geradezu heraus.Weniger aus Hochmut als im Bewußtsein unserer aussichtslo-sen Lage. Auch wir haben manchmal Mitleid mit uns selbst.Das ist das einzige Erbarmen, das uns annehmbar erscheint:

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ein Gefühl, das ihr vielleicht kaum begreift und das euchwenig männlich erscheint. Trotzdem lernen es gerade dieKühnsten unter uns kennen. Männlich nennen wir nämlich dieklaren Köpfe, und wir wollen keine Kraft ohne klaren Blick.>

Fürsten ohne Reich

Noch einmal: diese Bilder entwerfen keine moralischen Leh-ren und, geben keine verpflichtenden Urteile: es sind nurSkizzen. Sie veranschaulichen bloß einen Lebensstil. DerLiebhaber, der Komödiant und der Abenteurer spielen dasAbsurde. Aber wenn sie es wollen, tun das genausogut derKeusche, der Beamte und der Präsident der Republik. Manbraucht nur zu wissen und nichts zu maskieren. In den italie-nischen Museen findet man zuweilen kleine bemalte Schirme,die der Priester den Verurteilten vors Gesicht hielt, um ihnendas Schafott zu verbergen. Der Sprung in all seinen verschie-denen Formen, der Sturz ins Göttliche oder ins Ewige, dieHingabe an die Illusionen des Alltags oder der Idee – alle die-se Schirme verbergen das Absurde. Es gibt aber auch Beamteohne Schirm, und von diesen spreche ich.

Ich habe die extremsten Typen gewählt. Auf dieser Stufegibt das Absurde ihnen eine königliche Macht. Gewiß, es sind

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Fürsten ohne Reich. Aber sie haben vor den anderen das einevoraus, daß sie wissen, wie illusorisch alle Reiche sind. Siewissen, und eben das ist ihre ganze Größe, und es wäre eitel,wollte man bei ihnen von verstecktem Unglück oder von derAsche der Enttäuschung reden. Der Hoffnung beraubt seinheißt noch nicht: verzweifeln. Die Flammen der Erde wiegenwohl die himmlischen Düfte auf. Weder ich noch sonst je-mand kann hier über sie urteilen. Sie suchen nicht, besser zusein, sie versuchen nur konsequent zu sein. Wenn das Wort<Weiser> einen Menschen bezeichnet, der von dem lebt, waser hat, und nicht auf das spekuliert, was er nicht hat, dannsind sie Weise. Einer von ihnen – Eroberer, aber in der Weltdes Geistes, Don Juan, aber ein Don Juan der Erkenntnis,Komödiant, aber Komödiant des Verstandes – weiß es besserals irgendeiner: <Man verdient auf Erden und im Himmelkeinerlei Vorrecht, wenn man seine geliebte kleine Schafsge-duld bis zur Vollkommenheit übt: man bleibt dabei besten-falls ein liebes, kleines, lächerliches Schaf mit Hörnern, wei-ter nichts – selbst zugegeben, daß man nicht vor Eitelkeitplatzt und daß man mit seinen richterlichen Posen kein Är-gernis hervorruft.>

Ich mußte jedenfalls der absurden Überlegung möglichsteindringliche Figuren beigeben. Die Phantasie kann noch

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viele andere hinzufügen, die an die Zeit geschmiedet und derVerbannung ausgeliefert sind und nach dem Maßstab einerWelt ohne Morgen und ohne Schwäche zu leben wissen. Dieseabsurde und gottlose Welt bevölkert sich jetzt mit Menschen,die klar denken und nicht mehr hoffen. Und dabei habe ichnoch nicht von der absurdesten Gestalt gesprochen: vomschöpferischen Menschen.

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III. DAS ABSURDE KUNSTWERK

PHILOSOPHIE UND ROMAN

Alle diese Leben, die in der habgierigen Luft des Absurdengedeihen, würden sich ohne einen tiefen und beständigenGedanken, der sie mit seiner Kraft belebt, nicht halten.Selbst hier kann das nur ein besonderes Gefühl von Treuesein. Wir haben bewußte Menschen erlebt, die inmitten dertörichtsten Kriege ihre Pflicht taten, ohne sich in einem Wi-derspruch zu empfinden. Es handelte sich einfach darum,sich vor nichts zu drücken. So gibt es auch eine metaphysi-sche Ehre, die Absurdität der Welt zu ertragen. Die Erobe-rung und das Spiel, die unermeßliche Liebe, die absurdeAuflehnung – derartige Huldigungen bringt der Mensch seinerWürde in einem Feldzug dar, in dem er im voraus besiegt ist.

Es handelt sich einzig darum, der Kampfregel treu zu blei-ben. Dieser Gedanke kann genügen, um einen Geist zu näh-ren: er hat ganze Zivilisationen aufrechterhalten und erhältsie noch aufrecht. Man verneint den Krieg nicht. Man mußdurch ihn sterben oder durch ihn leben. So ist es auch mitdem Absurden: es handelt sich darum, mit ihm zu leben,seine Lehren anzunehmen und ihren Sinn ausfindig zu ma-

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chen. In dieser Hinsicht ist das Kunstwerk die absurde Freudepar excellence. <Die Kunst und nichts als die Kunst>, sagtNIETZSCHE, <wir haben die Kunst, um nicht an der Wahrheitzu sterben.>

In der Erfahrung, die ich zu beschreiben und auf verschie-dene Weise deutlich zu machen suche, taucht mit Sicherheitdort eine neue Qual auf, wo eine andere stirbt. Die kindlicheSuche nach dem Vergessen, der Ruf nach Genügsamkeit blei-ben jetzt ohne Echo. Aber die beständige Spannung, die denMenschen angesichts der Welt aufrechterhält, der anbefohle-ne Wahn, der ihn dazu treibt, alles aufzunehmen, hinterlas-sen ihm ein anderes Fieber. In dieser Welt ist dann dasKunstwerk die einzige Chance, sein Bewußtsein aufrechtzu-erhalten und dessen Abenteuer zu fixieren. Schaffen heißt:zweimal leben. Das ängstliche, tastende Suchen einesPROUST, seine sorgsame Sammlung von Blumen, Wandteppi-chen und Ängsten bedeuten nichts anderes. Gleichzeitig hates nicht mehr Tragweite als die fortgesetzte und unbestimm-bare Schöpfung, der der Komödiant, der Eroberer und alleanderen absurden Menschen sich täglich ihr Leben lang wid-men. Sie alle versuchen sich darin, die ihnen zugehörigeWirklichkeit mimisch darzustellen, zu wiederholen und neuzu erschaffen. Am Ende haben wir immer das Gesicht unserer

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Wahrheiten. Für einen dem Ewigen abgekehrten Menschen istdas ganze Dasein nur ein maßloses Possenspiel unter derMaske des Absurden. Das Kunstwerk ist das große Possen-spiel.

Zuerst wissen diese Menschen, und dann geht ihr ganzesBestreben dahin, die zukunftslose Insel, die sie angelaufenhaben, zu vergrößern und zu bereichern. Aber zuerst mußman wissen. Denn die Entdeckung des Absurden fällt miteiner Zeit des Stillstandes zusammen, in der sich die künfti-gen Leiden entwickeln und ihre Rechtfertigung erhalten.Selbst die Menschen ohne Evangelium haben ihren Ölberg.Und auch auf ihrem Ölberg dürfen sie nicht einschlafen. Fürden absurden Menschen geht es nicht mehr um Erklärungenund Lösungen, sondern um Erfahrungen und Beschreibungen.Alles beginnt mit einer scharfsichtigen Gleichgültigkeit.

Beschreiben – das ist der letzte Ehrgeiz eines absurdenDenkens. Auch die Wissenschaft, die die Grenzen ihrer Para-doxa erreicht hat, hört auf, Vorschläge zu machen, undbleibt bei Betrachtungen und Beschreibungen der stets jung-fräulichen Landschaft der Phänomene stehen. So lernt dasHerz, daß die innere Bewegung, die uns vor den Gesichternder Welt hinreißt, nicht von der Tiefe der Welt, sondern vonder Mannigfaltigkeit dieser Gesichter herrührt. Die Auslegung

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ist vergänglich, aber der sinnliche Eindruck bleibt und mitihm die unaufhörlichen Anrufe eines quantitativ unerschöpf-lichen Universums. Hier, begreift man, liegt der Ort desKunstwerks.

