Der Spiegel 2013 28

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D E R S P I E G E L 2 8 / 2 0 1 3 3Im Internet: www.spiegel.de

Hausmitteilung8. Juli 2013 Betr.: Titel, Aufstände

US-Präsident Barack Obama war in Tansania unterwegs, als er sich genötigtsah, den SPIEGEL-Titel der vergangenen Woche zu kommentieren: „Die Ver-

einigten Staaten werden sich diesen Artikel anschauen und beschließen, wozu siesich äußern werden.“ Dieser Artikel – das war der Bericht darüber, wie umfassenddie USA in Deutschland und Europa Politik, Wirtschaft und Privatpersonen aus-horchen und überwachen. Die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton bat dieAmerikaner „dringend um Aufklärung“. Die russische Zeitung „Kommersant“

schrieb: „Amerika muss sich für die Enthüllungen EdwardSnowdens verantworten. Der SPIEGEL-Artikel hat einenriesigen Skandal entfacht.“ „Diese Vorgänge sind – sofernsie sich als zutreffend erweisen – keineswegs hinnehmbar“,monierte der französische Außenminister Laurent Fabius,eine Empörung, die allerdings an Kraft verlor, als durch„Le Monde“ bekanntwurde, dass der französische Geheim-dienst ähnliche Programme betreibt wie der amerikanische.Die Enthüllungen des ehemaligen US-GeheimdienstmannesEdward Snowden, die der SPIEGEL publizierte, haben Ent-setzen bei den Abgehörten, eine verschärfte Jagd der USAauf den Enthüller und weltweite diplomatische Verwick-lungen ausgelöst. In dieser SPIEGEL-Ausgabe kommt nun

Snowden selbst zu Wort. Es handelt sich da bei um Auszüge aus seinen Antwortenauf einen ausführlichen Katalog von Fragen, die dem SPIEGEL vorliegen – Fragen,die Snowden beantwortet hatte, bevor er sich zu den Veröffentlichungen bekannte.Mittlerweile sind die Gesprächsprotokolle des Mannes, der die Weltpolitik zwischenChina, Russland, den USA und Südamerika bewegt, nach SPIEGEL-Einschätzungein Dokument der Zeitgeschichte (Seite 22).

Kairo schien kurz vor einem Bürgerkrieg zu stehen, als das Ultimatum gegenMohammed Mursi auslief. Doch plötzlich schlug die Stimmung um in Hysterie

und Euphorie: Das Militär erklärte den Sturz des Präsidenten. Die SPIEGEL-Redak -teure Ralf Hoppe und Daniel Steinvorth sprachen mit Islamisten, die zornig demon -strierten; sie trafen unter konspirativen Umständen Tamarud-Aktivisten, Mitgliederjener Gruppe, die den Volksaufstand in Gang gesetzthatten. Und sie interviewten Ägypter wie den IT- Experten Mohammed Scharaf, der sich als Mitgliedder „Hisb al-Kanaba“, der „Couch-Partei“, bezeich-net – bisher unpolitische Bürger, ohne deren Hin wen -dung zur Politik der Aufstand nicht möglich gewesenwäre (Seite 74). Erstaunlich viele Frauen haben vonAnfang an mitdemonstriert. Eine von ihnen ist diejunge Ägypterin Nahla Enany, die Belästigungenund Übergriffen trotzte und nun hofft, dass ihr Volk„eine wirklich demokratische Regierung wählt“. Sie ist eine von fünf jungen, kämpferischen Frauen,die ein sechsköpfiges SPIEGEL-Team begleitet hat. In Ägypten, Brasilien, Indien,Kambodscha und Südafrika beobachteten Jens Glüsing, Bartholomäus Grill, GuidoMingels, Friederike Schröter, Sandra Schulz und Barbara Supp eine neue Mädchen-generation, die sich in politische Kämpfe einmischt oder selbst welche entfacht.Mädchen wie die 14-jährige Bloggerin Isadora, die mit einem Aufschrei über die Bil-dungsmisere in ihrem Land für Aufsehen sorgte – eine Rebellion, die bei den ganzJungen beginnt und schon das Leben der ganz Jungen verändern will (Seite 48).

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Schröter, Enany in Kairo

SPIEGEL-Titel 27/2013

Titel

Wie Washington weltweit versucht,den Lauschskandal einzudämmen .................... 14Ex-Geheimdienstkontrolleur Claus Arndt kritisiert die Schnüffelpraxis der Amerikaner in Deutschland .................................................. 18NSA-Enthüller Edward Snowden über die Machtder Datenspione – und ihre willigen Helfer ...... 22Der amerikanische Verschlüsselungsexperte Jacob Appelbaum beschreibt das Drama derWhistleblower ................................................... 24

Deutschland

Panorama: De Maizière Favorit für den Posten des Nato-Generalsekretärs / Verfassungsschutzwarnt vor rechten Rockerbanden / Zentralrat der Juden wirft Jewish Claims Conference Vertuschung vor ............................. 10Parteien: Die Union entdeckt den Datenschutz ... 28Finanzpolitik: Im SPIEGEL-Gespräch streiten AfD-Chef Lucke und Linken-Vizin Wagenknechtüber den richtigen Weg aus der Euro-Krise ....... 29Demokratie: Die SPD buhlt um Nichtwähler ..... 32Behörden: Warum die Arbeitsagentur bei der Vermittlung von Arbeitslosen versagt ............... 34Strafvollzug: Viele Häftlinge sind drogensüchtigund werden abhängig entlassen ........................ 36Die Beichte eines Gefangenen, der im Knast zum Junkie wurde ............................................. 38Jugendhilfe: Der Anwalt umstrittener Brandenburger Heime war gleichzeitig Leiter der Beschwerdestelle für die Jugendlichen ........ 41Terrorismus: Eine türkischstämmige Bäckerin aus Stuttgart erfuhr, dass ihr Laden vom NSU ausspioniert wurde ................ 42Sicherheit: Das Geschäft mit dem Stromausfall ... 44

Gesellschaft

Szene: Panzer zerstören gefälschte Waren / Konjunktur der Stechmücken ........................... 46Eine Meldung und ihre Geschichte – wie ein Kanadier in Berlin-Tegel eine Abschiebung verhinderte .......................... 47Rebellionen: Weltweit erheben sich junge Frauen gegen Gewalt und Unterdrückung ........ 48Homestory: Warum es einsam machen kann, E-Mails zu schreiben und Handys zu benutzen ... 56

Wirtschaft

Trends: Nordstaaten verhinderten Zinssenkung /Interne Ermittlung bei der Deutschen Bank ...... 58Rüstung: Milliardengrab „Eurofighter“ ............. 60Währungsunion: Geld allein kann Griechenlandnicht retten ........................................................ 64Handel: H&M-Chef Persson verteidigt im SPIEGEL-Gespräch die Textilproduktion in Bangladesch .................................................. 66Konzerne: E.on muss seine ehrgeizigen Pläne in Brasilien ohne Partner verwirklichen ............ 69Affären: Wie eine Adlige wegen eines Bankberaters viele Millionen verlor ......... 70

Ausland

Panorama: Nato warnt vor Chaos in Libyen / Aufstand gegen Polizeiwillkür in der Ukraine ... 72Ägypten: Der Sturz Präsident Mursis –Volks aufstand oder Militärputsch? .................... 74Interview mit dem Oppositionsführer Mohamed ElBaradei .......................................... 76Syrien: Kriegsmüde Dschihadisten lassen sich im ruhigen Norden des Landes nieder .............. 79Brasilien: Protest gegen korrupte Politiker ........ 82Global Village: Wie eine Italienerin aus simplenNotizbüchern eine Weltmarke machte .............. 86

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In diesem Heft

Der nächste Rüstungsflop Seite 60Nach dem „Euro Hawk“-Debakel droht Minister de Maizière neues Ungemach.Das einstige Vorzeigeprojekt „Eurofighter“ verschlingt weitere Milliarden – biszur Bundestagswahl sollte eigentlich darüber geschwiegen werden.

Süchtig entlassen Seiten 36, 38Viele Häftlinge nehmen im Gefängnis Drogen, es fehlt an Suchttherapien.Ein Insasse erzählt, wie er hinter Gittern zum Junkie wurde – während seinesHafturlaubs beraubte er eine Frau und verletzte sie schwer.

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Giftige Leuchtqualle

Verglibberungder Meere Seite 94

Giftige Quallen, in Massenangespült an Urlaubsstrände,verderben Feriengästen denBadespaß. Die Plagen sindSymptom für ein größeresProblem: Über fischung undKlimawandel tragen dazubei, dass sich das Gallert -getier in den Ozeanen verbreitet; vielerorts ver-drängt es die Fische. Wielässt sich der Siegeszug derQuallen stoppen?

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Snowdens Enthüllung Seiten 14, 18, 22, 24In einem über verschlüsselte E-Mails geführten Interview beschreibt der geflohene Whistleblower Edward Snowden die Macht der US-Lausch -behörde NSA, die Deutschen würden mit ihr „unter einer Decke stecken“.Washington versucht alles, um die Affäre klein zu halten – aber China soll schon Kopien von Snowdens geheimen Daten haben.

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Protestierende in Berlin

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Sport

Szene: Der Fotograf Firat Kara über Begegnungen mit Bodybuildern und seinen Bildband „Herkules“ / Die Sonderschichten von Fußballprofis in der Sommerpause ............. 87Fitness: Athletische Alte – unter Deutschlands Senioren blüht die Sportbegeisterung ............... 88Fußball: Hollands Nationalcoach Louis van Gaaltritt für die Rechte Homosexueller ein .............. 91

Wissenschaft · Technik

Prisma: Sexübergriffe im Urlaub / VeraltetesImpfschema bei Babys / Verspäteter Vogelzug ... 92Ökologie: Quallenplagen verstören Touristen –und nun auch Meeresbiologen .......................... 94Internet: Wer den Datenkraken im Netz entgehen will, nutzt Ixquick und DuckDuckGo ..................................................... 98Geschichte: Sprachwissenschaftler enträtseln die antike Kultur der Tocharer ........................ 100Medizin: Riskante Therapie gegen Bluthochdruck ................................................. 102Frankfurter Flughafen: Wirbel landender Jets decken Häuser ab ..................................... 104Tiere: Mysteriöses Fasanensterben ................... 105

Kultur

Szene: Amy Winehouse privat – eine Ausstellung in London / Die Familie George verklärt ihren Schauspiel -patriarchen Heinrich George ........................... 106Metropolen: Wie aus Berlin nach der Wendeeine Weltstadt wurde ....................................... 108Essay: Der Soziologe Heinz Bude über Deutschlands neue Rolle in der Welt ....... 114Kino: Der bewegende Scheidungsfilm „Das Glück der großen Dinge“ ........................ 116Kunst: Ein bislang unbekannter Brief von Joseph Beuys widerlegt die Legende vom Kriegshelden ........................ 118Bestseller ........................................................ 122Popkritik: „Magna Carta Holy Grail“, das neue Album von Jay-Z .............................. 124

Medien

Trends: Warum Permira bei ProSiebenSat.1 überdie Börse aussteigt / Schöneberger moderiert Gottschalk & Jauch .......................................... 125TV-Unterhaltung: Im Fernsehen wird so viel gemordet wie nie zuvor ................................... 126Internet: Ein Start-up hat eine Plattform für politische Aktivisten entwickelt ...................... 129

Briefe .................................................................. 6Impressum, Leserservice ................................. 130Register ........................................................... 131Personalien ...................................................... 132Hohlspiegel / Rückspiegel ................................ 134Titelbild: Foto HANDOUT/REUTERS

Beuys, der Bruchpilot Seite 1181944 stürzte Joseph Beuys auf der Krim in einem Stuka ab. Nach dem Kriegverklärte er den Vorfall, er wurde zur Legende. Nun taucht ein Feldpostbriefdes späteren Jahrhundertkünstlers auf – mit unbekannten Details.

H&M-Chef will faire Mode Seite 66Kann rasantes Wachstum nachhaltig sein? H&M-Chef Karl-Johan Perssonmeint: ja. Im SPIEGEL-Gespräch fordert er bessere Arbeitsbedingungen fürNäherinnen in Bangladesch und ein Fair-Trade-Siegel für Textilien.

„Tatort“-Szene mit Maria Furtwängler

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Der RoboProfEin Android unterrichtetdänische Studenten. Zu-dem im UniSPIEGEL: derErfolg eines jungen Bürger-meisters, das Leiden einesimpotenten Studentenund ein Report über diehärtesten Kampfsportler.

Die Lust amMorden Seite 126

Kein Tag ohne Krimi imdeutschen Fernsehen, vor allem ARD und ZDF schi-cken ständig neue Teamsauf Tätersuche. Besondersbeim „Tatort“ sind die Ein-schaltquoten so gut wie lan-ge nicht mehr. Psychologenrätseln über das Grusel -bedürfnis der TV-Zuschauer,und in den Sendern regtsich Kritik am kriminalis -tischen Überangebot.

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Im Namen des Volkes Seiten 74, 76Die jungen Aktivisten der Protestbewegung Tamarud haben MillionenÄgypter mobilisiert und so die Armee dazu gebracht, die erste frei gewählte Regierung zu stürzen. Die Muslimbrüder sprechen von einemStaatsstreich, die Demonstranten von der Abwendung einer Katastrophe. Ist das der Beginn eines Bürgerkriegs – oder einer echten Demokratie?

Demonstranten in Kairo

Nr. 27/2013, Allein gegen Amerika –

Edward Snowden: Held und Verräter

Zum zweiten Mal verratenSeit dem 11. September 2001 behandelndie USA ihre Besucher wie regelrechteKriminelle. Sie bespitzeln die ganze Welt,seien es Institutionen oder Privatper -sonen, unter welchen sich einige nochihre „Freunde“ nennen. Sie betreiben ein gesetzloses Gefängnis auf fremdem Territorium, führen Krieg mit ekelhaftenFeiglingsmethoden, verfolgen Leute wieBradley Manning und jetzt Snowden, alswären diese Menschen giftige Verräter,die die Demokratie gefährden. Und wastut Europa? Überhaupt nichts.

DR. CHRISTOPH BORD, GAILLAC (FRANKREICH)

Wenn unter dem Deckmantel der Terror-bekämpfung von den USA und Großbri-tannien Wirtschaftsspionage betriebenwird, geht das uns alle etwas an, betrifftes doch auch Arbeitsplätze, den Wohl-stand unserer Gesellschaft.

JÜRGEN STRAUB, STUTTGART

Wer die Amis als Freunde hat, brauchtkeine Feinde mehr. Es ist schade, dass eszu Apple, Microsoft, Google, Facebookkeine echten Alternativen gibt. DasSchweigen unserer Politiker ist erschre-ckend und verräterisch zugleich. Über zu-nehmenden Antiamerikanismus brauchtman sich nicht zu wundern.

MARKUS ROGLER, STUTTGART

Die massive Präsenz der NSA in Deutsch-land ist ein Anachronismus. Die Bundes-regierung sollte die USA auffordern, ihrNSA-Personal aus Deutschland abzuzie-hen. Deren Abhöreinrichtungen könnteja der BND übernehmen. Der wird zu-mindest demokratisch überwacht.

PROF. DR. WOLFGANG KARRER, OSNABRÜCK

Ich wehre mich dagegen, dass meine Regierung mich nicht vor den Daten -übergriffen von „Freunden“ schützt. DasProblem ist ja nicht nur, dass Daten ge-speichert werden, sondern auch, wie sie

genutzt werden können und die Kommu-nikation verhindert werden kann. Merkelmag Neuland betreten, aber ihre politi-sche Naivität macht mir Angst.

HARALD WAGNER, KORNTAL (BAD.-WÜRTT.)

Ich bin fassungslos. Aufgewachsen in denSechzigern, waren die USA für mich dasIdealbild einer demokratischen Gesell-schaft. Was ist aus dem Amerika gewor-den, das sich totalitären Staaten entge-genstellte, was aus dem Amerika, dem

wir in der Bundesrepublik die freieste Gesellschaft unserer Geschichte (mit) zuverdanken haben? Perdu? Mit dem Tot-schlagargument der gefährdeten nationa-len Sicherheit gewinnen Geheimdienste,Militärs und die diesen traditionell be-sonders eng verbundenen ultrakonserva-tiven, ultrareligiösen Gesellschaftsschich-ten an Macht und Einfluss.

DETLEF HANZ, TROISDORF

Mein amerikanischer Schwiegersohn arbeitete jahrzehntelang bei der NSA inFort Meade. Er berichtete mir schon vormehr als 20 Jahren, dass die NSA allesausspioniert, und da gab es noch keineislamistische Bedrohung.

KLAUS PÜLZ, GUNTERSBLUM

Wie naiv sind unsere Politiker eigentlich,oder stellen sie sich bloß so? Noch immergilt die alte Erkenntnis: In internationalenBeziehungen gibt es keine Freunde, son-dern nur Interessen.

DR. KARL-HEINZ KUHLMANN, BOHMTE

Ein amerikanischer Freund, der bisher alleanwaltschaftlichen E-Mails automatischmit dem Hinweis versehen hat, dass jedeWeitergabe von vertraulichem Inhalt anandere als den oder die Adressaten un-zulässig ist, merkt jetzt an: „To the NSA:Don’t bother saving this message, it is innocuous.“ (Bemühen Sie sich nicht, dieNachricht zu speichern, sie ist harmlos.)

DAGOBERT LINDLAU, VATERSTETTEN

Schon vergessen – Attentäter des 11. Sep-tember kamen aus Deutschland! Alle publik gewordenen Warnungen vor ter-roristischen Anschlägen kamen nachWarnungen ausländischer Geheimdienstean die Öffentlichkeit. Die Ineffizienzdeutscher Geheimdienste beschäftigt Un-tersuchungsausschüsse des Bundestagsund der Länder. Wer soll da Vertrauen indie Fähigkeiten deutscher Dienste oderentsprechender politischer Handlungsfä-higkeit entfalten? – Ich nicht! Schutz vorTerroranschlägen hat für mich Priorität!

GÜNTER KRUG, BERLIN

Solange Europa in Bezug auf die USAnicht mit einer Stimme spricht, können dieUSA die Europäer gegeneinander ausspie-len. Europa muss endlich erwachsen wer-den und sich von den USA emanzipieren.

MANFRED SOMMERFELD, HAMBURG

Die NSA respektive die USA sind geradedabei, Milliarden Dollar in den Sand zusetzen: Terroristen werden nämlich in Zukunft nur noch mit Brieftauben kom-munizieren! Ergo sollte die NSA mit derZucht von Falken beginnen, die auf Tau-ben spezialisiert sind. Weil es inkorrektist, sich auf spezielle Zielgruppen zu kon-zentrieren, wird eben die gesamte Erd-bevölkerung ausgespäht. Die Sammelwutder Geheimdienste, egal ob diese totalitäroder demokratisch sind, ist paranoid: Sol-len sie unter ihrem Datenwust ersticken.

JOCHEN JÄGER, MÜNCHEN

Genau die Politiker jener Länder, welcheSnowden ob seiner Enthüllung eigentlichzu Dank verpflichtet sein müssten, ver-weigern ihm nun jedwede Unterstützung.Stattdessen verdrückt man schnell einpaar beschämend kleine Pflicht-Kroko-dilstränen und zeigt keinerlei ernstzuneh-mende Anstalten, den milliardenfachen„Yes, we scan!“-Rechtsbruch zu stoppenoder die Verantwortlichen zur Rechen-schaft zu ziehen. Und so verrät die west-liche Welt ihre Ideale zum zweiten Mal.

KAI ROHRBACHER, HÜNENBERG (SCHWEIZ)

Wenn die NSA unser Privatleben, unsereWirtschaft und Politik derart rücksichtslosausgespäht hat, war das total verantwor-tungslos. Sie hat geglaubt, dass wir füreine scharfe Antwort zu schwach sind. Wirsollten zeigen, dass man sich geirrt hat.

PROF. DR. HELMUT AUFENANGER, DÜSSELDORF

Briefe

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SPIEGEL-Titel 27/2013

„Für mich ist Herr Snowden der Inbegriff von Zivilcourage. Als Verratempfinde ich eher die Tatenlosigkeitunserer Regierung, allen voran die von Frau Merkel, die nichts zumSchutz unserer Bevölkerung tut.“

FRANK WIDI, STUTTGART

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Ehemalige NSA-Abhöreinrichtung in Bad Aibling

Nr. 26/2013, Die Wohnungsnot in Städten

beschränkt sich meist auf angesagte Viertel

Stundenlang im BusIn Frankfurt gibt es zwischen den begehr-ten Stadtteilen mit hoher Lebensqualitätund den Stadtteilen mit Makel nur sehrwenig Angebot. Wer also nicht in denenmit Makel wohnen will, der konzentriertsich aus gutem Grund auf die begehrtenStadtteile, denn sonst könnte man ja auchgleich im ländlichen Umland wohnen.

HELGA WANDEL, FRANKFURT AM MAIN

Bei der Frage, warum junge Menschendenn nicht in zentrumsferne Wohnsied-lungen ziehen wollen, wird außer Achtgelassen, dass es sich hier um eine Iden-tität und Aufregung suchende Klientelhandelt: Kein Student will nachts aus denBars der Szeneviertel stundenlang mitschlechten Bussen in seinen von Rentnernbewohnten Betonbunker fahren müssen.Und das ist absolut verständlich, bedeutetdoch selbst eine Entfernung von nur dreiBus- oder U-Bahnstationen nachts meis-tens einen langen Fußmarsch.

FELIX RÜCHARDT, MÜNCHEN

Die Forderungen nach Mietendeckelun-gen, -preisbremsen, -wohnungszweckent-fremdungsverbote und so weiter sindPlanwirtschaft, für die nicht der geringsteAnlass besteht. In der Fläche liegt das Potential! Wir dürfen die kleinen Städteund Dörfer nicht zugrunde gehen lassen,indem wir sinnfrei und besinnungslos dasGeld in die Großstadtlagen umschütten.

JOHANNES HAMPEL, BERLIN

Nr. 26/2013, Straßen, Schule, Netze –

wie sich Deutschland kaputtspart

Wie in Nordkorea

Deutschland spart sich nicht arm, sondernes verschwendet sich arm. Während Auto -bahnbrücken und Fahrbahnen bröckeln,werden andernorts munter neue gebaut,als wäre Deutschland unendlich groß undals würde die Bevölkerung rapide wach-sen. Das ist der eigentliche Skandal.

FRANK MÖLLER, BERLIN

Als nur noch katastrophal ist die Situationin NRW zu bezeichnen. Bahnhöfe großerStädte wie Duisburg sind eigentlich nichtmehr als solche zu bezeichnen. Bis aufAusnahmen ist der Gesamtzustand derStationen in dieser Region auf dem Standvon vielleicht Nordkorea. Mit dem Automacht es auch keinen Spaß, nahezu jedeRheinbrücke ist schrottreif – und erst einmal die innerstädtischen Straßen. Un-kraut sprießt ungehindert an Autobahnen,Landstraßen und auf den Verkehrsinselnund Randbegrünungen – passt schließlichauch besser zu den Schlaglochpisten.Wenn schon Elend, dann richtig!

THOMAS BRINKMANN, ESSEN

Auf meinen Reisen bin ich früher mög-lichst lange auf deutschem Gebiet geblie-ben, weil die Straßen besser waren; heuteversucht man, so schnell wie möglich dieNachbarländer zu erreichen, weil fast alledort in besserem Zustand sind. Für Motor -radfahrer sind die deutschen Straßen mitzig langen und tiefen Schlaglöchern mitt-lerweile lebensgefährliche Abenteuer.

FRANK ZIMMERMANN, WEDEMARK (NIEDERS.)

Der Zahlmeister von heute wird der Hilfs-bedürftige von morgen. Schon interessant,dass die Problemstaaten Spanien und Ita-lien deutlich höhere Anteile in Transport-Infrastruktur und Kinderbetreuung inves-tieren. Die Politik hier legt mehr Wert aufden äußeren Schein als auf die Wirklich-keit. Machterhalt geht vor Landeswohl.

MARTIN OPALA, HAMBURG

Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe – bitte mitAnschrift und Telefonnummer – gekürzt und auch elek-tronisch zu veröffentlichen. Die E-Mail-Anschrift lautet:[email protected]

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Demonstration in Hamburg

Nr. 26/2013, Die Fehler der Arbeitsagen-

turen im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit

Jeder spielt mitSeit 2005 erleben wir, dass die kommunaleBetreuung arbeitsloser Menschen sichereinige Chancen birgt, aber auch massiveProbleme mit sich bringt. Für den BereichArbeitsmarkt ist das Leistungsangebot derArbeitsagentur mit Abstand das Beste,was in Deutschland verfügbar ist, undauch zahlreichen vergleichbaren Angebo-ten im Ausland überlegen.

ALEXANDER EISNECKER, KIRCHHEIMBOLANDEN

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Autobahnbaustelle bei Dortmund

Als ehemalige Insiderin kann ich bestäti-gen: ständig wechselnde Anweisungender Zentrale, zumindest in Spezialabtei-lungen zu wenige oder gar nicht qualifi-zierte Teamleiter, die nach oben buckelnund nach unten treten. Unten, das sinddie Vermittler, deren Ansehen im Teamsteigt, wenn sie die Anweisungen derZentrale strikt befolgen, trickreich mani-pulieren und dadurch hohe Zahlen auf-weisen, egal ob sie wirklich bedürftigeKunden aus den Augen verloren haben.

DIANA ANDERS, BERLIN

Ihr Artikel bestätigt vieles, was wir alskommunale arbeitsmarktpolitische Ak-teure nur ahnten. Seit Einführung vonHartz IV hat sich das Verhältnis von Leistungen für die Aktivierung zu denVerwaltungskosten komplett gedreht.KERSTIN THIELE, HENNIGSDORF (BRANDENBURG)

ABS HENNIGSDORF GMBH

Die Ergebnisse des Bundesrechnungshofssind ernst zu nehmen. Ihre Darstellungaber ist undifferenziert und ein Schlagins Gesicht aller Mitarbeiter, die sich täg-lich ehrlich bemühen, Arbeitssuchendenden Weg ins Erwerbsleben zu ebnen.

ANNETT GRUNDMANN, BERLIN

Wir – die „Betroffenen“ und die, die mitihnen zu tun haben – wussten es schonlange: Ein sinnloser Kurs reiht sich anden nächsten, nur damit Leute wie vonder Leyen ihre Sprüche ablassen können.Jeder weiß es, jeder spielt mit.

DIPL.-PSYCH. HELGA SPECKMEIER, LANDSHUT

Nr. 22/2013, In den achtziger Jahren

koordinierte ein pädophiler Straftäter die

Schwulenvereinigung der Öko-Partei

Erfundene AnschuldigungenIn Ihrem Beitrag zitieren Sie die Schwu-lenzeitung „Rosa Flieder“, in der ich 1981beispielhaft für „im Knast“ befindliche„Freunde und Bekannte“ aus dem Umfeldder Pädophilenbewegung erwähnt wurde.Tatsächlich saß ich damals über 13 Monatein Untersuchungshaft. Im Zusammenhangmit meinem kinderrechtlichen Engage-ment in der Nürnberger Indianerkommu-ne war ich damals wegen Missbrauchsvor-würfen in erster Instanz auch verurteiltworden. In der Berufung wurde ich jedochfreigesprochen. Die gegen mich erhobe-nen Anschuldigungen mussten fallenge-lassen werden. Einer der Jugendlichen hat-te erklärt, die Anschuldigungen gegenmich erfunden zu haben, damit er nichtin eine geschlossene Anstalt eingewiesenwürde. Ich distanziere mich entschiedenvon jeder Missachtung der Kinderrechtesowohl durch Pädagogen als auch durchPädophile.

ULLI RESCHKE, NÜRNBERG

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Verbotene LeuchtenAuch nach einem Beschluss des Bun-desrats zur Aufhebung der Dynamo -pflicht für Fahrräder bleiben viele Mil-lionen Leuchten illegal. Auf AntragHamburgs hatten die Länder zwar ent-schieden, künftig ebenfalls Batterienmit einer Nennspannung von sechsVolt oder Akkus als Stromquellen zu-zulassen. Bei der geplanten Änderungder Straßenverkehrs-Zulassungs-Ord-nung wurde aber offenbar ein Satzübersehen, der vorschreibt, dass dieBeleuchtungsanlage fest am Rad ange-bracht und ständig betriebsfertig seinmuss. Dadurch sind die weitverbreite-ten Stecklampen nach wie vor nichtzulässig. Eine Ausnahme gilt nur für

Rennräder bis zu elf Kilogramm, nichtaber für Mountainbikes. Der Allge-meine Deutsche Fahrrad-Club hält dieNeuregelung für „undurchdacht“. „Esgibt auch viele Batterieleuchten, dieabweichende Spannung haben undnun nicht mehr benutzt werden dürfen“, klagt Rechtsreferent RolandHuhn. Kritik kommt ferner vom Lei-ter der Prüfstelle des LichttechnischenInstituts der Universität Karlsruhe,Karl Manz: „Die Verfasser der Neu -regelung kommen noch aus der Zeitder Glühbirne. Moderne LED benöti-gen viel weniger Strom.“ Zudem seiein moderner Dynamo die beste Lösung für ein Rad, so Manz. Das Institut hat im Auftrag des Bundes -verkehrsministeriums neue Fahrrad -beleuchtungen untersucht. Minister Peter Ramsauer hat die Ergebnisseaber bislang nicht veröffentlicht.

