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Der südsibirische Kehlgesang als Gegenstand phonetischer Untersuchungen Sven Grawunder, Halle Im Sommer 1996 war der südafrikanische Missionar und Ethnomusikologe Dave Dargie am Institut für Sprechwissenschaft und Phonetik in Halle zu Gast. Er berichtete über eine Reihe erstaunlicher musikalischer Erscheinungen, die er bei seiner Arbeit in Südafrika entdeckt hatte. Die Frauen der Tembu Xhosa benutzen in einigen gemeinschaftlich gesungenen Liedern eine sehr eigenartige tiefe und raue Stimme. Und bei einer Frau beschrieb Dargie einen Gesang, der hnlich dem afrikanischen Mundbogen, ein simultanes Singen von wechselnden Akkorden, allein mit einer Stimme und nur mit Hilfe der vokalen Obertne, aufwies (vgl. Dargie 1991, 1993). Dies war meine erste Begegnung mit dem Oberton- bzw. Kehlgesang. Auch dessen andere Erscheinungsformen in Zentralasien begannen mich zu interessieren und ich fing an zu recherchieren. Dabei schienen gerade die Fragen des Kontextes genauso ungeklrt wie die nach der eigentlichen Stimmtechnik und deren Vermittlung. Die Quellenlage war wenig aufschlussreich und z.T. widersprüchlich. So bin ich selbst im Sommer 1998 in die Republik Hakassien und die Republik Tuva in der Russischen Frderation gereist. Im Rahmen meiner Diplomarbeit hatte ich mir die Aufgabe gestellt, die stilistischen Ausdifferenzierungen dieses besonderen Stimmgebrauchs, die damit verbundenen Spielarten seiner klanglichen Gestalt und das bei den Sngern zugrundeliegende musikalische Konzept zu klren (vgl. Grawunder 1999).

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Der südsibirische Kehlgesang als Gegenstand phonetischer Untersuchungen

Sven Grawunder, Halle Im Sommer 1996 war der südafrikanische Missionar und Ethnomusikologe Dave Dargie am Institut für Sprechwissenschaft und Phonetik in Halle zu Gast. Er berichtete über eine Reihe erstaunlicher musikalischer Erscheinungen, die er bei seiner Arbeit in Südafrika „entdeckt“ hatte. Die Frauen der Tembu Xhosa benutzen in einigen gemeinschaftlich gesungenen Liedern eine sehr eigenartige tiefe und raue Stimme. Und bei einer Frau beschrieb Dargie einen Gesang, der ähnlich dem afrikanischen Mundbogen, ein simultanes Singen von wechselnden Akkorden, allein mit einer Stimme und nur mit Hilfe der vokalen Obertöne, aufwies (vgl. Dargie 1991, 1993). Dies war meine erste Begegnung mit dem Oberton- bzw. Kehlgesang. Auch dessen andere Erscheinungsformen in Zentralasien begannen mich zu interessieren und ich fing an zu recherchieren. Dabei schienen gerade die Fragen des Kontextes genauso ungeklärt wie die nach der eigentlichen Stimmtechnik und deren Vermittlung. Die Quellenlage war wenig aufschlussreich und z.T. widersprüchlich. So bin ich selbst im Sommer 1998 in die Republik Hakassien und die Republik Tuva in der Russischen Förderation gereist. Im Rahmen meiner Diplomarbeit hatte ich mir die Aufgabe gestellt, die stilistischen Ausdifferenzierungen dieses besonderen Stimmgebrauchs, die damit verbundenen Spielarten seiner klanglichen Gestalt und das bei den Sängern zugrundeliegende musikalische Konzept zu klären (vgl. Grawunder 1999).

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1 Terminologie, Herkunft, soziokultureller Kontext Nahe dem geographischen Mittelpunkt Asiens liegt auch das Verbreitungszentrum der folgenden Betrachtungsgegenstände. Es sind die Kehlgesangsstile hai, kai, höömej, höömii der Völker des Altai-Sayan-Gebietes im Süden Sibiriens (Russische Förderation) und der Mongolei. Hinzugezählt werden müsste eigentlich auch die Stimme des baschkirischen özlyau und der tibetischen dzo ke (mdzo skad). Die Einbeziehung der letzteren ist zugegebenermaßen gewagt, doch gibt es historische Verbindungen zwischen beiden Regionen (z.B. Transfer des Buddhismus), es herrschen ähnliche Wirtschaftsformen und es gibt eine ganze Reihe von kulturellen Parallelen (s. a. Taube 1980). Die Entscheidung für den Terminus Kehlgesang (KG) (nicht Kehlkopfgesang) statt Obertongesang (OTG) fiel aus folgenden Gründen: 1. Die Etymologie der Namen hai, kai, höömej, höömii für KG in Hakassia, Gorno-Altai, Schoria, Tuva und der Mongolei (Tatarintsev 1994; Tatarintsev 1998; Kyrgys 1994) ist eng mit dem semantischen Feld ‚Kehle, Hals’ etc. verknüpft. 2. Es besteht eine Analogie zu den bereits geläufigen und in der Fachliteratur verwendeten Begriffen горловое пение, throat singing, chant de gorge. 3. Es geht um die Abgrenzung zum ‚westlichen’ (mitteleuropäisch-nordamerikanischen) Konzept des OTG (overtone singing, chant harmonique, обертоное пение), der anderer Prägung, anderen Ursprungs und anderer Ausführungpraxis ist (Laurion 1996, Saus 2000, van Tongeren 1994, van Tongeren 2002). Verständlicherweise gibt es dennoch eine Neigung die ‚westliche’ Form eher als Fortführung oder Ableitung der ‚östlichen’ (südsibirischen, zentralasiatischen) zu betrachten. Und nichtsdestotrotz finden natürlich in einzelnen künstlerischen Projekten Annäherungen zwischen beiden Gesangsarten statt. Das intensivere Interesse auch ‚westlicher’ Wissenschaftler am KG, das seit Beginn der 90er Jahre einsetzte, veränderte nicht wesentlich den sehr lückenhaften Kenntnisstand zur Genese des KG in der Altai-Sajan-Region. Dies ist im Wesentlichen dadurch bedingt, dass es sich hier ausschließlich um schriftlose Kulturen handelte, was sich erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts änderte. Eine Verbindung sowohl zum Schamanismus als auch zum Animismus ist eher vage. Aufgrund der angeblich heilenden Wirkung des KG dürfte er demnach eigentlich nur von Schamanen gesungen bzw. eingesetzt werden (Kenin-Lopsan

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1998). Dies wird verständlicherweise von den Sängern, die ich getroffen habe, abgelehnt, da sich der KG heute als unzweifelhafter Bestandteil der Volkskultur bzw. Volksmusik darstellt. Ein sakraler Kontext ist lediglich für die tibetische mdzo skad (mdzo tibetisch = Yak-Hybrid, skad tibetisch = Stimme) festzustellen, so wie sie in einigen wenigen Klöstern bestimmter buddhistischer Sekten praktiziert wird. Doch lassen sich in Tuva und der Mongolei in jedem Falle noch Belege für andere Praktiken z. B. der der sog. animal-domestication-songs finden, die zwar vom KG verschieden sind, doch unter bestimmten Bedingungen genau wie Wiegenlieder eher in einer Art ‚klanglichem Kontinuum’ zum höömej stehen. D.h., es gab unter bestimmten Voraussetzungen auch im ‚Alltag’ der Nomaden eine praktische Anwendung bestimmter Formen des höömej. Die Verbreitung des KG innerhalb Tuvas spricht ebenfalls für eine Verknüpfung mit dem Semi-Nomadentum der Steppe und Waldsteppe. Bei den Hakassen, Schoren und Altaiern (Telengit und Oirat) ist eine ausschließliche Verknüpfung von KG und Epengesang zu berück-sichtigen. Der KG in Tuva hingegen stellt ein vom Epengesang und Liedgesang verschiedenes Genre dar, dessen Elaboriertheit und stilistische Vielfalt dazu beiträgt, Tuva (bzw. die Siedlungsgebiete der Tuviner) zum Zentrum dieses Gesangsstils zu machen. Eine ähnliche Stellung und Differenzierung weisen nur noch die Stile des KG in der Mongolei unter den westlichen Halha, Bait, Torgut und Altai Urianghai auf (vgl. Pegg 2001, 60). Die Tuviner in der Mongolei sind hier nicht genannt. Ihr KG ist mit dem in der Republik Tuva weitgehend identisch, da – nach bisherigem Kenntnisstand – heute alle im Tsengel Sum bekannten Sänger tuva-tuvinische ‚Lehrer’ hatten bzw. Schüler von deren Schülern sind. Erst in jüngerer Zeit (seit Beginn der 70er Jahre) lässt sich auch im Altai und in Hakassien eine Loslösung vom Epengesang beobachten. Diese entspringt einzelnen künstlerischen Initiativen, die nicht zuletzt durch die typischen Estradenprogramme der sowjetischen Folklore- und Kulturinszenierungen initiiert wurden. Hierbei waren u. a. regionale, nationale und internationale Gesangs-wettbewerbe gefördert worden, die zumindest in Tuva und der Mongolei wesentlich zur anhaltenden Popularität des KG beitrugen. Die in der zusammenbrechenden Sowjetunion verstärkt einsetzende Identitätssuche und die mit der Öffnung des Ostens einhergehende internationale Beachtung führten zu einem erneuten Aufschwung dieses Genres, der bis heute anhält. Die Transformation von

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traditionellen Formen in weltweit übliche Popformate blieb dabei nicht aus. Die heutige Aufführungspraxis lässt aber auch gegenläufige Tendenzen erkennen, in denen sich eine behutsame Abwendung von ‚allzu westlich populärer’ Ausgestaltung sowie ensembletypischem Arrangement und effektorientierter Darbietung zeigt (vgl. Grawunder 2003b). Zuletzt muss hier unbedingt eine dritte Abgrenzung zum nordsibirischen throat-singing bzw. zu den sogenannten throat-games (Kehlspielen) einiger Völker des hohen Nordens (Čukči, Inuit, Yupik etc.) vorgenommen werden (vgl. Nattiez 1999). Zum einen ist der Klangcharakter hier gänzlich anders, zum anderen treten rituelle Kontexte und Aufführungspraktiken auf, die im Sajan-Altai-Gebiet völlig fehlen.