Er bezeichnet zugleich den Tod einer Erfahrung und ihreVervielfachung. Es ist wie eine eintönige und leidenschaftli-che Wiederholung der Themen, die die Welt bereits durchge-spielt hat: der Körper, unerschöpfliches Bild an der Giebel-wand der Tempel, die Formen oder die Farben, derWohlklang oder die Not. Es ist also nicht gleichgültig, wennman schließlich die Hauptthemen dieses Essays in dem groß-artigen und kindlichen Universum des schöpferischen Men-schen wiederfindet. Man hätte unrecht, wollte man darin einSymbol sehen und glauben, das Kunstwerk könnte schließlichals eine Flucht vor dem Absurden betrachtet werden. Es istselbst ein absurdes Phänomen, und es handelt sich einzigdarum, es zu beschreiben. Es bietet der Krankheit des Gei-stes keinen Ausweg. Es ist im Gegenteil ein Merkmal diesesLeidens, das ihn auf das ganze Denken eines Menschen zu-rückverweist. Aber zum erstenmal läßt es den Geist aus sichselbst herausgehen und stellt ihn etwas anderem gegenüber,nicht damit er sich darin verliere, sondern um ihm einengenauen Fingerzeig von dem aussichtslosen Weg zu geben,

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den alle gehen müssen. In der Zeit der absurden Überlegungführt das Kunstwerk die Gleichgültigkeit und die Enthüllungweiter. Es bezeichnet den Punkt, von dem die absurden Lei-denschaften ausgehen und bei dem die Überlegung anhält. Sorechtfertigt sich seine Stellung in diesem Essay.

Es wird genügen, einige Themen ans Licht zu ziehen, diedem Künstler und dem Denker gemeinsam sind, damit wir imKunstwerk alle Widersprüche des dem Absurden verpflichte-ten Denkens wieder finden. Tatsächlich ist es weniger dieIdentität der Schlüsse, die die geistige Verwandtschaft aus-macht, als vielmehr die Gemeinsamkeit der Widersprüche. Soauch beim Denken und bei dem Kunstwerk. Ich brauche kaumzu betonen, daß es die gleiche Qual ist, die den Menschen zudiesen Arten des Verhaltens treibt. Dadurch kommen sie amAusgangspunkt zusammen. Aber von allen Gedanken, die vomAbsurden ausgehen, habe ich nur wenige gesehen, die sichdarin behaupteten. Und gerade an ihren Abschweifungen undan ihrer Untreue habe ich am besten ermessen, was nur demAbsurden gehörte. Dementsprechend muß ich fragen: ist einabsurdes Kunstwerk möglich?

Der Ausdruck beginnt, wo das Denken aufhört

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Man sollte nicht zu sehr auf der Willkür des alten Gegensat-zes zwischen Kunst und Philosophie bestehen. Wenn man ihnganz genau verstehen will, ist er sicherlich falsch. Wenn mannur behaupten will, jede dieser beiden Disziplinen habe ihrbesonderes Klima, so ist das zweifellos richtig, bleibt aberunbestimmt. Die einzig annehmbare Argumentation beruhteauf dem hervorgehobenen Gegensatz zwischen dem in sei-nem System befangenen Philosophen und dem vor sein Werkgestellten Künstler. Das aber galt für eine bestimmte Art vonKunst und Philosophie, die wir hier für zweitrangig halten.Die Idee einer von ihrem Schöpfer losgelösten Kunst ist nichtnur unzeitgemäß. Sie ist falsch. Es heißt: im Gegensatz zumKünstler habe nie ein Philosoph mehrere Systeme aufgestellt.Das stimmt aber nur insofern, als ein Künstler nie mehr alseinen einzigen Gegenstand in verschiedenerlei Gestalt darge-stellt hat. Die augenblickliche Vollkommenheit der Kunst, dieNotwendigkeit ihrer Erneuerung – diese Wahrheiten geltennur auf Grund eines Vorurteils. Auch das Kunstwerk ist näm-lich eine Konstruktion, und jeder weiß, wie eintönig die gro-ßen Künstler sein können. Der Künstler gibt sich in der glei-chen Weise seinem Werk hin wie der Denker. Diese Osmoseerzeugt das wichtigste aller ästhetischen Probleme. Außer-dem gibt es für den, der von der Einheit des geistigen Ziels

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überzeugt ist, nichts Überflüssigeres als diese Unterschei-dungen nach Methoden und Gegenständen. Es gibt keineGrenzen zwischen den Disziplinen, denen der Mensch seinVerständnis und seine Liebe widmet. Sie durchdringen sichgegenseitig und sie gründen sich auf dieselbe Angst.

Dies muß zu Beginn gesagt werden. Damit ein absurdesWerk möglich ist, muß das Denken in seiner hellsten Formdaran beteiligt sein. Aber es darf auch wieder nur als gebie-tende Intelligenz daran beteiligt sein. Dieses Paradox erklärtsich aus dem Absurden. Das Kunstwerk entsteht aus demVerzicht des Verstandes, das Konkrete zu begründen. Es be-zeichnet den Triumph des Sinnlichen. Das klare Denken ruftes hervor, leugnet aber gerade in diesem Akt sich selbst. Eswird nicht der Versuchung nachgeben, dem Geschriebeneneinen tieferen Sinn unterzulegen, den es für unberechtigthält. Das Kunstwerk ist die Inkarnation eines Dramas desVerstandes, gibt aber nur einen indirekten Beweis davon. Dasabsurde Kunstwerk verlangt einen Künstler, der sich seinerGrenzen bewußt ist, und eine Kunst, in der das Konkretenichts anderes bedeutet als sich selbst. Es kann nicht dasZiel, der Sinn und der Trost eines Lebens sein. Schaffen odernicht schaffen – das ändert nichts. Der absurde Schöpferhängt nicht an seinem Werk. Er könnte darauf verzichten. Er

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verzichtet auch manchmal darauf. Ein <Abessinien> ist ge-nug26.

Man kann darin gleichzeitig eine ästhetische Regel sehen.Das wahre Kunstwerk entspricht immer menschlichem Maß.Es ist wesenhaft das, das <weniger> sagt. Es gibt eine gewis-se Beziehung zwischen der globalen Erfahrung eines Künstlersund dem Werk, das diese widerspiegelt, zwischen <WilhelmMeister> und der Reife GOETHEs. Diese Beziehung istschlecht, wenn das Werk sich anmaßt, alle Erfahrung auf dasverzierte Papier ausdeutender Literatur zu bringen. DieseBeziehung ist gut, wenn das Werk nur ein Ausschnitt aus derErfahrung ist, nur eine Facette des Diamanten, in der sichder ganze innere Glanz uneingeschränkt sammelt. Im erstenFalle hat man es mit einer Überlastung und mit dem An-spruch auf die Ewigkeit zu tun. Im zweiten Falle handelt essich um ein ergiebiges Werk, weil die ganze Erfahrung, derenReichtum man errät, stillschweigend mitgegeben ist. Für denabsurden Künstler lautet das Problem so: die Lebensart zuerwerben, die über die Gewandtheit hinausgeht. Und am

26 Anspielung auf die Wiedereinsetzung HAILE SELASSIEs als Kaiser und dasEnde der italienischen Herrschaft in Abessinien, 1942, im Entstehungsjahrdes <Sisyphos>. (Anm. d. Red.)

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Ende ist in diesem Klima der große Künstler vor allem eingroßer Lebender, der begriffen hat, daß Leben hier ebenso-sehr Erfahren wie Nachdenken ist. Das Kunstwerk ist also dieInkarnation eines intellektuellen Dramas. Das absurde Kunst-werk verdeutlicht den Verzicht des Denkens auf sein Anse-hen; seine Resignation, mehr sein zu wollen als die Einsicht,die die Erscheinungen in das Werk umsetzt und das, was kei-ne Vernunft hat, mit Bildern zudeckt. Wenn die Welt klarwäre, gäbe es keine Kunst.

Ich spreche hier nicht von Künsten der Form und der Far-be, bei denen nur die Beschreibung in ihrer glanzvollen Be-scheidenheit herrscht27. Der Ausdruck beginnt, wo das Den-ken aufhört. Bei jenen Jünglingen mit den leeren Augen, diedie Tempel und die Museen bevölkern, hat man ihre Philoso-phie in Gebärden umgesetzt. Für einen absurden Menschenist sie aufschlußreicher als alle Bibliotheken. Von einem an-deren Gesichtspunkt aus verhält es sich mit der Musik eben-so. Wenn eine Kunst frei von Belehrung ist, dann ist es wohl

27 Es ist merkwürdig festzustellen, daß die klügste Malerei, die die Realitätauf ihre wesentlichen Elemente zurückzuführen sucht, letztlich nur eineAugenfreude ist. Sie hat von der Welt nur die Farbe bewahrt (Das ist be-sonders spürbar bei LÉGER.)