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Verteidigungsminister

de Maizière in Berlin

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Panorama

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Chancen für de Maizière

Im Ringen um die Nachfolge von Nato-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen gilt BundesverteidigungsministerThomas de Maizière als aussichtsreichster Kandidat. In seinemMinisterium, im Kanzleramt und auch im Nato-Hauptquartierwird nicht ausgeschlossen, dass der 59-Jährige nach der Bun-destagswahl Anspruch auf den im Sommer 2014 frei werden-den Posten anmeldet. Zwar haben auch andere Nationen Interesse signalisiert, doch von allen bislang gehandelten Kandidaten hätte der Deutsche die größten Chancen. Derehemalige polnische Verteidigungs- und jetzige Außenminister

Radoslaw Sikorski ist der US-Regierung zu unbequem, derehemalige italienische Außenminister Franco Frattini gilt alsBerlusconi-Mann und ist zudem kein amtierender Ressortchefmehr. Im Gespräch ist noch der belgische Verteidigungs -minister Pieter De Crem, der im Kreise der Nato-Mitgliedslän-der als einer der erfahrensten Politiker gilt. Gegen de Maizierèhätte er aber trotzdem keine Chance, auch weil Deutschlandder zweitgrößte Beitragszahler nach den USA ist. Der letzteDeutsche, der die Allianz führte, war von 1988 bis 1994 derCDU-Außenpolitiker Manfred Wörner.

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G Ü T E R V E R K E H R

Laute BremsenDer nordrhein-westfälische Verkehrs-minister Michael Groschek fordert einVerbot von Grauguss-Bremsen an Gü-terwaggons. „Sierauen die Räderauf und ver -ursachen dadurcheinen hohenLärmpegel“, sagtder Sozialdemo-krat, der die Bahnnach SchweizerVorbild leiser machen will. Dortwerden diese

Bremsen zum Jahr 2020 verboten unddurch Bremsklötze aus Verbundstoffenersetzt, die erheblich leiser im Betriebsind. Das Vorhaben von Bundesregie-rung und Deutscher Bahn, den Lärmim Güterverkehr bis 2020 zu halbieren,geht nach Groscheks Überzeugungnicht weit genug.

Anzahl der Parteien, die …

… sich für die jeweilige Wahl beworben haben

… zugelassen wurden

Neben neun bereits im Bundestag oder in Landtagen vertretenenParteien sind folgende Vereinigungen zur Bundestagswahl zugelassen:

Ab jetzt … Demokratie durch Volksabstimmung (Volksabstimmung)

Alternative für Deutschland (AfD)

Bayernpartei (BP)

Bergpartei, die „ÜberPartei“ (B)

Bund für Gesamtdeutschland (BGD)

Bündnis 21/RRP (Bündnis 21/RRP)

Bündnis für Innovation und Gerechtigkeit (BIG)

Bürgerbewegung pro Deutschland(pro Deutschland)

Bürgerrechtsbewegung Solidarität (BüSo)

Christliche Mitte (CM)

Die Rechte

Die Republikaner (Rep)

Die Violetten (Die Violetten)

Deutsche Kommunistische Partei (DKP)

Familien-Partei Deutschlands (Familie)

Feministische Partei Die Frauen (Die Frauen)

Kommunistische Partei Deutschlands (KPD)

Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands (MLPD)

Nein!-Idee (Nein!)

Neue Mitte (NM)

Ökologisch-Demokratische Partei (ÖDP)

Partei Bibeltreuer Christen (PBC)

Partei der Nichtwähler

Partei der Vernunft (Partei der Vernunft)

Partei für Soziale Gleichheit, Sektion der Vierten Internationale (PSG)

Partei Gesunder Menschenverstand Deutschland (GMD)

Partei für Arbeit, Rechtsstaat, Tier-schutz, Elitenförderung und basis-demokratische Initiative (Die Partei)

Partei Mensch Umwelt Tierschutz (Tierschutzpartei)

Rentner Partei Deutschland (Rentner)

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Rechte RockerDie Innenminister der Bundesländersind von mehreren Landesverfassungs-schutzämtern in einem Lageberichtüber eine neue rechtsextreme Organi-sationsform informiert worden. Da-nach würden sich vor allem in Schles-wig-Holstein, Bremen und Niedersach-sen Rechtsextreme unter dem Namen„Brigade 8“ als Rockerclub zeigen. DieMänner kleideten sich nach dem Vor-bild klassischer Motorradclubs mit le-dernen Westen. Auch in der Organisa-tion eiferten die Rechten den Rockern

nach: So gebe es Aufnäher mit ver-schiedenen Funktionsbezeichnungenwie „General“, „President“, „Schrift-führer“ oder auch „Gauleiter“. „Wiebereits an den vorhandenen Logo -entwürfen ersichtlich, ist auch eine europaweite Strukturausweitung ge-plant“, heißt es in dem Lagebericht.Die „Brigade 8“ werde durch die zweirechtsextremistischen Musikbands„Endlöser“ und „Legion Germania“unterstützt. Beziehungen bestündenauch zum Betreiber eines rechtsextre-mistischen Internet-Versandhandels.„Die Gruppe zeigt, dass das Klischeevom Glatzkopf mit Springerstiefelnausgedient hat“, sagt Sachsens Innen-minister Markus Ulbig (CDU).

Qual der WahlNeben den 9 Parteien, die bereits imBundestag oder in einem Landesparla-ment vertreten sind, dürfen 29 weitereVereinigungen bei der kommendenBundestagswahl antreten. Daruntersind die Alternative für Deutschland(AfD) und die Satire-Partei Die Partei.Der Bundeswahlausschuss hatte in dervergangenen Woche erstmals nach neu-en Regeln über die Zulassung von Par-teien beraten, nachdem die Organisa -tion für Sicherheit und Zusammen arbeitin Europa das ursprüngliche Verfahrenkritisiert hatte. So besteht nun für ab gelehnte Bewerber die Möglichkeit,sich vor der Wahl beim Bundesver -fassungsgericht zu beschweren. Außer-dem muss die Nichtzulassung von einerZweidrittelmehrheit im Bundeswahl -ausschuss beschlossen werden.

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Deutschland

E N T S C H Ä D I G U N G E N

„Sträflicher Fehler“In der Jewish Claims Conference (JCC) ist ein offener Streit über denUmgang mit einem Betrugsskandal umEntschädigungen für Überlebende desHolocausts ausgebrochen. Der Gene-ralsekretär des Zentralrats der Judenin Deutschland, Stephan Kramer, be-klagt in mehreren E-Mails an JCC-Spit-zenfunktionäre in New York und in einem Interview in der israelischen Tageszeitung „Jerusalem Post“, dass dieJCC einen Bericht zu betrügerischenMachenschaften zurückhalte. Die Auf-klärung des Skandals müsse der zen-trale Punkt der Vorstandssitzung sein,die in dieser Woche in New York statt-findet. Es wäre ein „sträflicher Fehler“,Dinge „unter den Teppich zu kehren“,schrieb Kramer vorige Woche an ArieBucheister, Stabschef bei der JCC. DieJCC-Zentrale bestreitet, die Vorfällevertuschen zu wollen. 2010 hatte dieUS-Bundespolizei FBI mehrere Mit -arbeiter der JCC festgenommen, dieEntschädigungen für Überlebende des Holocausts in Höhe von 42,5 MillionenDollar in die eigene Tasche gesteckthaben sollen. Einige Beschuldigte in

den USA wurden in-zwischen zu Gefängnis-strafen verurteilt. DieGelder stammten auszwei Fonds für jüdi-sche Überlebende desNS-Terrorregimes inOsteuropa.

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Vorige Woche habe ich überlegt, einen81-tägigen Urlaub einzureichen, biszum Tag nach der Wahl. Auf die Ideebrachten mich die Leute von Forsa,Emnid und Infratest dimap. Rot-Grünhabe keine Chance mehr, heißt ihreBotschaft, das Rennen sei entschieden.Und die Leute von den Instituten müs-sen es wissen. Sie telefonieren ja täg-lich mit dem Wähler. Liegt die Unionalso wirklich uneinholbar vor derSPD? Ist die Kanzlerschaft von PeerSteinbrück so wahrscheinlich wie dieMeisterschaft von Eintracht Braun-schweig? Weshalb ich nun aber dochlieber keine Ferien mache, liegt daran,dass es sich mit politischen Umfragenso verhält wie mit Grillwürsten oderder Vergabe von Olympischen Spielen:Man möchte lieber nicht genau wissen,wie sie zustande kommen. Im Sommer2005 durfte ich einen Nachmittag imCallcenter von Forsa verbringen, weni-ge Wochen vor der Bundestagswahl.

Die Union lag damals ähnlich weit vorder SPD wie heute, der Drops schiengelutscht. Ich bekam einen Kopfhörerund durfte mithören, wie Herr E. vonForsa beim deutschen Volk durchrief,um zu erkunden, wie es bald abstim-men werde. „Rufen Sie im Septemberwieder an“, sagte ihm die erste Wäh -lerin. „Bis dahin ist mein Mann in Polen.“ Herr E. tat mir schnell leid. Alser seine Gesprächspartner fragte, wel-ches politische Ereignis sie zuletztinter essiert habe, musste er mehr-mals den Sieg von Michael Schuma-cher im letzten Formel-1-Rennennotieren. Ob sie ihre Wahlentschei-dung schon getroffen habe, wollteer von einer älteren Dame wissen.„Gibt es schon wieder Wahlen?“,lautete die erste Antwort. Die zweitewar nicht besser. „Also, beim letztenMal hab ich PDS gewählt, aber diesmalmache ich CDU. Oder SPD.“ Bei die-ser Frage dürfe man nur eine Parteinennen, entschuldigte sich Herr E.„Dann nehm ich CDU“, antwortete dieDame. „Oder nein, SPD, nehmen SieSPD.“ Je länger ich zuhörte, destomehr kam mir Demokratie wie ein

Würfelspiel vor. Wenige Wochen spä-ter erhielt die SPD 34,2 Prozent, fastso viel wie die Union, und ich nahmmir vor, Umfragen fortan zu ignorie-ren – ich gucke schließlich auch keinAstro-TV und war noch nie bei einerKartenlegerin. Aber das Ignorierenfällt schwer. Es ist, als wollte man dasWetter oder Pep Guardiola ignorieren.Natürlich sind Umfragen im Grundeharmlos. Ärgerlich ist nur, wenn siezur politischen Verdummung beitragen.

Wenn der Verweis auf Umfragendie eigene Haltung ersetzt undden gesellschaft lichen Diskurs ersäuft. Wenn Umfragen als Ent-schuldigung dienen, sich nicht mitden Argumenten und Program-men eines Wahlkampfs zu beschäf-

tigen – weil ja eh alles entschieden ist.Warum ich trotzdem nicht mehr an diegroße Aufholjagd der SPD glaube? Da-mals, 2005, hieß ihr Kandidat GerhardSchröder, heute heißt er Peer Stein-brück. Das wird am Ende einen Unter-schied von zehneinhalb bis elf Prozent-punkten ausmachen. Sagt mein Bauch.Und der ist ähnlich verlässlich wie Um-fragen. Markus Feldenkirchen

WAHL2013

B U N D E S W E H R

Teure EinsätzeDie Auslandsmissionen der Bundeswehr haben den deutschen Steuerzahler seit1992 knapp 17 Milliarden Euro gekostet. Das geht aus einer internen Berechnungdes Verteidigungsministeriums hervor, die ein Beamter des Hauses kürzlich Ver-tretern der Industrie präsentiert hat. Demnach war vor allem die Zeit zwischen2010 und 2012 mit rund 1,4 Milliarden Euro pro Jahr besonders teuer. Nur imJahr 2002, als die Bundeswehr ihren Afghanistan-Einsatz aufbaute, wurde mit1,5 Milliarden Euro mehr ausgegeben. Die Summen beziffern dabei lediglichdie zusätzlichen spezifischen Kosten der Missionen. Der Sold der eingesetztenSoldaten wird getrennt berechnet. Die Bundeswehr ist momentan mit etwa 6000Soldaten im Ausland vertreten. Die meisten sind in Afghanistan stationiert(etwa 4400), gefolgt vom Kosovo (etwa 800).

S T A A T S B A N K

Geringes Vertrauen in Spanien

Die staatliche KfW-Bank geht mit ih-rem 800 Millionen Euro schweren Dar-lehen an die spanische Förderbank ICOweitaus höhere Risiken ein als bislangbekannt. Auf der Verwaltungsratssit-zung der KfW in der vergangenen Wo-che musste der Vorstand eingestehen,dass die Staatsbank das Geschäft unternormalen Umständen nicht machenwürde, da es viel zu risikoreich sei. DerKredit werde nur vergeben, weil derBund für die komplette Summe hafte.Die Aussage ist auch deshalb brisant,weil der spanische Staat wiederum vollfür die ICO-Bank bürgt. Das heißt: DieKfW hat nur geringes Vertrauen in dieKreditwürdigkeit Spaniens. VorigenDonnerstag hatten FinanzministerWolfgang Schäuble und Wirtschafts -minister Philipp Rösler das Abkommenüber das Globaldarlehen mit ihren spanischen Amtskollegen in Berlin vor -gestellt. Die ICO-Bank soll die Mittelüber die Hausbanken als zinsverbilligteKredite an mittelständische Unterneh-men weiterleiten und so den Zugang zuKrediten verbessern.

BUNDESTAGSWAHL 2013

Elf Wochen noch

Deutsche Soldaten in Afghanistan

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NSA-Chef Alexander in Washington

Obamas ZwergeIm Skandal um Amerikas Lauschangriff auf den Rest der Welt kuschen Regierungen

reihenweise vor Washington. Die Deutschen wollen von nichts gewusst haben – dabei wird jetzt klar, dass die Geheimdienste beider Länder eng kooperieren.

NSA-Rechenzentrum in Utah

Im sozialen Netzwerk LinkedIn plau-dern Menschen gern über ihre Arbeit.Sie wollen etwas loswerden oder su-

chen einen neuen Job und berichten des-halb, was sie so gemacht haben oder ma-chen. Ein früherer „Signals IntelligenceSupervisor“, ein Amerikaner, erzählt dazum Beispiel leichtsinnig, dass er von Sep-tember 2009 bis Oktober 2010 in Darm-stadt gearbeitet habe. Er sei dafür zustän-dig gewesen, abgefangene ausländischeKommunikation zu sammeln, zu überset-zen und zu verarbeiten. Der Mann waralso im Berufsfeld der Spionage tätig.

Darmstadt ist dafür ein guter Standort,denn hier in der Nähe findet sich das ge-heime Gebäude-Sammelsurium „DaggerComplex“, in dem vor allem Armee-Leu-te der 66th Military Intelligence Brigadearbeiten, das aber auch von der amerika-nischen Lauschbehörde National SecurityAgency (NSA) mitfinanziert wird.

Bei LinkedIn gibt es viele solcher Ein-träge. Manche sind womöglich aufge-bauscht, aber in der Masseentsteht ein recht gutes Bilddavon, wo amerikanische Ge-heimdienstler in Deutschlandoperieren.

Was bislang fehlt, sind Plaudereien darüber, ob undwie eng sie mit Kollegen vom Bundesnachrichten-dienst oder vom Verfassungs-schutz zusammengearbeitethaben. Aber es gibt aus ande-ren Quellen Hinweise, dassman miteinander zu tun hat.Und das stünde im Wider-spruch zu dem, was die Bun-desregierung behauptet: dasssie nichts weiß von den gro-ßen Lauschaktionen der Ame-rikaner bei den Verbündeten.

Der Fall Edward Snowdengeht in die nächste Runde.Zunächst hat der amerikani-sche Computerexperte, der für die NSAgearbeitet hat, offenbart, wie sich der Geheimdienst in Datennetzen bedient. Inder vergangenen Woche wurde durch denSPIEGEL bekannt, dass die USA auchihre Verbündeten ausspionieren lassen,darunter Deutschland. Nun ist zu klären,wie eng diese Verbündeten selbst in denSkandal verstrickt sind. Reine Unschuldist nicht zu erwarten.

Es gibt Zeiten, in denen klarwird, wiedie Welt wirklich tickt, was ihre wahreninneren Gesetze sind. Dann fallen Schlei-er, die Welt sieht plötzlich anders aus. Essind jetzt solche Zeiten.

Ein Mann tut etwas, was in der bestenTradition des Westens steht, was den Wes-ten so richtig erst begründet hat: Er klärtauf, er weist auf Missstände hin und öff-net Augen. Das hat Edward Snowden getan. Aber was geschieht nun mit ihm?Die Führungsmacht dieses Westens, die

USA, jagt ihn auf der ganzen Welt, undfast alle machen mit, vor allem der Restdes Westens.

Snowden hockte am vergangenen Frei-tag wahrscheinlich noch immer im Flug-hafen von Moskau, im Transitbereich, ineinem Niemandsland, weil sich niemandtraute, ihn aufzunehmen, auch Deutsch-land nicht, wo Snowden gern Asyl be-kommen hätte.

Angst regiert gerade diese Welt, Angstvor dem Zorn der Vereinigten Staatenvon Amerika, Angst vor Präsident BarackObama, der einst als Weltenretter begrüßtwurde. Kaum einer will es sich mit derpolitischen und wirtschaftlichen Super-macht verscherzen.

Das wurde besonders deutlich, als einkleines Flugzeug über Österreich eine

Kehrtwende machen musste. An Bord wa-ren der bolivianische Präsident Evo Mo-rales und vielleicht ein Gespenst mit demNamen Edward Snowden. Mehrere euro-päische Staaten verweigerten diesem kleinen, unbewaffneten Flugzeug Lande-oder Überflugrechte. In einigen Haupt-städten hatten sie die Hosen gestrichenvoll, und höchstwahrscheinlich warSnowden nicht einmal unter den Passa-gieren.

Der Westen macht sich gerade lächer-lich durch Unterwürfigkeit, durch freiwil-lige Unfreiheit, durch den Verstoß gegendie eigenen Werte. Und er brüskiert dabeinoch Südamerika, das auch zum erwei-terten Westen gezählt wird. Staaten wieChina oder Russland, stets im Visier west-licher Moralexporteure, können hingegenfrohlocken: Der Aufklärer Snowden such-te zuerst Zuflucht bei ihnen, nicht in denLändern, die auf die Freiheiten stolz sind.

Die Welt steht kopf, und auch Deutsch-land macht dabei keine gute Figur.

Christoph Heusgen, der außenpoliti-sche Berater der Bundeskanzlerin, konn-te sein Wochenende abschreiben, als amSamstag vor zwei Wochen die Enthüllun-gen die Runde machten. Am Sonntag riefer Phil Murphy an. Der scheidende US-Botschafter in Berlin hatte sich auf eineWoche voller Abschiedsfeierlichkeiteneingestellt, doch davon war nun keineRede mehr. Heusgen empfahl Murphy,die beiden SPIEGEL-Geschichten sofortins Englische übersetzen zu lassen unddem Weißen Haus zu schicken.

Dann ließ Heusgen sich mit Tom Do-nilon verbinden, dem Sicherheitsberaterdes US-Präsidenten. Beide vereinbarten,dass Obama spätestens nach der Rück-

kehr von seiner Afrika-Reise mit derKanzlerin sprechen sollte. Den Amerika-nern musste mittlerweile klar sein, wieverärgert die Deutschen waren.

Einen Tag später wurde BotschafterMurphy ins Auswärtige Amt geladen. Aufeine förmliche „Einbestellung“, die ulti-mative Form diplomatischer Missbilli-gung, hatte Berlin zwar verzichtet, aberfaktisch war das Gespräch mit dem zu-ständigen Abteilungsleiter kaum etwasanderes. Merkels RegierungssprecherSteffen Seibert wurde ungewohnt deut-lich: „Abhören von Freunden, das istinakzeptabel, das geht gar nicht.“

Für Europa und die USA steht einigesauf dem Spiel. An diesem Montag begin-nen die Verhandlungen über das geplantetransatlantische Freihandelsabkommen.Die Schnüffelei der Amerikaner gefähr-det das Projekt. Auf Vorschlag des ame-rikanischen Justizministers werden nunzwei europäisch-amerikanische Arbeits-gruppen versuchen, parallel zu den Ver-handlungen die Vorwürfe gegen die NSAaufzuklären.

Am vergangenen Mittwoch telefonier-ten Merkel und Obama. Beide waren da-nach bemüht, den Streit runterzuspielen.Es werde „Gelegenheit zum intensivenAustausch über diese Fragen geben“, hießes anschließend ebenso diplomatisch wienichtssagend. Das dürfte kaum das er-sehnte Machtwort gewesen sein, das sichnach einer Umfrage von Infratest Dimap78 Prozent der befragten Deutschen vonMerkel wünschen.

Im Kanzleramt zittern sie nun dernächsten Enthüllung entgegen, dennlängst spielt das Thema in den Wahl-kampf hinein. So versuchten die beidenSPD-Rivalen Sigmar Gabriel und PeerSteinbrück in seltener Einmütigkeit, Mer-kel direkt anzugreifen. Es könne sein,

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„Abhören von Freunden, das ist

inakzeptabel, das geht gar nicht.“

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„dass sie mehr weiß, als bis-her bekannt geworden ist“,sagte der SPD-Kanzlerkan -didat.

Auch Snowden sagt, deut-sche Behörden würden mitder NSA „unter einer Deckestecken“ (siehe Interview Sei-te 22).

Nachhaltiger als in derNSA-Affäre hat aber nochkeine Bundesregierung ihreAhnungslosigkeit zur Schaugestellt. Seit nunmehr vierWochen weiß die Bundesre-gierung, dass sie nichts weiß.Aber das immerhin konse-quent. Dreimal tagte in dieserZeit das ParlamentarischeKontrollgremium des Bun-destags – dreimal zucktenhohe Regierungsvertreterhinter verschlossenen Türenmit den Schultern.

Der Verfassungsschutz undder Bundesnachrichtendienst:angeblich nicht im Bilde. DasKanzleramt: ahnungslos. DieBundesjustizministerin: recht-schaffen empört, aber un -wissend. Der Bundesinnen -minister: wusste nichts, stelltetrotzdem schon mal klar, dassdie Datenfischerei der ameri-kanischen Freunde sicherlichin Ordnung sein werde. Kritikdaran, so Hans-Peter Fried-rich (CSU), sei „Antiameri-kanismus“.

Und so begann die hoheZeit des Briefeschreibens.Die Antworten, so sie dennerfolgten, machten allerdings auch nie-manden schlauer. Die britische Regie-rung, besonders eifrig beim Mitschneidendes Internetverkehrs, ließ die deutschebrüsk wissen, sie möge sich, bitte schön,direkt an den Geheimdienst wenden. DieAmerikaner zogen es bis Ende vergan-gener Woche vor zu schweigen. Obamasagte Merkel wenigstens zu, die Vorwürfezu prüfen und dann zu berichten. Daskann dauern.

Anfang dieser Woche wird sich dahereine deutsche Regierungsdelegation nachWashington bemühen. In Gesprächen mitdem Heimatschutzministerium, der NSAund der Regierung erhoffen sich die Vertreter des Kanzleramts, des Innen-und des Justizministeriums, des Auswär-tigen Amts sowie des Verfassungsschut-zes und des Nachrichtendienstes Lernef-fekte. Weil aber die Opposition sogleichlästerte, die Koalition schicke nur Leuteaus der zweiten Reihe, entschied sichFriedrich hinterherzureisen.

Aber ist die geradezu frivol vorgetra-gene Mein-Name-ist-Hase-Haltung auchglaubwürdig? Zweifel sind angebracht.

Schon einmal gab es in Deutschland undEuropa Empörung über ein „globales Ab-hörsystem für private und wirtschaftlicheKommunikation“. Zwölf Jahre ist es her,dass ein Ausschuss des Europäischen Parlaments einen fast 200 Seiten langenBericht über das Spähsystem „Echelon“vorlegte.

In dem Bericht steht, „dass innerhalbEuropas sämtliche Kommunikation viaE-Mail, Telefon und Fax von der NSA re-gelmäßig abgehört wird“. Die Rede istvon einem Geheimdienstverbund derUSA, Großbritanniens, Kanadas, Austra-liens und Neuseelands. „Wenn dann nochder routinemäßige Austausch von Roh-material hinzukommt, dann entsteht einevöllig neue Qualität.“

Die Abgeordneten empfahlen im Juli2001 eine Reihe von Vorschriften und Ab-kommen, um dem ganz großen Lausch-angriff in Europa Grenzen zu setzen.Zwei Monate später flogen TerroristenFlugzeuge ins New Yorker World TradeCenter, und einige der Attentäter hattenin Deutschland gelebt. Die Kritik an„Echelon“ verstummte abrupt.

Aber Union und FDP dürf-te nicht entgangen sein, dassdie Abhörspezialisten ausden USA nach wie vor aufdeutschem Boden präsentsind. Derzeit baut die NSAunter ihrem Chef, GeneralKeith Alexander, ihre hiesigeInfrastruktur mit großemAufwand aus.

Die wohl bekannteste Ab-höranlage liegt im bayeri-schen Bad Aibling. Sie ist im„Echelon“-Bericht hinrei-chend beschrieben. Offiziellhaben die Amerikaner denbayerischen Horchposten2004 aufgegeben. Die weißenKuppeln des „Echelon“-Ab-hörsystems, die sogenanntenRadome, ließen sie allerdingsstehen. Als das Gelände offi-ziell zur zivilen Nutzung um-gewidmet wurde, galt dasnicht für das Areal mit derLauschtechnik.

Ein Verbindungskabel lei-tet seither die abgefangenenSignale auf das Gelände derMangfall-Kaserne, die einpaar hundert Meter entferntliegt. Hier residiert offizielldie „Fernmeldeweitverkehrs-stelle der Bundeswehr“ – hin-ter dem Tarnnamen verbirgtsich der Bundesnachrichten-dienst (BND). In enger Ko-operation mit einer HandvollAbhörspezialisten der NSAanalysiert der deutsche Aus-landsdienst seither Telefon-gespräche, Faxe und alles,

was sonst noch über Satelliten übertragenwird. Offiziell gibt es weder den BND-Posten in Bad Aibling noch die Koopera-tion mit den Amerikanern. In einer ver-traulichen Sitzung des ParlamentarischenKontrollgremiums räumte BND-ChefGerhard Schindler am vergangenen Mitt-woch die Zusammenarbeit mit dem US-Dienst allerdings ein.

Auch anderswo in Deutschland lau-schen die Amerikaner in die Welt hinein.In Griesheim bei Darmstadt betreibt dieUS-Armee einen streng geheimen Horch-posten. Fünf Radome stehen am Randdes August-Euler-Flugplatzes, versteckthinter einem Wäldchen. Wer am „Dag-ger-Complex“ vorbeifährt, wird vonWachleuten kritisch beäugt, Fotografie-ren ist verboten.

Im Innern werten Soldaten Informa-tionen für die Streitkräfte in Europa aus.Die NSA unterstützt die Analysten, auchMitarbeiter amerikanischer Sicherheits-firmen arbeiten auf dem Gelände.

Der Bedarf an Daten ist offenbar sogroß, dass in absehbarer Zeit ein Umzugbevorsteht. Im rund 40 Kilometer ent-

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Computerexperte Snowden 2002: „Er ist eine heiße Kartoffel“

fernten Wiesbaden baut dieUS-Armee ein neues Conso-lidated Intelligence Center.Für 124 Millionen Dollar ent-stehen in der hessischen Lan-deshauptstadt abhörsichereBüros und ein Hightech- Kontrollzentrum. Sobald die Anlage in Wiesbaden fertig -gestellt ist, wird der „Dagger-Complex“ bei Darmstadt ge-schlossen.

Die US-Armee vertraut beidem Neubau in Wiesbadennur auf Landsleute. Die Bau-firmen müssen aus den USAstammen und sicherheits-überprüft sein. Selbst die Ma-terialien sollen aus den Ver-einigten Staaten importiertund auf ihrem Weg nachDeutschland überwacht wer-den. Damit auch ja keinfremder Spion auf die Bau-stelle kommt, bewachen dieAmerikaner das Areal rundum die Uhr mit eigenen Si-cherheitsleuten.

Ist es wirklich vorstellbar,dass die Bundesregierungnichts weiß vom Treiben derNSA vor ihrer Haustür? Wieist dann zu verstehen, was Innenminister Friedrich vor-vergangene Woche in eineraktuellen Debatte des Bun-destags zur Ausspähaffäresagte: „Deutschland ist glück-licherweise in den letztenJahren von großen Anschlä-gen verschont geblieben. Wirverdanken das auch den Hin-weisen unserer amerikanischen Freun-de.“ Hinter Sätzen wie diesem verbirgtsich eine funktionale Sicht auf den Über-wachungsapparat der Supermacht: Wasgenau die NSA macht, ist zweitrangig –es zählt, was hinten rauskommt. Und dasist, wie Geheimdienstler halb verschämteinräumen, unverzichtbar.

Ohne die Tipps der Amerikaner, heißtes, wäre man bei der Terrorbekämpfungwomöglich auf einem Auge blind. Denn

während das Bundesamt für Verfassungs-schutz und der Bundesnachrichtendienstim Rahmen der G-10-Gesetzgebungstrengen Regeln unterliegen, arbeitenausländische Dienste auf deutschem Bo-den – solange es dem Anti-Terror-Kampfdient – weitgehend unkontrolliert. Wieweit das geht, wird am Beispiel Frankfurtam Main deutlich.

Im weltweit pulsierenden Strom digi-taler Daten ist Frankfurt so etwas wie

eine Herzkammer. Hier treffen Glasfa-serkabel aus Osteuropa und Zentralasienauf Datenleitungen aus Westeuropa.Auch E-Mails, Bilder, Telefonate undTweets aus Krisenländern des Nahen undMittleren Ostens kommen in Frankfurtvorbei.