2 Die Erforschung des Kehlgesangs Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dieser Art des beson-deren Stimmgebrauchs begann erst zur Mitte des 20. Jahrhunderts (Anohin um 1925, Kenel um 1940). Vorher gab es lediglich Erwähnungen in Reisebeschreibungen (so von Jakovlev um 1900 oder Grumm-Grschimailo aus dem Jahr 1914) bzw. musikalische Beschreibungen des Klangcharakters (Aksenov 1967) (vgl. hierzu Kyrgys 1994). Und nur wenige Arbeiten beschäftigten sich außerhalb der UdSSR und der Mongolischen Volksrepublik mit diesen Gesangsphänomenen (Smith 1967; Hamayon 1980; Trân 1989; Wallcott 1977). Ein regelrechter Aufschwung setzt zu Beginn der 1990er Jahre mit dem Zerfall der Sowjetunion und der Öffnung Russlands ein. Aber auch die Verbreitung von Aufnahmen macht den KG mehr und mehr weltweit bekannt. Leider sind bisher viele phonetisch-akustische Arbeiten nur exemplarisch geführt worden (Wallcott 1977, Trân 1989, van Tongeren 1994), was mit Sicherheit hauptsächlich auf die erschwerte Gewinnung von Rohdaten zurückzuführen ist. Nach wie vor bleiben die Feld-bedingungen in Russland, in der Mongolei und China eine nicht zu unterschätzende Hürde. Des Weiteren fehlen aber auch kontrastive Untersuchungen von OTG und KG mit einer größeren Basis. Die

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Forschung in Russland und in der Mongolei beschränkt sich verständlicherweise zumeist auf ethnografische bzw. ethno-musiko-logische Betrachtungen (Kyrgys 1990; Mainagascheva 1997; Surazakov 1985; Suzukej 1993; Pegg 2001). Die Phänomene, die den KG aber auch für Phonetik und Sprechwissenschaft interessant machen, sind vor allem die besonderen Formen und Varianten der Stimmproduktion sowie die resonatorische Anpassung des Vokaltrakts. Es geht also um eine Erweiterung im Verständnis der vorkommenden Phonationstypen (z. B. Taschenfaltenstimme, Strohbass) (vgl. Fuks et al. 1998), um die Artikulation der beteiligten Pharynx- und Larynx-bereiche (Beschreibung und demzufolge Differenzierung pharyngealer, epiglottaler, laryngealer oder gutturaler Artikulationen) und um die Frage nach dem ‚physiologischen Optimum’ im Zusammenhang mit der didaktischen Vorstellung der Sprechwissenschaft vom Stimmideal. Eine praktische Anwendung liegt darum sowohl in der Stimmbildung (Saus 2001) als auch in der Therapie (Stichwort: Ersatzstimmmechanismen). In meiner Diplomarbeit (Grawunder 1999) wurde der aktuelle Forschungsstand zusammengetragen und auf die Charakteristika des südsibirischen KG im Gegensatz zum OTG aufmerksam gemacht. Im vorliegenden Beitrag sollen die neugewonnenen Erkenntnisse an einigen Beispielen erläutert werden.

3 Die stilistische Vielfalt des Kehlgesangs Im gleichen Zuge wie ich versuchen möchte, die gemeinsamen Charakteristika des südsibirischen Kehlgesangs darzulegen, möchte ich auch auf die enorme stilistische Breite hinweisen, die sich dem Feldforscher darbietet. Sie macht es schwer, von dem KG schlechthin zu sprechen und erfordert – zumindest für die Analyse einzelner Beispiele – immer die genaue Differenzierung von Stil und Herkunft der Sänger. So kann man heutzutage im Altai und in Hakassien auf jeweils mindestens 3 verschiedene Stile stoßen. In der Mongolei sind es um die 10 bis 16 und in Tuva zählt man je nach Betrachtungsweise bis zu 30 Stile. Die Angaben schwanken aufgrund der unterschiedlichen Standpunkte von Sängern und Wissenschaftlern.

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Der tuvinische Sänger Tumat Kara-ool antwortet, danach gefragt, wieviel (Grund-)Stile es im tuvinischen höömej gäbe, „3“ (höömej, sygyt, kargyraa). Der höömejshi (tuvinisch: „höömej-Sänger“) Oleg Kuular vertrat hierzu die Meinung, es seien „5“ (höömej, sygyt, kargyraa, borbangnaadyr, ezenggeleer). Unter höömej-Sängern ist zumindest weitestgehend unstrittig, dass, wer höömej beherrscht, auch sehr leicht sygyt lernen kann. Ganz verschieden und eigener Natur dagegen sei kargyraa. Borbangnaadyr und ezengeleer werden teils als eigenständige Stile, teils als Ornamentierungen verstanden. In letzterem Sinne kämen noch dumčuktaar und byrlangnaadyr hinzu. Durch die Kombination von sygyt und kargyraa entsteht sygydyng kargyraazy (bzw. čylandyk) usw. Darüber hinaus gibt es Substile wie dagnyng kargyraazy (Berg-kargyraa) und hovunung kargyraazy (Steppen-kargyraa) oder den Stil genadi tumat, benannt nach dem vor wenigen Jahren verstorbenen Sänger Genadi Tumat. Die Aufzählung ist hier bei weitem noch nicht vollständig. Gerade durch die modernen Möglichkeiten der Verbreitung (lokales Fernsehen, lokaler Musikmarkt mit MC und CD) gewinnen die „Vorbilder“ berühmter Sänger an Bedeutung bzw. es entstehen neue Substile. Das Wort „höömej“ bezeichnet in Tuva sowohl den Stil höömej als auch den KG allgemein. Ähnlich verhält es sich mit dem mongolischen Wort hoomij. Ein Mitglied der durch mehrere CD-Aufnahmen bekannten Gruppe „Čirgilčin“, Igor Köschkendey, war im November 2001 in Berlin zu Gast. Igor (geb. 1978) ist in der Süt-Höl Region aufgewachsen, hat höömej bereits als Schüler im Alter von 8 oder 9 Jahren erlernt und erhielt noch weiteren Unterricht von Kongar-ool Ondar (s. Kino-Dokumentarfilm „Ghengis Blues“ 2000). Er führte mir 10 verschiedene Kehlgesangsstile vor, die ich hier als ein konkretes Beispiel verwenden und als Teil eines möglichen Stil-Systems erläutern möchte (s. 3.1.11). Um eine geläufige Darstellung zu bieten, wurde je ein repräsentativer Ausschnitt gewählt und eine FFT-, Intensitäts- und Pitchanalyse mit der verbreiteten Analysesoftware Praat 4.0 durchgeführt. (Die zugehörigen Ausschnitte [Tonbeispiel] aus den analysierten Aufnahmen befinden sich zusammen mit den farbigen Abbildungen auf der Begleit-CD-ROM zu diesem Band, die ich gerne auf Anfrage zusende.)

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Die Entwicklung von ausreichenden, präzisen Beschreibungskategorien für derartige Stimmqualitäten und komplexe Klangcharaktere bildet eine weitere Herausforderung an die Phonetik. So unternehme ich hier auch keinen Versuch eine solche neue Terminologie zu schaffen, versuche jedoch zumindest Artikulatorisches und Auditives zu trennen. Etwas entgegen einer klaren Systematik, doch zum besseren Verständnis der weiteren Kapitel erläutere ich aber die von mir jeweils zugeordneten Stimmmodi. Dies darf nicht über deren noch hypothetischen Charakter hinwegtäuschen.

3.1 Die Stile des Kehlgesangs in Tuva

3.1.1 Sygyt Sygyt ist einer der markantesten Stile und wird oftmals auch als die einzige Erscheinungsform des KG erklärt. Dies trägt zur Verwechslung bzw. Gleichsetzung mit dem OTG bei. Ein durchdringend pfeifender (sygyt tuvinisch = ‚pfeifen’) Formant (bzw. eine Resonanz), der so ‚scharf’ ist, dass in der Wahrnehmung ein einzelner harmonischer Teilton klar hervortritt (s. Abb.1) und als Melodieträger bzw. Träger des musikalischen Motivs dienen kann, gilt in diesem Stil als Kardinalmerkmal. Der Klang des sogenannten Grund-Stimmtons tritt stark zurück und wirkt gedämpft bzw. ‚weggepresst’. Diese Dämpfung gilt als Qualitätsmerkmal ebenso wie die Brillanz und Klarheit des melodiebildenden Obertons bzw. Formanten. Insgesamt wirkt der Stimmklang weniger gepresst, sondern dicht, klar und fest in den unteren Bereichen und klirrend, aber auch sonor in den oberen (Tonhöhen-)Bereichen, wenn auch der Melodie-Oberton-Klang selbst eher weich und ‚flötend’ erscheint. Im Vergleich zum Pfeifen gibt es eine höhere Schalldichte und Klangfülle. Dass es sich trotzdem um eine gut abgestützte Stimmproduktion handelt, zeigen das gut ausgebildete stabile Vibrato und die lang ausgehaltene Phrase (hier von ca. 25 sec). Längen von über 30 Sekunden sind beim KG keine Seltenheit. Ein Absetzen und Zwischenatmen innerhalb einer melodischen Phrase gilt

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selbstverständlich auch in Tuva und der Mongolei als unästhetisch. Ebenso ist für sygyt ein Wechsel der Grundtonhöhe nicht möglich bzw. er gilt als Zeichen von Dilettantismus.