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diese. Sie verschwistert sich zu sehr mit der Mathematik, umnicht etwas von ihrer Zwecklosigkeit anzunehmen. DiesesSpiel des Geistes mit sich selbst nach vereinbarten und genauerwogenen Gesetzen vollzieht sich in dem klingenden Rau-me, der der unsre ist und jenseits dessen die Schwingungensich doch in einem unmenschlichen Universum begegnen. Esgibt keine reinere Empfindung. Diese Beispiele sind zu leicht.Der absurde Menschen erkennt diese Harmonien und dieseFormen als die seinen.

Aber ich möchte hier von einem Kunstwerk sprechen, beidem die Versuchung auszudeuten besonders groß ist, bei demdie Illusion sich von selbst anbietet und bei dem die Schluß-folgerung fast unausweichlich ist. Ich meine den Roman. Ichwerde mich fragen, ob das Absurde sich hier behauptenkann.

Denken heißt vor allem: eine Welt erschaffen wollen (oderdie eigene abgrenzen, was auf dasselbe hinauskommt), Esheißt: von dem grundsätzlichen Mißverständnis ausgehen, dasden Menschen von seiner Erfahrung trennt, und seinemHeimweh entsprechend ein Gebiet des Einverständnissesfinden, ein von Vernunftgründen eingeengtes oder von Ana-logien erhelltes Universum, das eine Lösung des unerträgli-chen Zwiespalts erlaubt. Der Philosoph ist, auch wenn er

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KANT heißt, ein Schöpfer. Er hat seine Gestalten, seine Sym-bole und seine heimliche Handlung. Er hat seine Lösungen.Umgekehrt bedeutet der Vorrang, den der Roman vor derPoesie und dem Essay erworben hat, allem Anschein zumTrotz nur eine größere Intellektualisierung der Kunst. Wohl-gemerkt handelt es sich hierbei vor allem um die bedeutend-sten Romane. Die Fruchtbarkeit und die Größe einer Kunst-gattung messen sich oft an dem Schund, den man in ihremBereich findet. Über den vielen schlechten Romanen dürfenwir nicht die Größe der besten vergessen. Gerade diese ha-ben ihr Universum. Der Roman hat seine Logik, seine Überle-gungen, seine Intuition und seine Postulate. Er hat auch sei-ne Ansprüche auf Klarheit28.

28 Darüber wäre nachzudenken: das erklärt die schlechtesten Romane. Fastjeder hält sich für fähig zu denken, und in gewissem Grade denkt er,besser oder schlechter, tatsächlich. Sehr wenige können sich dagegen alseinen Dichter oder als einen Phrasendrescher vorstellen. Aber seit demAugenblick, da das Denken wichtiger geworden ist als der Stil, hat diegroße Masse sich des Romans bemächtigt.Das ist nicht so schlimm wie man denkt. Die Besten werden zu größerenAnsprüchen sich selbst gegenüber geführt. Wer dabei scheitert, hat nichtverdient, weiterzuleben.

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Der klassische Gegensatz, von dem ich weiter oben sprach,ist in diesem besonderen Falle noch weniger gerechtfertigt.Er galt zu einer Zeit, in der es leicht war, die Philosophie vonihrem Schöpfer zu trennen. Heute, wo das Denken nichtmehr nach dem Universellen trachtet, wo seine beste Ge-schichte die seiner Reue wäre, heute wissen wir, daß eingültiges System von seinem Schöpfer nicht zu trennen ist.Selbst die <Ethik> ist unter einem ihrer Aspekte nur ein lang-atmiges und schonungsloses Bekenntnis. Das abstrakte Den-ken verbindet sich endlich wieder mit seinem körperlichenTräger. Und ebenso ordnen sich die romanhaften Abenteuerdes Körpers und der Leidenschaften ein wenig angemessenerden Forderungen einer Weltschau unter. Man erzählt nichtmehr <Geschichten>, man schafft sein Universum. Die großenRomanciers sind philosophische Romanciers, das heißt: dasGegenteil von Thesen-Schriftstellern. So BALZAC, SADE, MEL-VILLE, STENDHAL, DOSTOJEWSKIJ, PROUST, MALRAUX, KAF-KA, um nur einige von ihnen anzuführen.

Aber gerade diese Entscheidung, mehr in Bildern als inÜberlegungen zu schreiben, enthüllt ein gewisses Denken,das ihnen gemeinsam ist und das von der Nutzlosigkeit desganzen Auslegungsprinzips und von der erzieherischen Sen-dung der anschaulich gegebenen Erscheinungen überzeugt

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ist. Sie betrachten das Kunstwerk gleichzeitig als ein Endeund als einen Anfang. Es ist das Ergebnis einer oft unausge-sprochenen Philosophie, ihre Veranschaulichung und ihreKrönung. Aber vollständig ist es nur durch die stillschweigen-den Voraussetzungen dieser Philosophie. Es rechtfertigtschließlich diese Variante eines alten Themas, daß etwasDenken vom Leben entfernt, viel Denken aber zum Lebenzurückführt. Unfähig, das Wirkliche zu sublimieren, bleibtdas Denken dabei stehen, es darzustellen. Der Roman, vondem hier die Rede ist, ist das Mittel dieser relativen und zu-gleich unerschöpflichen Erkenntnis, die der Erkenntnis derLiebe so ähnlich ist. Von der Liebe hat die Romanschöpfungdie anfängliche Verwunderung und das furchtbare Wieder-käuen.

Dem Absurden treu bleiben

Wenigstens für die Illusionen bin ich ihm dankbar beimScheiden. Aber ich habe sie auch bei jenen Fürsten des de-mütigen Denkens anerkannt, deren Selbstmorde ich betrach-ten konnte. Mich interessiert es gerade, die Kraft kennenzu-lernen und zu beschreiben, die sie auf den allgemeinen Wegder Illusion zurückführt. Dieselbe Methode wird mir also auch

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hier dienlich sein. Da ich sie bereits angewandt habe, darfich meine Überlegung abkürzen und sie gleich in einem be-stimmten Beispiel zusammenfassen. Ich möchte wissen, obman, bereit, ohne Berufung zu leben, auch einwilligen kann,ohne Berufung zu arbeiten und zu schaffen, und welcher Wegzu diesen Freiheiten führt. Ich will meine Welt von ihrenPhantomen befreien und will sie nur mit sinnlichen Wahrhei-ten bevölkern, deren Vorhandensein ich nicht leugnen kann.Ich kann Absurdes schaffen, kann die schöpferische Haltungvor einer anderen bevorzugen. Aber wenn eine absurde Hal-tung absurd bleiben soll, dann muß ich auch ihrer Willkürbewußt bleiben. So ist es auch mit dem Kunstwerk. Wenn dieGebote des Absurden hier nicht beachtet werden, wenn esnicht den Zwiespalt und die Auflehnung sichtbar macht,wenn es den Illusionen huldigt und die Hoffnung aufkommenläßt, dann ist es nicht mehr willkürlich. Ich kann mich nichtmehr von ihm lösen. Mein Leben kann in ihm einen Sinn fin-den: das ist lächerlich. Es ist nicht mehr diese Übung derEntsagung und des Leidens, die den Glanz und die Nutzlosig-keit eines Menschenlebens vollendet.

Kann man also bei dem Kunstwerk, bei dem die Versu-chung zu erklären am stärksten ist, diese Versuchung über-winden? Kann ich in der fiktiven Welt, in der das Bewußtsein

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der wirklichen Welt am stärksten ist, dem Absurden treubleiben, ohne dem Wunsche nach Schlußfolgerungen zu hul-digen? So viele Fragen sind mit einer letzten Anstrengungnoch zu betrachten. Wir haben schon begriffen, was sie be-deuteten. Es sind die letzten Skrupel eines Bewußtseins, dasum den Preis einer letzten Illusion seine erste und schwierigeLehre aufzugeben fürchtet. Was für das Schaffen gilt, das fürden im Bewußtsein des Absurden lebenden Menschen als eineder möglichen Haltungen angesehen wird, das gilt für alleLebensstile, die sich ihm anbieten. Der Eroberer oder derSchauspieler, der Künstler oder Don Juan können vergessen,daß ihre Lebensbeschäftigung nicht ohne das Bewußtseinihrer Sinnlosigkeit ausgeübt werden könnte. Man gewöhntsich so rasch. Man will Geld verdienen, um glücklich zu le-ben, und die ganze Anstrengung, die beste Kraft eines Le-bens konzentrieren sich auf den Erwerb dieses Geldes. DasGlück wird vergessen, das Mittel wird Selbstzweck. Ebensowird die ganze Anstrengung des Eroberers auf den Ehrgeizabgeleitet werden, der nur ein Weg zu einem bedeutenderenLeben war. Don Juan seinerseits wird auch mit einem Schick-sal zufrieden sein, wird sich mit diesem Dasein, dessen Größenur durch die Auflehnung Wert bekam, begnügen. Bei demeinen ist das Bewußtsein, bei dem anderen die Auflehnung,

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bei beiden aber das Absurde verschwunden. Das menschlicheHerz kennt soviel eigensinnige Hoffnung. Die Menschen, dieam meisten gerupft werden, sind manchmal schließlich zurIllusion bereit. Diese durch das Bedürfnis nach Frieden dik-tierte Billigung ist der innere Bruder der existentiellen Zu-stimmung. So gibt es Götter des Lichts und Götzen desSchmutzes. Aber den Mittelweg, der zu den Gesichtern desMenschen führt, gilt es zu finden.