Internationale Provider unterhaltenhier ihre digitalen Drehscheiben, die Te-lekom oder auch das US-UnternehmenLevel 3, das sich damit brüstet, einen

Großteil des weltweiten Internetverkehrsabzuwickeln. Für Geheimdienste wie denBND oder die NSA ist Frankfurt eine un-erschöpfliche Quelle für Informationen.Wie aus Unterlagen von Snowden her-vorgeht, greift die NSA jeden Monat inDeutschland auf eine halbe MilliardeKommunikationsvorgänge zu, unter an-derem in Frankfurt.

Auch der BND bedient sich hier. Erdarf bis zu 20 Prozent der Daten abzwei-

gen. Aus bundesweit fünfKnotenpunkten schleust derDienst Daten zur Auswer-tung nach Pullach in die Zen-trale, auch in Düsseldorf undMünchen. Die eigentlicheAufgabe für die Spezialistender Abteilung TechnischeAufklärung beginnt aller-dings erst im Anschluss anden Zugriff: Aus dem gigan-tischen Datenmeer müssensie jene Telefongespräche, E-Mails oder anderen In -ter netsplitter heraus fischen,die vielleicht einen Atom-schmuggel decouvrieren odereinen Terrorplot von al- Qaida. Die „Analyse-Tools“(Werkzeuge) für den großenLauschangriff auf das Daten-meer sind komplexe undkostspielige Anlagen.

Um den aus dem NahenOsten eingehenden Telefon-und Internetverkehr auszu-werten, nimmt der BND dieHilfe der NSA in Anspruch.Die Amerikaner stellen denDeutschen zum Beispiel Spe-zial-Tools zur Verfügung, diemit arabischen Suchbegriffenarbeiten. Erhält der US-Dienst im Gegenzug Zugriffauf die Daten? Die Bundes-regierung bestreitet das: EineKooperation gebe es nur inForm von „finished intelli-gence“, von fertigen Geheim-dienstberichten.

Das Verhältnis des deut-schen Auslandsdienstes zur

NSA ist allerdings deutlich enger als öffentlich eingeräumt. In sogenannten„Joint Operations“ gehen die Partner-dienste in klar umgrenzten Einzelfällengemeinsam vor. Die Ziele liegen im Aus-land, zumeist mit Schwerpunkten wieTerrorabwehr und Rüstungslieferungen.

Am Horchposten in Bad Aibling arbei-tet ein NSA-Team eng mit den Geheimendes BND zusammen. Der BND nutzt BadAibling unter anderem, um Thuraya-Sa-tellitentelefone zu überwachen, die vorallem in den entlegenen Regionen Paki -stans und Afghanistans eine Rolle spielen.Die Amerikaner unterstützen die Deut-schen dabei. Ist es wirklich denkbar, dassbei so viel Nähe der eine Partner nichtwusste, was der andere tat?

„Wir haben bislang keine Erkenntnisse,dass Internetknotenpunkte in Deutsch-land durch die NSA ausspioniert wur-den“, sagt der Präsident des Bundesamtsfür Verfassungsschutz (BfV), Hans-GeorgMaaßen. Auch Lauschangriffe der USAauf die Bundesregierung seien ihm nichtbekannt. Eine Projektgruppe unter Lei-tung des BfV-Spitzenbeamten Thomas

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E-Mails und Telefonate aus Krisenländern

kommen in Frankfurt vorbei.

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BND-Zentrale in Berlin: Ohne Amerikaner auf einem Auge blind

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SPIEGEL: Herr Arndt, Sie wurden zu Zei-ten von Kanzler Kurt Georg KiesingerMitglied der G-10-Kommission undschieden in der Ära von GerhardSchröder aus. Haben die Amerikanerin diesen Jahrzehnten die Deutschenflächendeckend abgehört?Arndt: Zunächst haben sich die Ameri-kaner aufgeführt wie eine Besatzungs-macht und jedermann abgehört, densie abhören wollten. Das änderte sicherst 1968 mit dem G-10-Gesetz. Für dasAbhören waren danach deutsche Stel-len zuständig. Die Amerikaner muss-ten beantragen, wenn Bundesnachrich-tendienst oder Verfassungsschutz fürsie lauschen sollte. SPIEGEL: Wie lief das in der Praxis?Arndt: Für die Anschlüsse bestimmterPersonen stellten US-Behörden beimInnenminister einen Antrag. Der lei-tete ihn an uns weiter, und wir habendann zugestimmt oder abgelehnt.SPIEGEL: Wie oft kam eine solche An-frage von US-Behörden?Arndt: Das bewegte sich im zweistelli-gen Bereich pro Jahr. SPIEGEL: Haben Sie auch Anfragen ab-gelehnt?Arndt: Natürlich. Ich erinnere den Kocheines amerikanischen Generals, derbei Gesprächen in der Küche oderbeim Essen angeblich Geheimnisse erfuhr und an die Russen verriet. DerAntrag war so allgemein gehalten, dahaben wir den Amerikanern ausrich-ten lassen: „Mit so etwas dürft ihr unsnicht kommen.“ SPIEGEL: Haben die Amerikaner trotz-dem Anschlüsse selbst überwacht?

Arndt: Nicht in der Bundesrepublik,aber in West-Berlin. Dort haben sichdie Amerikaner bis zum 3. Oktober1990 benommen, als wären sie geradeeinmarschiert. Einmal meldete sich einMitarbeiter der LandespostdirektionBerlin. Ein US-Major hatte Streit mitseiner Freundin und angeordnet, ihregesamte Post mitzulesen und ihre Te-lefonate abzuhören. Dem deutschenBeamten kam das spanisch vor, under wollte wissen, ob er diesen Auftragausführen müsse. Ich habe ihm gesagt:„Es tut mir leid, aber Sie müssen das!“So war die Rechtslage. SPIEGEL: Neben dem Abhören einzel-ner Anschlüsse gab es die sogenanntestrategische Aufklärung. Der Westenwollte während des Kalten Krieges herausfinden, ob ein Angriff drohte. Arndt: Die Amerikaner verlangten, dassder Fernmeldeverkehr, etwa zwischenParis und Prag, angezapft wird, undzwar rund um die Uhr. Zuständig istbei uns der BND. Er muss an einemKnotenpunkt des internationalen Te-lefonnetzes aktiv werden, etwa inHamburg. Da fallen riesige Datenmen-gen an. Zu meiner Zeit ging allein vonHamburg wöchentlich ein Lkw mitAnhänger voller Bänder in die BND-Zentrale nach Pullach. SPIEGEL: Gab der BND die Bänder un-gefiltert weiter?Arndt: Ja, so sollte es zwar nicht sein.Vielmehr sollte der BND vorher kon-trollieren, ob die Bänder Informatio-nen enthielten, deren Weitergabe andie Amerikaner die Interessen derBundesrepublik verletzten. Doch eine

solche Kontrolle war nicht möglich.Die Datenmengen waren zu groß. SPIEGEL: Konnten auch Telefonate vonDeutschen auf den Bändern sein?Arndt: Wenn diese auf der abgehörtenLeitung ins Ausland telefonierten oderauf dieser Leitung aus dem Auslandangerufen wurden.SPIEGEL: Teilten die Amerikaner mit,wonach sie suchten? Arndt: Nein, das hätte uns ja Einblickin die Schwerpunkte ihrer Überwa-chung geben können. Um den Scheinzu wahren, fügten sie eine Begründungvon einer halben Schreibmaschinen-seite bei, dass das Abhören dieser Lei-tung für die Sicherheit ihrer Truppenin der Bundesrepublik wichtig sei. SPIEGEL: Nach BND-Unterlagen über-gab Pullach 1977 rund 10000 G-10-Mel-dungen. War das ungewöhnlich viel?Arndt: Nein, das entsprach in meinerZeit der üblichen Menge. Wobei derBegriff G-10-Meldung irreführend ist.Schon das Abhören einer Leitung, wasja viele Telefonate umfasst, kann da-mit gemeint sein. SPIEGEL: 10000 G-10-Meldungen könn-ten Millionen Telefonate bedeuten?Arndt: Ja, wobei ich nicht glaube, dassdie NSA diese Datenmengen auswer-ten konnte. Da wechseln ständig dieGesprächspartner. Eben sprach manrumänisch, dann deutsch, dann rus-sisch. Ich wünsche allen viel Spaß, dieso etwas auswerten wollen. SPIEGEL: Woher nahmen die Amerika-ner das Recht, hier abhören zu lassen? Arndt: Das resultiert aus dem Zusatz-abkommen zum Nato-Truppenstatutvon 1959. Danach ist die Bundesrepu-blik zur Zusammenarbeit mit den USAzum Schutze von deren Truppen ver-pflichtet. Man muss dazu wissen: Ausamerikanischer Sicht gab es nichts, wasnicht für die Sicherheit ihrer Truppenrelevant war. SPIEGEL: Hätten Sie nicht einfach alleAnträge zur strategischen Aufklärungablehnen können?Arndt: Die Amerikaner sind wild ver-sessen auf Informationen, und die Ame-rikaner sind der Hegemon hier. Es istnicht vorstellbar, dass man sich dieseminnerhalb des Bündnisses verweigert.SPIEGEL: Hat die deutsche Einheit etwasan der Situation verändert?Arndt: Nein.SPIEGEL: Dann ist die Bundesrepubliknur beschränkt souverän? Arndt: Theoretisch sind wir souverän.Die Organe der Bundesrepublik habendas Zusatzabkommen ja gebilligt. Inder Praxis sind wir es nicht.

INTERVIEW: KLAUS WIEGREFE

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„Sie sind der Hegemon hier“Der Ex-Bundestagsabgeordnete Claus Arndt, 86 (SPD),

über seinen früheren Job als Geheimdienstkontrolleur und den Informationshunger der Amerikaner

Haldenwang soll denSnowden-Hinweisen nunnachgehen.

Am Ende ist es relativ unerheblich, ob der Abflussdeutscher Verbindungsdatennach Amerika aufgeklärtwerden kann oder nicht,denn allzu harsche Kritikmüssen die Amerikaner nichtfürchten. „Wir sind erpress-bar“, sagt ein hochrangigerSicherheitsbeamter, „wenndie NSA ihren Hahn zudreht,sind wir blind.“

Die USA sind eben nichteinfach ein Freund, sie sindein Herrscher, mit dem manbefreundet sein kann odernicht. Dass mit einer Freund-schaft oft auch Herrschaftverbunden sein kann, zeigtder Fall Snowden so klar wiekaum ein anderer. Und inner-halb des Falls Snowden zeigtdie Odyssee von Evo Moralesbesonders deutlich, wie dieHerrschaftsverhältnisse sind.

Die Reise des boliviani-schen Präsidenten gehört zuden bizarrsten Vorgängen derWeltpolitik. Sie kann nochnicht zu Ende erzählt wer-den, es gibt Lücken, es gibtwidersprüchliche Aussagen,aber all das hätte wohl nichtgeschehen können, wennnicht einige europäische Politiker eine Menge Angstvor den Amerikanern hätten.

Am 28. Juni genehmigtenportugiesische Behörden ei-nen Reiseplan für eine „Dassault Falcon900EX“ der bolivianischen Luftwaffe.Das Flugzeug von Morales sollte bei sei-ner Reise nach Moskau auf dem Hin- unddem Rückweg einen Zwischenstopp inLissabon einlegen, um zu tanken. Aufdem Hinweg ging alles glatt. Am 1. Juliallerdings schickten die Portugiesen um16.28 Uhr einen Widerruf an die Bolivia-ner: Kein Zwischenstopp auf dem Rück-flug, „aus technischen Gründen“, heißtes in einer Darstellung des portugiesi-schen Außenministeriums. Um 19.19 Uhrsei das Ersuchen der Bolivianer einge-troffen, das Verbot näher zu erläutern.Um 21.10 Uhr habe man geantwortet:Dem Überflug des portugiesischen Ter-rains stehe nichts im Wege, nur eine Lan-dung in Lissabon sei nicht möglich. Wasdiese technischen Hindernisse gewesensein sollen, wollte das Ministerium bis-lang nicht erläutern.

Die Bolivianer hätten insistiert, ohneErfolg. Das Ministerium „bedaure die Unannehmlichkeiten“, habe aber keineSchuld, da „die bolivianischen Stellen fast24 Stunden lang nicht bereit waren, eine

alternative Route in Betracht zu ziehen,und auf einem Vorgehen bestanden, dasdie portugiesische Souveränität verletzthätte“.

Selbst schuld also? Am Nachmittag des2. Juli haben die Bolivianer in Madridangefragt, ob sie spanisches Hoheitsge-biet überfliegen dürften, um einen Tank-stopp in Las Palmas auf Gran Canariaeinzulegen. Das sagt das spanische Au-ßenministerium auf Anfrage. Sofort habeman beides genehmigt. Die Bolivianerhätten sich dafür bedankt.

Am 2. Juli hob Morales’ Maschine ge-gen 20.35 Uhr in Moskau ab, Ziel alsonun: Las Palmas. Doch eine Dreiviertel-stunde bevor der Flieger auf dem Wegnach Las Palmas französischen Luftraumerreichte, verwehrten die Franzosen denÜberflug.

Präsident François Hollande sagte amfolgenden Tag: „Es gab widersprüchlicheAngaben über die Passagiere an Bord.Sobald ich erfuhr, dass es sich um die Maschine des bolivianischen Präsidentenhandelt, habe ich sofort die Erlaubniszum Überflug erteilt.“

Ein anonymer Diplomaterklärte in der Zeitung „LeMonde“: „Wir haben nieauch nur einen Moment langgedacht, Snowden könnte indem Flugzeug sein.“ DieFranzosen behaupten nun, eshabe sich um ein Miss -verständnis gehandelt. Diezuständige Behörde habefälschlicherweise geglaubt,zwei „Falcons“ seien auf demWeg in den französischenLuftraum, doch nur eines derFlugzeuge habe eine Geneh-migung gehabt. Aus techni-schen Gründen sei dann eineder beiden Maschinen ge-stoppt worden, ohne dass jemand gewusst habe, dassMorales an Bord sei.

Hollandes Genehmigungkam spät in der Nacht, zuspät für Boliviens Staatschef.Da das Flugzeug offenbarauch Italien nicht überfliegendurfte, fragte die Crew gegen21 Uhr in Wien nach einerLandeerlaubnis. Der Pilotsagte dem Lotsen: „Wir müs-sen landen, weil wir keinekorrekte Anzeige des Treib-stoffstands bekommen. AlsVorsichtsmaßnahme müssenwir landen.“ Die Erlaubniskam bald, die „Falcon“ wen-dete über Obertauern um 180Grad. Gegen 22 Uhr war Mo-rales in Wien.

Dort saß er über 13 Stun-den lang auf dem Flughafenfest. Nach Angaben der

bolivianischen Regierung verweigerteMorales zunächst eine Durchsuchung desFlugzeugs, die Beamten durften es aberschließlich doch betreten. Die Pässe allerInsassen wurden überprüft. Morales habeden Behörden versichert, dass Snowdennicht an Bord sei. Seiner argentinischenKollegin Cristina Fernández de Kirchnersagte er am Telefon, eine Durchsuchunglasse er nicht zu, „ich bin doch keinDieb“.

Vor allem die Spanier bemühten sich,die Krise zu lösen, verhandelten mit denBolivianern, aber auch mit europäischenStaaten. Der spanische Botschafter inWien sprach bei Morales vor, der in derVIP-Zone des Flughafens Schwechat auf-gehalten wurde. Morales erzählte später,der spanische Botschafter habe ihm vor-geschlagen, einen Kaffee in der „Falcon“zu trinken – wohl um zu kontrollieren,ob Snowden an Bord versteckt werde.

„Es stimmt nicht, dass Spanien um Er-laubnis gebeten hat, das Flugzeug zu un-tersuchen“, widersprach ihm SpaniensAußenminister José Manuel García-Mar-gallo in Madrid. Später räumte er ein,

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Netzwerkverteiler in Frankfurt am Main: Unerschöpfliche Quelle

man habe ihm gesagt, Snowden sei anBord der „Falcon“. Wer das gesagt hat?„Geheim.“ Das ist ein Wort, hinter demman manches verstecken kann.

Auf Anfrage der Bolivianer erneuertendie Spanier die Landegenehmigung fürLas Palmas. Um 11.30 Uhr am 3. Juli star-tete das Flugzeug in Wien. Um 23.30 UhrOrtszeit kletterte der erschöpfte undübermüdete Präsident schließlich daheimaus seinem Jet. Morales sagte: „Das Flug-zeug eines Präsidenten ist wie eine flie-gende Botschaft. Wenn man es festhältoder umleitet, ist das wie ein Attentat.Es war nicht nur ein Attentat auf unserLand, sondern auf ganz Lateinamerika.“

Von Venezuela bis Feuerland ging einAufschrei durch den Kontinent. „Wirdachten, der Kolonialismus sei überwun-den“, ätzte Argentiniens Präsidentin. Voneinem „Angriff auf ganz Lateinamerika“sprach Ecuadors Präsident Rafael Correa.Die Brasilianerin Dilma Rousseff kritisier-te das Vorgehen der Europäer als „schwer-wiegenden Verstoß gegen das internatio-nale Recht“, der die Verhandlungen überein Freihandelsabkommen mit der Euro-päischen Union gefährden würde.

Auch Ecuadors Präsident Correa hatin dieser Krise erst einmal großspurig rea-giert. Als der demokratische US-SenatorBob Menendez drohte, Zollvergünsti -gungen zu blockieren, wenn EcuadorSnowden Asyl gewähren würde, kündigteCorrea das Abkommen: „Wir lassen unsnicht einschüchtern.“

Wenige Tage später ruderte er zurück.Obamas Vize Joe Biden hatte ihn ange-rufen und gewarnt, dass sich die Bezie-hungen zwischen Washington und Quito„stark verschlechtern“ würden, wenn

Ecuador Snowden Zuflucht gewähre. Dashalbstündige Telefongespräch sei „herz-lich und respektvoll“ gewesen, versicher-te Correa. Er werde Washington selbst-verständlich konsultieren, bevor er eineEntscheidung treffe.

Das Doppelspiel ist typisch für die Hal-tung der meisten südamerikanischen Prä-sidenten: Sie nutzen das Tauziehen umSnowden, um sich vor ihren Anhängernals tapfere Kämpfer gegen die Gringoszu profilieren. Doch in Wirklichkeit sitztWashington am längeren Hebel.

Ecuador ist wirtschaftlich abhängig vonden Amerikanern, Landeswährung ist derUS-Dollar. Washington könnte das kleineLand in den Ruin zwingen.

Da ist man in Quito nicht besondersscharf auf einen weiteren Staatsfeind derUSA. Julian Assange, der Gründer derEnthüllungsplattform WikiLeaks, hat in

der ecuadorianischen Botschaft in Lon-don Zuflucht gesucht und lebt dort seitüber einem Jahr aus Angst, von den Bri-ten an die Schweden und von den Schwe-den an die Amerikaner ausgeliefert zuwerden.

Nun jagt Washington schon zwei Auf-klärer des Internetzeitalters. Jeder Tag,den Edward Snowden im Transitbereichdes Moskauer Flughafens Scheremetjewoverbringt, jeder Fluchtweg, der ihm ver-baut wird, ist ein kleiner Sieg für die ame-rikanische Diplomatie. Die Zahl der Tage,die seit seiner Ankunft in Russland ver-gangen sind, wird auch zum Maß für den

Einfluss, den Amerika, die bloßgestellteSupermacht, trotz aller Empörung in derWelt noch immer hat.

20 Asylanträge hat Snowden bisher ge-stellt, mindestens 13 davon sind bereitsskeptisch sondiert oder abgelehnt worden,unter anderem von Deutschland, Spanienund Polen. In der Nacht zum vergangenenSamstag hieß es aus Nicaragua, man kön-ne Snowden Asyl geben – wenn die Um-stände das zuließen. Kurz danach sagteVenezuelas Präsident Nicolás Maduro, erwolle Snowden Asyl anbieten.

Mit Genugtuung nehmen die Ameri-kaner zur Kenntnis, dass immerhin Russlands Präsident Wladimir Putin dieMöglichkeit eines Asyls nur unter harten Bedingungen erwägen würde. „EdwardSnowden ist eine heiße Kartoffel“, trium-phiert Philip Crowley, Sprecher der ehe-maligen Außenministerin Hillary Clinton.Niemand wolle ihn aufnehmen: „Wenndie Musik ausgeht, will ihn kein Land aufseinem Schoß sitzen haben.“

Nachdem die Regierung Obama zu-nächst auf öffentliche Einschüchterungsetzte, entschärfte sie den Ton und hofftnun offenbar auf Diplomatie. „Ich werdekeine Jets schicken“, um einen Hackerzu fassen, versicherte Obama, aber dasheißt nicht, dass nun Milde gilt fürSnowden, der gerade 30 geworden ist.„Öffentlich versucht die Regierung, dieSache herunterzuspielen“, sagt der ehe-malige Direktor der Nationalen Geheim-dienste, Dennis Blair, „aber unterhalb derWasseroberfläche paddelt die Ente wiewild.“ Jeder soll wissen, dass ein FreundSnowdens kein Freund der USA seinkann.

Obamas Leute fürchten, dass die Ent-hüllungen immer weitergehen – über vie-le Wochen. Snowden, so viel ist mittler-weile klar, hat ein großes Archiv mitge-nommen: nicht nur eine Festplatte voll,sondern gleich mehrere. Das Material,aus dem die bislang durch „Guardian“und SPIEGEL publizierten Geschichtenstammen, umfasst nur einen Teil davon.

Weitere spektakuläre Veröffentli -chungen würden aus Sicht der Ameri -kaner dauerhaften Flurschaden anrichten– zumal Snowdens Material mutmaßlichin Teilen nicht nur an die Öffentlich-keit, sondern womöglich auch in die Hände der Chinesen und Russen gelangtist.

Die chinesische Regierung, heißt es imUmfeld des Weißen Hauses, habe bereitssignalisiert, dass sie eine Kopie des Ge-heimdienst-Schatzes besitze – vermutlichohne Snowdens aktives Zutun, der sichausdrücklich nicht als Überläufer gerierenwollte und nicht die Regierung eines an-

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Obamas Leute fürchten, dass die

Enthüllungen immer weitergehen.

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Boliviens Präsident Morales in Wien: „Angriff auf ganz Lateinamerika“

deren Landes als Adressat suchte, son-dern die kritische Öffentlichkeit.

Zugleich sollen die Chinesen in Wa-shington aber auch versprochen haben,dass sie nicht Teile der NSA-Dokumenteoder gar den gesamten Bestand publizie-ren. Selbst unter Rivalen wie China, Russ-land und den USA gibt es eine Art Kodex,Streitfälle aus der Welt der Geheimdienstenur im Ausnahmefall vor den Augen derWeltöffentlichkeit auszutragen. Jede Re-gierung weiß, dass sie in eine ähnliche Si-tuation geraten kann. Dazu kommt, dassdie Geheimdienste ihr Wissen lieber fürsich behalten, als es auf dem Nachrichten-basar zu präsentieren. Die Chinesen wer-den die Dokumente genüsslich auswertenund dann still ihre Schlüsse daraus ziehen.

Selbst für Putin gilt dieser Kodex. Seineöffentliche Warnung, Snowden müsse da-mit aufhören, den USA Schaden zuzufü-gen, wird in Washington als Signal inter-pretiert, dass die Russen ebenfalls keinInteresse daran haben, die Praktiken derNSA öffentlich zu sezieren.

In Wladimir Putins Brust schlagen imFall Snowden wohl zwei Herzen. Einer-seits sieht der ehemalige KGB-Auslands-aufklärer im flüchtigen Amerikaner einenverachtenswerten Verräter, noch dazu ei-nen unberechenbaren Querkopf, der mitseiner Rebellion gegen staatliche Über-wachung auch zur Symbolfigur für Russ-lands Anti-Putin-Opposition taugen wür-de. Andererseits fiel Putin mit Snowdenein Werkzeug in den Schoß, Amerikaeins auszuwischen. Endlich einmal stehtWashington und nicht Moskau am Pran-ger der westlichen Öffentlichkeit.

Hinter den Kulissen und fern derSchlagzeilen der Kreml-treuen Presseaber arbeitet Putin immer wieder prag-matisch mit Amerika zusammen: So fä-delte Russlands starker Mann über einenVertrauten die Milliardenallianz des rus-sischen Ölgiganten Rosneft mit dem ame-rikanischen ExxonMobil-Konzern ein.Seit 2009 sind mehr als 400000 amerika-nische Soldaten und Armeeangestellteüber russisches Territorium nach Afgha-nistan gebracht worden. Auch Russlandmag nicht alle Brücken zum mächtigstenLand der Welt abbrechen.

Der Kreml scheint sich deshalb für einDoppelspiel entschieden zu haben: Russ-land liefert Snowden nicht an Amerikaaus und betont, dass der flüchtige Com-puterexperte sich ja gar nicht auf russi-schem Territorium, sondern nur in derTransitzone des Flughafens aufhalte.Auch der russische Geheimdienst habemit dem Mann keinen Kontakt, seine Informationen seien am Ende gar nichtso viel wert. „Das ist, wie ein Schweinzu scheren“, mit diesen Worten spieltePutin Snowdens Wissen herunter: „vielGequieke, aber wenig Wolle.“

Gleichwohl dürfte es ein russisches In-teresse an seinen Laptops geben. Je län-

ger sich Snowden am Flughafen aufhält,desto größer ist die Chance, dass MoskausGeheimdienst-Hacker sich Zugang ver-schaffen, selbst wenn Snowdens Rechnergut gesichert sind. Er muss auch malschlafen, seine Situation dürfte ihn all-mählich zermürben.

Wäre es da nicht ein menschliches Ge-bot, ihn aus seiner Lage zu befreien, zumBeispiel durch Asyl in der Bundesrepu-blik?

Schon morgen könnte Snowden vorder Tür stehen. Eine Ausreise aus Russ-land muss nicht an seinem ungültigenReisepass scheitern. Die Russen könntenihn auch so ziehen lassen.

Mit einem Stempel und einer Unter-schrift könnte der Flüchtling in das nächs-te Flugzeug nach Berlin steigen und beider Ankunft Asyl beantragen. Zwarkönnten ihn die deutschen Grenzwächter„zurückweisen“, aber das müssten sienicht tun. Wahrscheinlicher wäre, dasssie Snowden sofort in Gewahrsam näh-men, weil die USA ein Festnahmeersu-chen geschickt haben.

Spätestens dann könnte die Bundesre-gierung eingreifen und den Mann alswichtigen Staatsgast gut bewacht in ei-nem ordentlichen Hotel einquartieren.So oder so würde ein Gericht zu prüfenbeginnen, ob dem Antrag der Amerika-ner, Snowden auszuliefern, entsprochenwerden kann.

Erfahrene Richter, die sich regelmäßigmit solchen Angelegenheiten beschäfti-gen, sind fast sicher, dass das Ausliefe-rungsbegehren als unzulässig abzulehnenwäre. Denn das deutsch-amerikanischeAuslieferungsabkommen verbietet eineÜberstellung wegen politischer Strafta-

ten. Und Landesverrat gelte, so NikolaosGazeas, Fachmann für internationalesStrafrecht an der Uni Köln, zumindest inder deutschen Sicht als politische Straftat.

Wenn die US-Verfolger, was wahr-scheinlich wäre, ihr Auslieferungsbegeh-ren hinter unpolitischen Vorwürfen zuverbergen suchten, würde ihnen auch dasnicht helfen. Wenn „ernstliche Gründe“zu dem Verdacht Anlass gäben, dass esim Kern um eine politische Straftat gehe,so heißt es im Auslieferungsabkommen,sei auch dies ein Auslieferungshindernis.

Es gäbe also in Wahrheit einen Weg,Edward Snowden nach Deutschland zuholen und hierbleiben zu lassen. Manmüsste es wollen, man müsste bereit sein,den Zorn der Amerikaner in Kauf zu neh-men.

Aber das ist man nicht. Realpolitikheißt jetzt, vor den Amerikanern zu ku-schen. Deutschland ist eben abhängig, po-litisch und wirtschaftlich von den Ameri-kanern, wirtschaftlich von den Chinesen,die deshalb beim Thema Menschenrechtekaum noch Widerspruch aus Berlin hören.Deutschland ist ein Land, das sich nichtstraut. Der Fall Snowden zeigt auch, dassDeutschland ein Zwerg des Weltgesche-hens ist. SVEN BECKER, THOMAS DARNSTÄDT,

JENS GLÜSING, HUBERT GUDE, FRITZ HABEKUSS, KONSTANTIN VON HAMMERSTEIN, MARC HUJER,

DIRK KURBJUWEIT, MATHIEU VON ROHR, MARCEL ROSENBACH, MATTHIAS SCHEPP,

JÖRG SCHINDLER, GREGOR PETER SCHMITZ, CHRISTOPH SCHULT, HOLGER STARK,

HELENE ZUBER

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Partner Obama, Merkel in Berlin: Der Westen macht sich lächerlich durch Unterwürfigkeit

Video: Clemens Höges über

den Fall Edward Snowden

spiegel.de/app282013snowden oder in der App DER SPIEGEL

Kurz bevor Edward Snowden zumweltweit bekannten Whistleblo-wer wurde, beantwortete er einen

umfangreichen Katalog von Fragen. Siestammten unter anderem von Jacob Ap-pelbaum, 30, einem Entwickler von Ver-schlüsselungs- und Sicherheitssoftware.Appelbaum unterweist internationaleMenschenrechtsgruppen und Journalis-ten im sicheren und anonymen Umgangmit dem Internet.