Time (s)6.31394 32.9601

–0.5993

0.5464

0

Time (s)6.31394 32.9601

0

8000

Fre

quen

cy (

Hz)

0

1600

3200

4800

6400

8000

26

Time (s)6.31394 32.9601

Pitc

h (H

z)

0

500

156

Frequency (Hz)0 8000

Sou

nd p

ress

ure

leve

l (dB/

Hz)

60

80

100

0 1600 3200 4800 6400 8000 Abb. 1: Stil sygyt; Hamming (Glättungsfenster); width (Analysefensterlänge) 0.04 s [Tonbeispiel1] Beim Blick auf das Sonagramm bestätigen sich die Beobachtungen. Der Vokalformant F2 zeichnet sich als prominentester Resonanzbereich ab. Dieser Formant ist sehr mobil und findet sich im Melodiebereich von H6 bis H12 (generell bis H14), hier 936 Hz (B5) bis 1872 Hz (B6). F1 liegt konstant bei etwa 500 Hz und tritt kaum hervor. (H meint hier Harmonische; erster harmonischer Teilton H1 ist demzufolge der ‚Grundton’. Die Notenwerte richten sich nach internationalem Standard (ISO 16: 1975), wobei in diesem Text nach MIDI-Skala A4 (= 440 Hz) die 1. Note der 4. Oktave ist. Die Noten heißen A, B, C, D, E, F und G.) Eine dritte, schwächere Formantausbildung (in einer Breite von ca. 400 Hz) in genau dem Bereich der Oktave (um 3200 Hz) zum Melodieformanten um 1600 Hz bildet ein stabiles und persistentes Ostinato über die gesamte Phrase. (s. Spektrum in Abb.1, s. a. weiter unten Abb. 15). F0 liegt bei 156 Hz (D#2).

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Nur die (An- und) Absätze lassen auditiv erkennen, dass die Zungenspitze an die Alveolaren gesetzt wird. Dies ergibt im Absatz den Eindruck eines [��]. Ebenso werden in diesem Moment die Lösung des ‚Kehlverschlusses’ und auch ein Ablassen des Überdrucks in Gestalt eines Ächzens hörbar. Der Verschluss hingegen passiert sehr abrupt, so dass im Grunde genommen kein Transient zu beobachten ist. Die musikalischen Motive bewegen sich über das gesamte Spektrum der populären Musik bis hin zu traditionellen Hymnen sowie Eigen-kompositionen bzw. Improvisationen. Der Charakter ist dabei eher elegisch. Sygyt wird ebenso wie die anderen Stile vielfach in einen gesungenen Liedtext eingebettet, indem entweder am Ende der Liedzeile oder der Strophe ein KGs-Teil angehängt wird. Das passiert zumeist nach dem Muster ABA1B1 oder A1A2B1B2 (Saryglar 1998).

3.1.2 höömej Im Gegensatz zu sygyt tritt hierbei der vokale Charakter des Stimmklangs stärker hervor, wobei die einzelnen Vokalqualitäten diffus bleiben. Dies bewirkt auch, dass bei höömej der kehlige Eindruck im Gesamtklang am besten deutlich wird. Die melodieformenden Anteile erscheinen tiefer, aber auch von ihrer Brillanz her feiner und weniger durchdringend. Üblicherweise wäre eine etwas tiefere Basistonlage (C2 bis F2) als beim eben erläuterten Stil sygyt (D2 bis G2, vgl. van Tongeren 1994, 24) zu erwarten. Igor Köshkendey wählt aber genau die gleiche Tonhöhe wie für sygyt. So verändern die meisten Sänger auch nicht die Grundtonlage, wenn sie innerhalb einer Phrase von sygyt in höömej und vice versa wechseln. Der erste Vokalformant tritt somit im Sonagramm stärker hervor. F2 erscheint breiter als bei sygyt, und wirkt aufgrund des Melodiebereichs von H6 bis H12 weniger mobil. Er tritt aufgrund des Hintergrunds weniger klar bzw. kontrastreich hervor. Auch hier ist ein Ostinato in Höhe der üblichen Vokalformanten F3 und F4 als stabiler Resonanzbereich vorhanden, der sich im Sonagramm mit einer

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Verstärkung der Teiltöne (zwischen 2400 und 3800 Hz) und zwei deutlichen konstanten Maxima bei 2600 Hz und 3600 Hz darstellt. Dieses ist bei Igor Köshkendey stärker ausgeformt als bei seinem sygyt und trägt zum spezifischen Klangcharakter seines höömej bei.

Time (s)24.9038 36.3825

0

5000

0

1000

2000

3000

4000

5000

Time (s)24.9038 36.3825

0

500

151.6

Time (s)24.9038 36.3825

38.1

72.56

29Frequency (Hz)

0 5000

60

80

100

0 1000 2000 3000 4000 5000

Time (s)28.854 28.8839

-0.104

0.08258

0

Abb. 2: Stil höömej (Hamming, width 0.04 s) [Tonbeispiel 2] Als sehr typisches Element muss auch ein dem Melisma folgender Peak (Zungenstoß) angesehen werden (im Sonagramm bei 31 s).

3.1.3 kargyraa (Variante 1) Der raue, röchelnd heisere, teils an Taschenfaltenstimme, teils an vocal fry erinnernde Stimmklang gibt kargyraa (kargyraa tuvinisch = „röcheln“, „heiser sein“) seinen Namen. Er beeindruckt zuerst durch seine enorme Tiefe, die je nach Sänger zwischen B1 und E1 liegen kann. In einer weiteren hier nicht aufgeführten kargyraa-Variante wird im gleichen Phonationsmodus bis G2 gesungen (vgl. van Tongeren 1994, 24). Bei diesem Stil wird ebenfalls die verstärkte zweite Vokalresonanz zum Träger der interpretierten Melodie, doch ist die erste nicht so stark gedämpft wie bei sygyt oder höömej. Das macht

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das Erkennen der Melodie für den ungeübten Hörer schwieriger, da hier der vokale Charakter überwiegt. In der Variante 1, die Igor Köshkendey vorführt, zeigt das Powerspektrum (Abb. 3), dass F1 dominiert, F2 und F3 aber ungefähr von gleicher Intensität sind. Die Meisterschaft wird dann deutlich, wenn nicht nur Vokale aneinander gereiht werden, sondern diese wieder undeutlich, doch so ‚ge-tuned’ werden, dass der vokale Oberton-Formant einen fast ebenso hellen Klang bekommt wie beim höömej.

Noa ε a o a ja oa o aja oa o ih

Time (s)16.56 26.62

Time (s)16.5674 26.6299

0

5000

Fre

quen

cy (

Hz)

0

1000

2000

3000

4000

5000

18Frequency (Hz)

0 5000

Sou

nd p

ress

ure

leve

l (dB/

Hz)

60

80

100

Time (s)16.5674 26.6299

Pitc

h (H

z)

0

500

78.5

Time (s)16.5674 26.6299

43.74

82.37

Inte

nsity

(dB

)

Abb. 3: Stil kargyraa (Variante1) (Hamming, width 0,04 s) [Tonbeispiel 3]

Time (s)10.2016 10.2559

-0.3719

0.5816

0

Time (s)10.2016 10.2559

-0.3719

0.5816

0

Abb. 4: Zeitsignal von kargyraa (Variante1) [Tonbeispiel 3]

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Biphonische Anteile zeichnen sich im Bereich bis über 2000 Hz ab. Für eine genaue Darstellung dieser Untertöne (der Subharmonischen) ist hier anstelle der FFT wieder eine Betrachtung des Zeitsignals angebracht. In diesem lässt sich schon bei relativ geringer Auflösung über einige Perioden der für kargyraa typische Doppel-Rhythmus erkennen.

3.1.4 kargyraa (Variante 2) – xos-kargyraa Der Stimmklang der zweiten Variante des Stils kargyraa wirkt wesentlich rauer offener, hohler und röhrender als der der Variante 1 (xos, tuvinisch: „Leere“, „Hohlraum“). Auch die Grundtonhöhe erscheint tiefer. Die Vokale sind dementsprechend einfacher zu identifizieren bzw. deren Qualität tritt in der Wahrnehmung stärker hervor. Insgesamt macht xos-kargyraa einen sehr kraftvollen Eindruck.