Bisher haben uns die Fälle des Versagens gegenüber derabsurden Forderung am besten verdeutlicht, was sie ist.Ebenso wird für unsere Erkenntnis die Beobachtung genügen,daß die Romanschöpfung die gleiche Zweideutigkeit bietenkann wie gewisse Philosophien. Ich kann also zur Erläuterungein Werk wählen, in dem alles vereinigt ist, was das Bewußt-sein des Absurden kennzeichnet, dessen Ausgangspunkt klarund dessen Klima licht ist. Seine Folgerungen werden unsbelehren. Wenn das Absurde darin nicht gewürdigt wird,werden wir wissen, durch welchen Winkelzug die Illusion sicheinschleicht. Ein genaues Beispiel, ein Thema, eine Treuedes Schöpfers werden dann genügen. Es handelt sich um diegleiche Analyse, die schon ausführlicher unternommen wur-de.

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Ich werde ein Lieblingsthema von DOSTOJEWSKIJ untersu-chen. Ich hätte ebensogut, andere Werke studieren können29.Aber mit diesem wird das Problem direkt, im Sinne der Größeund der Erregung behandelt. Auch das existentielle Denken,von dem hier die Rede gewesen ist. Diese Parallele dientmeinem Gegenstand.

KIRILOW

Alle Helden DOSTOJEWSKIJs fragen sich nach dem Sinn desLebens. Darin sind sie modern: sie fürchten die Lächerlich-keit nicht. Darin unterscheidet sich das moderne Empfindenvon dem klassischen: dieses lebt von moralischen Problemen,jenes von metaphysischen. In den Romanen DOSTOJEWSKIJswird die Frage derart eindringlich gestellt, daß sie nur zuletzten Lösungen verpflichten kann. Das Dasein ist trüge-risch, oder es ist ewig. Wenn DOSTOJEWSKIJ sich mit dieserUntersuchung begnügte, wäre er Philosoph. Aber er gibt ein

29 Zum Beispiel das Werk MALRAUX’. Aber man müßte gleichzeitig an dassoziale Problem herangehen, das vom absurden Denken tatsächlich nichtübergangen werden kann (ihm außerdem mehrere und sehr verschiedeneLösungen bieten könnte). Ich muß mich jedoch beschränken.

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Bild der Folgen, die diese geistigen Spielereien für ein Men-schenleben haben können, und insofern ist er Künstler. Unterdiesen Folgen beschäftigt ihn letztlich die, die er selber im<Tagebuch eines Schriftstellers> den logischen Selbstmordnennt. In den Dezember-Heften des Jahres 1876 stellt er dieÜberlegung über den <logischen Selbstmord> an. Überzeugtdavon, daß die menschliche Existenz für den, der nicht andie Unsterblichkeit glaubt, eine absolute Absurdität ist,kommt der Verzweifelte dabei zu folgenden Schlüssen:

<Da ich auf meine Frage nach dem Glück aus eigener Er-kenntnis der Natur nur die Antwort erhalte, daß ich einzig inder Harmonie des Ganzen glücklich sein kann, da ich dieseHarmonie also nicht begreife und offenbar nie werde begrei-fen können... Da ich in dieser Ordnung die Rolle des Klägersund des Beklagten, des Richters und des Angeklagten gleich-zeitig auf mich nehmen muß, diese Komödie aber seitens derNatur absolut dumm finde und es meinerseits erniedrigendfinde, mich auf dieses Spiel einzulassen..., so verurteile ichin meiner unbestreitbaren Eigenschaft als Kläger. und alsVerteidiger, als Richter und als Verurteilter diese Natur, diemich so schamlos zum Leiden erschaffen hat – mit mir zu-sammen zur Vernichtung...>

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Es steckt noch ein wenig Humor in dieser Haltung. DieserSelbstmörder tötet sich, weil er, auf der metaphysischenEbene, drangsaliert wird. In gewissem Sinne rächt er sich. Sobeweist er, daß man <ihn nicht kriegen wird>, Man weiß je-doch, daß dasselbe Thema, freilich in der bewundernswerte-sten Fülle, bei Kirilow dargestellt wird, einer Figur der <Dä-monen>; er ist auch ein Parteigänger des logischenSelbstmordes. Der Ingenieur Kirilow erklärt irgendwo, daß ersich das Leben nehmen will, weil <das seine Idee ist>. Manbegreift natürlich, daß man das wörtlich verstehen muß. Umeiner Idee, um eines Gedankens willen, bereitet er sich aufden Tod vor. Das ist die höchste Form des Selbstmordes.Schrittweise wird in all den Szenen, in denen die Maske Kiri-lows allmählich gelüftet wird, der Todesgedanke, der ihnbelebt, vor uns ausgebreitet. Tatsächlich nimmt der Inge-nieur die Überlegungen des Tagebuches> auf. Er fühlt, daßGott notwendig ist und daß er wohl existieren müßte. Aberer weiß, daß er nicht existiert und nicht existieren kann.<Warum verstehst du nicht>, fragt er, <daß das ein hinlängli-cher Grund ist, sich umzubringen?> Diese Haltung zieht glei-chermaßen bei ihm einige absurde Schlußfolgerungen nachsich. Er ist aus Gleichgültigkeit damit einverstanden, daßsein Selbstmord für eine Sache ausgenutzt wird, die er ver-

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achtet. <Ich habe diese Nacht beschlossen, daß mir dasgleichgültig ist.> Er bereitet seine Tat schließlich in demGefühl vor, in dem sich Auflehnung und Freiheit vermischen.<Ich werde mich umbringen, um meine Unabhängigkeit, mei-ne neue und furchtbare Freiheit zu bestätigen.> Es handeltsich nicht mehr um Rache, sondern um Auflehnung. Kirilowist demnach eine absurde Figur – jedoch mit dem wesentli-chen Vorbehalt, daß er sich umbringt. Aber er erklärt selberdiesen Widerspruch, und zwar so, daß er das absurde Ge-heimnis gleichzeitig in seiner ganzen Reinheit enthüllt. Erfügt tatsächlich seiner tödlichen Logik einen ungewöhnlichenEhrgeiz hinzu, der der Figur ihre ganze Perspektive gibt: erwill sich umbringen, um Gott zu werden.

Die Überlegung hat eine klassische Klarheit. Wenn Gottnicht existiert, ist Kirilow Gott. Wenn Gott nicht existiert,muß Kirilow sich umbringen. Kirilow muß sich also umbrin-gen, um Gott zu sein. Diese Logik ist absurd, aber das muß sosein. Das Interessante ist jedoch, wie dieser auf die Erdezurückgeführten Gottheit ein Sinn gegeben wird. Das erklärtwieder die Prämisse: <Wenn Gott nicht existiert, bin ichGott>, die noch reichlich dunkel bleibt. Zunächst ist wichtigfestzustellen, daß der Mensch, der diese unsinnige Behaup-tung verkündet, durchaus ein Mensch von dieser Welt ist.

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Seiner Gesundheit wegen treibt er jeden Morgen Gymnastik.Ihn rührt die Freude Schatows, als der seine Frau wiederfin-det. Auf einem Papier, das man nach seinem Tode findet,will er eine Figur zeichnen, die <ihnen> die Zunge zeigt. Erist kindisch und zornig, leidenschaftlich, pedantisch und sen-sibel. Vom Übermenschen hat er nur die Logik und die fixeIdee, vom Menschen das ganze Register. Und dabei spricht erselbst ganz ruhig von seiner Göttlichkeit. Er ist nicht verrückt– es sei denn, DOSTOJEWSKIJ wäre es. Es treibt ihn also nichteine Illusion des Größenwahnsinnigen. Das alles wörtlich zunehmen, wäre diesmal lächerlich.