Einer breiteren Öffentlichkeit wurde er2010 bekannt, als er den WikiLeaks-Grün-der Julian Assange als Redner bei einerHacker-Konferenz in New York vertrat.Zusammen mit Assange und weiteren Co-Autoren veröffentlichte er unlängst denGesprächsband „Cypherpunks: UnsereFreiheit und die Zukunft des Internets“.

Im Zuge der Ermittlungen rund um dieWikiLeaks-Enthüllungen ist Appelbaumins Visier amerikanischer Behörden ge-raten, die Unternehmen wie Twitter undGoogle aufgefordert haben, seine Kontenpreiszugeben. Er selbst bezeichnet seineHaltung zu WikiLeaks als „ambivalent“– und beschreibt im Folgenden, wie erdazu kam, Fragen an Snowden stellen zukönnen:Mitte Mai hat mich die Dokumentarfil-

merin Laura Poitras kontaktiert. Sie sag-

te mir zu diesem Zeitpunkt, sie sei in

Kontakt mit einer anonymen NSA-Quel-

le, die eingewilligt habe, von ihr inter-

viewt zu werden.

Sie stellte dafür gerade Fragen zusam-

men und bot mir an, selbst Fragen bei-

zusteuern. Es ging unter anderem darum

festzustellen, ob es sich wirklich um ei-

nen NSA-Whistleblower handelt. Wir

schickten unsere Fragen über verschlüs-

selte E-Mails. Ich wusste nicht, dass der

Gesprächspartner Edward Snowden war

– bis er sich in Hongkong der Öffentlich-

keit offenbarte. Er wusste auch nicht,

wer ich war. Ich hatte damit gerechnet,

dass es sich um jemanden in den Sechzi-

gern handeln würde.

Das Folgende ist ein Auszug aus einem

umfangreicheren Interview, das noch

weitere Punkte behandelte, viele davon

sind technischer Natur. Einige der Fragen

erscheinen jetzt in anderer Reihenfolge,

damit sie im Zusammenhang verständ-

lich sind.

Bei dem Gespräch ging es fast ausschließ-

lich um die Aktivitäten der National

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Plakat von Snowden-Unterstützern in Hongkong

„Als Zielobjekt markiert“Der Enthüller Edward Snowden über die geheime Macht der NSA

Security Agency und um ihre Fähig -

keiten. Es ist wichtig zu wissen, dass die-

se Fragen nicht im Zusammenhang mit

den Ereignissen der vergangenen Woche

oder des vergangenen Monats gestellt

wurden. Sie wurden in einer Zeit totaler

Ruhe gestellt, als Snowden noch auf Ha-

waii war.

Ich hatte zu einem späteren Zeitpunkt

noch einmal direkten Kontakt mit

Snowden, an dem ich auch meine eigene

Identität offenbarte. Er hat mir damals

die Einwilligung gegeben, seine Aussagen

zu veröffentlichen.

Frage: Was ist die Aufgabe der NationalSecurity Agency (NSA) – und wie ist de-ren Job mit den Gesetzen in Überein-stimmung zu bringen?Snowden: Aufgabe der NSA ist es, von al-lem Wichtigen zu wissen, das außerhalbder Vereinigten Staaten passiert. Das isteine beträchtliche Aufgabe, und den Leu-ten dort wird vermittelt, dass es eine exis-tentielle Krise bedeuten kann, nicht allesüber jeden zu wissen. Und dann glaubtman irgendwann, dass es schon in Ord-nung ist, sich die Regeln etwas hinzubie-gen. Und wenn die Menschen einen danndafür hassen, dass man die Regeln ver-biegt, wird es auf einmal überlebenswich-tig, sie sogar zu brechen.Frage: Sind deutsche Behörden oder deut-sche Politiker in das Überwachungssys-tem verwickelt?Snowden: Ja natürlich. Die (NSA-Leute –Red.) stecken unter einer Deckemit den Deutschen, genauso wie mit denmeisten anderen westlichen Staaten. Wir(im US-Geheimdienstapparat –Red.) war-nen die anderen, wenn jemand, den wirpacken wollen, einen ihrer Flughäfen be-nutzt – und die liefern ihn uns dann aus.Die Informationen dafür können wir zumBeispiel aus dem überwachten Handy derFreundin eines verdächtigen Hackers ge-zogen haben, die es in einem ganz ande-ren Land benutzt hat, das mit der Sachenichts zu tun hat. Die anderen Behördenfragen uns nicht, woher wir die Hinweisehaben, und wir fragen sie nach nichts. Sokönnen sie ihr politisches Führungsper-sonal vor dem Backlash (deutsch etwa:Rückschlag –Red.) schützen, falls heraus-kommen sollte, wie massiv weltweit diePrivatsphäre von Menschen missachtetwird.Frage: Aber wenn jetzt Details dieses Sys-tems enthüllt werden, wer wird dafür vorGericht gestellt werden?Snowden: Vor US-Gerichte? Das meinenSie doch nicht ernst, oder? Als der letztegroße Abhörskandal untersucht wurde –das Abhören ohne richterlichen Be-schluss, das Abermillionen von Kommu-nikationsvorgängen betraf – hätte das ei-gentlich zu den längsten Haftstrafen derWeltgeschichte führen müssen. Aber

dann haben unsere höchsten Vertreterdie Untersuchung einfach gestoppt. DieFrage, wer theoretisch angeklagt werdenkönnte, ist hinfällig, wenn die Gesetzenicht respektiert werden. Gesetze sindgedacht für Leute wie Sie oder mich –nicht aber für die.Frage: Kooperiert die NSA mit anderenStaaten wie Israel?Snowden: Ja, die ganze Zeit. Die NSA hateine große Abteilung dafür, sie heißt FAD– Foreign Affairs Directorate.Frage: Hat die NSA geholfen, Stuxnet zuprogrammieren? (Jenes Schadprogramm,das gegen iranische Atomanlagen einge-setzt wurde –Red.)Snowden: Die NSA und Israel haben Stux-net zusammen geschrieben.Frage: Welche großen Überwachungspro-gramme sind heute aktiv, und wie helfeninternationale Partner der NSA?

Snowden: Die Partner bei den „Five Eyes“(dahinter verbergen sich die Geheim-dienste der Amerikaner, der Briten, derAustralier, der Neuseeländer und der Ka-nadier –Red.) gehen manchmal weiter alsdie NSA-Leute selbst. Nehmen wir dasTempora-Programm des britischen Ge-heimdienstes GCHQ. Tempora ist der ers-te „Ich speichere alles“-Ansatz („Fulltake“) in der Geheimdienstwelt. Es saugtalle Daten auf, egal worum es geht undwelche Rechte dadurch verletzt werden.Dieser Zwischenspeicher macht nachträg-liche Überwachung möglich, ihm entgehtkein einziges Bit. Jetzt im Moment kanner den Datenverkehr von drei Tagen spei-chern, aber das wird noch optimiert. Drei

Tage, das mag vielleicht nicht nach vielklingen, aber es geht eben nicht nur umVerbindungsdaten. „Full take“ heißt, dassder Speicher alles aufnimmt. Wenn Sieein Datenpaket verschicken und wenndas seinen Weg durch Großbritanniennimmt, werden wir es kriegen. Wenn Sieirgendetwas herunterladen, und der Ser-ver steht in Großbritannien, dann werdenwir es kriegen. Und wenn die Daten Ihrerkranken Tochter in einem Londoner CallCenter verarbeitet werden, dann … Ach,ich glaube, Sie haben verstanden.Frage: Kann man dem entgehen?Snowden: Na ja, wenn man die Wahl hat,sollte man niemals Informationen durchbritische Leitungen oder über britische Ser-ver schicken. Sogar Selfies (meist mit demHandy fotografierte Selbstporträts –Red.)der Königin für ihre Bademeister würdenmitgeschnitten, wenn es sie gäbe.

Frage: Arbeiten die NSA und ihre Partnermit einer Art Schleppnetz-Methode, umTelefonate, Texte und Daten abzufangen?Snowden: Ja, aber wie viel sie mitschnei-den können, hängt von den Möglichkei-ten der jeweiligen Anzapfstellen ab. Esgibt Daten, die für ergiebiger gehaltenwerden und deshalb häufiger mitgeschnit-ten werden können. Aber all das ist eherein Problem bei ausländischen Anzapf-Knotenpunkten, weniger bei US-ameri-kanischen. Das macht die Überwachungauf eigenem Gebiet so erschreckend. DieMöglichkeiten der NSA sind praktischgrenzenlos – was die Rechenleistung an-geht, was den Platz oder die Kühlkapa-zitäten für die Computer angeht.

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Irans Präsident Mahmud Ahmadinedschad in Atomanlage 2008: Schadprogramm von der NSA

„Tempora saugt alle Daten auf –

egal worum es geht.“

Frage: Die NSA baut ein neues Datenzen-trum in Utah. Wozu dient es?Snowden: Das sind die neuen Massenda-tenspeicher.Frage: Für wie lange werden die gesam-melten Daten aufbewahrt?Snowden: Jetzt im Moment ist es noch so,dass im Volltext gesammeltes Materialsehr schnell altert, innerhalb von ein paarTagen, vor allem durch seine gewaltigeMasse. Es sei denn, ein Analytiker mar-kiert ein Ziel oder eine bestimmte Kom-munikation. In dem Fall wird die Kom-munikation bis in alle Ewigkeit gespei-chert, eine Berechtigung dafür bekommtman immer. Die Metadaten (also Verbin-

dungsdaten, die verraten, wer wann mit

wem kommuniziert hat –Red.) altern we-niger schnell. Die NSA will, dass wenigs-tens alle Metadaten für immer gespei-chert werden können. Meistens sind dieMetadaten wertvoller als der Inhalt derKommunikation. Denn in den meistenFällen kann man den Inhalt wiederbesor-gen, wenn man die Metadaten hat. Undfalls nicht, kann man alle künftige Kom-munikation, die zu diesen Metadatenpasst und einen interessiert, so markie-ren, dass sie komplett aufgezeichnet wird.Die Metadaten sagen einem, was manvom breiten Datenstrom tatsächlich ha-ben will.

Frage: Helfen Privatunternehmen derNSA?Snowden: Ja. Aber es ist schwer, das nach-zuweisen. Die Namen der kooperie -renden Telekom-Firmen sind die Kron-juwelen der NSA … Generell kann man sagen, dass man multinationalen Kon-zernen mit Sitz in den USA nicht trauensollte, bis sie das Gegenteil bewiesen ha-ben. Das ist bedauerlich, denn diese Un-ternehmen hätten die Fähigkeiten, denweltweit besten und zuverlässigsten Ser-vice zu liefern – wenn sie es denn woll-ten. Um das zu erleichtern, sollten Bür-gerrechtsbewegungen diese Enthüllun-gen jetzt nutzen, um sie anzutreiben. DieUnternehmen sollten einklagbare Klau-seln in ihre Nutzungsbedingungen schrei-ben, die ihren Kunden garantieren, dasssie nicht ausspioniert werden. Und siemüssen technische Sicherungen einbau-en. Wenn man auch nur eine einzige Firma zu so etwas bewegen könnte, wür-de das die Sicherheit der weltweitenKommunikation verbessern. Und wenndas nicht zu schaffen ist, sollte man sichüberlegen, selbst eine solche Firma zugründen.Frage: Gibt es Unternehmen, die sich wei-gern, mit der NSA zu kooperieren?Snowden: Ja, aber ich weiß nichts von ei-ner entsprechenden Liste. Es würde je-

doch sicher mehr Firmen dieser Art ge-ben, wenn die kollaborierenden Konzer-ne von den Kunden abgestraft würden.Das sollte höchste Priorität aller Com-puternutzer sein, die an die Freiheit derGedanken glauben.Frage: Vor welchen Websites sollte mansich hüten, wenn man nicht ins Visier derNSA geraten will?Snowden: Normalerweise wird man auf-grund etwa des Facebook-Profils oderder eigenen E-Mails als Zielobjekt mar-kiert. Der einzige Ort, von dem ich persönlich weiß, dass man ohne diese spezifische Markierung zum Ziel wer -den kann, sind die Foren von Dschiha-disten.Frage: Was passiert, wenn die NSA einenNutzer im Visier hat?Snowden: Die Zielperson wird komplettüberwacht. Ein Analytiker wird täglicheinen Report über das bekommen, wassich im Computersystem der Zielpersongeändert hat. Es wird auch … Pakete jener Daten geben, die die automati-schen Analysesysteme nicht verstandenhaben, und so weiter. Der Analytikerkann entscheiden, was er tun will – derComputer der Zielperson gehört nichtmehr ihr, er gehört dann quasi der US-Regierung. JACOB APPELBAUM,

LAURA POITRAS

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„Wir sind alle verwundbar“Der US-Aktivist und „Cypherpunk“ Jacob Appelbaum über die Enthüllungen

von Edward Snowden – und was sie bedeuten

Vor den Veröffentlichungen vonGlenn Greenwald, Laura Poitrasund Barton Gellman, in denen sie

Edward Snowdens Enthüllungen über dieVerstöße gegen Menschenrechte detail-liert darlegten, wusste die Öffentlichkeitnur sehr wenig über die dunkle Realitätder weltweiten Überwachung.

Einen Vorläufer dessen, was wir geradeerleben, gab es in den USA mit dem Se-nator Frank Church in den siebziger Jah-re des vorigen Jahrhunderts. Er stieß da-mals eine intensive Debatte um schwerenMachtmissbrauch bei Geheimdienstenund bei der Bundespolizei an. DerChurch-Ausschuss untersuchte die Akti-vitäten der Central Intelligence Agency(CIA), der National Security Agency(NSA) und des Federal Bureau of Investi-gation (FBI).

Senator Church warnte damals dasamerikanische Volk und die Welt vor der Macht der NSA. Er sagte, diese Be-

hörde würde es einem Diktator ermögli-chen, ein System totaler Tyrannei zu er-richten, gegen das niemand ankämpfenkönnte. Damals war es allerdings nochunvorstellbar, dass einige wenige Staatenmit der Hilfe privater Firmen irgend-wann in der Lage sein könnten, gegen

alle demokratischen Spielregeln ein Netz an nähernd globaler Überwachungauf zubauen. Und das ist eben keine Ver schwörungstheorie, sondern ein Ge-schäftsmodell.

Diejenigen, die das wussten oder diees zumindest ahnten, aber auch dieje -nigen, die dafür sorgen wollten, dass die-ses Thema offen diskutiert wird, wurdenin den vergangenen Jahren weitgehendignoriert oder als Paranoiker bezeichnet.

Aber es gab sie, und es gab sogar zuviele, als dass man sie alle nennen könnte.Gruppen wie die Electronic FrontierFoundation oder die American Civil Li-berties Union sind längst nicht allen be-kannt. Auch Einzelkämpfer wie MarkKlein, der eine Abhöranlage in einer Ein-richtung des Telefonriesen AT&T ent-deckt hatte, kennen nur wenige. Die In-formationen, die Klein enthüllte, wurdenheruntergespielt, dabei waren sie einwichtiges Beispiel für das umfassende

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Chiffrier-Experte Appelbaum

„Bestätigung von ganz oben“

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Spionageprogramm der NSA. Auch an-dere Whistleblower, die als NSA-Ange-stellte Geheimnisse ihrer Behörde offen-gelegt haben, wie Thomas Drake und William Binney, werden durch die neuenEnthüllungen jetzt bestätigt – allerdingsnur indirekt und widerwillig.

Denn die Bestätigung kommt von ganzoben, von Präsident Barack Obamaselbst. Er rechtfertigte die Überwachung,indem er alle Menschen als potentielleGefahrenquellen darstellte, die keinenUS-amerikanischen Pass besitzen odernicht das Glück haben, auf US-amerika-nischem Boden zu leben. Eine Bestäti-gung kommt aber auch ausgerechnet vonjenem Justizministerium, das so hart daran arbeitet, amerikanische Whistle-blower zu verfolgen.

Dieses Justizministerium schreckt nichtdavor zurück, die Existenz von Menschenzu bedrohen, die es gewagt haben, gehei-me Gesetze und die absolute Straflosig-keit für die Ausführenden solcher Geset-ze anzuprangern.

Etwa die Existenz von Leuten wie demehemaligen CIA-Mann John Kiriakou,der es gewagt hat, das sogenannte Wa-terboarding aufzudecken, die Foltertech-nik des Dienstes – und der heute der Ein-

zige ist, der wegen dieser Folterpraktikenim Gefängnis sitzt. Er wurde inhaftiert,weil er die Wahrheit enthüllt hat, wäh-rend es scheint, dass nicht ein einzigerAgent für seine Beteiligung an diesenFolter programmen verurteilt wurde.

Es gibt einen Zusammenhang zwischensolchen Praktiken und den Überwa-chungsprogrammen, der nur wegen derabsoluten Geheimhaltung dieser Vorgän-ge verborgen bleibt. Die illegalen, verfas-sungswidrigen und unmoralischen Hand-lungsweisen jener beinahe weltweit ope-rierenden Dienste geschehen ja nicht imluftleeren Raum. Genauso wenig, wie sieauf der Basis demokratischer Prinzipiengeschehen.

Diejenigen, die keine direkten Verbin-dungen zur NSA haben, wie beispielswei-

se ich, wie der WikiLeaks-Gründer JulianAssange und andere aus der Cypherpunk-Bewegung wurden mit der Begründungverleumdet, uns fehle schlicht der Bezugzur Realität. Die angeprangerten Verstö-ße gehörten, so hieß es, vielleicht in Nord-korea zur Realität, in Burma oder im au-toritären, kommunistischen China – aberdoch nicht im freien Westen. Selbst wenndieser freie Westen genau jenen autoritä-ren Regimen die technologische Ausrüs-

tung lieferte, die damit dann ihre kontrol-lierten Gesellschaften schufen, ausbautenund absicherten.

Während der Westen also in der Öf-fentlichkeit die totale Kontrolle über eineGesellschaft verurteilt, haben wir es ge-schafft, ein umfassendes Überwachungs-system zu etablieren und zugleich vonder Warte der moralischen Überlegenheitaus zu argumentieren. Diese moralischeÜberlegenheit mag hart erkämpft wordensein, doch nun wird sie zum Gegenstandöffentlichen Spotts, weil die EnthüllungenEdward Snowdens das Ausmaß der Über-wachung eines jeden gewöhnlichen Bür-gers offenlegen.

Die Massenüberwachung von Mailsruft Bilder von dampfenden Kesseln undvon Geheimpolizisten hervor, die übersolchen Kesseln unermüdlich Briefe öff-nen. Zu Recht oder zu Unrecht hat eingroßer Teil der Weltbevölkerung gedacht,solche Zeiten lägen hinter uns. Schließ -lich haben wir nicht für einen scheinbarallumfassenden Überwachungsstaat ge-stimmt und würden auch nicht dafür stimmen. Und ganz sicher nicht für einen,der im Geheimen operiert, in dem auch US-Bürger kaum eine Möglichkeit haben,irgendjemanden zur Verantwortung zuziehen.

Wenn wir über das sogenannte „legaleAbhören“ nachdenken, nehmen wir ver-nünftiger- oder unvernünftigerweise an,dass nur unsere Gerichte befugt wären,

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„Verschlüsselungs-Software kann uns helfen,

eine Schleppnetzsuche zu verhindern.“

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Bildschirm mit Snowden im Moskauer Flughafen: „Heute zieht beinahe jeder eine Datenspur hinter sich her, die manipuliert werden kann“

Lichtwellenleiter

Ummantelungaus Polyethylen

verdrillteStahlseile

Wasserbarriereaus Aluminium

Paraffin

Freund hört mit Methoden zum Abhören von Glasfasernetzen

SpleißenDie Glasfasern werden mit der Spleißmaschine getrennt und mit Verbindungssteckern versehen. Dann kann ein Lesegerät zwischengeschaltet werden.

– Die Verbindung muss unterbrochen werden,

was Verdacht erregen kann.

Das vom britischen Geheimdienst abgehörte Kabel zwischen Europa und den USA ist 5 cm dünn, 15000 Kilometer lang und enthält nur 8 Glasfasern.

BiegekopplungDas Licht folgt größtenteils der Kurve des Glasfaserkerns.Ein kleiner Teil strahlt aber über die Ummantelung hinausund kann aufgefangen und ausgewertet werden.

+ Biegekoppler gibt es ganz legal für ein

paar hundert Euro im Fachhandel für

Fernmeldetechniker.

+ Das Signal ändert sich

kaum wahrnehmbar.

ohne KontaktAus jedem Kabel strahlen minimale Lichtmengen,

die sogenannte Rayleigh-Streuung. HochempfindlicheFotodetektoren fangen diese auf und verstärken sie.

+ Der Datenklau ist überhaupt nicht nachweisbar.

Biegekoppler für einfache Glasfaserkabel

eine solche Verletzung der Privatsphärezu genehmigen und damit ein grund -legendes, verfassungsgeschütztes Men-schenrecht einzuschränken. Eine Abhör-erlaubnis verlangt ein rechtsstaatlichesVerfahren, schließlich sollte jede Formvon Kommunikationsüberwachung nichtohne guten Grund und nur unter recht -lichen Auflagen geschehen. Und wenn eseine solche Überwachung gibt, sollte sieangemessen und ausgewogen sein. Hinterdieser Vorstellung steckt der Glaube, dassdas Recht Überwachungsmaßnahmen ein-schränkt und abwägt. Doch das ist einTrugschluss, der am besten als ein Vor-täuschen von Rechtsstaatlichkeit bezeich-net werden kann.

Die Vorstellung, es sei in der Tat dasRecht, das darüber entscheidet, was pas-siert und wie es passiert, trifft nicht zu;in Wirklichkeit ist es die Technologie,sind es die Hardware und die Codes. DieDienste wägen auch nicht amerikanischeoder europäische Verfassungsgrundsätzeab, bevor sie mit ihrer taktischen oderstrategischen Überwachung beginnen,

mit der gezielten Überwachung oder derInformationsgewinnung per Schleppnetz.

Die Erkenntnis, dass für einen Großteilder Welt der gesamte Überwachungskom-plex und seine Ergebnisse in der Tat eineneue Realität darstellen, ist Snowden zuverdanken. Und die Zyniker haben ebennicht recht, wenn sie behaupten, dass da-gegen nichts getan werden könne. DerSchleppnetzüberwachung kann man aufdrei Arten begegnen.

Als Erstes müssen wir uns klarmachen,dass der gegenwärtige Zustand nicht dienatürliche Ordnung der Dinge ist. Wir soll-ten uns fragen, wie wir dazu stehen. Undwir sollten nicht nur im Blick behalten,was nun bestätigt ist, sondern auch das,was in Sachen Überwachung technolo-gisch in naher Zukunft möglich sein wird.

Zweitens müssen wir verstehen, dasses nicht von Menschen gemachte Gesetzesind, welche die Technologie und die Ka-pazitäten eines technologischen Systemseinschränken können, allenfalls Natur -gesetze können das. Und es sind mathe-matische Formeln, die festlegen, was man

mit einem nahezu allumfassenden Zu-gang zu Informationen anfangen kann.Zugang zu Informationen, die übertragenoder gespeichert wurden ohne denSchutz, den kryptografische Verfahrenbieten, ist einfach ein zu einladendes Ziel,als dass irgendjemand widerstehen könn-te. Und deshalb widerstehen die Geheim-dienste auch nicht, sondern arbeiten ineinem beispiellosen Umfang zusammen.Sie handeln mit Daten, die zu sammelnfür die beteiligten Behörden in ihren ei-genen Ländern illegal wäre, die sie aberals Handelsobjekte den jeweils anderenanbieten können.

Kryptografie, die Wissenschaft von Ver-schlüsselung und Informationssicherheit,ist das Feld, auf dem Computersystemeund mathematische Formeln zusammen-treffen, wobei Vertraulichkeit, Authentizi-tät und Integrität einer Information her-gestellt werden kann – um die Privatsphä-re zu sichern. Verschlüsselungs-Softwarekann uns helfen, eine effektive Schlepp-netzsuche zu verhindern. Sie erlaubt esaußerdem, gewisse Formen von Manipu-lation bei einer zielgerichteten Überwa-chung zu erkennen. Normalerweise sollteman denken, dass solche Schutzmechanis-men längst Teil der Informationsübertra-gung sind. In Wahrheit sind derartigeÜbertragungssysteme wegen allzu großerInteressenkonflikte in voller Absicht mitSchwachstellen behaftet.

Die dritte Tatsache ist nur schwer ein-zugestehen. Wenn es um das „legale Ab-hören“ geht, sind wir grundsätzlich alleverwundbar. Wenn das FBI mein Telefonabhört oder das von Journalisten derNachrichtenagentur AP – wie es das Wa-shingtoner Justizministerium vor kurzemveranlasst hat –, dann ist letztlich jederBürger verwundbar. Und diese Verwund-barkeit reicht weit über die GrenzenAmerikas hinaus. Diejenigen, die sich anden Protesten in Iran beteiligt haben, wur-den überwacht mit Hilfe eines Systems,das ursprünglich für eine legale Über -wachung entwickelt worden ist. Es wurdespäter unter völlig anderen Umständeneingesetzt – unter Umständen, in denenes nicht mal einen Hauch von Respektvor Menschenrechten gab.

Das ist ein Effekt, der breite soziale,wirtschaftliche und sogar emotionale Fol-

gen hat und den wir gerade erst an-fangen zu diskutieren. Wir haben die-se Effekte noch nicht einmal richtigbegreifen können, weil ihre wahrenUrsachen verdunkelt werden durcheine unverständliche Sprache, durchstumpfsinnige technologische De-tailversessenheit und natürlichdurch die obsessive Geheimniskrä-merei der Dienste.Deshalb ist dieser Mechanismus so

schwer zu verstehen: Jedes Mal, wennetwa die deutsche Regierung hier Kom-

promisse eingeht, ist die amerikanische

Titel

26

NSA in der Lage, den demokratischenProzess in Deutschland zu unterlaufen.Das haben Snowdens Enthüllungen zum„Boundless Informant“-System gezeigt:Denn in den USA liegen in riesiger Zahldeutsche Verbindungsdaten vor, derenSpeicherung hierzulande nicht verfas-sungsgemäß ist.

Erschwerend wirkt sich dabei aus, dassder deutsche Bundesnachrichtendienstund andere europäische Nachrichten-dienste mit der NSA kooperieren. Dieje-nigen also, deren Aufgabe es eigentlichist, Deutschland, die Niederlande, Frank-

reich oder Spanien zu schützen, tauschenÜberwachungsinformationen mit denenaus, die außerhalb europäischer Rechts-grundlagen die Bevölkerung dieser Län-der ausspähen.

Wir haben erfahren müssen, dass wirin einem Goldenen Zeitalter der Über-wachung leben. Snowden hat Informatio-nen bekanntgemacht, die weit über vor-herige Enthüllungen hinausgehen: DerBauplan des Überwachungssystems, diePartner in diesem System und die Plänefür die Zukunft werden nun öffentlich er-kennbar.

Bei diesen Überwachungssystemengeht es nicht einfach nur um Informa -

tionen, die von allen möglichen Ge -heimdiensten abgefangen werden. Dasmacht das Schicksal von Joseph Nacchiodeutlich.

Als Chef der US-Telekommunikations-firma Qwest Communications Internatio-nal lehnte er eine Forderung der NSA ab,Kundendaten herauszugeben, das war bereits sieben Monate vor den dunklen Ereignissen vom September 2001 in NewYork. Ein Gericht verurteilte ihn wegenInsider-Handels. Seine Unterstützer sindüberzeugt, dass dies geschah, weil ernicht mit dem Dienst kooperierte.

Nacchio saß bis zum Frühjahr im Gefäng-nis und ist nun immer noch im offenenVollzug.

Heute zieht beinahe jeder eine Daten-spur hinter sich her, die manipuliert undverdreht werden kann. Firmenvorständewissen um diese Machtdynamik, und nurwenige wagen es aufzumucken – falls esüberhaupt einige wagen und falls es über-haupt welche gibt, die das Spiel durch-schauen.

Wenn wir die Dementis lesen, welchedie Firmenchefs von Google, Microsoftund Co. nach der Enthüllung des Über-wachungsprogramms Prism abgaben,müssen wir immer an beides denken: an

das Schicksal von Joseph Nacchio und daran, dass die Manager wenig wussten,dass sie möglicherweise keine Berechti-gung für den Zugang zu diesem Staats-geheimnis hatten – oder es ihnen ver -boten ist, darüber zu reden. Schließlichhaben sogar amerikanische Kongress -mitglieder eingestanden, dass auch sieim Dunkeln gelassen wurden, obwohl sieZugang zur höchsten Geheimhaltungs-stufe hatten.

In den vergangenen Jahren haben wirmehr und mehr Daten über diese Über-wachungsprogramme gesehen. Das ver-danken wir Whistleblowern wie dem Sol-daten Bradley Manning, dem eine lebens-lange Haftstrafe droht, weil er uns dieDetails schwerer Staatsverbrechen ver-raten hat – inklusive solcher über die Tö-tung von Reuters-Mitarbeitern im Irak.Dank Snowden haben wir jetzt ein brei-teres Verständnis von der Architekturdes sogenannten Sicherheitssystems –und damit eine bessere Grundlage, umdie längst überfällige Diskussion über un-sere alltägliche Überwachung und derenFolgen zu führen.

Snowden hat schon jetzt viel bewegt.Es ist Zeit für Staaten in aller Welt, ihmpolitisches Asyl zu gewähren. Und eswäre Zeit für einen neuen Church-Aus-schuss, einen internationalen.