ç a ja ç a N

Time (s)5.16355 10.3932

Time (s)5.16355 10.3932

0

5000

Fre

quen

cy (

Hz)

0

1000

2000

3000

4000

5000

Frequency (Hz)0 5000

Sou

nd p

ress

ure

leve

l (dB/

Hz)

20

40

60

Time (s)5.16355 10.3932

28.11

83.71

Inte

nsity

(dB

)

Time (s)5.16355 10.3932

Pitc

h (H

z)

0

500

79.78

Abb. 5: Substil xos-kargyraa (Hamming, width 0,05 s) [Tonbeispiel 4] Auch das Spektrum verrät eine größere Schallfülle. Die Formanten (F1, F2, F3) sind wesentlich breiter und diffuser und erscheinen gleich

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gewichtet. Inwieweit sich hier ein anderer Phonationsmodus ‚verbirgt’, bleibt offen. Kargyraa (Variante 1) erscheint auch artikulatorisch enger. Das Zeitsignal zeigt im Vergleich weniger Teiltoneinflüsse und ist klar strukturiert.

Time (s)8.11256 8.16168

-0.5196

0.8279

0

8.11256 8.12238 8.1322 8.14203 8.15185 8.16168

Abb. 6: Zeitsignalausschnitt xos-kargyraa (kargyraa-Variante 2) [Tonbeispiel 4]

3.1.5 borbangnaadyr (Variante 1) Der Stil borbangnaadyr wird wie ezengeleer mit sygyt, höömej oder kargyraa kombiniert. D. h., es handelt sich bei dieser Interpretation um einen ‚ornamentierenden’ Stil, der dementsprechend nur als Substil gelten könnte. Doch wie ich oben schon angedeutet habe, gibt es dazu unterschiedliche Auffassungen. Ein Problem dabei ist, dass es in einigen Regionen Tuvas keinen Stil höömej gibt (bzw. gab, vgl. Aksenov 1967). Anstelle dessen tritt borbangnaadyr mit kargyraa-Phonation sozusagen als Default-Variante – ein Phänomen, das den sehr volkstümlichen und auch lebendigen Charakter dieses Genres bestätigt. Die Bedeutung des Wortes borbangnaadyr ist soviel wie „rollen, wälzen“. Dies wird zum einen als Klangvorbild – das glucksende Rollen der Steine auf dem Grunde eines Baches – oder direkt als Vorschrift für den Sänger interpretiert. Dabei ist eine rachenwärts gerichtete rollende Bewegung der Zungenwurzel gemeint. Bei Igor Köshkendey stellt sich das als regelmäßiges Pulsen (3 Hz) dar, das hauptsächlich den Melodieformanten (F2) moduliert, aber über das gesamte Frequenz-spektrum strahlt. Bei genauerer Betrachtung erweist es sich als eine

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abwechselnde Reihe von dynamisch betonten positiven und schwächeren negativen Peaks (um jeweils eine Harmonische).

Time (s)8.54765 25.3824

-0.2866

0.2202

0

Time (s)8.54765 25.3824

35.43

68.6

Time (s)8.54765 25.3824

0

5000

0

1250

2500

3750

5000

Time (s)8.54765 25.3824

0

500

135

Abb. 7: Stil borbangnaadyr (Hamming, width 0,04 s) [Tonbeispiel 5]

3.1.6 borbangnaadyr (Variante 2) – dyldyng borbang Die zweite Variante für borbangnaadyr, die Igor vorführt, ist geprägt von einem schnelleren Vibrato (ca. 8 Hz). Der Melodieformant ist deshalb breiter. Der Name dyldyng borbang (dïl, tuvinisch: „Zunge“), den Igor Köshkendej verwendet, deutet auf die Artikulationsweise durch ein schnelles Vibrieren der Vorderzunge hin. Diese Variante ist laut Igor leichter zu erlernen als die borbangnaadyr-Variante 1.

Page 15: Der südsibirische Kehlgesang als Gegenstand phonetischer ... · PDF fileetc.) vorgenommen werden (vgl. Nattiez 1999). Zum einen ist der Klangcharakter hier gänzlich anders, zum anderen

Time (s)9.79357 30.093

-0.2666

0.3146

0

Time (s)9.79357 30.093

39.08

74.03

Time (s)9.79357 30.093

0

5000

0

1250

2500

3750

5000

Time (s)9.79357 30.093

0

500

125.5

Abb. 8: Substil dyldyng-borbang (Hamming, width 0,04 s) [Tonbeispiel 6] Darüber hinaus setzt der Sänger eine rhythmische Modulation der Labilität ein, die ein zusätzliches An- und Abschwellen der hervorgehobenen Resonanzen bewirkt. Mehrfache Überlagerungen und die Kombination von Elementen und Rhythmen sind durchaus häufige und beliebte Stilmittel im tuvinischen höömej.

Time (s)15.8312 16.8386

-0.1573

0.1594

0

Time (s)15.8312 16.8386

0

5000

Abb. 9: dyldyng-borbang; vergrößerter Ausschnitt (Hamming, width 0.04 s) [Tonbeispiel 6]

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3.1.7 byrlangnaadyr (byrlang höömej) Die Übersetzung der Bezeichnung dieses bislang kaum beschriebenen Stils ist „flirren“ oder „flimmern“ (Grawunder 1999). Im Gegensatz zum dyldyng-borbang (borbangnaadyr-Variante 2) kann man ein noch feineres Vibrieren wahrnehmen und auch messen. Igor K. scheint die einzelnen Töne zu dehnen. Die melodischen Bewegungen bleiben dabei sehr verhalten und innerhalb des Intervalls von einer Quinte. Die ‚Vibratofrequenz’ des Melodieformanten liegt bei ca. 14 Hz. Die Amplitude ist dabei äußerst gering und kaum größer als ein Halbton. Dieser Jitter-Effekt liegt über dem gesamten Spektrum. Das Flirren wird erzeugt durch ein Vibrieren der angespannten und vorgestülpten Lippen. Inwieweit byrlangnaadyr nicht nur zu höömej, sondern auch zu sygyt oder kargyraa kombiniert werden kann, lässt Igor K. offen.

Time (s)8.14621 27.4362

-0.249

0.2276

0

Time (s)13 14

-0.2044

0.1799

0

Time (s)13 140

5000

Time (s)8.14621 27.4362

0

5000

13 14

Abb. 10: Substil byrlangnaadyr (Hamming, width 0,04 s) [Tonbeispiel 7]

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3.1.8 ezenggeleer (sygyt ezenggeny) Der Name ezenggeleer ist abgeleitet von ezengi (tuvinisch: „Steigbügel“). Das Hauptmerkmal bilden intermittierende ‚nasale Anteile/Anklänge’ die durch rhythmisches Zuschalten der Nasenresonanz entstehen. So wird ein Eindruck imitiert, der klanglich einen höömej singenden Sänger auf einem trabenden Pferd vermittelt. Laut Igor K. wird enzenggeleer kombiniert mit sygyt, höömej und kargyraa. Dies würde ihm wieder den Status eines Substils zuweisen. Im Gegensatz zum oben (s. 3) erwähnten dumčuktaar (tuvinisch: „durch die Nase“, „summen“) bleibt der Mund leicht geöffnet.

Time (s)16.8434 28.0356

-0.3453

0.3262

0

Time (s)16.8226 28.0435

0

9000

0

1800

3600

5400

7200

9000

Time (s)16.8226 28.0435

43.56

74.35

Time (s)16.8226 28.0435

0

500

165

Abb. 11: Stil ezenggeleer (Hamming, width 0.04 s) [Tonbeispiel 8] Igor Köschkendey hat bei diesem Stilbeispiel die höchste Grundtonhöhe (165 Hz, E2) verwendet. Der Stimmklang wirkt im Vergleich zu höömej sehr hell und während der „nasalen“ Phasen durchdringend schnarrend. Er singt eine melodische Phrase, in der bei gleich bleibendem Metrum immer der Basis(ober)ton von dem

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synkopisch zugeschalteten nasalen Klang überlagert wird. Danach folgt ein Pulsen (als kurzzeitiges Anschwellen und Ansteigen des Formanten um eine Quinte bis Sexte) und dann wieder der Intervallton mit anschließender nasaler Überlagerung, Puls und Tonschritt zum Basiston zurück.

3.1.9 čylandyk (sygydyng kargyraazy) Eine andere Bezeichnung für čylandyk, die auch Igor Köshkendey nennt, ist sygydyng kargyraazy. Der Name für diese Verschmelzung von kargyraa und sygyt wird vielfältig interpretiert. Am plausibelsten erscheint die Variante, nach der es sich um einen Vogelnamen (čylandyk, tuvinisch: „Grille“) handelt. Und eben so wie ein hohes Zirpen einer Grille oder eines Vogels über der brummenden Steppe wird der Klang dieses Stils beschrieben.

Time (s)27.2044 38.9693

-0.1963

0.1824

0

Time (s)27.1826 38.9693

36.55

66.48

36.55

66.48

Time (s)27.1826 38.9693

0

5000

0

1250

2500

3750

5000

Abb. 12: Stil čylandyk (Hamming, width 0,04s; die Intensitätskurve liegt über dem Zeitsignal) [Tonbeispiel 9] Der Melodieumfang ist geringer, liegt aber genau wie beim sygyt (H6 bis H13). Dies ist dem tieferen Basiston und den damit verbundenen dichter liegenden Teiltönen geschuldet. Auch der Melodieformant überdeckt hier mehr Teiltöne und schafft somit einen weicheren Klang. Der erste Vokalformant ist stark gedämpft In dem von Igor K. ausgeführten Beispiel finden sich sogar noch Anklänge von borbangnaadyr (Variante 2) als einem ornamentierenden Zusatzelement. Dies lässt sich an den kleinen Peaks des Melodieformanten im Sonagramm (Abb. 10) beobachten.