Kirilow selbst verhilft uns zu besserem Verständnis. Aufeine Frage Stawrogins erklärt er, er spreche nicht von einemGottmenschen. Man könnte denken, das geschähe aus Sorge,um sich von CHRISTUS zu unterscheiden. Tatsächlich abergeht es darum, diesen zu annektieren. Kirilow bildet sichtatsächlich einen Augenblick ein, JESUS sei im Tode <nichtwieder ins Paradies zurückgekehrt>. Er hat also erkannt, daßsein Leiden nutzlos gewesen ist. <Die Naturgesetze>, sagt derIngenieur, <haben CHRISTUS in der Lüge leben und für eineLüge sterben lassen.> Einzig in diesem Sinne stellt JESUSwohl das ganze menschliche Drama dar. Er ist der vollkom-mene Mensch, da er die absurdeste Lage verwirklicht hat. Er

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ist nicht der Gottmensch, sondern der Menschen-Gott. Undwie er kann jeder von uns gekreuzigt und getäuscht werden –in gewisser Weise wird er es auch.

Die Göttlichkeit, um die es hier geht, ist also ganz irdisch.<Drei Jahre lang>, sagt Kirilow, <habe ich das Attribut mei-ner Göttlichkeit gesucht, und ich habe es gefunden. Das At-tribut meiner Göttlichkeit ist die Unabhängigkeit.> Wir er-kennen nun den Sinn der Kirilowschen Prämisse: <Wenn Gottnicht existiert, bin ich Gott.> Gott werden heißt nur: freisein auf dieser Erde, keinem unsterblichen Wesen dienen.Das heißt wohlgemerkt vor allem: aus dieser schmerzlichenUnabhängigkeit alle Konsequenzen ziehen,. Wenn Gott exi-stiert, hängt alles von ihm ab, und wir vermögen nichts ge-gen seinen Willen. Wenn er nicht existiert, hängt alles vonuns ab. Für Kirilow wie für NIETZSCHE heißt Gott töten: sel-ber Gott werden – das heißt: schon auf Erden das ewige Le-ben verwirklichen, von dem das Evangelium spricht30.

Wenn aber dieses metaphysische Verbrechen für die Ver-vollkommnung des Menschen genügt, warum ihm dann nochden Selbstmord hinzufügen? Warum sich töten und diese Welt

30 Stawrogin: <Sie glauben an das ewige Leben in der anderen Welt?> –Kirilow: <Nein, aber an das ewige Leben in dieser.>

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verlassen, nachdem man die Freiheit erobert hat? Darin liegtein Widerspruch.

Kirilow weiß es genau, wenn er sagt: <Wenn du das fühlst,bist du ein Zar und weit davon entfernt, dich umzubringen,du wirst in lauter Ruhm leben.> Aber die Menschen wissen esnicht. Sie fühlen <das> nicht. Wie zu Prometheus' Zeitennähren sie in sich die blinden Hoffnungen31. Man muß ihnenden Weg zeigen, sie können die Predigt nicht entbehren.Kirilow muß sich also aus Liebe zur Menschheit umbringen. Ermuß seinen Brüdern einen erhabenen und schwierigen Wegzeigen, auf dem er der erste sein wird. Es ist ein pädagogi-scher Selbstmord. Kirilow opfert sich also. Aber wenn ergekreuzigt wird, wird er nicht getäuscht werden. Er bleibtMenschen-Gott, bleibt überzeugt von einem Tod ohne Zu-kunft, durchdrungen von der Melancholie des Evangeliums. Ersagt: <Ich bin unglücklich, weil ich verpflichtet bin, meineFreiheit zu behaupten.> Aber wenn er tot ist und die Men-schen endlich erleuchtet sind, dann wird diese Erde sich mitZaren bevölkern und von menschlichem Ruhm erstrahlen.Kirilows Pistolenschuß wird das Signal der letzten Revolution

31 <Der Mensch hat Gott nur erfunden, um sich nicht umzubringen. Das istdas Ergebnis der Universalgeschichte bis zu diesem Augenblick>

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sein. So treibt ihn nicht die Verzweiflung in den Tod, sonderndie Nächstenliebe zu sich selbst. Bevor er ein unsagbaresgeistiges Abenteuer blutig abschließt, weiß Kirilow ein Wort,das ebenso alt ist wie das Leiden der Menschen: <Alles istgut.>

Dieses Thema des Selbstmordes bei DOSTOJEWSKIJ ist alsoein durchaus absurdes Thema. Merken wir uns nur, bevor wirweitergehen, daß Kirilow in anderen Gestalten, die ihrerseitsneue absurde Themen aufnehmen, wiederaufersteht. Sta-wrogin und Iwan Karamasow üben im praktischen Leben ab-surde Wahrheiten. Sie sind diejenigen, die Kirilows Tod be-freit. Sie versuchen, Zaren zu sein. Stawrogin führt ein<ironisches> Leben, man weiß zur Genüge, welches. Er läßtrings um sich den Haß erwachsen. Und doch findet sich dasSchlüsselwort zu dieser Figur in ihrem Abschiedsbrief: <Ichhabe nichts verabscheuen können.> Er ist Zar in der Gleich-gültigkeit. Iwan ist es auch, wenn er sich weigert, den könig-lichen Mächten des Geistes abzusagen. Denen, die wie seinBruder durch ihr Leben beweisen, daß man sich demütigenmüsse, um zu glauben, könnte er antworten, daß diese Be-dingung unwürdig sei. Sein Schlüsselwort ist: <Alles ist er-laubt>, und es hat die Nuance schicklicher Trauer. Wohlge-merkt: wie NIETZSCHE, der berühmteste Gottesmörder,

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endet er im Wahnsinn. Aber ein Risiko muß man auf sichnehmen, und vor diesen tragischen Katastrophen des Endesist die entscheidende Regung des Geistes die Frage: <Wasbeweist das?>

Die metaphysische Umkehr

So stellen die Romane wie das <Tagebuch> die absurde Fra-ge. Mit ihnen beginnt die <Logik bis zum Tode>, die Über-spannung, die <fürchterliche> Freiheit, der menschlich ge-wordene Ruhm der Zaren. Alles ist gut, alles ist erlaubt,nichts ist abscheulich: das sind absurde Feststellungen. Aberwo gäbe es eine so wunderbare Schöpfung wie diese, in deruns diese Wesen aus Feuer und Eis so vertraut erscheinen?Die leidenschaftliche Welt der Gleichgültigkeit, die in ihremHerzen rumort, erscheint uns in keiner Weise ungeheuerlich.Wir finden in ihr unsere alltäglichen Ängste wieder. Undzweifellos hat niemand in dem Maße wie DOSTOJEWSKIJ derabsurden Welt so eindringliche und so quälende Reize zugeben gewußt.

Wie aber lautet seine Schlußfolgerung? Zwei Zitate werdendie vollständige metaphysische Umkehr zeigen, die denSchriftsteller zu anderen Offenbarungen führt. Da die Recht-

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fertigung des logischen Selbstmordes einige Proteste derKritiker herausgefordert hat, entwickelt DOSTOJEWSKIJ inden folgenden Heften des <Tagebuchs> seine Stellungnahmeund schließt: <Wenn der Glaube an die Unsterblichkeit fürden Menschen so unentbehrlich ist (und wenn er sich ohneihn umbringen muß), dann ist er also der normale Zustandder Menschheit... Wenn dem aber so ist, dann muß die Un-sterblichkeit der Menschenseele ohne jeden Zweifel beste-hen> Andererseits fragen auf den letzten Seiten seines letz-ten Romans, am Ende dieses gewaltigen Ringens mit Gott,Kinder den Aljoscha: <Karamasow>, ist es wahr, was die Re-ligion behauptet, daß wir von den Toten wiederauferstehenund einander wiedersehen werden?> Und Aljoscha antwortet:<Gewiß, wir werden uns wiedersehen, wir werden uns fröh-lich erzählen, was alles geschehen ist.>

So werden Kirilow, Stawrogin und Iwan besiegt. Die <Ka-ramasows> antworten den <Dämonen>. Und es handelt sichdurchaus um eine Schlußfolgerung. Der Fall Aljoscha ist nichtzweideutig wie der des Fürsten Myschkin. Als Kranker lebtdieser in einer ständigen Gegenwart, die wechselnd gefärbtist von Lächeln und von Gleichgültigkeit, und dieser glückli-che Zustand könnte das ewige Leben sein, von dem der Fürstspricht. Aber nein, Aljoscha sagt es: <Wir werden uns wie-

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dersehen.> Da ist von Selbstmord und von Wahnsinn nichtmehr die Rede. Wozu auch, wenn einer der Unsterblichkeitund ihrer Freuden so sicher ist? Der Mensch tauscht seineGöttlichkeit gegen das Glück ein. <Wir werden uns fröhlicherzählen, was alles geschehen ist.> So hat wohl Kirilows Pi-stole irgendwo in Rußland geknallt, aber die Welt hat weiterihre blinden Hoffnungen gewälzt, die Menschen haben <das>nicht verstanden.