„Die Wahrheit wird herauskommen“,sagt Snowden, „man kann sie nicht stoppen.“ �

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Snowden-Unterstützer in Berlin: „Es ist Zeit, ihm politisches Asyl zu gewähren“

„Wir leben in einem Goldenen Zeitalter

der Überwachung.“

CSU-Chef Horst Seehofer hat einuntrügliches Gespür dafür, was dasVolk will. Umfragen sind für ihn

Gesetz, auch traditionelle Überzeugun-gen seiner Partei sind nicht mehr vielwert, wenn sich die Stimmung dreht. DieStudiengebühren und der Donauausbauwurden nach diesem Prinzip vor kurzemerst beerdigt.

Jetzt macht sich Seehofer an die nächsteKursbegradigung. Es ist ein Schwenk, deran der DNA der CSU rührt: Der Parteichefstellt die harte Haltung seiner Partei beider Vorratsdatenspeicherung auf den Prüf-stand. „Vor dem Hintergrund der letztenWochen ist auf strikten Datenschutz nochgrößerer Wert zu legen“, sagt er.

Der Parteichef hat erkannt, wie sehrsich die innenpolitische Debatte durch dasmassive Ausspähen deutscher Daten durchamerikanische Geheimdienste veränderthat. Der Datenskandal um die NSA istSeehofers Fukushima. Und wie nach derAtomkatastrophe von Japan gilt nun auchfür die Datensammelei: so weit wie mög-lich aussteigen, und zwar am besten sofort.

Mit einer CSU, in der die innere Sicher-heit alles und der Datenschutz fast nichtsgilt, will Seehofer nicht in den Wahl-kampf gehen. Er kämpft bei der Land-tagswahl am 15. September um die abso-lute Mehrheit in Bayern. Für Kleingeister,die an Parteitagsbeschlüsse erinnern, hater da kein Verständnis.

Das sperrige Wort Vorratsdatenspeiche-rung steht für das massenhafte Horten derVerbindungsdaten von E-Mails, Telefon-gesprächen und Internetnutzung für die Strafverfolgung. Telekommunikations -firmen speichern sie für ihre Rechnungen,Strafverfolger würden sie gern aussieben,um Terroristen und Kriminelle zu lokali-sieren. Datenschützer warnen, dann wäredie Privatsphäre im Netz dahin.

Seit Jahren kämpft die Union für dasVorhaben, zumal Deutschland eine ent-sprechende EU-Richtlinie umsetzen müss-te und wegen der Verspätung schon vordem Europäischen Gerichtshof in Luxem-burg verklagt wurde. Bislang waren dieFronten klar: Innenminister Hans-PeterFriedrich inszenierte sich als Law-and-Or-der-Mann. Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger, FDP, konnte als obersteDatenschützerin Punkte sammeln.

Jetzt steht fest: CSU-Mann Friedrichkämpft ohne seinen Parteichef. Viele Si -gnale verraten, wie sehr die Ausspähskan-dale die alte Position der Unionsparteiendurcheinanderwirbeln. So taucht derKampfbegriff „Vorratsdatenspeicherung“,anders als noch im Koalitionsvertrag 2009,im gemeinsamen Wahlprogramm nichtmehr auf. Stattdessen ist jetzt von einer„Mindestspeicherfrist“ die Rede, dasklingt freundlicher, meint aber dasselbe.

Doch Seehofer geht es nicht um Worte,er fühlt die Stimmung. Zarte Andeutun-gen, dass ihm die Linie seiner Partei inDatenschutzfragen nicht gefällt, gab esimmer wieder. So plädierte er vor gutzwei Jahren bei einem Netzkongress füreine offene Debatte „ohne Scheuklap-pen“. Er weiß, wie mies der Ruf seinerPartei im Netz ist.

Heute wird er in kleinem Kreis nochviel deutlicher. Bei den nächsten Koali -tionsverhandlungen will der CSU-Chefdafür sorgen, dem Datenschutz mehr Ge-wicht zu geben, heißt es. CSU-Strategenüberlegen sogar schon konkrete Planspie-le für einen Kompromiss zum Datenstreit.

So könnte Deutschland darauf dringen,die europäischen Vorgaben zu ändern.

Offenbar ist die CSU-Spitze sogar bereit,die Vorschläge der alten IntimfeindinLeutheusser-Schnarrenberger zu prüfen.

Erste öffentliche Signale sandte See -hofer am Sonntag vor zwei Wochen. DieFDP feierte 150 Jahre Liberalismus inBayern, und Seehofer lobte Leutheusser-Schnarrenberger in höchsten Tönen – vorallem wegen ihres anhaltenden Wider-stands beim Thema Datenspeicherung.„Das ist eine liberale Grundhaltung, diemir Respekt abnötigt“, flötete er.

CSU-Innenpolitiker, die Leutheusser-Schnarrenberger jahrelang bekämpft ha-ben, schäumen. „Die CSU hat einen ein-deutigen Parteitagsbeschluss für die Vor-ratsdatenspeicherung, und dafür trete ichein“, sagt Hans-Peter Uhl. Warum sonsthabe man auf dem Parteitag diese „über-wältigende Mehrheit“ für das Datensam-meln gewonnen, gegen die Stimmen „nurvon einem Dutzend Hanseln“?

Stefan Müller, parlamentarischer Ge-schäftsführer der CSU-Landesgruppe imBundestag, gibt sich dagegen kompro-missbereit. Zwar ist er davon überzeugt,dass eine Mindestspeicherfrist notwendigsei: „Wie lange diese Frist sein muss, dar -über kann man aber reden.“

Unterstützung für Seehofer kommt vonden Netzpolitikern wie der stellvertre-tenden Generalsekretärin Dorothee Bär.„Die Abhörskandale zeigen, dass auchder Staat mit den Daten seiner Bürgersensibel umgehen muss.“ Ein „vernünf-tiger Ausgleich zwischen innerer Sicher-heit und Datenschutz“ sei nötig, so Bär,„erst recht vor dem Hintergrund der neu-en Erkenntnisse“.

Auch in der CDU kommt Bewegungin die Debatte. Zwar dementiert Gene-ralsekretär Hermann Gröhe heftig, dasses einen Kurswechsel gebe. Doch das findet offenbar nicht einmal die eigeneParteispitze überzeugend. „Ich kann mirgut vorstellen, dass wir unsere bisherigenAntworten auf Fragen des Datenschutzesund der inneren Sicherheit neu justierenmüssen“, sagt die stellvertretende CDU-Vorsitzende Julia Klöckner. Eine Kom-mission aus Sicherheitsexperten und Datenschützern könnte neue Vorschläge erarbeiten. „Das gilt auch für die Vor-ratsdatenspeicherung.“

Der Koalitionspartner frohlockt. Es sei„außerordentlich erfreulich, dass es auchin der Union immer mehr vernünftigeStimmen gibt“, sagt der FDP-Innen -experte Hartfrid Wolff. Er hält Friedrichund Seehofer gleich das nächste Stöck-chen hin. Die beiden müssten nun auch„Farbe bekennen und sich dafür einset-zen, dass die EU-Richtlinie zur Vorrats-datenspeicherung abgeschafft oder zu-mindest überarbeitet wird“.

Ob Seehofer das will, weiß derzeit nichtmal er selbst. Doch die Operation Kurs-schwenk hat begonnen. MELANIE AMANN,

PETER MÜLLER, JÖRG SCHINDLER

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PA R T E I E N

SeehofersFukushima

Der Datenskandal der USA treibtden CSU-Parteichef zu un -

orthodoxen Schritten. Gegen seinePartei und die CDU stellt er die

Vorrats datenspeicherung in Frage. U

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Konservative Friedrich, Seehofer: Kampf ohne den Chef

SPIEGEL: Frau Wagenknecht, Sie haben vorkurzem gewarnt: „Wer die Gründer derAlternative für Deutschland (AfD) als Populisten abstempelt, macht es sich zuleicht. In vielen Punkten haben sie mitihrer Kritik an der Euro-Rettung recht.“Hat sich Herr Lucke schon für die Wahl-kampfhilfe bedankt?Wagenknecht: Wahlkampfhilfe? Das ist jawohl ein Scherz. Nein, er hat sich nichtbedankt.Lucke: Das hole ich gern nach. VielenDank, das ist sehr nett von Ihnen. Nichtalle haben so fair über uns geredet.SPIEGEL: Nehmen Sie das Dankeschön an?Wagenknecht: Herr Lucke weiß, dass wirviele Positionen der AfD für falsch halten.Aber ihre Kritik an der Euro-Politik derRegierung entspricht dem, was die Linkeseit Jahren vertritt. Nur weil Herr Luckeaus einer anderen politischen Richtungkommt, stelle ich mich doch nicht hin undsage: „Alles falsch.“ Im Gegenteil: Esspricht für die Linke, dass unsere Kritikinzwischen von vielen übernommen wird. Lucke: Sie überschätzen sich. Meine Euro-Kritik stützt sich allein auf ökonomischeErkenntnisse. Was die Linke dazu sagt,habe ich nie verfolgt. Wagenknecht: Dann sind wir unabhängigvoneinander zum gleichen Ergebnis ge-kommen: Frau Merkels Politik rettet denEuro nicht, sie zerstört ihn. SPIEGEL: Warum? Wagenknecht: Wir helfen den Krisenlän-dern doch gar nicht. Milliarden Euro ha-ben wir dafür verschleudert, marode Ban-ken zu sanieren, statt ihre Eigentümerund Gläubiger die Verluste tragen zu las-sen. Und gleichzeitig diktieren wir denStaaten brutale Kürzungsprogramme, diesie in eine schwere Wirtschaftskrise stür-zen, die zu noch höheren Schulden führt.Lucke: Richtig. Und jetzt brauchen dieseLänder einen Schuldenschnitt. Dann ge-hen Deutschland Dutzende MilliardenEuro verloren. Aber es gibt auch einenwichtigen Unterschied zwischen den Lin-ken und uns. SPIEGEL: Und der lautet?Lucke: Die Linke will den Euro erhalten,obwohl das Lohnsenkungen in Südeuro-pa um rund 30 Prozent erforderlichmacht. Das ist aber politisch überhaupt

Deutschland

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S P I E G E L - S T R E I T G E S P R Ä C H

„Ach, Herr Lucke!“Der Chef der konservativen AfD Bernd Lucke, 50, und Linkspartei-Vizin

Sahra Wagenknecht, 43, erklären die Euro-Rettung für gescheitert. Wenn es aber um die Lösung der Krise geht, prallen ihre Vorstellungen aufeinander.

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Kontrahenten Wagenknecht, Lucke: „Vielen Dank, das ist sehr nett von Ihnen“

nicht durchsetzbar. Deshalb wollen wireigene Währungen für die Krisenstaaten,mit einer Abwertung können sie dannwettbewerbsfähiger werden. Wagenknecht: Nicht allein die südeuropäi-schen Staaten sind an den jetzigen Pro-blemen schuld, sondern auch Deutsch-land. In der Lohnpolitik gibt es die gol-dene Regel, dass die Gehälter so raschsteigen sollten wie die Produktivität derArbeitnehmer.SPIEGEL: Was in Südeuropa nicht der Fallwar.Wagenknecht: Am meisten ist Deutschlandvon dieser Regel abgewichen. Nach un-ten. Inflationsbereinigt sind die Löhnebei uns seit dem Jahr 2000 deutlich ge-sunken. So ist es keine Kunst, Europa mitExporten zu überschwemmen. Daranwird der Euro früher oder später zerbre-chen. Um das zu verhindern, muss dasdeutsche Lohndumping gestoppt werden.Lucke: Falsch. In Deutschland entsprechendie Löhne ungefähr der Produktivität derArbeitnehmer. In Griechenland nicht.Wenn die Linke hier die Gehälter in dieHöhe treiben will, verlieren auch wir unsere Wettbewerbsfähigkeit. Das scha-det uns, hilft aber nicht den Griechen. Esnützt Briten, Schweizern und Chinesen. Wagenknecht: Inzwischen kann selbstFrankreich mit den deutschen Dumping -löhnen nicht mehr konkurrieren. Ich woh-ne im Saarland und erlebe dort hautnah,wie viele französische Bauern aufgeben,weil es dort einen Mindestlohn von überneun Euro gibt, auf deutschen Feldernaber nur fünf bis sechs Euro gezahlt wer-den. Jetzt exportieren wir auch noch Erd-beeren und Spargel.SPIEGEL: Wie wollen Sie gegensteuern?Wagenknecht: Wir müssen unser Wirt-schaftsmodell so umstellen, dass wir nichtmit möglichst geringen Löhnen auftrump-fen, sondern wieder mit überlegenerQualität. Wir haben ja auch schon vorder Agenda 2010 exportiert. Damals wa-ren wir statt mit Billigausfuhren mitHochtechnologie-Produkten erfolgreich. Lucke: Wenn ein Land mit überlegenerQualität auftrumpft, dann doch Deutsch-land. Und dafür werden hier hohe Gehäl-ter gezahlt. Von einem Billiglohnlandkann wirklich keine Rede sein. UnsereLöhne zählen zu den höchsten Europas. Wagenknecht: Das ist doch Quatsch. In derdeutschen Industrie wird weniger bezahltals in der französischen. Lucke: Das bestreite ich. Aber die Höheder Löhne ist nicht entscheidend. Wichtigist, ob sie der Produktivität entsprechen.Da hat Frankreich ein Problem, währendunsere Arbeitnehmer gut verdienen, weilsie leistungsfähig sind. Wagenknecht: Wer in Werkverträge oderLeiharbeit gedrängt wurde, verdient mi-serabel. Große Exportkonzerne beschäf-tigen Leute für acht Euro pro Stunde undlassen sich einen Teil der Lohnkosten

vom Staat bezahlen. Wegen der schlech-ten Einkommen konsumieren die Men-schen auch weniger. Und darum impor-tieren wir so wenig. Als Ökonom müsstenSie wissen, dass eine Politik der ständigenExportüberschüsse Wohlstand reduziert.Lucke: Falsch. Schauen Sie sich den Wohl-stand in Deutschland doch an. Es sprichtnichts gegen hohe Exporte …Wagenknecht: … wenn man entsprechendviel importiert. Wir Deutschen dagegensetzen das Geld, das wir mit unseren Ex-portüberschüssen verdienen, in den Sand– indem wir es in US-Hypothekenpapiereoder griechische Staatsanleihen investie-ren. Das ist doch Irrsinn.

Lucke: Wir exportieren viel, wir importie-ren viel, und wir legen viel Geld im Aus-land an – meistens rentabel. Davon pro-fitieren alle. Unserer Binnenkonjunkturgeht es gut.Wagenknecht: Vielleicht nach dem Ifo-In-dex, aber nicht nach normalen Daten.Lucke: Doch, der Konsum ist eine wichtigeStütze der Konjunktur.Wagenknecht: Die Binnenkonjunktur sorgtfür weniger als ein Prozent Wachstum.Das ist ja eine großartige Stütze. Eine sol-che Situation gab es früher nicht: Die Reallöhne sind massiv gesunken, mehrals jeder fünfte Beschäftigte arbeitet imNiedriglohnsektor, der Konsum stagniert,es wird kaum investiert.

Lucke: Diese Verelendungstheorie des Pro-letariats hat noch nie gestimmt. In Wahr-heit gibt es keinen Staat, in dem es denMenschen so gutgeht wie in Deutschland. SPIEGEL: Frau Wagenknecht, wer Ihnenzuhört, kann den Eindruck gewinnen,dass nicht Südeuropa das Problem derWährungsunion ist, sondern die Bundes-republik. Warum fordern Sie dann nichtoffen: „Deutschland raus aus dem Euro“?Wagenknecht: Weil es so simpel nicht istund die Probleme nicht löst. Wir sind fürden Schlamassel auch nicht allein verant-wortlich. Nehmen Sie Griechenland, dagibt es eine korrupte Oberschicht, die indie eigene Tasche gewirtschaftet hat unddas noch immer tut. Da liegen die Ver-mögen, die für die Sanierung des Landesherangezogen werden sollten.Lucke: Ich bin dafür, dass zunächst dieSüdeuropäer ausscheiden. Man muss dieEuro-Zone geordnet auflösen, sonst ver-lieren wir hohe Forderungen im Ausland.SPIEGEL: Das Geld ist doch auch dann weg,wenn die Südeuropäer ausscheiden undihre neuen Währungen massiv abwerten.Lucke: Nein, unsere Forderungen lautendann weiter auf Euro. Wagenknecht: Aber nur in der Theorie.Die Länder können ihre Schulden dochnicht mehr begleichen. Lucke: Doch. Wenn die Krisenstaatennach der Abwertung wachsen, könnensie ihre Schulden besser bedienen.SPIEGEL: Herr Lucke, wenn Ihr Weg über-zeugend wäre, müssten die Regierungender Krisenländer ihn doch längst gehen.Warum folgen sie Ihrem Ratschlag nicht? Lucke: Noch bleiben sie im Euro, weil mandie Hand nicht beißt, die einen füttert.Frau Wagenknecht hat ja recht, dass eseine komische Fütterung ist, weil sie nicht

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Protestierende in Athen: „Daran wird der Euro früher oder später zerbrechen“

„Die Linke versucht, mit einbisschen Populismus

von der Anti-Euro-Stimmungzu profitieren.“

den Menschen hilft, sondern den Banken.Aber wenn die Länder auf sich selbst ge-stellt wären, weil sie keine Hilfen mehrbekämen, würden sie aussteigen. Wagenknecht: Viele Menschen in Süd -europa haben natürlich Angst um ihre Er-sparnisse. Außerdem kommt der Auf-schwung, den Herr Lucke hier prognosti-ziert, nicht automatisch. Griechenlandhat derzeit kaum Produkte, die es expor-tieren könnte. Dafür würden sich die Im-porte extrem verteuern, etwa von Nah-rungsmitteln. Also gäbe es Inflation.Trotzdem kann man zu dem Schluss kom-men, dass ein Austritt besser wäre, alssich auf Dauer der Diktatur der Troikazu unterwerfen. Lucke: Die Türkei hat doch nicht viel bes-sere Produkte als Griechenland, boomtdank ihrer eigenen Währung aber.SPIEGEL: Wir haben eine andere Erklä-rung, warum die Währungsunion nochhält: Die Lage des Euro ist nicht ganz sodramatisch wie von Ihnen dargestellt. DieLöhne in Südeuropa sinken längst – unddie Abwertung zeigt erste Erfolge. InGriechenland boomt der Tourismus, Por-tugal und Irland exportieren mehr, inSpanien sinkt die Arbeitslosigkeit. War -um sollte der Euro auf diesem Weg nichtdoch gerettet werden können? Lucke: Sie interpretieren die Daten falsch.SPIEGEL: Oder Sie?Lucke: Nein. In einer Rezession wird we-niger importiert. Natürlich verbessert sichdann die Handelsbilanz. Dadurch ist abernichts besser geworden. Auch bei derProduktivität ist der Zuwachs vor allemkosmetisch. In einer Wirtschaftskrise wer-den die unproduktivsten Arbeitnehmerentlassen. Also steigt die durchschnitt -liche Produktivität der verbleibenden automatisch an. Aber dieser Effekt wirddurch Millionen Arbeitslose erkauft.Wagenknecht: Selbst in Irland, das immerals Musterstaat hingestellt wird, ist nichtsauf gutem Wege. Der Staat ist wegen derBankenrettung bankrott, es wird nicht investiert, der Wohlstand hat sich drama-tisch verringert. SPIEGEL: So düster Sie die Lage auch zeich-nen, Ihre Forderungen werden doch der-zeit erfüllt: Sie, Frau Wagenknecht, ver-langen höhere Löhne in Deutschland, Sie,Herr Lucke, wollen eine interne Abwer-tung, also sinkende Löhne und Preise inden Krisenländern. Beides passiert.Lucke: Ich will gerade nicht, dass die An-passung allein über eine interne Abwer-tung erfolgt. Das notwendige Ausmaßwäre für die Betroffenen unzumutbar.Deshalb wäre es besser, wenn die Süd-länder ausscheiden dürften.SPIEGEL: Und was passiert mit der verblei-benden Euro-Zone?Lucke: Jeder Staat soll austreten können,dann spricht nichts gegen eine Rest-Wäh-

* Sven Böll und Christian Reiermann in Berlin.

rungsunion. Es darf aber keine gemein-same Haftung geben – weder über Ret-tungsschirme noch Euro-Bonds. Sonstsollten wir lieber alle zu nationalen Wäh-rungen zurückkehren. SPIEGEL: Transferzahlungen und die Über-nahme von Schulden drohen doch sooder so. Kaum jemand glaubt, dass Grie-chen, Portugiesen, im Zweifel selbst dieIren ihre Verpflichtungen langfristig be-dienen können.Lucke: Bestimmte Transfers können wirnicht mehr verhindern, das stimmt. Nachder Bundestagswahl werden die Steuer-zahler in Mitteleuropa ein böses Erwachenhaben. Aber bislang drohen überschau -bare Verluste, weil die Krisenländer alleklein sind. Nur stehen die großen Staatenlängst vor der Tür, sei es Italien oder Frank-reich. Spanien hat sogar schon angeklopft.Das weist alles in die falsche Richtung.SPIEGEL: Frau Wagenknecht, als Linke ha-ben Sie doch gegen Transfers von Reichzu Arm bestimmt nichts einzuwenden,oder? Wagenknecht: Wir haben aber das Gegen-teil: Transfers von Arm zu Reich. DasGeld der Steuerzahler fließt zu Bankenund Multimillionären. Von den über 200Milliarden Euro, die Griechenland in denvergangenen drei Jahren an Hilfen be-kommen hat, sind weit über hundert Mil-liarden Euro für Zins- und Tilgungszah-lungen an die Gläubiger des Landes ge-flossen, dazu kommen 50 Milliarden Eurofür die Rekapitalisierung der Banken. Da-mit haben wir die griechische Oligarchiedurchgefüttert, während die Bevölkerungverarmt. Das ist alles das Ergebnis derabsurden Euro-Politik von Merkel.Lucke: Und von Gabriel, Trittin und Brü-derle.Wagenknecht: Richtig. Von allen Parteienaußer der Linken.Lucke: Und der AfD. SPIEGEL: Sie wähnen sich beide auf derrichtigen Spur, aus Ihrer Perspektive sindalle anderen Geisterfahrer. Die Zustim-mung für Ihre Euro-Politik ist aber gering,Ihre Parteien liegen in den Umfragen zur

Bundestagswahl zusammen bei geradeeinmal zehn Prozent. Könnte es sein, dassSie die Geisterfahrer sind?Lucke: Wir liegen in Umfragen bei dreiProzent, so schlecht ist das nicht. Schließ-lich kennen uns viele Menschen nochnicht. Das wird sich im Wahlkampf än-dern. Aber es gibt auch ein kommunika-tives Problem. Die Euro-Krise ist sehrkompliziert. Ein beträchtlicher Teil derBevölkerung folgt trotz großer Verunsi-cherung noch der Bundesregierung. Dasswir viele Menschen noch nicht mit unse-ren Argumenten erreichen, heißt nicht,dass sie falsch sind.SPIEGEL: Sehen Sie das auch so, Frau Wa-genknecht? Wagenknecht: Natürlich wird die Linke beider Bundestagswahl keine absolute Mehr-heit holen. Aber mit uns gibt es wenigs-tens eine Partei im Bundestag, die demverrückten Euro-Kurs der Regierung wi-derspricht und nicht wie Union, SPD,Grüne und FDP einfach alles abnickt.Lucke: Nur haben Sie keine eindeutige Position. Lafontaine und Sie wollen zunationalen Währungen zurück, aber derRest der Linken ist für den Euro. IhrePartei wird eben nicht primär als eineAnti-Euro-Bewegung wahrgenommen,sondern als SED-Nachfolgerin.Wagenknecht: Ach, Herr Lucke! Für soplump habe ich Sie nicht gehalten.Lucke: Der Lackmustest in der Euro-Frageist die AfD: Je erfolgreicher wir sind, destoschneller steuern die anderen Parteien um.SPIEGEL: Wenn jemand gegen den Euroist, könnte er aber auf die Idee kommen,er sei bei der Linken besser aufgehoben.Schließlich hat sie schon 1998 im Bundes-tag gegen die Euro-Einführung gestimmt. Lucke: Aber jetzt will die Linke den Euroerhalten. Lesen Sie das Wahlprogramm.Wagenknecht: Wir sind im Gegensatz zurAfD keine schlichte Anti-Euro-Partei.Wer soziale Gerechtigkeit will, kann nurdie Linke wählen. Lucke: Die Linke versucht lediglich, mitein bisschen Populismus von der Anti-Euro-Stimmung in der Bevölkerung zuprofitieren.SPIEGEL: Das heißt: Die Linken sind dievirtuellen Populisten und Sie die richti-gen?Lucke: Unfug. Das heißt, dass die Linkenur vorgibt, gegen die Euro-Rettung zusein. Eigentlich will sie die Arbeitsmarkt-reformen zurücknehmen und die Sozial-ausgaben steigern. Davon erhofft sie sich,dass beim Euro alles bleiben kann, wiees ist. Wagenknecht: Dass sich in anderen Berei-chen alles ändert, ist doch Voraussetzungdafür, dass der Euro so bleiben kann, wieer ist. Ohne Änderungen etwa auf demArbeitsmarkt und in der Lohnpolitik wirddie Währungsunion scheitern. SPIEGEL: Frau Wagenknecht, Herr Lucke,wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

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Wagenknecht, Lucke, SPIEGEL-Redakteure*

„Zum gleichen Ergebnis gekommen“

Deutschland

Johannes Pflug weiß, wie man Wählergewinnt, so viel ist sicher. Mit 29 Jah-ren eroberte er einen Sitz im Stadtrat

von Duisburg, später saß der SPD-Mann18 Jahre lang im Landtag von NRW. 1998schaffte er den Sprung in den Bundestag,dort vertritt er seither als direkt gewählterAbgeordneter seine Heimatstadt.

Pflug ist 67 Jahre alt, in Sachen Wahl-kampf hat er schon alles ausprobiert. Er stapfte durch Schrebergärten, klingel-te an Türen, verteilte Skatkarten mitSPD-Logo. Als der Handballverein Ham-born 07 seinen 100. Geburtstag feierte,hielt er als örtlicher Abgeordneter natür-lich die Festrede. Es ist ein mühsamesGeschäft.

Gewiss, Pflug hat seinen Stimmkreisimmer souverän gewonnen, Duisburg isteine SPD-Hochburg. Aber mit jeder Wahlwird es schwieriger, die Leute an die Urnezu holen. „Viele kriegen gar nicht mehrmit, dass Wahltag ist“, klagt Pflug. „Siehören auf allen Ebenen auf zu wählen.“

Als die Duisburger nach dem Love-Pa-rade-Drama vor zwei Jahren einen neuenOberbürgermeister wählen sollten, rap-pelte sich nur jeder Vierte auf. Bei derletzten Bundestagswahl hatte der Wahl-kreis Duisburg II die niedrigste Beteili-gung in Westdeutschland: 59,9 Prozent.

Gut möglich, dass bei der Bundestags-wahl im September in ganz DeutschlandDuisburger Verhältnisse herrschen. DasMeinungsforschungsinstitut Forsa warnt,die Wahlbeteiligung könne erstmals seitdem Krieg unter 70 Prozent fallen. Da-mals mussten die Deutschen das demo-kratische Wählern erst neu lernen. Jetzttrainieren sie es sich wieder ab.

18 Millionen Nichtwähler gab es beider Bundestagswahl 2009, das ist einAlarmsignal für den Zustand der Demo-kratie im Land. Gleichzeitig sind dieNichtwähler aber auch der Jackpot fürdie Bundestagswahl. Wenn es einePartei schafft, ihn zu knacken, dannwinkt der Wahlsieg. Vor allem dieSPD, gefangen in miesen Umfrage-werten, will die Wahlverweigereraufwecken. Sie hofft, so KanzlerinAngela Merkel doch noch gefähr-lich zu werden.

Die Frage ist aber, ob die ParteienNichtwähler überhaupt erreichen können.Eine Reihe von Studien befasst sich mitdem Nichtwähler, er ist ein gut erforsch-tes Wesen. Die Konrad-Adenauer-Stif-tung hat eine Untersuchung vorgelegt, dieBertelsmann-Stiftung auch, das Mei-nungsforschungsinstitut Forsa gleich zwei.Glaubt man den Demoskopen, sind Nicht-

wähler eher weiblich als männlich, eherostdeutsch als westdeutsch und eher jün-ger als älter. Man findet sie in Plattenbau-ten, nicht in Villenvierteln. Sie verdienenweniger als aktive Wähler, sind schlechterausgebildet und öfter arbeitslos. Sie bli-cken pessimistisch in die Zukunft.

Da ist die Rechnung für die SPD klar:Das sind unsere Leute. „Nichtwählen isteine soziale Frage“, schärft Generalsekre-tärin Andrea Nahles ihrem Team ein. „Wirwissen, dass ein Drittel der Nichtwählerfür die Parteien nicht mehr erreichbarsind“, heißt es in einem Strategiepapier

des Willy-Brandt-Hauses. Um alleanderen, so die Parole von Nahles,kümmert sich die SPD. Die Wahl-kampf-Chefin führt die Sozialdemo-kraten in die größte Mobilisierungs-kampagne ihrer Geschichte.