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3.1.10 höömej-kargyraa Wie der Name schon andeutet, handelt es sich um eine Kombination von höömej und kargyraa. Diese scheint im ersten Moment unvereinbar, da hierbei zwei unterschiedliche Phonationstypen (siehe 4) zugrunde liegen. Es steht somit die Frage, ob sich hier etwa aus einer Synthese ein weiterer Stimmbildungsmechanismus gebildet hat. Dieser Fall könnte dann auch bei dem vorhergehenden sygyt-kargyraa (sygydyng kargyraazy) vorliegen. Die Grundtonhöhe scheint auditiv schwerer ermittelbar, da natürlich eine gewisse Diplophonität vorliegt. Die Pitchanalyse (bei timestep 0,01 – 0,05 s) liegt demnach für den kargyraa-Anteil mit 133 Hz zu hoch, trifft aber den höömej-Anteil. Dieser ist eher eine Oktave tiefer, also bei ca. 67 Hz, zu suchen. Im Gegensatz zum sygydyng kargyraazy hebt sich F1 stärker hervor.

Time (s)19.2894 29.2857

-0.1432

0.1112

0

Time (s)19.2894 29.2857

0

5000

0

1250

2500

3750

5000

Time (s)19.2894 29.2857

32.03

66.83

Time (s)19.2894 29.2857

0

500

133

Abb. 13: höömej-kargyraa (Hanning, width 0.05 s) [Tonbeispiel 10]

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3.1.11 Stilsystem Eine schematische Darstellung des ‚stilistischen Systems’ des Sängers Igor Köschkendey könnte wie in Abbildung 14 aussehen. Das Schema entstammt einer in Tuva üblichen Darstellung, die auf den Sänger und Lehrer Orschak Hunaschtar-ool zurückgeht Dabei bilden die Stile sygyt, höömej und kargyraa die Basis. Kargyraa ist durch zwei gleichberechtigte Varianten vertreten, ebenso borbangnaadyr ohne eine neutrale Grund-Variante. Alle Basis-Stile können miteinander verknüpft werden, wobei Igor K. hier die Kombination sygyt-höömej auslässt. Dazu kommen die Substile ezengeleer, byrlangnaadyr und borbangnaadyr, die ornamentierenden bzw. modulierenden Charakter haben. Es können demnach auch kombinierte Stile mit mehreren Substilen verknüpft werden, z.B. xöömej-kargyraa mit borbangnaadyr- und ezengeleer-Ornamentierung.

Abb. 14: Stilsystem bei Igor Köschkendey (die Punktlinienpfeile deuten andere, mögliche – hier nicht analysierte – Kombinationen an) Es soll hier jedoch nicht um eine erschöpfende Betrachtung der stilistischen Möglichkeiten und vorfindbaren Varianten gehen. Lediglich

borbang-nadyr

kargyraa

sygyt

kargyraa1

kargyraa2

höömej -kargyraa

sygyt-höömej

sygyt-kargyraa

borbang1

ezenggi

byrlang

höömej borbang2

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der Kernbereich sollte deutlich geworden sein. Die genauere Betrachtung der Stile und Varianten ist insofern für die Phonetik von Bedeutung als hier (mitunter naive) phonetische Kategorien offenbar werden, die z. B. für die Betrachtung von artikulatorischen Ziel-vorstellungen relevant sein können.

3.2 Gemeinsame Charakteristika der südsibirischen Kehlgesänge

Generelle Charakteristika des südsibirischen Kehlgesangs, die auch dazu beitragen, Abgrenzungen zu anderen subsumierten Stilen oder auch zum OTG vornehmen können, sind:

1. das Ostinato entweder als ‚schwebender OT’ (in Höhe F3 /F4) (s. Bsp. Abb. 11)

2. die teilweise Verschmelzung von F2, F3 und F4 in Höhe F2, 3. die Funktion dieses verschmolzenen F2 als Melodieträger

In den obigen Beispielen war der musikalische Grundton stabil. Dies ist jedoch nicht obligatorisch. Sowohl mit der Stimme des kargyraa als auch mit der des höömej werden Lieder mit Text gesungen (vgl. dazu Grawunder 1999, 2002a; Saryglar 1998; van Tongeren 1994) OTG und KG sind aber strukturell verwandt. Das heißt, dass es gemeinsame Charakteristika gibt, wie

− Dämpfung / Abdeckung von F0, − melodischer Gebrauch ‚hervorgehobener’ Harmonischer, − F2 als Träger der Melodie, − F3 als Modulator des Melodieformanten (s. unten).

Darüber hinaus gibt es jeweils eine Fülle von stilspezifischen Erscheinungen. Trân/Zemp (1991, 52) entdecken beim tuvinischen kargyraa (Titel 18: SF CD 40017: TUVA - Voices from the Center of Asia, 1987, Smithsonian/ Folkways Records Center for Folklife Programs and Cultural Studies) einen „Bourdon harmonique“, d. h. einen stabilen, von den Vokalformanten relativ unabhängigen, schmalen Teiltonbereich (Formant) bei 2690 Hz (H44), der auditiv als helles ‚Klirren’ im Stimmklang erscheint. Dies wurde oben bereits unter

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dem Begriff Ostinato gefasst und lässt sich auch bei anderen Aufnahmen aus Tuva und der Mongolei finden, so zum Beispiel beim sygyt (Abb. 15). Der hier anylsierte mongolische hoomij ähnelt sehr dem oben nicht weiter erläuterten sygydyng höömej (vgl. Abb.14).

Time (s)11.972 23.9882

0

5000

0

1000

2000

3000

4000

5000

Time (s)0.140221 31.1844

0

5000

0

1000

2000

3000

4000

5000

Abb. 15: links: mongolischer hoomij [CDII/Titel 38 : CMX 374 1010.12: Les voix du monde (Collection du C.N.R.S. et du Musée de l’homme) (1996)]; rechts: sygyt [Titel 2: SF CD 40017: TUVA – Voices from the Center of Asia (1987) Smithsonian/ Folkways Records Center for Folklife Programs and Cultural Studies]: „Ostinato“-Oberton H20 bzw. H18 bei 3200 Hz (Hamming, width 0,06 s) [Tonbeispiel 11 und Tonbeispiel 12] Stellt man tuvinischen dag-kargyraa-Stil und altaiischen kai gegenüber, so besitzt kargyraa zwar immer noch einen stärkeren Formanten bei etwa 2600 Hz, doch lässt sich auch beim kai ein solcher Bereich um 3000 Hz erkennen. Interessant ist hierbei, inwieweit diese Unterschiede abhängig von einem Individualstil oder einer Technik sind.

Time (s)0 9.70594

0

5000

Time (s)0 16.997

0

5000

0

1000

2000

3000

4000

5000

0

1000

2000

3000

4000

5000

Abb. 16: Sonagramm links kai [Titel 2: Sänger Nohon; FM 50018 Face Music: Bolot & Nohon – Üch Sümer – from the golden mountains of Altai (1996)]; Sonagramm rechts dag-kargyraa (Hanning, width 0,06 s) [CDII/Titel 37: CMX 374 1010.12: Les voix du monde (Collection du C.N.R.S. et du Musée de l’homme) (1996)] [Tonbeispiel 13 und Tonbeispiel 14]

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Dag-kargyraa (Berg-kargyraa) zeigt den oben erwähnten Ostinato-Oberton um H 40 (D#7, 2485 Hz). Beim hovu-kargyraa (Steppen-kargyraa) bildet sich der erste Formant sehr stark ab, was den deutlich identifizierbaren Vokalklang erklären könnte. Das Ostinato ist schwächer, doch tritt ein Anti-Formant bei 3,5 KHz auf.

Time (s)0 17.2756

0

5000

0

1000

2000

3000

4000

5000

5.82Time (s)

5.79123 5.83864-0.1958

0.2739

0

Abb. 17: hovu-kargyraa (Hamming, 0,05 s); Ausschnitt Zeitsignal [Titel 1: SF CD 40017: TUVA – Voices from the Center of Asia (1987) Smithsonian/ Folkways Records, Center for Folklife Programs and Cultural Studies] [Tonbeispiel 15] Die Frage, die sich hinsichtlich des ‚ostinativen Klirrens’ stellt, ist die nach einem separaten und konstant angeregten Teilresonator (bzw. einer separaten Quelle). Dieser Resonanzraum ist offenbar sehr klein und muss im hinteren Artikulationsbereich gesucht werden.

4 Artikulatorische Einstellungen und Makrostruktur – einzelne Versuche zur Artikulation

In einem sozusagen deduktiven Verfahren kann an ausgewählten (hier vom Autor selbst erzeugten) Beispielen mit definierten Artikulations-bewegungen eine mehr experimentelle Annäherung an den Gegenstand der bewusst gesteuerten Teilresonanzen erfolgen. Zusammen mit einem als Echtzeitsonagramm angeschlossenen Feedback können sich auch Laien die grundlegenden Prinzipien im Zusammenhang von Stimmtonhöhe, Ansatzrohrgestaltung und Formantlage beim Obertongesang selbst in Kürze erarbeiten (Trân/Zemp 1991). Die Feinabstimmung des melodischen Formanten, seine tatsächliche musikalische Verwendung und die Korrektur des Gesamtstimmklangs, einschließlich hohem Ostinato, ist verständ-

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licherweise ein wesentlich langwierigerer Prozess, der in jedem Falle Jahre des Übens in Anspruch nimmt. Auch dieses hohe Ostinato gilt nach Aussagen einiger Sänger nicht nur als spezifisches Merkmal, sondern auch als Qualitätsanzeichen für den tuvinischen KG.