Es spricht also kein absurder Romancier zu uns, sondernein existentieller Romancier. Hier ist der Sprung noch erre-gend und leiht der Kunst, die ihn inspiriert, ihre Größe. Es isteine rührende, aus Zweifeln erwachsene, unsichere und glü-hende Zustimmung. Anläßlich der <Karamasows> schriebDOSTOJEWSKIJ: <Unter der Hauptfrage, die in allen Teilendieses Buches verfolgt wird, leide ich bewußt oder unbewußtmein ganzes Leben lang: die Existenz Gottes.> Man kann esschwerlich glauben, ein Roman hätte genügt, um das Leideines ganzen Lebens in freudige Gewißheit zu verwandeln.Der Kommentator32 bemerkt es mit vollem Recht: DOSTO-JEWSKIJ macht gemeinsame Sache mit Iwan – und die beja-henden Kapitel der <Karamasows> haben ihn drei Monate

32 BORIS VON SCHLOEZER.

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Mühe gekostet, während das, was er die <Blasphemien>nannte, in einem Rausch in drei Wochen geschrieben wurde.Jede seiner Figuren hat diesen Pfahl im Fleische, jedesträubt sich gegen ihn oder, sucht in der Sinnlichkeit oder inder Unsterblichkeit ein Heilmittel dagegen33. Bleiben wir injedem Falle bei diesem Zweifel. Hier ist ein Werk, in demwir in einem Helldunkel, das durchdringender ist als das Ta-geslicht, den Kampf des Menschen gegen seine Hoffnungenbegreifen können. Am Ende angelangt, entscheidet derKünstler sich gegen seine Gestalten. Dieser Widerspruch er-laubt uns also, eine neue Nuance einzuführen: es handeltsich hier nicht um ein absurdes Werk, sondern um ein Werk,das das Problem des Absurden stellt.

DOSTOJEWSKIJs Antwort ist die Demütigung oder – nachStawrogin: die <Scham>. Ein absurdes Kunstwerk dagegenliefert keine Antwort – das ist der ganze Unterschied. Stellenwir abschließend fest: was in diesem Werk dem Absurdenwiderspricht, ist nicht sein christlicher Charakter, sondernseine Verkündigung des zukünftigen Lebens. Man kann Christund absurd sein. Es gibt Beispiele von Christen, die nicht an

33 Eine bemerkenswerte und treffende Feststellung von GIDE: Fast alleHelden DOSTOJEWSKIJS sind polygam.

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das zukünftige Leben glauben. Was das Kunstwerk anlangt,so wäre es demnach möglich, wenigstens eine Richtung derabsurden Analyse zu bestimmen, die man auf den vorherge-henden Seiten bereits vermuten konnte. Sie führt dazu, <dieAbsurdität des Evangeliums> zu behaupten. Sie beleuchtetdiese – zahlreichen Zurückweisungen ausgesetzte – Idee, daßdie Überzeugungen den Unglauben nicht verhindern können.Im Gegenteil, man sieht: daß der Autor der <Dämonen>, dermit diesen Wegen vertraut war, am Ende einen ganz anderenWeg eingeschlagen hat. Die überraschende Antwort desSchöpfers an seine Figuren, DOSTOJEWSKIJs Antwort an Ki-rilow, läßt sich in der Tat so zusammenfassen: die Existenzist trügerisch, und sie ist ewig.

DIE SCHÖPFUNG OHNE EIN MORGEN

Der Weg des Absurden

Ich stelle hier also fest, daß die Hoffnung nicht für immerausgeschaltet werden kann und daß sie selbst die befallenkann, die sich von ihr befreien wollten. Darin besteht dasInteresse, das ich an den hier besprochenen Werken habe.Ich könnte, wenigstens in der Reihe der Kunstwerke, einige

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wahrhaft absurde Werke aufzählen34. Aber alles muß einmalangefangen haben. Der Gegenstand dieser Untersuchung isteine gewisse Treue. Die Kirche ist den Häretikern gegenübernicht so streng gewesen, wie man erwarten sollte, weil siedoch annehmen konnte, daß sie schlimmere Feinde hatte alsein verirrtes Kind. Aber die Geschichte der kühnen Gnostikerund die Beharrlichkeit manichäischer Strömungen haben fürden Aufbau des orthodoxen Dogmas mehr getan als alle Ge-bete. Beachtet man die Größenunterschiede, so darf mansagen: beim Absurden ist es genauso. Man erkennt seinenWeg, wenn man die Wege aufdeckt, die sich von ihm entfer-nen. Selbst am Ende der absurden Überlegung, in einer vonihrer Logik diktierten Haltung, ist es nicht unwichtig, dieHoffnung noch unter einer ihrer pathetischsten Formen wie-dereingeführt zu sehen. Das beweist die Schwierigkeit derabsurden Askese. Das beweist vor allem die Notwendigkeiteines unaufhörlich aufrechterhaltenen Bewußtseins und fügtsich in den allgemeinen Rahmen dieses Essays.

Aber wenn nicht mehr die Rede davon ist, die absurdenWerke aufzuzählen, so kann man wenigstens auf die schöpfe-

34 Beispielsweise <Moby Dick> von MELVILLE. (Vgl. Rowohlts Klassiker Bd.37/38. Anm. d. Red.)

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rische Haltung schließen, auf eine der Haltungen, die dieabsurde Existenz vervollständigen können. Der Kunst kannnie so gut gedient werden wie mit einem negativen Gedan-ken. Ihre dunklen und demütigen Schritte sind für den Geisteines großen Kunstwerks ebenso notwendig wie das Schwarzefür das Weiße. <Für nichts> arbeiten und schaffen, in Tonmeißeln, wissen, daß sein Werk keine Zukunft hat, sein Werkin einem Tage zerstört sehen und wissen, daß das im Grundenicht wichtiger ist, als für Jahrhunderte zu bauen – das istdie schwierige Weisheit, zu der das absurde Denken bevoll-mächtigt. Diese beiden Aufgaben gleichzeitig nebeneinanderdurchführen, einerseits leugnen, andererseits erhöhen – dasist der Weg, der sich dem absurden Künstler öffnet. Er mußdem Leeren seine Farben geben.

Das führt zu einer eigentümlichen Auffassung vom Kunst-werk. Man betrachtet das Werk eines Künstlers zu oft alseine Folge einzelner Zeugnisse. Man wirft dann Künstler undLiterat durcheinander. Ein tiefes Denken ist in ständigemWerden, es vermählt sich mit der Erfahrung eines Lebens undformt sich an. ihr. Ebenso festigt sich die einzige Schöpfungeines Menschen in seinen aufeinanderfolgenden und vielfälti-gen Gestalten, die die Werke sind. Die einen ergänzen dieanderen, korrigieren sie oder gleichen ihre Mängel wieder

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aus und widersprechen ihnen auch. Wenn etwas die Schöp-fung abschließt, so ist es nicht der sieghafte und illusorischeSchrei des blinden Künstlers: <Ich habe alles gesagt>, son-dern der Tod des Schöpfers, der seine Erfahrung und dasBuch seines Geistes abschließt.

Diese Anstrengung, dieses übermenschliche Bewußtsein er-scheinen dem Leser nicht als Zwang. In der menschlichenSchöpfung gibt es kein Geheimnis. Der Wille tut dieses Wun-der. Aber zumindest gibt es keine wahre Schöpfung ohneGeheimnis. Zweifellos kann eine Folge von Werken nur eineReihe von Annäherungen an denselben Gedanken sein. Aberman kann sich auch eine andere Art von Schöpfern vorstel-len, die mit einem Nebeneinanderstellen zu Werke gehen.Ihre Werke können untereinander beziehungslos erscheinen.In gewissem Sinne widersprechen sie sich auch. Werden sieaber in ihren Zusammenhang gestellt, so finden sie ihre Ord-nung wieder. Vom Tode her empfangen sie so ihren endgülti-gen Sinn. Ihr hellstes Licht erhalten sie unmittelbar vom Le-ben ihres Autors. In dieser Hinsicht ist die Folge seiner Werkenur eine Sammlung von Niederlagen. Aber wenn diese Nie-derlagen alle denselben Unterton behalten, hat der Schöpferdas Bild seiner eigenen Lage zu wiederholen gewußt, hat erdas sterile Geheimnis, das er besitzt, zum Klingen gebracht.