Wenn es gelingt, die Wahlbeteili-gung im Vergleich zu 2009 deutlich

anzuheben, so das Kalkül im Willy-Brandt-Haus, ist ein rot-grüner Wahlsieg vielleichtdoch möglich. Im Strategiepapier heißt es:„Viele klassische SPD-Wähler sind 2009nicht wählen gegangen, weil sie wütendauf die SPD waren … Das sind keineNichtwähler, die nie wieder zur Wahl ge-hen werden. Das sind Leute, die die SPDmögen und wählen wollen.“

Deutschland

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D E M O K R A T I E

Der WeckrufEntscheiden die Nichtwähler die Bundestagswahl? Die Sozial -

demokraten wollen die Politikmüden an die Urne locken und hoffen, so Kanzlerin Merkel zu entthronen.

WAHL2013

Nichtwähler vornErgebnis der letzten Bundestagswahlin Prozent aller Wahlberechtigten

29,2

16,1

10,28,3 7,5

23,6

CDU/CSU Linke GrüneSPD FDP

an 100 fehlende Prozent: Sonstige

Für Nahles geht es bei der Bundestags-wahl vor allem darum, die Kluft zwischender SPD und abtrünnigen Anhängern zuschließen. Da aber viele Nichtwähler überklassische Medien wie Zeitung oder „Ta-gesschau“ gar nicht mehr erreichbar sind,ruft Nahles zum Haustür-Wahlkampf.

Ihre Truppen sollen ab August an fünfMillionen Türen klopfen, in Dreier-Teams,sechs Wochen lang in jedem Wahlkreis,am besten von 17 bis 19 Uhr. Da ist derNichtwähler statistisch gesehen daheim.

„Ein Programm dieser Größe könntedie Union jetzt gar nicht mehr auf dieBeine stellen“, frohlockt man im Willy-Brandt-Haus. 61 Compañeros wurden ge-schult, sie sollen ein Netz von Freiwilligenüber alle Wahlkreise spannen. Eine Soft-ware kalkuliert den „Mobilisierungsin-dex“ jedes Bezirks. Den Aktivisten gibtdie SPD gar nicht erst Inhalte mit, sogardie Kandidaten-Namen sollen sie nichtsagen. Sie sollen lieber Fragen stellen.

Führt die Strategie ans Ziel? Der Ab-geordnete Pflug hat an Tausende Duis-burger Türen geklopft, dabei hat er eineSache gelernt: „Es bringt nix.“ Es klingezynisch, sagt er. „Aber die Nichtwähler,die ich kenne, lassen sich nur brachialmobilisieren. ,Geht wählen, sonst reißendie eure Häuser ab‘ – das zöge vielleicht.“

Nichtwähler dieser Sorte haben nichts gegen die Demokratie. Sie müssen oftnur viel existentiellere Fragen klären alsdie Wahl zwischen Schwarz oder Rot.Etwa wie lang ihr Job noch hält oder wiesie ihre Schulden tilgen sollen.

Die Meinungsforscher streiten, ob dieParteien an die Nichtwähler herankom-men können. Mal werden sie als „poli-tisch durchaus interessiert“ und mobili-sierbar bezeichnet (Forsa). Die Konrad-Adenauer-Stiftung sagt dagegen, mankönne nur Wähler für eine Partei gewin-nen, nicht aber für die Wahl an sich.

Diese Analyse passt wunderbar zurWahlkampfstrategie der CDU. „Es gibtnicht den einen thematischen Schlüssel,mit dem die Parteien Nichtwähler errei-chen“, sagt CDU-Generalsekretär Her-mann Gröhe. In der CDU spricht es nie-mand offen aus, aber die Konservativensetzen dieses Jahr ganz unverblümt dar -auf, die Wähler einzuschläfern. Das Kal-kül dabei ist einfach: Weil bürgerlicheWähler disziplinierter sind als die des lin-ken Lagers, profitiert vor allem die Unionvon einem konfliktarmen Wahlkampf.Sobald es aber Themen gibt, über dieheiß diskutiert wird, steigen die Werteder SPD.

Deshalb versucht die CDU, nahezu allestrittigen Themen abzuräumen oder glatt-zuschleifen. Ob Frauenquote, Mindest-lohn oder Mietpreisbremse – die Unter-schiede zur SPD sind nur mit der Lupesichtbar. Für die CDU mag die Strategieklug sein, für die Demokratie ist sie fatal.

Denn es sind längst nicht mehr nur dieArmen und Abgehängten, die sich vonder Demokratie abwenden. Auch HeinzUhlig zum Beispiel, Akademiker und Un-ternehmer, wählt inzwischen wieder wiezuletzt bei der DDR-Volkskammerwahlim Jahr 1986: ungültig. Damals wie heutemacht der 57-jährige Sachse einen dickenStrich über den Wahlzettel und sorgt da-für, dass keiner seine Stimme bekommt.

„Ich könnte auch daheimbleiben amWahlsonntag“, sagt Uhlig. „Aber ich willden Parteien zeigen, dass mich keineüberzeugt.“ Der Unternehmer, der sichals „eher links“ bezeichnet, kann keine

Unterschiede mehr zwischen CDU undSPD erkennen. „Mir erschiene es fast unseriös, eine Partei auszuwählen. Wahr-scheinlich sollte ich die Wahlprogrammelesen, um die Nuancen zu verstehen.“Aber Uhlig hat eine Patchwork-Familieund sieben Mitarbeiter zu unterhalten.Er hat für so etwas keine Zeit.

„Elite-Nichtwähler“ nennt der Politik-wissenschaftler Armin Schäfer vom Köl-ner Max-Planck-Institut Leute wie Uhlig.Menschen, die aus politischen Gründennicht wählen, die sich aber nicht durchein kurzes Gespräch an der Wohnungstürbekehren lassen. Sie lügen auch lieber,als sich zu erkennen zu geben. AuchNichtwähler Uhlig will seinen wahren Na-men lieber nicht gedruckt lesen.

Die Szene der bekennenden Wahlboy-kotteure ist winzig. Der Soziologe HaraldWelzer zählt dazu; in Talkshows wagtsich auch manchmal ein Anwalt oder Unternehmensberater vor. In gebildetenKreisen sorgt es für Aufsehen, wenn mandemonstrativ Abstand nimmt von demo-kratischen Rechten und bürgerlichenPflichten. Es ist ein hübscher Tabubruch.Elite-Nichtwähler haben ihren Montes-quieu oder Machiavelli gelesen, sieschimpfen auf verkrustete Apparate unddie Political Correctness der Parteien.

Deshalb hätten Elite-Nichtwähler we-nig gemein mit der Masse der Demo -kratiemüden, sagt Armin Schäfer. Sie seien zu gut informiert und zu engagiert.Immerhin: „Sie leisten ihren Beitrag zurDemokratie, ohne zu wählen.“ Alleinweil sie sich an der Debatte über Politikbeteiligen. Die größten Chancen bei Elite-Nichtwählern haben denn auch Protestparteien. Je weniger sie wie einePartei wirken, desto besser. Die Piratenmobilisierten bei der letzten Wahl zumBerliner Abgeordnetenhaus 23000 Nicht-wähler, 70000 bei der Landtagswahl inNRW und 8000 im Saarland. Auch dieEuro-kritische Alternative für Deutsch-land, frisch zugelassen zur Bundestags-wahl, setzt auf die Mobilisierung derWahlmuffel.

Vor allem hofft aber die „Partei derNichtwähler“ im Herbst auf ihre Chance.Ihr Chef, Werner Peters, ist ein 70-jähri-ger Hotelier aus Köln. Seit 1983 kämpfter gegen das „Parteiendiktat“. Seine ei-gene Partei wurde vor 15 Jahren zuletztzur Bundestagswahl zugelassen. Dannschlummerte sie ein. Nun hat Peters siewiederbelebt. „Die Bürger sehnen sichnach einer Partei, die andere Parteien inFrage stellt.“ Die Nichtwähler-Truppe for-dert bundesweite Volksentscheide undstrengere Verhaltensregeln für Politiker.Sachpolitik interessiert Peters nicht.

Vielleicht ist dies sogar für Demokra-tiemüde zu wenig. Die Nichtwählerparteijedenfalls feierte ihren größten Erfolg beider Bundestagswahl 1998. Da holte sie inNRW 6827 Stimmen. MELANIE AMANN

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Kommunalwahl-Plakate in Flensburg im Mai

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Was würde Volkswagen-Chef Mar-tin Winterkorn sagen, wenn fastein Drittel seiner Autos mit Feh-

lern vom Band liefe? Hastig zusammen -geschraubt, nur damit eine große Stückzahlin der Bilanz steht? Wahrscheinlich würdeWinterkorn hart durchgreifen. Vielleichttäte er auch gar nichts mehr, weil er gefeu-ert wäre. Dann nämlich, wenn herauskäme,dass er diese Praxis sogar vorgegeben hätte.

Die Führung der Bundesagentur für Ar-beit (BA) hält ihren eigenen Laden zwarfür ein ähnlich effizientes Unternehmenwie den Autokonzern – doch bei der BAsind diese Fehlerquoten normal. Den Be-leg dafür lieferte der Bundesrechnungs-hof mit seinem Prüfbericht, der schwereMängel in der Arbeitsvermittlung nach-wies (SPIEGEL 26/2013). Nun zeigt sich,dass der BA-Vorstand schon lange gravie-rende Probleme kannte: aus Berichtender eigenen Revisionsabteilung. Nur be-heben wollte er sie offenbar nicht.

Dass sich die Hausspitze jahrelang sturgestellt hat, zeigt ein interner Report für

das zweite Halbjahr 2012, der dem Vor-standstrio Frank-Jürgen Weise, HeinrichAlt und Raimund Becker seit Mai vorliegt.Alle sechs Monate erstellen die hauseige-nen Prüfer einen solchen Pannenreport,doch als hätte es keinen in der Behördeinteressiert, weisen die „geprüften Ein-zelaspekte über einen Zeitraum von zweiJahren gleichbleibende Fehlerschwer-punkte auf“, so das ernüchternde Urteil.Die Arbeitsagenturen unterbreiteten zuoft „nicht passgenaue Vermittlungsvor-schläge“. Eigentlich die Kernkompetenzder BA, so wie es die Kernkompetenzvon Volkswagen ist, technisch einwand-freie Autos auszuliefern.

Bei der Arbeitsagentur aber sehe mandas nicht so eng – Hauptsache, die inter-nen „Zahlen, Rankings und Quoten“ sei-en erfüllt, sagt ein BA-Insider, der ano-nym bleiben will. Regelmäßig würden„frisierte Zahlen an das Arbeitsministe -rium geliefert“, so der Mitarbeiter, dersich vom „Sozialarbeiter zum Statistik-fälscher“ degradiert sieht.

Die Arbeitsvermittler verschieben ihreKunden gern in sogenannte Qualifizie-rungsmaßnahmen, dann gelten sie für de-ren Dauer nicht als arbeitslos. Was aber,wenn 49 Prozent der „Maßnahmen zurAktivierung und beruflichen Eingliede-rung nicht verbindlich in der Eingliede-rungsvereinbarung festgelegt“ waren, wiedie Revisoren herausfanden? Die Antwortgeben sie gleich mit. Es bestehe das Risi-ko, „dass die Notwendigkeit … ggf. nichtgegeben und damit die Teilnahme an derMaßnahme nicht zulässig war“. Im Klar-text: Für fast die Hälfte der Teilnehmeran BA-Weiterbildungsmaßnahmen warunklar, ob diese ihnen helfen würden, ei-nen Job zu finden. Es ging wohl nur dar -um, sie aus der Statistik zu schieben.

Ähnlich düstere Zustände fanden diePrüfer bei den Stellengesuchen von jun-gen Menschen, die auf eine Lehrstellehofften. Fast die Hälfte ihrer Gesuchewurde nur intern oder gar nicht veröf-fentlicht – und damit Ausbildungsbetrie-ben bewusst vorenthalten. Eine „plausi-ble Begründung dafür fehlte in 93 Prozentder Fälle“, wie die Revisoren feststellten.Die Folge sei, dass die Vermittlungschan-cen derjenigen, die eine Ausbildung be-ginnen wollen, „eingeschränkt werden“.Als eine der Hauptursachen für das Vor-gehen sahen die BA-Kontrolleure „über-wiegend Eigeninteressen der Arbeitsagen-turen bei der Zielerreichung“.

Die Agenturen nahmen also schwerver-mittelbare Kunden, die eine Ausbildungbeginnen wollen, erst gar nicht in den Pooljener auf, für die sie eine Stelle suchten.Auf diese Weise konnten sie dann für dieanderen, die es in den Pool geschafft hatten,eine hohe Vermittlungsquote erreichen, ander sie wiederum gemessen werden.

Nach dem Bekanntwerden des Rech-nungshofberichts hatte BA-Chef Frank-Jürgen Weise gesagt, man sei auf die Pro-bleme „intern schon viel früher aufmerk-sam geworden“ und habe „mit einem Pro-gramm reagiert, das sich den verändertenBedingungen am Arbeitsmarkt anpasst“.

Doch die BA-Revisoren haben in ihremBericht vom Mai keine Hinweise für einUmdenken erkennen können: „Wie be-reits im letzten Berichtszeitraum ist er-neut auffällig“, so die jüngste Schlussfol-gerung, „dass in einigen Dienststellentrotz eingeleiteter Maßnahmen keinebzw. keine nachhaltige Verbesserung derBetreuungsqualität von Arbeits- und Aus-bildungsstellen erreicht werden konnte“.

Dass der BA-Vorstand in Wahrheitnicht viel ändern will, zeigt auch einSchreiben an den Bundesrechnungshof(BRH) vom 8. Februar 2013.

Auf elf Seiten führt die BA-Zentraleaus, warum sie die Kritik der Prüfer anihrer Arbeit eigentlich total daneben fin-det. Sie pocht auf das „Führen über quan-tifizierte Ziele“; das sei „einer der Eck-pfeiler der Führungsphilosophie der BA“.

Deutschland

D E R S P I E G E L 2 8 / 2 0 1 334

B E H Ö R D E N

„Wir spielen Unternehmen“Erst der Rechnungshof, jetzt die Innenrevision: Wieder bekommen

die Arbeitsagenturen ein mieses Zeugnis. Mit dem Um-denken tut sich der Vorstand schwer, allen Versprechen zum Trotz.

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BA-Vorstände Becker, Weise, Alt: „Pfeifen Sie Ihre Zahlenknechte zurück“

Bei konkreten Vorwürfen wird dieHausspitze dann bockig. Die Kritik: Esgehe zu sehr darum, Zahlenerfolge fürdas Controllingsystem zu produzieren, zuLasten etwa der Vermittlung von Arbeits-losen. Die Antwort: „Die BA teilt nichtdie Auffassung des BRH …“ Ein weitererVorwurf: Ein Großteil der Kräfte werdeauf Top-Kunden konzentriert, die nahtlosvon einem Job in den nächsten vermitteltwerden sollen; das sei nicht im Sinne derKundschaft insgesamt. „Die BA teilt nichtdie Auffassung des BRH …“

Selbst die Rüge, dass zu viele Arbeits-lose in die unsichere Zeitarbeit vermitteltwürden, kontert die BA im Februar nochlapidar: „Beschäftigungsverhältnisse beiZeitarbeitsunternehmen sind in der Regelsozialversicherungspflichtig und damit imGrundsatz nicht weniger werthaltig ein-zustufen.“ Hatte Weise nicht öffentlichbehauptet, man nehme die Kritik desRechnungshofs „sehr ernst“?

Die Führung der BA scheint sich vonihren eigentlichen Aufgaben entfremdetzu haben. Das Klima in der Behördescheint vergiftet, die Kluft zwischen derZentrale und den Agenturen kaum nochüberwindbar. „Jede Woche werden wirgebrieft“, beschreibt etwa ein Teamleiterseinen Alltag, „da werden erwachseneMenschen angebrüllt, weil ihr Team 0,2Prozent unter dem Zielwert war.“

Der Vorsitzende des Hauptpersonal-rats, Eberhard Einsiedler, mahnte schon2009 ein Umdenken an. Damals schrieber an Weise, es entstehe der Eindruck,„als wäre nicht die Arbeit ‚am und mitden Kunden‘ unser Kerngeschäft, sondernControlling, Qualitätsmanagement undSteuerung. Letzteres geschieht anschei-nend immer mehr zum Selbstzweck“.

Die BA sei – angetrieben durch dieZentrale – total übersteuert. „Es mussSchluss sein mit dem Zahlenfetischismus!Ich bitte Sie dringend, pfeifen Sie Ihre

Zahlenknechte zurück und schaffen Platzfür eine Führungskultur, die die Erbrin-gung echter Arbeitsergebnisse fördert.“

Wenn die erwarteten Teamergebnissenicht erreicht würden, müssten anderemehr bringen, damit das Gesamtergebnisder Agentur stimme. „Solch einenSchwachsinn braucht man nicht zu steuern– der steuert sich selbst, nämlich gegen dieWand“, so Einsiedlers Fazit. Doch der Appell bewirkte offenbar wenig, wie nicht

nur der Rechnungshofbericht zeigt. Im Ok-tober 2012 hat Einsiedler erneut Fehlent-wicklungen aufgezeigt. Vermittlungsvor-schläge seien „mehr Masse statt Klasse“.Ihre Gesamtzahl sei zwischen 2007 und2011 um das Zweieinhalbfache auf knapp19 Millionen jährlich angestiegen, der An-teil der erfolgreichen Vorschläge bewegesich aber mit 2,1 Prozent „konstant auf nied-rigem Niveau, mit fallender Tendenz seitJahren“. Der Hauptpersonalrat ätzt: „Wirspielen Unternehmen, und das mit erhebli-chem Aufwand. Aber wir sind weder dieDeutsche Bank noch Porsche, noch Aldi.“

Dahinter steckt die Frage, ob die BAnicht endlich wieder mehr auf Qualitätstatt Quantität achten sollte. Auf jene Arbeitslosen, die älter sind und es schweram Arbeitsmarkt haben. Oder die einenzu schlechten Schulabschluss haben, umeine Lehrstelle zu bekommen. Fragen, dieauch der Rechnungshofbericht aufwirft.

In der BA hat man sich die Antwortenoffenbar schon selbst gegeben, in einem„Maßnahmenkatalog zur Outputsteige-rung“ aus diesem Jahr. So als hätte es nieeinen Rechnungshofbericht gegeben,heißt es dort, es müsse eine „Fokussie-rung“ auf die „Betreuung marktnaherTOP-Kunden in potentialträchtigen Bran-chen“ geben. Einsicht sieht anders aus.

JÜRGEN DAHLKAMP, YASMIN EL-SHARIF,JANKO TIETZ

„Da werden erwachseneMenschen angebrüllt,weil ihr Team 0,2 Prozentunter dem Zielwert war.“

Ihre Schreie drangen zur Mittagszeitaus einem Café an einer mehrspurigenStraße in Hamburg. Als ein Anwohner

durch die Fenster in den Gastraum des„Lissabon“ schaute, sah er eine Frau inihrem Blut liegen.

Die Ärzte in der nahegelegenen Not-aufnahme konnten Maria V. wiederbele-ben, am Körper der 58-jährigen Wirtinzählten sie mehr als zwölf Einstiche einesSteakmessers. Die Fahndung nach demTäter verlief ergebnislos – obwohl die Kri-po am Tatort die Quittung einer Telefon-karte gefunden hatte. Sie gehörte NadiemRalf Mahfouz, einem 42-jährigenMörder, der aus einem Haft -urlaub nicht zurückgekehrt war.

Vier Tage nach dem beinahetödlichen Überfall im März, beidem der Räuber 200 Euro erbeu-tete, erschien ein Mann in einerdünnen Jacke in der Kanzlei desLübecker Rechtsanwalts Frank-Eckhard Brand. Der Besuchermachte einen gepflegten Ein-druck, dem Anwalt fielen nurdie geschwollenen Hände auf,der Unbekannte musste sich lan-ge in der Kälte aufgehalten ha-ben. Er legte eine chromfarbenePlastikpistole auf den Tisch undsagte: „Ich will mich stellen.“ Eswar Nadiem Ralf Mahfouz.

Der Anwalt begleitete ihn zurPolizei, Mahfouz gestand dort dieAttacke auf Maria V. Dass derFall Mahfouz nicht als Nummerin der Polizeilichen Kriminalsta-tistik verschwand, liegt an 49 engbeschrie-benen DIN-A4-Seiten. Nach seiner Verhaf-tung hat Mahfouz im Hamburger Unter-suchungsgefängnis seine Geschichte auf-geschrieben. Er erzählt, wie er vor mehrals 20 Jahren als Kiffer seine Haft antrat,wie er hinter Gittern zum Junkie wurdeund begann, mit Drogen zu handeln.

Der SPIEGEL druckt Auszüge dieses Be-kenntnisses (Seite 38). Denn Mahfouz’ Ge-ständnis ist auch ein Dokument des Schei-terns des deutschen Strafvollzugs. Der Textbezeugt, wie trotz eines strengen Drogen-verbots das Geschäft mit illegalen Betäu-bungsmitteln in fast jeder Justizvollzugs-anstalt (JVA) floriert. Haschisch, Heroinoder die Ersatzdroge Subutex bestimmenden Alltag vieler Eingeschlossener. In man-

chen Knästen wird der Konsum offenbarstillschweigend geduldet – auch weil bene-belte Insassen weitaus leichter zu bewa-chen sind als Männer auf Entzug.

In der JVA Werl, wo Mahfouz einsaß,wusste man von seiner Sucht. Man gewähr-te ihm Hafturlaub, obwohl das damit ver-bundene Risiko bekannt war: dass Mah-fouz draußen klauen, rauben, dealen könn-te, um seine Gier nach Drogen zu stillen.Es scheint notwendig, den Fall Mahfouzals Fehler des Systems zu begreifen.

Vor knapp zwei Jahren einigten sichzehn Bundesländer auf einen Musterent-

wurf für Strafvollzugsgesetze. Der Wäl-zer ist insgesamt 164 Seiten stark, Detailsder Besuchspraxis und der Häftlingsklei-dung werden geregelt. Um die Drogen-problematik geht es nur am Rande.

„Es gibt kein einziges drogenfreies Gefängnis in Deutschland“, sagt der Kriminalpsychologe Rudolf Egg, aber darüber spreche niemand gern: „Daswird unter den Teppich gekehrt.“ Politi-ker wollten die Erwartungen der Bürgernicht enttäuschen, meint der FrankfurterSuchtforscher Heino Stöver, und das er-zeuge einen Druck auf die Gefängnisse.„Jedes Wort zum Drogenkonsum in Haftanstalten käme dem Eingeständnisgleich, seinen Laden nicht im Griff zuhaben.“

Laut Stöver spritzen bis zu 30 Prozentder männlichen und mehr als 50 Prozentder weiblichen Häftlinge Drogen – dazukommen jene, die kiffen oder Crack rau-chen. Eine Studie in Nordrhein-Westfalenergab, dass rund 45 Prozent der Gefan-genen Drogen nehmen oder früher mitDrogen zu tun hatten.

Der ehemalige Häftling Richard E., 46,kennt die Wege des Stoffs von draußennach drinnen. Er hat ein paar Jahre we-gen Diebstahls, Betrugs und Drogenbe-sitzes abgesessen. Seit Lebensmittelpake-te in Hamburg verboten worden seien,werde der Stoff über die Mauern gewor-fen, in Gras eingewickelt, in aufgeschnit-tenen Tennisbällen versteckt, sagt E, derheute keine Drogen mehr nimmt.

Die Alternative dazu seien Kuriere: Inseltenen Fällen seien dies korrupte Be-amte, ehrenamtliche Sozialarbeiter oderbestechliche Anwälte, weitaus häufigeraber Bekannte und Verwandte, insbeson-dere Freundinnen und Ehefrauen. „Beieinem Zungenkuss ist schnell was weiter-gegeben oder bei einer Umarmung in denHosenbund gesteckt“, erklärt E.

Die größten Mengen, sagen Experten,kämen über das sogenannte Bodypackingin die Gefängnisse. Häftlinge, die in derLockerung sind – auf Freigang oder imUrlaub –, kaufen draußen ein, verschlu-cken die Päckchen oder führen sie ein,vaginal oder rektal. Verhindern lässt sichdiese Methode des Einschleusens kaum.Drogenspürhunde dürfen an Menschennicht eingesetzt werden. Kontrollappara-te erwiesen sich als untauglich.

Das Drogengeschäft im Knast ist einTauschhandel. Bezahlt wird mit allem,was man besitzen darf (Schmuck, Uhren),was man im JVA-Kaufladen erwerbenkann (Tabak, Kaffee) – oder mit Sex.

Durchsuchungen der Zellen seien sel-ten. Und wenn jemand zur Urinprobe zi-

Deutschland

D E R S P I E G E L 2 8 / 2 0 1 336

S T R A F V O L L Z U G

„Tickende Zeitbomben“In Gefängnissen gehören Drogen zum Alltag. Süchtige Häft-

linge werden nach ihrer Entlassung häufig wieder kriminell. Experten fordern Methadon für die Abhängigen.

Ehemaliger Häftling Richard E. vor dem Gefängnis Hamburg-Fuhlsbüttel, Durchsuchung einer Haftzelle mit

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tiert werde, so E., bestünden vielfältigeMöglichkeiten, diese zu manipulieren.Hinter Gittern gebe es einen Markt fürsauberen Urin. „Den füllst du zum Bei-spiel in eine leere Pulle Nasenspray,klemmst die unter den Schwanz – fertig.“Er grinst. „Du darfst nur nicht vergessen,den Urin vorher anzuwärmen.“

Deutsche Politiker müssten sich häu -figer mit Fachleuten aus der Praxis unterhalten, mit Karlheinz Keppler bei-spielsweise, der seit 1991 als Arzt imFrauen gefängnis Vechta tätig ist. Wennder Mediziner die drängendsten Proble-me benennt, setzt er zu einem Stakkatoan: „Erstens: Wenn es hier mal eine Raz-zia gibt, wird sofort alles die Toilette run-tergespült. Zweitens: Im Gefängnis stei-gen viele auf harte Drogen um, weil dieseschwerer im Urin nachzuweisen sind alsCannabis. Drittens: Der Konsum wird ris-kanter, weil die Häftlinge alles nehmen,alles mischen, was sie in die Hände be-kommen.“

Dieses Risiko wachse noch dadurch,dass vier von fünf Injektionen mit nicht-sterilen Spritzen gesetzt würden: „Manch-

mal teilen sich 30 Insassen eine Spritze,die sogenannte Stationspumpe.“ LautKeppler helfe es auch nichts, verdächtigeHafturlauber nach der Rückkehr stärkerzu kontrollieren, weil dann diejenigen zuKurierdiensten genötigt würden, die mitDrogen nichts zu tun haben wollten.

Wenn aber nicht verhindert werdenkann, dass Gefängnistore durchlässig sindfür Drogen aller Art: Muss man denKampf dann aufgeben? Mitnichten, sagtHeino Stöver, der Suchtexperte aus Frank-furt. Seine Alternative: die Häft linge häu-figer als bisher mit legalen Ersatzstoffenzu behandeln – „so wie wir es außerhalbder Knastmauern tun“. Entlassene Ab-hängige könnten in Freiheit weiterthera-piert werden. Ohne Suchtdruck, so die

Hoffnung, würden sie keine Ver brechenbegehen, um an Drogen zu kommen.

Zwar gibt es eine Uno-Resolution, nachder Gefangenen die gleiche gesundheit -liche Versorgung zusteht wie Menschenin Freiheit – rund 75000 Abhängige sindhierzulande in einer substitutionsgestütz-ten Behandlung. Doch ob ein Häftling mitErsatzstoffen wie Methadon versorgt wird,obliegt der Entscheidung des Gefängnis-arztes. Und nicht alle JVA-Mediziner, be-klagt Stöver, „sind suchtmedizinisch qua-lifiziert“. Zwischen den rund 180 Vollzugs-anstalten gibt es große Unterschiede inder Substitutionspraxis. Nordrhein-West-falen gehört zu den fortschrittlicherenBundesländern: In den vergangenen vierJahren stieg die Zahl der Substituiertenvon rund 150 auf 1380.

„Die Gefahr, dass suchtkranke Men-schen wieder rückfällig werden, istenorm“, warnt Stöver. „Wenn sie nie-mand an die Hand nimmt, sind das ti-ckende Zeitbomben.“

Eine solche Zeitbombe war auch Mah-fouz. 1993 war er wegen gemeinschaft -lichen Mordes an einer Taxifahrerin zu

lebenslanger Haft verurteilt worden. Erhätte wohl nach 15 Jahren entlassen werden können. Dagegen sprach jedoch,dass er regelmäßig Drogen konsumierte.Mahfouz sollte sich bei einer Lockerungseines Vollzugs bewähren. Eine Gutach-terin hielt ihm seine Bereitschaft, dieDrogenproblematik behandeln zu lassen,zugute. Sie hielt die Haftlockerung fürvertretbar.

Man müsse „den Mut haben“, sagtNRW-Justizminister Thomas Kutschaty,„ehrlich zu sagen, dass es keine absoluteSicherheit geben kann.“ Kutschaty ver-teidigt die Praxis, die Gefangenschaft erst zu lockern und dann zu therapie-ren: „Der Weg aus den Drogen geht nurüber eine vernünftige Therapie, und die

kann der geschlossene Vollzug alleinnicht leisten.“

Im Fall Mahfouz habe die JVA Werlkurz vor dem Hafturlaub vier unan -gekündigte und überwachte Drogentestsgemacht, die allesamt negativ gewesenseien, man könne Mahfouz nicht alsschwerstabhängig bezeichnen.

In einem internen Bericht des Ministe-riums heißt es, dass in der „Gesamt -bewertung“ aller Begutachtungen „keineoffensichtlichen Fehleinschätzungen odergrobe handwerkliche Schwächen erkenn-bar“ seien. Es habe keine Anhaltspunktefür ein „derart gravierendes Versagen desGefangenen“ gegeben.