4.1 Die Stimme des Kehlgesangs (höömej - hörekteer) Die „in-vivo-Betrachtung“ der glottalen Vorgänge und die direkte Messung der Druckverläufe und Abstimmungen der Resonatoren, von denen zu erwarten ist, dass sie sich beim gewöhnlichen Singen unterscheiden, ist sehr aufwendig. Die Relevanz für eine solche Untersuchung sollen die folgenden Versuche stützen. Zunächst wird versucht, bei konstanter Artikulationsstellung [ə] von ‚normaler’ Stimme (modal voice) zur sygyt-Stimme (wie oben dargestellt unter 3.3.2) überzugehen:

Time (s)0.643133 14.0419

-0.2441

0.2638

0

0.643133 3.32289 6.00264 8.6824 11.3622 14.0419

Time (s)0.643133 14.0419

0

5000

0

1000

2000

3000

4000

5000

Abb. 18: Übergang zur Phonation mit aryepiglottischem Sphinkter bei gleichbleibender Artikulationsstellung [� ] [Tonbeispiel 16]

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Subjektiv erfolgt eine starke Einengung bzw. Abschnürung des Rachens, die einen höheren Phonationsdruck provoziert bzw. in der Wahrnehmung des Sängers dazu dient, diesen hohen Atemdruck abzustützen. Eine Sensibilität für diesen im mitteleuropäischen Raum sprachlich wenig genutzten Bereich aufzubauen ist sehr trainings-intensiv und zeitaufwendig, da nur sehr vorsichtig geübt werden kann. Zu Beginn zeigen sich drei Formanten (F1 um 500 Hz, F2 um 1500 Hz und F3 um 2500 Hz). Mit zunehmender Sphinkterbildung vereinigen sie sich zu einem breiten Formanten (zwischen 1700 und 2150 Hz). Bei weiterer Verengung (Laryngealisation) und Arpeggio kommt es zum Hervorheben eines einzelnen Teiltons (H16 bei 2130 Hz) und Vibratoerscheinungen. Unbeabsichtigt dabei ist eine Grundton-erhöhung um einen Halbton von C3 (130 Hz) auf C#3 (137 Hz), der dazu führt, dass bei der späteren „Fokussierung“ des nächsttieferen Teiltons auf der Höhe von B6 (2000 Hz) der 13. Oberton (H14) erklingt. Die Artikulation dieses zusätzlichen (Larynx-)Resonators wird damit deutlich zum Kardinalmerkmal des Spektrums. In seinen Versuchen zeigt Trân (Trân/Zemp 1991, 31), dass er mit der Einkavitätentechnik, also der sogenannten „vokalen“ bzw. vokal-inhärenten Obertontechnik, selten über 1000 Hz kommt, ‚wie auch immer der Grundton sein mag‘. Dass dies nur auf die ‚westliche’ Technik zutrifft, wird im nächsten Abschnitt erläutert.

4.2 Beteiligung der Nasenresonanz Bei definierter Beteiligung der Nasenresonanz (durch Heben und Senken des Velums) zeigte sich eine Abschwächung bzw. ein Diffuserwerden des ‚Oberstimmen-Formanten’ und damit eine Zunahme von harmonischen und nichtharmonischen Anteilen in einem großen Bereich des Spektrums. Die periodische Zuschaltung des Nasenrachenraums erzeugt dadurch ein breites Pulsen (im Sinne eines kurzzeitigen Anschwellens) des Gesamtklangs wie beim ezenggeleer.

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Time (s)15.8662 20.0392

0

5000

Fre

quen

cy (

Hz)

0

1000

2000

3000

4000

5000

15.8662 16.7008 17.5354 18.37 19.2046 20.0392

Time (s)15.8662 20.0392

0

5000

Fre

quen

cy (

Hz)

Abb. 19: nasale Beteiligung (Hamming, width 0,05s) [Tonbeispiel 17] Für das Sonagramm in Abbildung 19 nach Bildung der Lautfolge [ŋuŋ�ŋœŋ�ŋiŋ] lässt sich feststellen, dass es hier erwartungsgemäß zur Ausbildung stabiler Nasal-Formanten kommt. Diese liegen um 300 Hz, 1000 Hz , 3100 Hz und am stärksten ausgeprägt um 2300 Hz, (s. a. Neppert/Pétursson 1992, 203). Interessant ist die Stabilität dieses letztgenannten Formanten über die Vokale hinweg, die darüber liegende Abschwächung durch den nasalen Antiformanten bei 3500 Hz und ein alternierender Antiformant zwischen 900 Hz bei [ŋ] und 1500 Hz bei den Vokalen. Die ‚Anwendung’ sehen wir im Stil ezengeleer.

4.3 Labiale Beteiligung Abbildung 20 zeigt ein im sygyt-Stil (Periodenfrequenz 130 Hz) produziertes Beispiel mit alternierender Lippenweitung und -verengung. Diese bewirkt eine Verschiebung der Formantschärfe (Resonanzfrequenz) um 500 Hz von H11 zu H7. Erst die entsprechende labiale Konstriktion erhöht die Formantdichte in Höhe der anvisierten Teiltonfrequenz. Dazwischen (bei verengter Lippenrundung) scheint es zu einer vehementen Abschwächung beider Formanten zu kommen. Die Anwendung erkennen wir also in den oben aufgeführten Stilen byrlangnaadyr (s. Abb. 8) und ezenggeleer (s. Abb. 10). Darüber hinaus ist eine andere Funktion die von Neuschäfer-Rube et al. (2001) beschriebene Tuning-Eigenschaft des vordersten Resonators für die Klarheit und Brillanz des hervorgehobenen Obertons.

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Time (s)1.26609 9.94169

-0.1621

0.1666

0

1.26609 2.71202 4.15795 5.60389 7.04982 8.49575 9.94169

Time (s)1.26609 9.94169

0

3500

0

700

1400

2100

2800

3500

Abb. 20: Lippenbeteiligung (Hamming, width 0,05s) [Tonbeispiel 18]

4.4 Zungenhebung - Vokale Als Nächstes erfolgt die Artikulation der Vokale [u, o, ø, y, i] in hörekteer (höömej-Stimme). Alternativ, aber aus ästhetischen Gründen weniger verwendet, steht auch die Reihe [a, æ, ε, e, i]. Diese Anordnung ist die nahezu klassische Demonstration der sogenannten ‚vokalen Obertöne’. Gemeint sind hier selbstverständlich wieder die vokalinhärenten Formantlagen. Sie dienen bei tuvinischen Lehrern ebenfalls zur Verdeutlichung des Zusammenhangs von Zungenstellung und melodischem Oberton (Formant) beim Stil höömej (aber auch kargyraa), sodass mitunter zuerst nur Vokalreihen gesungen werden. In der Endposition ([i]) befindet sich der Umschlagpunkt zur Technik des Stils sygyt. Die am stärksten hervortretenden Teiltöne sind bei [u] H3, bei [o] H6 und H7, bei [ø] H12, bei [y] H14 und bei [i] H20 (!); sie liegen alle

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innerhalb von F2. F1 wird mit höherem F2 niedriger und schwächer. Alle Vokale sind hier mit etwa gleich starker Lippenrundung artikuliert.

Time (s)0.00553082 7.63937

-0.5571

0.4551

0

Time (s)0 7.63937

0

5000

0

1000

2000

3000

4000

50000 1.52787 3.05575 4.58362 6.11149 7.63937

Abb. 21: Vokale [u, o, ø, y, i] (Hamming, 0.05s) [Tonbeispiel 19] Bei zunehmender Zungenhöhe kommt es zu einer Annäherung und Verschmelzung von F2, F3 und F4 bis hin zu einem sehr stark ausgeprägten Formanten, bei dem ein einzelner Teilton dominieren kann. Bei über alle Vokale gleich bleibendem F0 (H1) von 126 Hz (B2) zeigt sich ebenso gleich bleibend in allen Vokalen ein F-1 von 51 Hz (G#1), der aber rein rechnerisch nicht im Verhältnis 1:2,5 steht und somit schlecht als 1. Subharmonische (Unterton) angesehen werden kann. Würde man F-1 als F0 annehmen so entspräche das zumindest nicht dem auditiven Eindruck.