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Dies zu beherrschen, verlangt eine beträchtliche Anstren-gung. Aber die menschliche Intelligenz ist noch viel größerenAufgaben gewachsen. Sie wird nur den willensmäßigenAspekt der Schöpfung aufzeigen. Ich habe übrigens deutlichwerden lassen, daß der menschliche Wille kein anderes Zielhatte, als das Bewußtsein aufrechtzuerhalten. Aber das wür-de nicht ohne Disziplin gehen. Von allen Schulen der Geduldund der Klarheit ist das Schaffen die wirksamste. Es ist zu-dem das erschütternde Zeugnis für die einzige Würde desMenschen: die eigensinnige Auflehnung gegen seine Lage, dieAusdauer, in einer für unfruchtbar erachteten Anstrengung.Sie erfordert eine tägliche Anstrengung, Selbstbeherrschung,die genaue Abschätzung der Grenzen des Wahren, Maß undKraft. Sie begründet eine Askese. Und das alles <für nichts>,nur um zu wiederholen und um auf der Stelle zu treten. Abervielleicht hat das große Kunstwerk weniger Bedeutung ansich als in der Bewährung, die es von einem Menschen ver-langt, und in der Gelegenheit, die es ihm zur Überwindungseiner Phantome und zur weiteren Annäherung an seinenackte Wirklichkeit bietet,

Unzufriedenes Denken

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Man lasse sich nicht von der Ästhetik beirren. Nicht eine ge-duldige Auskunft, nicht die endlose und unfruchtbare Erläu-terung einer These gebe ich hier. Im Gegenteil – falls ichmich klar ausgedrückt habe. Der Thesenroman, das bewei-sende Werk, das hassenswerteste von allen, läßt sich amhäufigsten von einem zufriedenen Denken inspirieren. Manbeweist darin die Wahrheit, die man zu besitzen glaubt. Da-mit aber setzt man Vorstellungen in die Welt, und die Vor-stellungen sind das Gegenteil vom Denken. Diese Schöpfersind verschämte Philosophen. Die, von denen ich sprecheoder an die ich denke, sind im Gegenteil klare Denker. Aneinem bestimmten Punkt, an dem das Denken auf sich selberzurückkommt, richten sie die Bilder ihrer Werke auf als klareSymbole eines begrenzten, sterblichen und aufrührerischenDenkens. Sie beweisen vielleicht etwas. Diese Beweise abergeben die Romanciers mehr sich selbst als anderen. Wesent-lich ist, daß sie im Konkreten triumphieren und daß das ihreGröße ist. Dieser völlig sinnliche Triumph ist ihnen von einemDenken bereitet worden, in dem die abstrakten Kräfte ge-demütigt wurden. Wenn sie es ganz und gar sind, läßt dasFleisch plötzlich die Schöpfung in all ihrem absurden Glanzerstrahlen. Ironische Philosophien schaffen leidenschaftlicheWerke.

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Jedes Denken, das auf die Einheit verzichtet, erhöht dieMannigfaltigkeit. Und die Mannigfaltigkeit ist das Gebiet derKunst. Das einzige Denken, das den Geist befreit, ist jenes,das ihn allein läßt, in der Gewißheit seiner Grenzen und sei-nes bevorstehenden Endes. Ihn reizt keine Doktrin. Er wartetauf das Reifen des Werkes und des Lebens. Losgelöst von ihmwird das Werk noch einmal die kaum gedämpfte Stimme sei-ner Seele vernehmen lassen, die für immer von der Hoffnungbefreit ist. Oder es wird nichts hören lassen, wenn derKünstler, müde seines Spiels, es abbrechen will. Das bleibtsich gleich.

So verlange ich von dem absurden Kunstwerk das, was ichvom Denken verlangte: Auflehnung, Freiheit und Mannigfal-tigkeit. Dann wird es die tiefe Nutzlosigkeit manifestieren, Indieser täglichen Anstrengung, in der sich Geist und Leiden-schaft mischen und gegenseitig steigern, entdeckt der absur-de Mensch eine Zucht, die das Wesentliche seiner Kräfteausmacht. Der Fleiß, den er dazu braucht, der Eigensinn undder Scharfblick vereinigen sich so mit der Haltung des Erobe-rers. Auch Schaffen heißt: seinem Schicksal Gestalt geben.Alle diese Gestalten erklärt ihr Werk mindestens ebensosehr,wie es durch sie erklärt wird. Der Komödiant lehrte uns: zwi-schen Schein und Sein gibt es keine Grenze.

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Um es zu wiederholen: nichts von alledem hat wirklichenSinn. Auf dem Wege zu dieser Freiheit ist noch ein Schritt zutun. Die letzte Anstrengung für diese verwandten Geister,Künstler oder Eroberer, besteht darin, sich von ihren Unter-nehmungen befreien zu können, zu dem Eingeständnis zugelangen, daß das Werk selbst – sei es Eroberung, Liebe oderKunstwerk – nicht sein kann, und so die tiefe Nutzlosigkeitallen individuellen Lebens zu vollenden. Gerade das gibtihnen größere Leichtigkeit bei der Verwirklichung diesesWerkes, wie die Erkenntnis die Absurdität des Lebens ihnendas Recht gibt, sich bis zum Übermaß hineinzustürzen.

Übrig bleibt ein Schicksal, bei dem nur das Ende verhäng-nisvoll ist. Abgesehen von diesem einzigen Verhängnis desTodes ist alles, Freude oder Glück, Freiheit. Es bleibt eineWelt, deren einziger Herr der Mensch ist. Was ihn bannte,war die Illusion einer anderen Welt. Das Los seines Denkensbesteht nicht mehr darin, sich selbst zu verleugnen, sondernin Bildern aufzugehen. Es wird spielerisch – in Mythen sicher-lich, aber in Mythen, die keine andere Tiefe haben als diedes menschlichen Schmerzes und wie diese unerschöpflichsind. Nicht in der göttlichen Fabel, die unterhält und blindmacht, sondern in Gesicht, Tat und Drama dieser Erde verei-

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nigen sich eine wunderliche Weisheit und eine Leidenschaftohne ein Morgen.

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IV. DER MYTHOS VON SISYPHOS

Der ewige Rebell

Die Götter hatten Sisyphos dazu verurteilt, unablässig einenFelsblock einen Berg hinaufzuwälzen, von dessen Gipfel derStein von selbst, wieder hinunterrollte. Sie hatten mit eini-ger Berechtigung bedacht, daß es keine fürchterlichere Stra-fe gibt als eine unnütze und aussichtslose Arbeit.

Wenn man HOMER Glauben schenken will, war Sisyphosder weiseste und klügste unter den Sterblichen. Nach eineranderen Überlieferung jedoch betrieb er das Gewerbe einesStraßenräubers. Ich sehe darin keinen Widerspruch. Über dieGründe, weshalb ihm in der Unterwelt das Dasein eines un-nützen Arbeiters beschert wurde, gehen die Meinungen aus-einander. Vor allem wirft man ihm eine gewisse Leichtfertig-keit im Umgang mit den Göttern vor. Er gab ihre Geheimnissepreis. Egina, die Tochter des Asopos, wurde von Jupiter ent-führt. Der Vater wunderte sich über ihr Verschwinden undbeklagte sich darüber bei Sisyphos. Der wußte von der Ent-führung und wollte sie Asopos unter der Bedingung verraten,daß er der Burg von Korinth Wasser verschaffte. Den himmli-schen Blitzen zog er den Segen des Wassers vor. Dafür wurde

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er in der Unterwelt bestraft. HOMER erzählt uns auch, Sisy-phos habe den Tod in Ketten gelegt. Pluto konnte den An-blick seines stillen, verödeten Reiches nicht ertragen. Erverständigte den Kriegsgott, der den Tod aus den Händenseines Überwinders befreite.