Mahfouz selbst sah sich wohl anders.Am 18. Dezember 2012 schrieb er einenBrief an den Anstaltsarzt in Werl, wiesauf sein massives Drogenproblem hin undbat, zum Substitutionsprogramm zugelas-sen zu werden. Es war eine Art Hilferuf(„Ich merke, dass ich wieder depressivund manchmal auch aggressiv werde“).In seine JVA-Akte wurde der Brief offen-bar nicht aufgenommen. Der Arzt habeihm mitgeteilt, wenn das Schreiben offi-

ziell würde, könne er seinen Urlaub ver-gessen, so erzählt es Mahfouz.

Das Verhalten zeige, wie „die Insassenin den Gefängnissen mit ihren Problemenalleingelassen werden“, sagt Mahfouz’Anwalt Brand. Das NRW-Ministerium be-teuert, der Anstaltsarzt habe „zu keinemZeitpunkt Hinweise für einen fortgesetz-ten, regelmäßigen und exzessiven Dro-genkonsum feststellen können“.

Vergangene Woche wurde Mahfouz dieAnklage wegen versuchten Mordes in Tat-einheit mit schwerem Raub und gefähr -licher Körperverletzung zugestellt. ImHerbst wird er in Hamburg vor Gerichtstehen. Er wird womöglich für immer hin-ter Gittern bleiben. UDO LUDWIG,

BARBARA SCHMID, ANTJE WINDMANN

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Drogenspürhund, NRW-Justizminister Kutschaty: „Ehrlich sagen, dass es keine absolute Sicherheit gibt“

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Mahfouz wurde am 3. Juli 1970 in Cottbus

geboren. Seine ersten vier Lebensjahre ver-

brachte er in einem Heim. Dann wurde er

adoptiert, sein Vater war ein gebürtiger

Syrer. Schon als Jugend licher klaute Mah-

fouz, brach Autos auf, brach in Kneipen

ein, beging seinen ersten Raub. Mit 16 Jah-

ren kam er in ein Jugendgefängnis, von da

an waren Tage in Freiheit die Ausnahme.

Er saß in den Justizvollzugsanstalten (JVA)

Herford, Iserlohn und Heinsberg ein, meist

wegen Einbruchs oder Dieb-

stahls. Untersuchungshaft ver-

brachte er in Bochum und

Bielefeld. Nach seiner letzten

Haftentlassung zog es Mah-

fouz zu einem Kumpel nach

Wuppertal. Als ihnen das Geld

ausging, beschlossen sie, eine

Taxi fahrerin auszurauben. Als

die 33-Jährige um Hilfe schrie,

stachen sie mit einem Messer

auf die Frau ein und warfen

sie in die Wupper. Sie starb.

Mahfouz wurde wegen Mor-

des zu lebenslanger Freiheits-

strafe ver urteilt. Zu diesem

Zeitpunkt war er gerade 23

Jahre alt. Während eines Haft-

urlaubs im März dieses Jahres

stach er die Wirtin eines Cafés

nieder.

Ich weiß, dass ich aus mei-nem Leben was hätte ma-chen können. Stattdessen

habe ich mir viel Scheiß er-laubt. Ich bekomme meineStraftaten nicht mehr zu -sammen; es müssen Tausen-de Ladendiebstähle, Haus-und Wohnungseinbrüche ge-wesen sein. Aber den größ-ten Fehler habe ich in Haftbegangen: Da habe ich mit den hartenDrogen angefangen.

Meine Knastkarriere im Erwachsenen-strafvollzug begann 1993 in Hagen, kurzdarauf überstellte man mich in die JVAWerl. Dort gab es damals nur Langzeit-strafen ab fünf Jahren. Ich kam in die Kü-che, arbeitete in der Kartoffelschäle. Dawaren mit sechs Mann 120 Jahre Knastvertreten. Werl war berüchtigt, stellte sichaber als harmlos heraus, ich brauchtemich nicht schlagen, musste einfach nurgeradeaus sein.

Ich stieg ins Haschgeschäft ein, kauftevon Mithäftlingen 30 Gramm für 600Mark. Wenn du auf Zack bist, ist es leicht,an das Zeug zu kommen. Ich verkaufte15 Gramm in Päckchen für 40 Mark proGramm. So konnte ich die andere Hälftebehalten. Ich kiffte jeden Tag und soffmir zweimal die Woche einen.

Da das Geschäft in dieser Zeit überden Einkauf lief, hatte ich manchmal für2000 bis 2500 Mark Tabak und Kaffee in

der Zelle (Tabak und Kaffee sind in JVA

eine Art Währung – Red.).Vor Kontrollen hatte ich keine große

Angst. Knackis haben viel Zeit, um sichVerstecke zu überlegen. Und Suchhundekommen nur ein- bis zweimal pro Jahrin den Knast. Ich bin in 20 Jahren nureinmal richtig gefilzt worden.

Ende 1994 wechselte ich auf die Schul-abteilung. Der Liftkurs sollte mich auf denRealschulabschluss in der JVA Münstervorbereiten. Auf dem Schulflügel lief dasHaschgeschäft noch besser. Ich wurde dort

ruck, zuck mit dem Hausarbeiter warm(Hausarbeiter sind Häftlinge, die als Hilfs-

kräfte von der JVA bezahlt werden –

Red.). Der brachte von jedem Langzeit-besuch so an die hundert Gramm Haschmit. Fest liierte Langzeitgefangene durftennämlich über die Besuchszeiten hinaus inspeziellen Räumen ihren Partner für dreiStunden im Monat ungestört empfangen.

Außerdem holte ich alle zwei Monatefür einen Zuhälter aus Essen sonntags 100

Gramm aus der Kirche, die auf dem Ge-lände des Knasts steht. Er hatte sie beimEheseminar dort deponiert.

In der JVA Münster war es noch ein -facher für mich: Die Gefangenen konntenviele Urlaube machen. Mit fast jedemAusgang kam das Zeug in den Knast.

Für meine Ausbildung zum Koch kamich danach vorübergehend in die JVA Gel-dern. Dort gab es mehr Drogen, als ich je-mals im Knast gesehen habe. PreiswertesHasch in super Qualität und jede MengeHeroin und Kokain. Ich war in kürzester

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Justizvollzugsanstalt Werl: „Wenn du auf Zack bist, ist es leicht, an das Zeug zu kommen“

„Die Birne dicht“Der Häftling Nadiem Ralf Mahfouz berichtet, wie er im Knast zum Junkie und Dealer wurde.

Zeit der beste von den acht Azubis. Nachdrei Monaten rief mich der Ausbilder zusich. Er sagte, dass ich das Niveau haltensolle, dann könne ich als Lehrgangsbeglei-ter bleiben. Das einzige Problem warendie Drogen. Nachdem ich Koks probierthatte, verweigerte ich eine Urinkontrolle.Ich musste unterschreiben: Sollte ich nochmal auffallen, würde die Ausbildung be-endet und ich zurückverlegt.

Ich hatte bis dahin knapp acht Jahregekifft, und das nicht wenig für Knastver-hältnisse. Silvester, nach zehnmonatigerAusbildung, nahm ich mir vor, ganz auf-zuhören. Ich verkaufte den Rest, den ichnoch hatte. Zehn Tage habe ich geschafft.

Montags war der Ausbilder nie da,dann hatte ich frei. Er hatte mich gewarnt,dass die mich zur Urinkontrolle holen wer-den. Am Morgen legte mir ein Mithäftlinggutes Hasch hin. Ich wurde schwach. Daging die Tür auf: „Mahfouz, zur Urinkon-trolle.“ Was war ich nur für ein Idiot!

Zur Strafe musste ich zurück nachWerl. Zur Begrüßung sagte der Flügellei-ter (ein Vollarsch), ich solle die nächstenzehn Jahre Frikadellen drehen. Das tatich dann auch erst mal.

Ich fing an, ab und zu mit Heroin zuhandeln; so konnte ich leichter meinenHaschkonsum finanzieren. Wir rauchtenuns in dieser Zeit die Birne dicht. In Werlgab es immer Möglichkeiten, über die Be-sucher Drogen reinzubekommen. AndereWege, wie über Beamte oder das Werfenüber die Mauer, habe ich da nie gesehen.

Schuld an allem ist die riesengroßeLangeweile. Ich kenne Jungs, die wie icherst im Knast auf die harten Drogen ge-kommen sind, weil das Leben drinnen soeintönig und langweilig ist.

2004 setzte mir ein Psychologe die Pis-tole auf die Brust. Ich sollte auf die PGS(Psychotherapieabteilung für Gewalt-

und Sexualstraftäter –Red.). Ich wolltemich eigentlich nicht so sehr mit mir undmeinen Taten auseinandersetzen. Die Al-ternative wäre gewesen, erst mal keineChance auf Entlassung zu haben.

In der PGS-Abteilung musste man überseine Kindheit reden, was mir generellsehr schwerfällt. Meine Adoptivmutterhatte eine sadistische Ader. Sie schlug mirmit dem Gürtel auf den Po oder mit demPlastiklöffel auf die Hände. Vor lauterAngst machte ich oft ins Bett. Das bliebnatürlich nicht ungestraft. Außerdemmusste ich mit ihr Horrorfilme anschauenund dabei ihre Füße massieren.

Zwei Tage nach meinem 14. Geburtstagwechselte ich in ein Heim für Schwer -erziehbare. Wenn ich Kinder mit ihrenEltern sah, wurde ich traurig. Einmalkaufte ich mir in einer Apotheke eine Pa-ckung Thomapyrin, angeblich für meineMutter. Ich dachte, mit 20 Stück müssteich tot sein. Ich habe mir die Seele ausdem Leib gekotzt, aber am nächsten Mor-gen lebte ich immer noch.

Über all das sollte ich nun in der PGS-Abteilung in Werl reden. Das war schwie-rig, aber ich fühlte mich dort vom ersten

Tag an wohl. Das Beste war: Ich saß an einer neuen super Quelle für Hasch. Esgab dort einen Türken, Mehmet, 150 Kilo-gramm schwer. Als wir die ersten 100Gramm zum Abpacken geschnitten hatten,holte er noch mal 200 Gramm hervor. Soviel Hasch hatte ich noch nie auf einmalgesehen. Ich lebte wie die Made im Speck.

Mitte des vergangenen Jahrzehnts ge-wann in Werl Heroin die Oberhand. Weiles nur noch wenig Hasch gab, nahm ichab und zu Heroin – hörte aber wiederauf. Ich wollte auf keinen Fall süchtig aufdas Scheißzeug werden.

In der weiteren Therapie ging es speziellum meine früheren Taten, vor allem ummeine schwerste: Als ich wieder mal ausdem Gefängnis kam, fuhr ich nach Wup-pertal zu meinem Kumpel Musa. Wir woll-ten einen Überfall machen. Die letzten 20Mark verzockten wir am Pokerautomaten.

Gegenüber der Spielhalle war ein Taxi -stand. In einem Auto saß eine Frau am

Steuer. Musa nannte dasFahrziel, und als wir ange-kommen waren, bedrohte ichsie mit einer Gaspistole undnahm ihr das Portemonnaieaus der Hand. Beim Ausstei-gen schoss ich der Frau nochins Gesicht. Ich habe gedacht,dass bei den Gaspatronennicht viel passieren kann undwir ein bisschen Vorsprungbekommen. Musa wollte abernicht abhauen. Er meinte,dass wir zu schnell die Bullenam Arsch hätten.

Wir haben die Taxifah -rerin, nachdem wir sie mit einem Messer verletzt hatten,in die Wupper geworfen.Mein Anwalt meinte, ich seinicht voll schuldfähig auf-grund der Umstände, wie ichaufgewachsen bin. Ich bekamtrotzdem lebenslänglich. DerRichter meinte, ich solle eineAusbildung machen und wür-de dann nach 15 Jahren wie-der freikommen. Daraus wur-de bekanntlich nichts.

Auch meine Therapie imWerler Knast konnte ichnicht zu Ende bringen. Einguter Kumpel, Chris, schleus-

te Heroin für die russischen Gefangenenrein. Das war der Zeitpunkt, als ich rich-tig süchtig auf die Scheiße geworden bin.Alle zwei Wochen kamen 30 bis 40Gramm, und die Hälfte war für uns.

Als Chris und ich einmal erwischt wur-den, kam ich in Einzelhaft. Das war übel:Ich schwitzte und fror gleichzeitig. Ichsaß den halben Tag auf Toilette mitDurchfall. Ich kotzte, bis nur noch Gal-lenflüssigkeit kam. Ich wurde depressivund litt an Schlaflosigkeit. Ich habe inzwei Wochen vielleicht zwei Stunden

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Hafturlauber Mahfouz nach der Bluttat im März vor Geldautomat: „Was habe ich für Scheiß gemacht?“

geschlafen. Ab und zu bekam ich mal einPäckchen am Fenster oder in der Kirche.Aber das hielt nur eine Stunde.

Nachdem ich noch zweimal Arrest wegen verweigerter Urinkontrollen be-kam, hörte ich wirklich auf. Ich zog mei-nen Affen durch und machte wie irreSport. Ich sah nach sechs Monaten richtigdurchtrainiert aus. Manche meinten, dassich Anabolika nehmen würde, wasQuatsch war. Ich hatte nur meine Suchtverlagert.

Ich nahm ein Jahr lang kein Heroin.Meine Urinkontrollen waren alle sauber,und ich wurde in den offenen Bereichverlegt. Dort kann man sich zwischen 6und 21 Uhr frei bewegen. Eine Gutachte-rin meinte, dass von mir keine Gefahrmehr ausgehe, noch mal schwere Straf -taten zu begehen. Vermutlich kam durchdie Gespräche mit ihr der Suchtdruck wie-der hoch. Jedenfalls wurde ich von einemTag auf den anderen rückfällig.

Es kam dann noch eine Droge dazu:Subutex. Das ist eine Ersatzdroge für He-roin, die ins Gefängnis geschmuggeltwird. Die Tablette wird zerdrückt, durch

die Nase gezogen. Mit einem halben Päck-chen war man einen ganzen Tag drauf.

Die erste positive Urinkontrolle gingnoch glimpflich aus. Da ich viel getrun-ken hatte, waren die Werte gering. Icherzählte, ich hätte nur ein paar Schmerz-mittel genommen.

Irgendwann entstand im Rahmen mei-nes Vollzugsplans die Idee, dass ich inder JVA Münster eine Drogentherapiemachen sollte. Da ich zu lebenslänglichohne besondere Schwere der Schuld ver-urteilt worden war, wäre ich normaler-weise nach 15 Jahren entlassen worden,also im Juni 2008. Aber daran war nichtzu denken.

Im Mai 2010 zog ich in die AbteilungG4 um. Ich sollte da ein Jahr Therapie-

vorbereitung machen und anschließend18 Monate Therapie. Laut Plan wäre ich2013 nach 20 Jahren entlassen worden.

Auf G4 lag ich mit 13 anderen Süch -tigen zusammen. Selbst wenn ich gewollthätte, war es praktisch unmöglich, aufder Abteilung sauber zu bleiben. Es gehtda nur um Drogen. Man musste jede Wo-che mit einer Urinkontrolle rechnen.Aber es gibt Tricks: Man trinkt zwei Stun-den vor der Kontrolle sechs Liter warmesWasser, dann pinkelt man auch nur nochWasser. Oder man gibt die Pisse von je-mand anderem ab.

Irgendwann wurde entschieden, dassich zunächst Begleitausgang bekommensollte und zwei Wochen später Haft -urlaub; danach sollte ich in die Therapienach Münster. Nun musste ich ganzschnell sauber werden. Im Urlaub süchtigzu sein wäre schlecht gewesen – wo hätteich die Drogen herbekommen sollen?Und ich wusste, dass ich direkt danachzur Urinkontrolle muss – da gab es keineChance zu bescheißen. Doch mit demAufhören wurde es nichts. Ab dem drit-ten Tag ging’s immer richtig ab: Durchfall,

Schüttelfrost, Rückenschmerzen. Nur ein-mal bin ich bis zum vierten Tag gekom-men.

So bin ich dann in den Ausgang – undwar schön dicht auf Subutex. Ich fuhr mitzwei Begleiterinnen nach Münster zumChance e.V. für Haftentlassene. Nach derRückkehr am folgenden Abend in Werlmusste ich eine Urinprobe abgeben, dienatürlich positiv war. Ich ging davon aus,dass sich der Urlaub erledigt hatte. Des-halb habe ich dem Anstaltsarzt einenBrief geschrieben und mich ein zweitesMal fürs Methadonprogramm beworben.

Methadon als Ersatzdroge nimmt dirden Druck, weil man nicht mehr hinterden Drogen herjagen muss und man sichnicht mehr in der Illegalität bewegt.

Der Bereichsleiter meinte aber, dassman jetzt so viel Arbeit in mich hinein-gesteckt habe, nun solle ich auch nachMünster in die Drogentherapie. Meinzweiter Urlaub sollte einen Monat spätersein, im Februar. Ich versuchte wirklichaufzuhören. Eine Woche vor dem Urlaubhabe ich aufgegeben.

Ich fuhr also nach Münster und wusste,dass es der letzte Urlaub für lange Zeitsein würde. Nach 30 Jahren aber riechtFreiheit verdammt verlockend. So kammir der Gedanke, meinen Urlaub quasizu verlängern. Ich fuhr nach Süddeutsch-land und dealte. Dann erfuhr ich, dassdie Bullen mich bereits suchen. Ich färbtemir meine Haare schwarz, richtete sie mitHaargel ein bisschen auf, noch eine Brillefür 50 Euro – und ich sah anders aus.

Aber ich musste mir etwas einfallenlassen, um wieder an Geld zu kommen.Ich fuhr nach Hamburg. Es war kalt undschneite. Ich war am Ende, mir war allesegal. Dann sah ich dieses Café. Ich be-stellte einen Kaffee. Als die Bedienungihn brachte, zog ich meine Spielzeug -pistole aus der Jacke. Dann weiß ich nurnoch, dass sie mir in die linke Hand ge-bissen hat. Die Erinnerungen, wie ich aufdie Frau eingestochen habe, sind weg.

Was hatte ich für einen Scheiß gemacht?Geldbörsen mit 200 Euro mitgenommenund dafür vielleicht einen Mord begangen.Als ich später versuchte, mit den gestoh-lenen Bankkarten Geld abzuholen, habeich die falschen Nummern eingetippt.

Ich war schockiert, als ich am nächstenTag las, dass ich mehr als zwölfmal zuge-stochen haben soll. Ich dachte an Selbst-mord, aber hing doch irgendwie an mei-nem verschissenen Leben. Also habe ichmich gestellt.

Ich weiß, dass ich meine Drogensuchtmit meiner angeschlagenen Psyche ersteinmal nicht in den Griff bekomme. Ichhoffe nun, endlich mal in ein Suchtpro-gramm zu kommen. Die Anstalt hätte mirlängst einen Riegel vorschieben müssen,was meine Geschäfte angeht. Es war dochoffensichtlich, dass ich konsumiere. Ichhabe von 600 Euro im Monat höchstens100 Euro für mich ausgegeben. Der Restging für Drogen drauf.

Ich mache mir nichts vor: Sollte ichnoch mal entlassen werden, dann als alterOpa. Die Sicherungsverwahrung ist mirwohl sicher. Statt an Gott glaube ich mehran das Schicksal. Manche Menschen ha-ben Glück im Leben: gutes Elternhaus,Familie, Kinder, und alles läuft gut. Danngibt es Menschen, die es nicht ganz soeinfach haben, aber trotz Schicksalsschlä-gen normal leben. Und hin und wiedergibt es Menschen, wie ich einer bin.

Ich halte mich nicht für böse und ge-fährlich, trotz allem, was ich gemachthabe. Gefährlich bin ich nur, wenn Situa-tionen auf mich zukommen, mit denenich nicht umgehen kann.

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Gewaltopfer Maria V., Helfer in Hamburg: Mit einem Steakmesser niedergestochen

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Christian Bernzen ist eine Stützeder Gesellschaft. Der 50-jährigeRechtsanwalt gilt als einer der

führenden Experten für Jugendhilferechtin der Bundesrepublik, hat eine Profes -sur für rechtliche Grundlagen der sozia-len Arbeit inne, ist Schatzmeister derSPD-Landesorganisation Hamburg undMitglied im vornehm-hanseatischenÜbersee-Club. Auch in der Weizsäcker-Kommission zur Zukunft der Bundes-wehr, im Zentralkomitee der deutschenKatholiken und anderen ehrenamtlichenGremien war oder ist Bernzen aktiv.

Doch einer seiner vielen Posten könntenun seinem Ruf nachhaltig schaden. Ak-ten legen den Verdacht nahe, dass derSpitzenjurist nicht immer sauber unter-schieden hat – zwischen dem, was manvielleicht gerade noch darf, und dem, wasman besser lässt.

Die Papiere dokumentieren Bernzensfragwürdige Rolle in einem Fall, der seitWochen Schlagzeilen macht: EhemaligeInsassen von Erziehungsheimen der Haasenburg GmbH, die in Brandenburgdrei Heime betreibt, haben in der „taz“schwere Vorwürfe erhoben: Zwecks Dis-ziplinierung hätten sie stundenlang aufLiegen festgeschnallt verharren müssen.Andere berichten von körperlichen Über-griffen des Personals. Drei weibliche In-sassen hätten dabei Knochenbrüche er-litten. In internen Protokollen der Betrei-ber heißt es, die Mädchen hätten sich dieFrakturen durch Gegenwehr bei soge-nannten Begrenzungsmaßnahmen selbstzugefügt.

Auch Bernzen, Anwalt der HaasenburgGmbH, weist die Vorwürfe zurück: „Kör-perliche Begrenzung kann und darf nie-mals eine erzieherische Maßnahme sein.Sie ist ein letztes Mittel zur Gefahrenab-wehr, um eine Eigen- oder Fremdgefähr-dung der Bewohner zu vermeiden.“

Schöne Worte, doch schwer zu glau-ben – nicht nur, weil „körperliche Begren-zung“ verharmlost, was Jugendlichen dabei angetan wird: massive Gewalt, beispielsweise wenn vier erwachseneMänner einen Widerspenstigen zu Bodendrücken und festhalten. Noch problema-tischer aber ist, dass Bernzen nicht nur

Anwalt des Betreibers ist, sondern auchBeistand der Jugendlichen sein sollte.

Bis vor einem halben Jahr war er näm-lich Vorsitzender einer Kontrollkommis-sion, die Beschwerden der jugendlichenHeimbewohner prüfen und sicherstellensoll, dass ihnen in den Häusern der Haa-senburg kein Unrecht geschieht.

Dass sie in den Heimen anständig be-handelt wurden, bezweifeln mittlerweilenicht nur ehemalige Zöglinge. Die Staats-anwaltschaft Cottbus ermittelt wegen desVerdachts der gefährlichen Körperverlet-zung und der Misshandlung von Schutz-befohlenen. Am vergangenen Donners-tag durchsuchten Polizisten die Heimedes Unternehmens in Müncheberg, Jes-sern und Neuendorf.

Martina Münch (SPD), die branden -burgische Jugendministerin, setzte eine„Untersuchungskommission zur Untersu-chung der Vorfälle in den Einrichtungender Haasenburg GmbH“ ein: „Es geht umVorwürfe massiver Menschenrechtsver-letzung.“ Die Kommission soll sich auchmit zwei Todesfällen beschäftigen, dieStaatsanwälte vor Jahren als unverdächtigeingestuft hatten.

Bernzen hält die Anschuldigungen für„derzeit nicht plausibel“, sieht sie „alsMunition in einem ideologisch gefärbtenStreit“ zwischen jenen, die im Rahmender Hilfe zur Erziehung „jede Form vonFreiheitsentzug“ ablehnten, und jenen,die darin ein „Mittel zur Ermöglichungvon Erziehung“ für schwer gestörte odertraumatisierte Jugendliche sähen.

Bernzens Stimme hat Gewicht im Ju-gendhilferecht. Seine Veröffentlichungenhaben die Diskussion zum Thema frei-heitsbegrenzende Heimunterbringung

mitbestimmt. Da ist es aus seiner Sichtlogisch, dass seine Kanzlei „BernzenSonntag“ die Haasenburg in vielerlei Hinsicht vertritt – nicht nur vor Gericht.

Auch als Berater ist sie dem Unter -nehmen verbunden. Bernzen Sonntaghandelte für die Haasenburg sogar aus,welche Tagessätze die Jugendämter derFirma zahlen müssen. Zwischen 300 und500 Euro pro Tag und Bewohner hatBernzens Kanzlei für die Haasenburgher ausgeholt. Allein die Stadt Hamburg,aus der viele Problemkinder kommen,überwies von 2008 bis Mai 2012 mehr alsvier Millionen Euro an den Heimbe -treiber.

Der durchschnittliche Tagessatz lag2012 bei 373,54 Euro. Andere intensiv -pädagogische Einrichtungen berechnenzwischen 250 und 320 Euro – so der Ham-burger Senat in seiner Antwort auf eineKleine Anfrage des FDP-Bürgerschafts-abgeordneten Finn-Ole Ritter.

Bernzen räumt ein, dass das Haasen-burg-Mandat zu den größeren seinerKanzlei zählt. Auch sein Bruder Hinrichverdient Geld mit dem Betreiber. Ermacht PR und Pressearbeit für das Un-ternehmen. Kann ein Mann, der mit ei-nem Heimbetreiber so eng verbandelt istund von ihm profitiert, gleichzeitig eh-renamtlicher Vorsitzender einer angeb-lich unabhängigen Kontrollkommissionsein, bei der sich Insassen über Missstän-de im Heim beschweren?

Nach landläufigen Maßstäben nicht –zumal die Kommission in Absprache mitdem Betreiber eingerichtet worden war.Bernzen rechtfertigt sich, er habe „dieseehrenamtliche Tätigkeit stets von“ seiner„anwaltlichen Sachbearbeitung getrennt

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Haasenburg-Heim in Neuendorf: Knochenbrüche durch Gegenwehr?

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Anwalt beiderSeiten

In Brandenburger Heimen sollenJugendliche misshandelt worden

sein. Der Leiter der Beschwerde-stelle vertrat jedoch zugleichdie Interessen der Betreiber.

Hanife Ceylan hat nie daran gezwei-felt, dass Stuttgart ihre Heimat ist.Die Tochter türkischer Gastarbei-

ter zog mit 15 Jahren in die deutsche Au-tomobilstadt. Hier fand sie die Liebe ihresLebens, schloss einen Bausparvertrag ab,schickte ihre drei Kinder in einen deut-schen Kindergarten und später an die Uni-versität. Ihr Schwäbisch ist besser als ihrTürkisch.

Doch nach 33 Jahren in Deutschlandüberlegt Hanife Ceylan, die in Wirklich-keit anders heißt, ihren deutschen Passwieder abzugeben.

„Das Papier kannsch de Hase füttern“,sagt sie. Sie steht in einer Kittelschürzehinter dem Tresen ihrer Bäckerei in derStuttgarter Innenstadt, belegt Brötchenmit Schnitzeln, sortiert Rosinenschneckenin die Regale und sagt: „Für die war ichnie eine richtige Deutsche.“

Mit „die“ meint Ceylan die Mitgliederdes „Nationalsozialistischen Untergrunds“(NSU): Beate Zschäpe, Uwe Mundlos undUwe Böhnhardt. Die beiden Männer er-mordeten am helllichten Tag neun Men-schen, nur weil sie ausländische Namentrugen. Hanife Ceylan weiß, dass auch ihrName heute auf dem Gedenkstein inNürnberg stehen könnte, der an die NSU-Opfer erinnert. Sie denkt oft darübernach, warum sie davonkam – und anderenicht. Sie sucht nach einer Erklärung.„Wenn der liebe Gott nicht will, dass diedich töten, dann können die versuchen,was sie wollen“, sagt sie.

Im November 2011 zündete BeateZschäpe das Haus an, in dem sich dieGruppe versteckt hatte. In den Trüm-mern der abgebrannten Wohnung inZwickau fanden Polizisten Fotos, Stadt-pläne und Adresslisten mit Namen undGeschäften, die Menschen ausländischerHerkunft gehörten. Die Notizen zeigen,wie das Trio Dutzende Orte und Perso-nen ausgespäht hatte – als mögliche An-schlagsziele.

„Gutes Objekt und geeigneter Inhaber“,steht etwa neben der Adresse eines Ge-schäfts in Dortmund. Zur Anschrift einestürkischen Imbisses wurde notiert: „Gu-ter Weg von dort weg!“ Und an andererStelle: „Guter Sichtschutz. Person gut,aber alt (über 60).“

Auf einer CD, die Fahnder aus den ver-kohlten Überresten bargen, sind Fotos gespeichert. Sieben davon konnten dieBeamten Straßen in Stuttgart zuordnen,sie entstanden offenbar im Juni 2003, alsder NSU bereits vier Morde begangenhatte.

Die Bilder zeigen türkische und italie-nische Lebensmittelgeschäfte, Restau-rants, belebte Straßenabschnitte, Haus-eingänge. Auf mehreren der Bilder po-siert „mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit“,so heißt es in den Akten, Uwe Böhnhardt.Er lehnt lässig an einem Mountainbike,einen dunklen Rucksack auf dem Rücken,eine Baseballkappe auf dem Kopf, dieSonne scheint. Ein Terrorist auf Städte-tour. Im Hintergrund ist das Geschäft vonHanife Ceylan zu sehen.