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5 Artikulatorische Besonderheiten in Pharynx u. Larynx Wie der oben verteidigte Name Kehlgesang anzeigt, sollte man auch etwas in diesem Artikulationsgebiet (Epipharynx, Epiglottis, Larynx-eingang) erwarten. Doch, wie bereits angedeutet, sind die kinästhetischen Eindrücke aufgrund der eingeschränkten Sensibilität in dieser Artikulationszone nur sehr diffus und undifferenziert. Selbst in der Transfersituation steht das klangliche Vorbild des Lehrers auf der einen und die Hör- und Adaptationsfähigkeit des Schülers auf der anderen Seite. Die dem viel beachteten Artikel von Edgerton und Levin (1999) beigefügten Röntgenfilme eröffnen einen Einblick in die Artikulation eines Sängers sind von außerordentlichem Wert. Jedoch bleiben sie die Ausnahme und sind für eine ausreichend empirische Analyse ungeeignet und unpraktikabel. Eine von Neuschäfer-Rube et al. (2001) vorgeschlagene sonagraphische Darstellung der Artikulation komplettiert das Methodenspektrum und bildet eine sinnvolle Alternative zum Röntgenfilm. Es bleibt jedoch fraglich, inwieweit die noch zu erläuternden feinen Bewegungen und Stellungen des Kehlkopfeingangs und der inneren Anteile des Larynx damit beurteilt werden können. Der für das europäische Ohr ganz und gar ungewohnte Stimmklang des KG bewog wohl den sowjetischen Musikologen Lebedinskii 1940 (L. Lebedinskii (1965): Baschkirskije narodnyje pesni i naigruschki. Moskva; zitiert nach Aksenov 1967) zu schreiben: „Es ist unnatürlich, daß ein Mensch zwei Töne gleichzeitig singt... unnatürlich ist schon das Timbre sowohl der Grund- als auch der Obertöne, unnatürlich schließlich das lange Anhalten des Atems“, (Aksenov 1967: 293). Es wurde also eine Anomalie bei den betreffenden Sängern nahe gelegt, eine These, die bis heute nicht ganz verschwunden ist. Sie wird z. B. dann gebraucht, wenn Sänger aus anderen Ländern vergeblich versuchen den tuvinischen oder mongolischen KG zu imitieren. Der Novosibirsker Musikpädagoge Boris Černov und der Phoniater Valentin Maslov legten 1975 erstmals eine Untersuchung der Physiologie des tuvinischen und hakassischen Kehlgesangs vor. Ihnen standen hierfür 3 Sänger aus Tuva und später (1978) auch ein Sänger aus Hakassien zur Verfügung. Es wird nur von сольной дуэт („Solo-

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Duett“) gesprochen und kein Stil benannt. Einmal wird in diesem Zusammenhang kurz sygyt (Dmitriev/Černov/Maslov 1983, 195) erwähnt, was jedoch unmöglich erscheint, da wie oben beschrieben beim sygyt die Zunge zum Palatum gerichtet ist und somit eine indirekte (wie angegeben), aber auch eine direkte Laryngoskopie verhindert. Es kann sich also nur um höömej gehandelt haben. Ohnehin ist aber eine Gleichsetzung beider Stile bezüglich ihrer Stimmproduktion sinnvoll. Eine Untersuchung des kargyraa ist offenbar nicht erfolgt. Entscheidende Untersuchungsergebnisse der indirekten Laryngoskopie waren nach Aussagen von Dmitriev/Černov/ Maslov (1992: 14), 1. dass ‚der Stimmapparat der Tuviner keine Abweichungen von der

anatomisch physiologischen Norm besitzt‘, 2. dass ‚während des zweistimmigen tuvinischen Gesangs zuerst die

Stimmlippen in den Prozess der Klangerzeugung eingeschlossen sind, indem sie sich auf ganzer Länge wie beim gewöhnlichen einstimmigen Gesang vereinen über 0,5 bis 1 sec; danach erfolgt eine drastische Verengung der vestibulären Falten, der Tuberkel der inneren Erhebungen des Kehldeckels und der Gipfelchen der Gießbeckenknorpel, dank welcher sich über dem Kehlkopfeingang ein „Sphinkter-Hindernis“ auf Höhe der vestibulären Falten bildet, mit einer runden Pfeiföffnung (Durchmesser 1-2 mm im mittleren Teil ), durch die die Luft strömt‘ und

3. ‚In diesem Moment die „zweite Stimme“ zu erklingen beginnt‘.

5.1 Endoskopische und laryngoskopische Befunde Im Januar und Dezember 1998 erhielt ich durch die freundliche Unterstützung von Herrn Prof. Dr. Volker Gall, (Direktor des ZHNO, Abt. Phoniatrie und Pädaudiologie J. W. Goethe Univ. Frankfurt) und Frau Dr. Yvonne Stelzig die Möglichkeit, im Rahmen dieser Arbeit eine laryngoskopische Untersuchung meines eigenen Kehlgesangs tuvinischer Prägung durchzuführen. Hierbei konnten die Ergebnisse Maslovs und Černovs nicht nur bestätigt, sondern auch konkretisiert und erweitert werden. Anstelle der für die Artikulation hinderlichen indirekten Laryngoskopie konnten mit Hilfe des flexiblen, parnasal

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eingeführten Endoskops Bilder während des Kehlgesangs (sygyt, höömej, kargyraa) gewonnen werden. Das laryngoskopische Bild stellte einen durchaus normalen Befund eines stimmgesunden 27 Jahre alten Probanden dar, der sich seit 2,5 Jahren intensiv dem Training des tuvinischen Kehlgesangs gewidmet hat. Beim Singen des Stils höömej (Abb. 22) zeigt sich zum einen die Konstriktion der hypopharyngealen Wände, zum anderen eine Struktur, die im Weiteren als „aryepiglottischer Sphinkter“ bezeichnet wird: der Aditus laryngis verschließt sich derart, dass die Aryknorpel bzw. deren obere Enden, die Tuberculi corniculati nebst Tuberculi cuneiformi, über die sich verdickenden aryepiglottischen Falten nach ventral an das Tuberculum epiglotticum anlegen. An der Incisura interarytaenoidea verbleibt eine kleine Öffnung, durch die hindurch ‚phoniert’ wird. Während sich die Spitzen der Aryknorpel annähern, bewegen sich auch die vestibulären Falten aufeinander zu. Der Verschluss ist also nicht vollständig. Die ‚Feinabstimmung’ und Steuerung genau dieser Konstriktion ist das Lernziel für den Adepten des südsibirischen KG.

Abb. 22: Fiberendoskopische Darstellung der laryngealen Artikulation des tuvinischen Stils höömej Beim Versuch, eine direkte Laryngoskopie (Stroboskopie) zur Beurteilung des Schwingungsverhaltens der angeregten Organe durchzuführen, stellte sich eine deutliche strukturelle Parallele zum Mechanismus nach Auslösen des Würgereflexes her.

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Abb. 23: Sphinkterbildung nach Auslösen des Würgereflexes (direkte Laryngoskopie) Der Unterschied besteht offensichtlich im völligen Abschluss des Sphinkters und auch, soweit das aufgrund der unterschiedlichen Abstände zu beurteilen ist, im Anheben bzw. Auffüllen der Recessi piriformi. Dabei schließen sich der Reihe nach Glottis, Supraglottis und (Ary-) Epiglottis (Abb. 23). Für den Stil sygyt lassen sich im endoskopischen Bild keine signifikanten Unterschiede feststellen. Lediglich der Sphinktereingang, d.h. die aryepiglottischen Falten scheinen manchmal mitangeregt. Die Öffnung an der Incisura interarytaenoidea kann zwar von Ausführung zu Ausführung schwanken, bleibt aber jeweils gleichgroß. Auch zeigen sich zuweilen Schleimbläschen (siehe auch Dmitriev et al. 1992, 15). Beim kargyraa (Abb. 24) schwingen die Taschenfalten unter dem beschriebenen Sphinkter und es kommt mitunter zu einer solch starken Anregung der aryepiglottischen Falten, dass zeitweise eine dieser Falten (hier die linke) in erkennbar großen Amplituden am Tuberculum epiglotticum zu schwingen beginnt. Die Epiglottis und der Zungengrund sind ebenfalls sichtbar in die Vibrationen miteinbezogen.

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Der Sphinkter bleibt also eingeschnürt, sodass die Taschenfaltenschwingung nicht direkt beurteilt werden kann.

Abb. 24: Steppen-kargyraa im fiberendoskopischen Bild; die linke aryepiglottische Falte bildet mit der Epiglottis zusammen eine Pseudoglottis Hinsichtlich der Bildung verschiedener Pseudoglottisformen zwischen den beiden aryepiglottischen Falten und zwischen aryepiglottischer Falte und Epiglottis gibt es schon frühe Hinweise aus dem klinischen Bereich von Heymann und Nadoleczny (zit. nach Ptok et al. 1993, 163). Hier ist zu betonen, dass diese Aufnahme (Abb. 24) nur eine Variante des kargyraa (hovu-kargyraa) darstellt. Aufgrund des divergierenden auditiven Eindrucks beim dag-kargyraa ist aber durchaus anzunehmen, dass sich der aryepiglottische Sphinkter auch weiter öffnen kann und es zu freien Schwingungen der Taschenfalten kommt. Dies scheint durch die Beobachtungen von Kruse (1991, 305ff) gestützt zu sein. Zudem kann ich selbst unterschiedliche taktil-kinästhetische Wahrnehmungen abgrenzen, die die Taschenfaltenstimme mit und ohne Beteiligung der aryepiglottischen Falten beinhaltet. Es bliebe empirisch zu verifizieren, welche kargyraa-Produktionsvariante von welchen Sängern häufiger verwendet wird. Die Untersuchungssituation (Kopf- und Körperhaltung etc.) beeinträchtigt jedoch ein entspanntes Optimieren des Klangs. Nicht zuletzt behindert dabei die starke Protrahierung der Zunge die nötige Dorsalverlagerung der Zungenwurzel und Einengung des Hypopharynx, die ihrerseits jedoch die Einsicht durch direkte Laryngoskopie verhindert. Ein Ausweg aus diesem Dilemma kann

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lediglich die Weiterentwicklung der Endoskopie (bzw. Stroboskopie und Hochgeschwindigkeitsglottographie) bringen.