Außerdem heißt es, Sisyphos wollte, als er zum Sterbenkam, törichterweise die Liebe seiner Frau erproben. Er be-fahl ihr, seinen Leichnam unbestattet auf den Markt zu wer-fen. Sisyphos kam in die Unterwelt. Dort wurde er von ihremGehorsam, der aller Menschenliebe widersprach, derart auf-gebracht, daß er von Pluto die Erlaubnis erwirkte, auf dieErde zurückzukehren und seine Frau zu züchtigen. Als er aberdiese Welt noch einmal geschaut, das Wasser und die Sonne,die warmen Steine und das Meer wieder geschmeckt hatte,wollte er nicht mehr ins Schattenreich zurück. Alle Aufforde-rungen, Zornausbrüche und Warnungen fruchteten nichts. Erlebte noch viele Jahre am Golf, am leuchtenden Meer, aufder lächelnden Erde und mußte erst von den Göttern festge-nommen werden. Merkur packte den Vermessenen beim Kra-gen, entriß ihn seinen Freunden und brachte ihn gewaltsamin die Unterwelt zurück, in der sein Felsblock schon bereit-lag.

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Kurz und gut: Sisyphos ist der Held des Absurden. Dankseinen Leidenschaften und dank seiner Qual. Seine Verach-tung der Götter, sein Haß gegen den Tod und seine Liebezum Leben haben ihm die unsagbare Marter aufgewogen, beider sein ganzes Sein sich abmüht und nichts zustande bringt.Damit werden die Leidenschaften dieser Erde bezahlt. ÜberSisyphos in der Unterwelt wird uns nichts weiter berichtet.Mythen sind dazu da, von der Phantasie belebt zu werden. Sosehen wir nur, wie ein angespannter Körper sich anstrengt,den gewaltigen Stein fortzubewegen, ihn hinaufzuwälzen undmit ihm wieder und wieder einen Abhang zu erklimmen; wirsehen das verzerrte Gesicht, die Wange, die sich an denStein schmiegt, sehen, wie eine Schulter sich gegen den erd-bedeckten Koloß legt, wie ein Fuß ihn stemmt und der Armdie Bewegung aufnimmt, wir erleben die ganz menschlicheSelbstsicherheit zweier erdbeschmutzter Hände. Schließlichist nach dieser langen Anstrengung (gemessen an einemRaum, der keinen Himmel, und an einer Zeit, die keine Tiefekennt) das Ziel erreicht. Und nun sieht Sisyphos, wie derStein im Nu in jene Tiefe rollt, aus der er ihn wieder auf denGipfel wälzen muß. Er geht in die Ebene hinunter.

Auf diesem Rückweg, während dieser Pause, interessiertmich Sisyphos. Ein Gesicht, das sich so nahe am Stein ab-

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müht, ist selber bereits Stein! Ich sehe, wie dieser Mannschwerfälligen, aber gleichmäßigen Schrittes zu der Qualhinuntergeht, deren Ende er nicht kennt. Diese Stunde, diegleichsam ein Aufatmen ist und ebenso zuverlässig wieder-kehrt wie sein Unheil, ist die Stunde des Bewußtseins. Indiesen Augenblicken, in denen er den Gipfel verläßt und all-mählich in die Höhlen der Götter entschwindet, ist er seinemSchicksal überlegen. Er ist stärker als sein Fels.

Dieser Mythos ist tragisch, weil sein Held bewußt ist.Worin bestünde tatsächlich seine Strafe, wenn ihm bei jedemSchritt die Hoffnung auf Erfolg neue Kraft gäbe? Heutzutagearbeitet der Werktätige sein Leben lang unter gleichen Be-dingungen, und sein Schicksal ist genauso absurd. Tragisch istes aber nur in den wenigen Augenblicken, in denen der Ar-beiter bewußt wird. Sisyphos, der ohnmächtige und rebelli-sche Prolet der Götter, kennt das ganze Ausmaß seiner unse-ligen Lage: über sie denkt er während des Abstiegs nach. DasWissen, das seine eigentliche Qual bewirken sollte, vollendetgleichzeitig seinen Sieg. Es gibt kein Schicksal, das durchVerachtung nicht überwunden werden kann.

Fluch und Seligkeit

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Wenn der Abstieg so manchen Tag in den Schmerz führt,er kann doch auch in der Freude enden. Damit wird nichtzuviel behauptet. Ich sehe wieder Sisyphos vor mir, wie er zuseinem Stein zurückkehrt und der Schmerz von neuem be-ginnt. Wenn die Bilder der Erde zu sehr im Gedächtnis haf-ten, wenn das Glück zu dringend mahnt, dann steht im Her-zen des Menschen die Trauer auf: das ist der Sieg des Steins,ist der Stein selber. Die gewaltige Not wird schier unerträg-lich. Unsere Nächte von Gethsemane sind das. Aber die nie-derschmetternden Wahrheiten verlieren an Gewicht, sobaldsie erkannt werden. So gehorcht Ödipus zunächst unwissent-lich dem Schicksal. Erst mit Beginn seines Wissens hebt seineTragödie an. Gleichzeitig aber erkennt er in seiner Blindheitund Verzweiflung, daß ihn nur noch die kühle Hand einesjungen Mädchens mit der Welt verbindet. Und nun fällt einmaßloses Wort: <Allen Prüfungen zum Trotz – mein vorge-rücktes Alter und die Größe meiner Seele sagen mir, daßalles gut ist.> So formuliert der Ödipus des SOPHOKLES (wieKirilow bei DOSTOJEWSKIJ) den Sieg des Absurden. AntikeWeisheit verbindet sich mit modernem Heroismus.

Man entdeckt das Absurde nicht, ohne in die Versuchungzu geraten, irgendein Handbuch des Glücks zu schreiben.<Was! Auf so schmalen Wegen...?> Es gibt aber nur eine

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Welt. Glück und Absurdität entstammen ein und derselbenErde. Sie sind untrennbar miteinander verbunden. Irrtumwäre es, wollte man behaupten, daß das Glück zwangsläufigder Entdeckung des Absurden entspringe. Wohl kommt esvor, daß das Gefühl des Absurden dem Glück entspringt. <Ichfinde, daß alles gut ist>, sagt Ödipus, und dieses Wort istheilig. Es wird in dem grausamen und begrenzten Universumdes Menschen laut. Es lehrt, daß noch nicht alles erschöpftist, daß noch nicht alles ausgeschöpft wurde. Es vertreibt ausdieser Welt einen Gott, der mit dem Unbehagen und mit derVorliebe für nutzlose Schmerzen in sie eingedrungen war. Esmacht aus dem Schicksal eine menschliche Angelegenheit,die unter Menschen geregelt werden muß.

Darin besteht die ganze verschwiegene Freude des Sisy-phos. Sein Schicksal gehört ihm. Sein Fels ist seine Sache.Ebenso läßt der absurde Mensch, wenn er seine Qual be-denkt, alle Götzenbilder schweigen. Im Universum, dasplötzlich wieder seinem Schweigen anheimgegeben ist, wer-den die tausend kleinen, höchst verwunderten Stimmen derErde laut. Unbewußte, heimliche Rufe, Aufforderungen allerGesichter bilden die unerläßliche Kehrseite und den Preis desSieges. Ohne Schatten gibt es kein Licht; man muß auch dieNacht kennenlernen. Der absurde Mensch sagt Ja, und seine

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Mühsal hat kein Ende mehr. Wenn es ein persönliches, Ge-schick gibt, dann gibt es kein übergeordnetes Schicksal oderzumindest nur eines, das er unheilvoll und verächtlich findet.Darüber hinaus weiß er sich als Herr seiner Zeit. Gerade indiesem Augenblick, in dem der Mensch sich wieder seinemLeben zuwendet (ein Sisyphos, der zu seinem Stein zurück-kehrt), bei dieser leichten Drehung betrachtet er die Reiheunzusammenhängender Taten, die sein Schicksal werden,seine ureigene Schöpfung, die in seiner Erinnerung geeint istund durch den Tod alsbald besiegelt wird. Überzeugt vondem rein menschlichen Ursprung alles Menschlichen, ist eralso immer unterwegs – ein Blinder, der sehen möchte undweiß, daß die Nacht kein Ende hat. Der Stein rollt wieder.

Ich verlasse Sisyphos am Fuße des Berges! Seine Last fin-det man immer wieder. Nur lehrt Sisyphos uns die größereTreue, die die Götter leugnet und die Steine wälzt. Auch erfindet, daß alles gut ist. Dieses Universum, das nun keinenHerrn mehr kennt, kommt ihm weder unfruchtbar nochwertlos vor. Jedes Gran dieses Steins, jeder Splitter diesesdurchnächtigten Berges bedeutet allein für ihn eine ganzeWelt. Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz aus-zufüllen. Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Men-schen vorstellen.