Abb. 25: Phonation im Pulsregister Obwohl sich eine gute, harmonische mdzo skad (tibetisch: „die Stimme des Bullen der Yak-Rind-Hybriden“) unter den Bedingungen der Endoskopie nicht herstellen ließ, gelang es zumindest einen periodischen Stimmton im Pulsregister zu erzeugen. Das endoskopische Bild (Abb. 25) zeigt, dass hierbei die Taschenfalten nicht einspringen und die Glottis frei einsehbar ist. Der aryepiglottische Sphinkter ist noch soweit aktiv, dass die Tuberculi corniculati median einstehen und sich der Epiglottis nähern. Die Aryknorpel scheinen dabei eng zusammen zu stehen. Eine im Jahr 1994 von den beiden amerikanischen HNO-Ärzten Anat Keidar und Antony Shanom (Columbia University) an dem tuvinischen Sänger Boris Harli durchgeführte – jedoch leider bis heute nicht veröffentlichte – Untersuchung ‚bestätigt’ und ‚reliabilisiert’ unsere Beobachtungen an den tuvinischen Stilen höömej und sygyt. (Die Einsichtnahme der erstellten Videoaufnahmen wurde mir im Sommer 1998 möglich durch die freundliche Unterstützung von Zoya Kyrgys, der Leiterin des KHÖÖMEI-Forschungsinstitutes in Kyzyl (Republik Tuva).) Inzwischen liegen endoskopische Bilder auch eines europäischen Obertonsängers vor (Neuschäfer-Rube et al. 2000), die keine derartige Sphinkterstellung der aryepiglottischen Falten erkennen lassen, sodass

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sich hierin die Annahmen einer für den tuvinischen KG charakteristischen Vokaltraktgestaltung bestätigen. Die Aufnahmen des hakassischen xai aus dem Jahre 1970 scheinen nicht publiziert. Der altaiische kai, die tibetische mdzo skad (Yang), der unter 3.1 aufgeführte höömej-kargyraa sowie der mongolische harhiraa sind offenbar bislang noch nicht auf diese Weise untersucht worden.

5.2 Diskussion der Mechanismen Nach übereinstimmenden Beobachtungen spielen also für den Kehlgesang besonders die supra- und epiglottischen Strukturen eine Rolle. Die artikulatorischen Vorgänge des Larynx bei den verschiedenen Stilen des KG können eine gewisse Bedeutung erlangen, denn über den Mechanismus des oberen oder aryepiglottischen Sphinkters und deren Zusammenhang mit der Taschenfaltenstimme liegt noch nicht sehr viel vor und besteht sogar noch Uneinigkeit. Selbst die (funktionelle) Anatomie der Taschenfaltenstimme scheint noch nicht ausreichend geklärt zu sein. Kruse (1981) diskutiert und bezweifelt die Auffassung Réthis, nach der „dem M. stylo-pharyngeus die Hauptrolle bei der Bildung der Taschenfaltenstimme zufalle“. Réthi beschrieb 1935 trotz „sphincterartiger Kontraktionserscheinungen auf den Taschenbändern“ zusätzlich eine Senkung der Epiglottis, die nur durch die Kontraktion des M. aryepiglotticus (als Fortsetzung des M. obliquus) zu erklären war. Das vom N. glosso-pharyngeus innervierte „Stylopharyngeale Muskelsystem“ besteht dabei „1. aus dem laryngealen Teil des M. stylopharyngeus, der zur aryepiglottischen Falte zieht, hier in den M. aryepiglotticus übergeht, der sich seinerseits fortsetzt in den M. obliquus; 2. aus einem weiteren Anteil des M. stylopharyngeus, der zur Basis des Aryknorpels zieht, und 3. aus dem M. palatopharyngeus als Hilfsmuskel, der das insgesamt recht lateral gelegene System in seiner Wirkungsweise nach median zentrieren soll“ (Kruse 1981, 298). Bei Hyperfunktion dieses Systems und unter Anhebung und Auffüllung der Recessus piriformes nebst Innenrotation der Aryknorpel legen sich die Taschenfalten aneinander an (vgl. Wirth 1991, 231). Schwierigkeiten bei dieser Erklärung ergeben sich nach Kruse dadurch, dass sich 1. aufgrund der Untersuchungen Réthis an Patienten mit schon länger

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bestehenden Taschenfaltenstimmen Kompensationsmechanismen gebildet haben, die den M. stylopharyngeus einschließen; dass 2. die Senkung der Epiglottis bei der Taschenfaltenstimmbildung auch ausschließlich auf die Sphinkterwirkung von M. aryepiglotticus und M. obliquus zugeführt werden kann; dass 3. diese beiden Muskel sowohl vom N. recurrens als auch vom N. glossopharyngeus innerviert werden sollen, da sie nach Recurrenslähmung für die häufig mögliche Taschenfaltenstimme noch in Funktion sein müssten; und dass 4. der mit dem M. obliquus eine funktionelle Einheit bildende M. transversus nach Réthi dreifach motorisch innerviert sein soll (von N. recurrens, N. laryngeus superior und N. glossopharyngeus), da er somit dem stylopharyngealen Muskelsytem zuzuordnen wäre. Kruse (1981, 302) geht nun aus von der bei Stimmlippenlähmung in Paramedianstellung häufig beobachtbaren Restbeweglichkeit, die vorher als „unvollständige Lähmung des N. recurrens“ interpretiert wurde. Zudem beobachtet er eine aktive Bewegung der Taschenfalten, die er einer eigenständigen muskulären Grundlage, dem „in Vergessenheit geratenen“ M. ventricularis, zuschreibt. Dieser „verläuft parallel zum freien Rand der Taschenfalte median vom senkrechten Teil des Morgagni-Ventrikels... (Gemeint ist ausdrücklich nicht der senkrechte Anteil des M. thyreo-arytaenoideus externus lateral dazu.) Der Ursprung liegt an der Lateralfläche des Aryknorpels bis hin zur Spitze des Processus muscularis, von wo der Muskel in schräger Richtung nach vorn oben zur Epiglottis zieht und dort in recht unterschiedlicher Weise ansetzt. Durch seine Kontraktion werden 1. die Taschenfalten aktiv nach median bewegt und somit einander genähert, 2. die Aryknorpel nach vorn gezogen, aber nicht gekreuzt, und 3. die Epiglottis je nach Ansatz mehr oder weniger gesenkt...“ (Kruse 1981, 302). Die motorische Innervation wird durch den N. laryngeus cranialis angenommen und ist somit unabhängig vom N. recurrens. Trotzdem bleibt angesichts der so unterschiedlichen Klangcharak-teristika von altaiischen, mongolischen, tuvinischen oder tibetischen ‚kargyraa-ähnlichen’ Gesangsstilen eine vom aryepiglottischen Sphinkter weitgehend ‚unabhängige’ Taschenfaltenfunktion diskutabel. Zumindest scheint die Mobilität der Taschenfalten unterhalb des aryepiglottischen Sphinkters ungeklärt. Genauso wäre aber auch zu fragen, ob alle Aussagen ohne weiteres auf den weiblichen Kehlkopf und den von Kindern übertragen werden können.

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6 Zusammenfassung und Ausblick Ich hoffe es ist deutlich geworden, von welch hoher Bedeutung auch die detaillierte phonetische Betrachtung und Diskussion der Vielfalt der stilistischen Ausprägungen des südsibirischen Kehlgesangs ist. Dabei muss ich betonen, dass es sich tatsächlich bei dem hier Vorgestellten auch nur um einen kleineren Ausschnitt handelt. Die vergleichende akustisch-phonetische und artikulatorische Betrachtung von z. B. regional-, alters-, geschlechts- oder individualspezifischen Merkmalen der KG- und OTG-Interpretationen steht dabei erst am Anfang. Die Unschärfe und der Interpolationsseffekt im Sonagramm führen zu einem Verlust der zeitlichen Zusammenhänge im Stimmsignal, der gerade bei Untersuchung der Mikrostruktur des KG zu einem Methodenwechsel führen muss. Hierzu wurde ein von Gall und Berg (1998) entwickeltes Verfahren („Glottal Segmentation“) vorgeschlagen. In Verbindung mit dem EGG-Signal und der Ableitung der Brustresonanz über ein Kontaktmikrophon an der Fossa jugularis (Neumann und Gall 1999; Neumann et al. 2001) können erheblich bessere Aussagen über den Funktionszusammenhang von Glottis und Ansatzräumen gemacht werden. Dieses Vorgehen liegt einer empirischen Untersuchung an mehreren Sängern aus Tuva und Hakassien zugrunde, die die Grundlage für meine zurzeit noch in der Enstehung befindliche Dissertation über die „Akustik und Physiologie des südsibirischen Kehlgesangs“ bildet. Die häufig gestellte Frage nach den stimmlichen Gefahren dieser so ‚gepresst’ und ‚gespannt’ wirkenden Stimmproduktion sollte mit den neugewonnenen Daten besser diskutiert werden können. Doch ist allein vom derzeitigen Standpunkt zu sagen, dass eine berufliche Sängertätigkeit in Tuva oder in der Mongolei selbstverständlich all die hohen Anforderungen an musikalische Begabung, Persönlichkeit und psychische sowie physische Belastbarkeit stellt, wie sie etwa auch in Europa zu finden sind. Die hierzu nötigen Langzeituntersuchungen sind jedoch nicht in Sicht.

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