Die Ermittler nehmen die NSU-Noti-zen ernst. So ernst, dass sie im Sommer2012 Hanife Ceylan und ihren Mann insPolizeipräsidium Stuttgart vorladen. Esist der Tag, an dem das Leben von HanifeCeylan in Deutschland in ein Davor undein Danach zerbricht.

Das Davor beginnt im Sommer 1980.Ceylan folgt als junge Frau ihrer Mutteraus einem türkischen Dorf nach Deutsch-land. Ihre Eltern gehören zur ersten Ge-neration von Gastarbeitern. Sie sinddankbar für ein Deutschland, das ihnenArbeit gibt und ein neues Leben, das bes-ser ist als zu Hause. Hanife Ceylan wächstmit dieser Dankbarkeit den Deutschengegenüber auf.

Sie putzt Toiletten, wischt Büroräume.Sie arbeitet in einer Metallfabrik amFließband und in einer Konditorei. Sieverdient ihr eigenes Geld. Sie heiratet,ihr Mann stammt aus der Türkei.„Deutschland war gut zu uns“, sagt Cey-lan.

1993 eröffnen die Ceylans einen Gemü-seladen in der Stuttgarter Innenstadt. IhreMitarbeiter sind Italiener, Russen undGriechen. Blonde Kassiererinnen stehenhinter der Theke. Die deutschen Nachbarnkaufen gern bei den Ceylans ein. Ihr Mann

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Die ÜberlebendeDer Nationalsozialistische Untergrund hatte noch weitere Opfer

ausspioniert. Eine türkische Bäckerin aus Stuttgart erfuhr erst vor einem Jahr von den Plänen – und ist traumatisiert.

In ihrem zweiten Lebengibt es schlaflose Nächteund viele Fragen: Warumich? Warum ich nicht?

Jurist Bernzen: Zahlreiche EhrenämterM

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ausgeübt“. Die „Geschäftsstelle der Kontrollkommission“ sei, wie er einerRichterin am Oberlandesgericht Ham-burg erklärte, „an die Katholische Hoch-schule für Sozialwesen in Berlin ange-gliedert“.

Das ist nicht nur eine eigenwillige Ar-gumentation, sondern im Fall des ehe -maligen Heimkinds Michel W. auch nach-weislich falsch. Der heute 16-Jährige warim Mai 2011 per Gerichtsbeschluss zur„geschlossenen Unterbringung“ in einHaasenburg-Heim eingewiesen worden.Ein Jahr später schrieb der Junge einenBrief an den Vorsitzenden der Kontroll-kommission, Prof. Dr. Christian Bernzen.Darin beklagte er sich – unter anderem –über eine Erziehungsmaßnahme, die ereiner Anwältin so schilderte:

„Ich saß hinter meinem Bett und habegeweint. Da kamen zwei Erzieher undwollten mich hochziehen, und dann habeich die Hand weggezogen, weil ich nichtwollte, dass sie mich anfassen, und dannhaben die mir den Arm umgedreht, denAlarmknopf gedrückt, und dann kamendie anderen und haben mich am Bodenfestgehalten. 15 bis 20 Minuten lang.“

Am 30. Mai 2012 teilte Kontrollkom-missionschef Bernzen dem Jungen mit,eine Kollegin werde sich der Sache an-nehmen. Der Brief kam nicht von der Katholischen Hochschule, sondern auf Papier der Kanzlei Bernzen Sonntag.

Ein halbes Jahr später schreibt der Vorsitzende der Kontrollkommission,diesmal in seiner Rolle als Haasenburg-Anwalt, an das Brandenburgische Ober-landesgericht. Betreff: die „Familiensachedes minderjährigen Michel W.“. Bernzengibt an, dass er „als ausschließlicher Sach-bearbeiter“ seiner Kanzlei „die Haasen-burg GmbH“ in diesem Fall vertrete.

Mit den Dokumenten konfrontiert,räumt Bernzen ein: „Rückblickend ist essicher ein Fehler gewesen, den Vorsitzder Kontrollkommission zu übernehmen,aber es war schwer, geeignete Leute zufinden.“

Michels Beschwerden wurden von derKontrollkommission als unbegründet zu-rückgewiesen. GUNTHER LATSCH

verkauft Schweinefleisch, trinkt Schnäpsemit seinen Kunden. „Richtig kultimultiwar das“, sagt Ceylan über jene Zeit.

Der Gemüseladen wird ein Treffpunktim Kiez. Bei Hanife Ceylan lassen die Leu-te anschreiben, sie gibt dem Obdachlosenin der Straße Leberkäsbrote, sie rundetfür Stammkunden die Preise ab. Ihre Kin-der wachsen im Geschäft auf, machen ihreHausaufgaben zwischen den Tomatenkis-ten. Hanife Ceylan ist jetzt Chefin, sieschafft Arbeitsplätze, zahlt Steuern. Siehat das Gefühl, diesem Land etwas zu-rückgeben zu können. Hanife Ceylan reistmit ihrer Familie um die Welt, bei denGrenzkontrollen ist sie stolz, wenn sie ihren deutschen Pass vorzei-gen kann.

Als der Gemüseladennicht mehr läuft, schließt sieihn und eröffnet eine Bäcke-rei. Sie spielt nie mit demGedanken, Deutschland zuverlassen.

Bis zu jenem Tag, an demdieser Brief in ihrem Post-kasten liegt, im Sommer2012.

Die Polizei will sie und ihren Mann befragen. DasGespräch dauert knapp 30Minuten. Sie erinnert sichnur noch an Satzfetzen. Siesoll Fragen beantworten, Mi-nuten nachdem sie erfahrenhat, dass die Mörder sie imVisier hatten. Dass ihr Ge-schäft vom NSU ausgespähtworden war, wie jene der an-deren Ladenbesitzer, die Op-fer der Mordserie wurden.

Niemand kann bislangsagen, wie konkret die Plä-ne des Trios wirklich waren.Wie häufig sie sich an ihrenrassistischen Phantasien er-götzen wollten, ohne eineTat vorzubereiten.

Die Polizisten fragen:Konnte man Sie von drau-ßen gut beobachten? HabenSie einen Mann auf einemFahrrad bemerkt, der IhrenLaden fotografierte? Sieschüttelt den Kopf. In diesenMinuten bei der Polizei lö-sen sich in ihr 32 Jahre Ge-wissheit über ihre deutsche Heimat auf.Nach dem Gespräch schicken die Beamtendie Ceylans nach Hause. Sie sollen ihreKinder fragen, ob die etwas bemerkt hät-ten, damals, vor neun Jahren.

Im zweiten Teil von Hanife CeylansLeben in Deutschland gibt es schlafloseNächte und viele Tränen. Sie fragt sich:Warum ich? Warum ich nicht? Wenn siedie Augen schließt, sieht sie ihren Namenin einer Reihe stehen mit denen der Er-mordeten des NSU.

Wäre sie dessen erstes weibliches Opfergeworden? Hanife Ceylan glaubt, dassdie gutbesuchte Fußgängerzone oder dieStraßenbahn sie vielleicht vor den An-griffen bewahrt hat.

Ihren deutschen Freunden hat Ceylannichts erzählt. Sie will kein Mitleid.

Doch zu Hause reden sie über kaumetwas anderes. Die Familie glaubt, sichan den Tag zu erinnern, von dem die Beamten sprachen. Es war in jenem Sommer, in dem Ceylans Tochter Abiturmachte, als ein Mann auf dem Rad an ihrem Laden vorbeifuhr, Bilder schossund behauptete, es sei für die Lokal -zeitung.

Ihr Mann erinnert sich an einen ande-ren Tag, als ein Fremder im Hinterhofstand, der zwar eine Kiste Bier bestellte,aber dann einfach verschwand. Und dawar dieser Passat, mit einem Kennzei-chen aus einer ostdeutschen Stadt, derlange vor dem Laden parkte.

Am Küchentisch der Ceylans hat dieAngst inzwischen einen festen Platz, siegehört zu ihrem Alltag. Wie vergangenesJahr, als ihre Vermieterin, die nichts vonder Ausspähung ahnt, Rauchmelder in

der Bäckerei anbrachte, weil Geschäftevon Türken ja potentielle Anschlagszieleseien.

Heute nimmt Hanife Ceylan Antide-pressiva, schläft maximal vier Stunden,ab dem Morgengrauen wandert sie ruhe-los durch die Wohnung. „Meine Mutterbraucht eine Therapie“, sagt ihr ältesterSohn. Keiner habe nach dem Gesprächbei der Polizei Hilfe angeboten. „Wirbrauchen ja kein Sondereinsatzkomman-do, aber etwas Beruhigung für meine Mut-ter.“ Er überlegt, ob die Familie einenneuen Namen annehmen sollte.

Hanife Ceylan träumte früher von ei-nem freistehenden Haus für ihre Familie.

„Heute würde ich nur nochin einem Haus leben, woviele Deutsche wohnen“,sagt sie. Sie spürt eine Bit-terkeit, die sie vorher nie ge-kannt hat: Wenn Menschenin eine TV-Kamera sagen,das sei doch alles nicht soschlimm gewesen mit „die-sen Döner-Morden“. Wenndie deutsche Justiz türki-schen Journalisten keinenPlatz im Verhandlungssaaldes NSU-Prozesses reser-viert. Die Ceylans glaubennicht, dass das VerfahrenGerechtigkeit bringen wird.„Die haben auch meineWelt zerstört“, sagt HanifeCeylan über den NSU.

Die Politiker müsstendoch etwas tun. Warum küm-mert sich nicht die Kanz -lerin persönlich um dieserechtsradikalen Gruppen?

Denn da draußen, da istsich Hanife Ceylan sicher,gibt es noch andere, Freun-de, Nachahmer, Unterstüt-zer von Mundlos, Böhn-hardt, Zschäpe, die vollen-den wollen, was die Terro-risten begonnen haben. Des-halb besteht das Leben derCeylans seit diesem Tag beider Polizei aus Vorsicht undVerboten, deshalb soll nie-mand ihren Namen wissen.

„Du darfst Sonntag nichtallein in den Laden, du hastschwarze Haare“, sagt die

Mutter zu ihrem Sohn, der helfen will.Auch zur Frühschicht lässt sie niemandenallein aufschließen. Im Winter ist der La-den von innen abgeriegelt, bis es hellwird. Aber Hanife Ceylan ist überzeugt:Selbst wenn die Polizei immer auf derStraßenseite gegenüber stünde, könnteniemand sie schützen. Auch der Adlerauf ihrem deutschen Pass wäre nichtswert. „Wenn der liebe Gott will, dass dieuns töten, dann kann uns niemand ret-ten.“ ÖZLEM GEZER, SIMONE KAISER

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Gedenktafel für Opfer des NSU in Wiesbaden: „Auch meine Welt zerstört“

Gerhard Spannbauer ist ein Mann,der mit dem Schlimmsten rechnet,schon aus geschäftlichen Gründen.

In seinem Ladenlokal in Gauting bei Mün-chen und übers Internet verkauft er Rog-genbrot in Dosen, haltbar bis 2015, Hart-kekse aus Sojaprotein, haltbar bis 2028,Notfalltoiletten mit Zubehör. Auch die inTarnfarben lackierte Armbrust BarnettQuad 400, Schussweite 70 Meter, hatSpannbauer im Angebot, denn nach demTag X müsse man sich auf Plünderer ge-fasst machen. Die Armbrust sei eine „ef-fektive Waffe, um Störenfriede auf Ab-stand zu halten“, heißt es in seinem Ver-kaufskatalog.

Spannbauer handelt mit Produkten,die in einer Welt ohne funktionierendeStromversorgung das Überleben sichernsollen, und seine Geschäfte gehen gut.Täglich fährt ein Laster auf dem Hof desSurvival-Shops vor, um Pakete mit Petro-leumkochern und kurbelbetriebenen Ta-schenlampen abzuholen. „Die Nachfrageist groß“, sagt Spannbauer, der deutschenEnergiewende sei Dank.

Seit die Bundesregierung begonnenhat, Atomkraftwerke durch Solardächerund Windräder zu ersetzen, geistert eineSchreckensvision durchs Land: Was,wenn der Strom ausfällt? Behörden ar-beiten Einsatzpläne für einen Blackoutaus. Polizei und Feuerwehr üben für denErnstfall. Unternehmen investieren Mil-lionen in Notstromaggregate.

Glücklich, wer über einen geräumigenKeller verfügt. Das dem Innenministe -rium unterstellte Bundesamt für Bevöl-kerungsschutz und Katastrophenhilfe rätjedem Bürger, sich einen „14-tägigenGrundvorrat“ an Lebensmitteln anzule-gen, die ohne Tiefkühltruhe haltbar sind,darunter 4,6 Kilogramm Getreide undKartoffeln, 5,6 Kilogramm Gemüse undHülsenfrüchte sowie 24 Liter Getränke.

Tatsächlich ist das Risiko eines Strom-ausfalls im Zuge der Energiewende ge-stiegen, zumal jetzt im Sommer, wennaus heiterem Himmel viel Solarstrom indie Leitungen schießt. Um die Spannungkonstant zu halten, müssen die konven-tionellen Kraftwerke dann ganz schnellheruntergefahren werden – bis das nächs-te Tiefdruckgebiet heraufzieht. Dannwird der Strom aus anderen Kraftwerkenplötzlich wieder dringend gebraucht.

An manchen Tagen drängen auch gi-gantische Windstrommengen von dernorddeutschen Küste in die Netze – dochwohin damit? Die größten Stromabneh-mer sitzen nicht im Norden, sondern eherim Westen und Süden der Republik, undes mangelt an Starkstromleitungen, diedie Regionen verbinden.

Das System ist nah an der Belastungs-grenze. Bereits im März habe es eine Rei-he „schwer beherrschbarer Situationen“gegeben, so die Bundesnetzagentur in ih-rem „Kurzbericht zur Systemsicherheit“.In einigen Regionen gebe es „großen An-lass zur Sorge“, insbesondere in Süd-deutschland. Der Ausbau der erneuer -baren Energien wird zum Stresstest für die überkommene Netzinfrastrukturund für das Nervenkostüm verängstigterBürger.

Jochen Homann, Chef der Netzagentur,sagt zwar, er rechne nicht mit einemBlackout, schon gar nicht mit einem, derTage oder gar Wochen anhält. Dennochlegte er seinen Mitarbeitern nahe, sichstärker als bislang mit den möglichen Fol-gen zu beschäftigen. Die Notstromversor-gung der Behördenzentrale wurde auf sei-ne Order hin überprüft und ausgebaut.

Homann hat ein Buch gelesen, das ihnbeeindruckt hat: „Blackout“ von MarcElsberg. Hinter dem Pseudonym stecktMarcus Rafelsberger, ein Österreicher, dermäßig erfolgreiche Kriminalromane ver-öffentlichte, bevor ihm die Idee kam, dasThema Stromausfall in einem 800-Seiten-Endzeitthriller zu verarbeiten. In seinerVersion versinkt binnen weniger Tage diehalbe Welt in Chaos und Aufruhr, weilsich Computer-Hacker über das labileStromsystem hermachen. Das Buch istein Bestseller. Die deutsche Auflage liegtbereits bei über 130000 Exemplaren.

Fachleute bescheinigen Rafelsbergeralias Elsberg, bei allen dramaturgischenÜbertreibungen, gründlich recherchiert zuhaben. „Die Auswirkungen eines Black-outs werden hier gut dargestellt“, lobtNetzagenturchef Homann. Das Bundes-amt für Bevölkerungsschutz und Kata-strophenhilfe lud den Romanautor zu ei-ner Podiumsdiskussion ein, ebenso einvom Innenministerium unterstützter Zu-kunftskongress und mehrere Stromver-sorger. „Die Diskussion um die Energie-wende hat dem Verkauf meines Buchs

natürlich sehr genutzt“, sagt Rafelsberger,ein eher besonnen wirkender 46-Jähriger,der nach eigener Aussage persönlich we-der über einen Vorrat an Hartkeksennoch über eine Armbrust verfügt.

Die Blaupause für sein Buch stammtaus offizieller Quelle. Bereits 2011 legtedas Büro für Technikfolgen-Abschätzungbeim Deutschen Bundestag eine Studiezum möglichen Verlauf eines Stromaus-falls in Deutschland vor. Der Berichtselbst liest sich wie ein Thriller: „DieWahrscheinlichkeit eines lang andauern-den Stromausfalls mag gering sein“, heißtes da. „Träte dieser Fall aber ein, kämendie dadurch ausgelösten Folgen einer na-tionalen Katastrophe gleich.“

Das Szenario für den Bundestag siehtso aus: In den ersten Stunden ohne Strom

Deutschland

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S I C H E R H E I T

Dosenbrot und KurbellampeDas Misstrauen gegenüber der Energiewende wächst.

Katastrophenschützer, Unternehmen und besorgte Bürger trainierenbereits für den Ernstfall: das Überleben ohne Strom.

Stromausfall in New York 2012, Survival-Experte

kommt es wegen der Ampelausfälle zuzahlreichen Verkehrsunfällen. Die Mobil-funknetze sind teilweise überlastet. DieKühlung in Supermärkten fällt aus, Auf-züge bleiben stecken. In Wasserwerkenund Krankenhäusern stellen mit Dieselbetriebene Stromaggregate eine Notver-sorgung sicher – für etwa 24 Stunden.

Am zweiten Tag müssten die Genera-toren mit Diesel befüllt werden, doch derNachschub stockt. Die elektrisch betrie-benen Zapfsäulen an den Tankstellen ge-ben nichts her. Liegengebliebene Autosund Lastwagen verstopfen die Straßen.Weil viele Menschen Kerzen aufstellen,brechen vermehrt Wohnungsbrände aus.Schweine, Rinder und Hühner in Massen-tierhaltung erkranken und verenden,ebenso Milchkühe, die nicht mehr gemol-

ken werden können. Lebensmittel wer-den knapp. Nur wenige Kühllager könn-ten die Notstromversorgung länger als 48Stunden aufrechterhalten, heißt es in demBericht.

Ab dem dritten Tag zerfällt die öffent-liche Ordnung. Fernseher und Radio blei-ben stumm, sofern sie nicht mit Batteriebetrieben werden. Telefon und Internetfunktionieren nicht.

Dem Leser von Rafelsbergers Endzeit-thriller läuft an dieser Stelle ein wohligerGruselschauer über den Rücken. Gerüchteverbreiten sich, womöglich sind Atom-kraftwerke havariert, es herrschen Miss-trauen, Panik. Das Bundesforschungsmi-nisterium nahm die Bedrohung immerhinso ernst, dass es eine Studie zum ThemaTreibstoff-Notversorgung in Auftrag gab.

Dabei fanden Wissenschaftler der BerlinerHochschule für Wirtschaft und Recht zu-sammen mit Polizei und Feuerwehr heraus,dass tatsächlich nur wenige Tankstellen inder Lage wären, bei einem Stromausfallweiter Benzin und Diesel zu liefern.

Zu ähnlich beunruhigenden Resultatenkam vor einigen Monaten ein Workshop„Operative Vorbereitung auf Stromausfäl-le“ des Fraunhofer-Instituts für Ange-wandte Informationstechnik. Die Krisen-pläne sollten überdacht werden. Schondie Verständigung der Rettungseinheitensei mitunter ein Problem. Sollten größereRegionen betroffen sein, „stellen sich un-mittelbar Fragen nach öffentlicher Ord-nung und Erhalt der gesellschaftlichenund industriellen Rahmenbedingungen“,hieß es in einer Erklärung.

Kein Wunder, dass sensible Naturennervös werden. In Internetforen und beisogenannten Krisenstammtischen tau-schen sich Menschen aus, die gerüstetsein wollen. Sie nennen sich „Prepper“,in Anlehnung an das englische Verb „pre-pare“, „vorbereiten“. Wie viele Prepperes gibt, lässt sich nicht beziffern, denn siegeben sich nicht gern zu erkennen. VonTeilen der Öffentlichkeit werde man lei-der nicht immer für voll genommen, klagtein Forumsteilnehmer.

Den letzten Massenzulauf hatte diePrepper-Bewegung in Vorbereitung aufden Weltuntergang, den der Maya-Kalen-der für Dezember vergangenen Jahresvorsah. Nachdem der ausblieb, gilt nunder Stromversorgung größte Besorgnis.Die Szene teilt sich in zwei Lager: Die„Camper“ wollen sich im Ernstfall in einem Versteck einigeln und Vorräte bereithalten. Die „Bushcrafter“ hin gegenstellen sich auf ein Leben in der Wildnisein. Sie lernen Angeln und Jagen und be-schäftigen sich mit Pflanzenkunde, umessbare Wildkräuter erkennen zu können.

Für Oktober ist ein Deutschland-Tref-fen geplant. Es geht um Fragen von gro-ßer Tragweite: Braucht man eine Waffeund, wenn ja, welche? Lohnt sich ein So-larkocher? Wie hält man sich körperlichfür den Ernstfall fit, und wo bleiben Le-bensmittel länger frisch? Prepper ausNorddeutschland fuhren bereits vergan-genes Jahr für einige Tage ins Grüne, umBundeswehr-Kekse zu essen und sich dar -in zu üben, ein Lagerfeuer ohne Hilfsmit-tel zu entzünden.

Auch Spannbauer, der Händler vonSurvival-Produkten aus Gauting, ist vor-bereitet. Er hat Vorräte gebunkert. AmTag X wird er seine Frau und die beidenKinder ins Auto setzen und sein Versteckansteuern. Wo es liegt, soll niemand wis-sen. Seine Familie wäre sonst in Gefahr.„Wer nicht vorgesorgt hat, wird schauen,wo es was zu holen gibt“, sagt er. „Unddann stehen sie plötzlich alle bei mir vorder Tür.“ ALEXANDER NEUBACHER,

TOBIAS SCHULZE, MICHAEL STÜRZENHOFECKER

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Spannbauer, Thrillerautor Rafelsberger: Glücklich, wer über einen geräumigen Keller verfügt

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Szene

Blancaflor (l., mit Sonnenbrille)

Was war da los,Herr Blancaflor?

Ricardo Blancaflor, 59, Direktor der Be-

hörde für geistiges Eigentum auf den Phil -

ippinen, über die Lust an der Zerstörung:

„Wenn man mit einem Panzer überSonnenbrillen fährt, hört sich das an,als würden Gläser der Reihe nach voneinem Tisch fallen. Das haben mir zu-mindest die Leute gesagt, die auf derStraße standen. Ich hing seitlich andem Fahrzeug, wegen des lauten Mo-tors habe ich nicht viel gehört. Wirmachen diese Zerstörungszeremonieeinmal pro Jahr. Eine Stunde lang fah-ren wir mit dem Panzer über gefälsch-te Sonnenbrillen und Medikamente,wir werfen nachgemachte Bücher undCDs in einen Schredder. Taschen undKleider zerschneiden wir. TausendeFilipinos verlieren jedes Jahr ihren Job,weil der Markt mit gefälschten Pro-dukten überschwemmt wird. Die Son-nenbrille, die ich trage, ist in Ordnung.Ich habe sie in einem vertrauenswür-digen Geschäft gekauft.“

Monique Luckas, 38, arbeitet beim

Leibniz-Zentrum für Agrarlandschafts-

forschung in Müncheberg. Das Institut

erstellt gemeinsam mit dem Bundes -

forschungsinstitut für Tiergesundheit

einen „Mückenatlas“ für Deutschland.

SPIEGEL: Wohin in Deutschland sollteich im Sommer nicht reisen, wenn ichmich vor Mücken fürchte?Luckas: Die Hochwassergebiete sindsehr mückenreich. Aber auch überallsonst muss man mit Stichen rechnen.Es ist ein überaus mückenfreundlichesJahr. Erst gab es viel Regen, das Was-ser stand lange, dann wurde es warm:Idealbedingungen für die Vermehrung.SPIEGEL: Sie erfassen die Insekten imganzen Bundesgebiet. Was wollen Sieüber die deutsche Mücke lernen?Luckas: Es gibt nicht eine, sondern 49Stechmückenarten, die hier bisher be-kannt waren. Die häufigste ist die Cu-lex pipiens, die Gemeine Stechmücke.Jahrzehntelang wurden die Mückenvon der Forschung kaum beachtet,aber nun ist eine Inventur wichtig.Schon um einschätzen zu können, wel-che neuen Krankheitserreger übertra-

gen werden könnten. Durch die Glo -balisierung verändert sich auch dieMückenwelt. Wir haben schon die ersteneuangesiedelte Art entdeckt.SPIEGEL: Gefährlich?Luckas: Es ist die Asiatische Busch -mücke. Im vergangenen Sommer beka-men wir aus dem Köln-Bonner Raumsieben, acht Exemplare eingeschickt.Unser Team hat Proben genommen,etwa in den Gießkannen auf Fried -höfen. Wir fanden ein Gebiet von

2000 Quadratkilometern, in dem dieneue Art heimisch ist. Sie kann dasWest-Nil-Virus übertragen. Aber bisher tut sie das nicht, keine Sorge.SPIEGEL: Wie kommt die AsiatischeBuschmücke nach Köln?Luckas: Vermutlich über den Gebraucht -reifenmarkt. Alte Reifen werden impor-tiert und hier für den Straßenbau ver-wendet. Vor dem Transport lagern siein Asien draußen, bei Regen legen Mücken dann darin Eier ab.SPIEGEL: Sie bitten die Bürger, Ihnentote Mücken zu schicken. Warum?Luckas: Wir können dadurch etwas ler-nen über Population und neue Arten.Am besten fängt man die Mücke miteinem Marmeladenglas, friert sie überNacht ein und packt sie in eineStreichholzschachtel. Bitte nicht tot-schlagen, dann können wir sie nichtidentifizieren. Auf unserer Websitegibt es ein Einsendeformular.SPIEGEL: Was hat man davon?Luckas: Wir schicken jedem Einsendereine E-Mail, in der steht, was das füreine Mücke war. Wo brütet sie, wo istsie heimisch? Was kann man tun,wenn man sich von ihr belästigt fühlt?

Wo lauern unsere Feinde, Frau Luckas?

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Gemeine Stechmücke

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Gesellschaft

AusgechecktEINE MELDUNG UND IHRE GESCHICHTE: Wie ein Kanadier in Tegel eine Abschiebung verhinderte

François-Xavier Sarrazin, 38, ein Fo-tograf aus Kanada, beschließt, einenMenschen zu retten. Er sitzt in ei-

nem Internetcafé in Kreuzberg, seine Fin-ger klopfen auf die Tasten, nun brauchtSarrazin nur noch ein Flugticket und et-was Mut.

Er ruft die Seite von Air Berlin auf, erwählt den Abflughafen Berlin-Tegel, denZielflughafen Budapest. Zwischen beidenliegen 712 Kilometer, 85 Minu-ten Flugzeit. Es ist ein Linien-flug – aber auch ein Abschie-beflug, der von Usman Manir,einem Mann aus Pakistan.

Der Flug hat die NummerAB 8636. Sarrazin bucht eineinfaches Ticket. Er hat be-schlossen, dass es an der Zeitsei, Deutschland, seinem Ein-wanderungsland, ein Zeichenzu geben.

Um 7.30 Uhr am nächstenMorgen geht Sarrazin, einMann mit Bartschatten undbreiten Schultern, durch die Sicherheitskontrolle am Flug-hafen Tegel. Es dauert nicht lan-ge; Sarrazin hat kein Gepäckdabei. Er setzt sich auf einenPlastikstuhl und wartet auf denAufruf zum Boarding, der Ab-flug soll um 8.35 Uhr sein.Draußen fährt ein Polizeiwa-gen vor. Sarrazin weiß, werzwischen den Polizisten sitzt:Usman Manir.

Sarrazin kontrolliert seine At-mung. Er will wie ein Reisenderwirken, ruhig, voller Vorfreude.Ein Urlauber, so soll es sein.

Er kennt Manir nicht. Aber er hat vonihm gehört. Ein Bekannter, Aktivist beieiner Flüchtlingsorganisation, hat ihm Ma-nirs Geschichte erzählt.

Sarrazin erfuhr, dass Manir, 27, vor denTaliban aus Pakistan geflohen sei. Dasser nach Ungarn kam, wo ihm, bei einemÜberfall im Lager Debrecen, ein Mannso lange auf den Kopf trat, bis sein Schä-del brach. Er hörte, dass Manir seitdemauf einem Ohr taub ist und Panikattackenhat; dass er weiter nach Deutschland flohund im Abschiebegefängnis Eisenhütten-stadt landete, in Brandenburg.

Als Sarrazin früh am Morgen in denTerminal kam, gaben Aktivisten ihm einFlugblatt mit Manirs Geschichte.

Er las darauf, dass ein Flüchtling nachdem Dublin-II-Verfahren in das EU-Landabgeschoben werden kann, das er auf sei-ner Flucht zuerst betreten hat. Er hatteaber auch gehört, dass Manir nicht nachUngarn will, wo die Bedingungen für ihnnoch schlechter sind. Sarrazin konnte dasverstehen. Er fand, dass Deutschland, dasLand, das ihn so freundlich aufgenommenhatte, auch diesen Mann empfangen sollte.

Sarrazin kommt aus Montreal in Que-bec, er lebt seit 18 Monaten in Kreuzberg.Er hat ein Künstlervisum und verkauftseine Fotos am Maybachufer, Bilder vonFelsen, Pferden und Männern. Viel Weit-winkel, ein stiller, scheuer Blick. Sarrazinist Diplomatensohn, er hat in 20 Länderngelebt. Sein Bewegungsprofil wäre das ei-nes Flummis. In Berlin, sagt er, sei einKnoten geplatzt. Das erste Mal Heimat,ein 18 Monate währender Rausch.

Wenn Sarrazin durch diese Stadt läuft,sieht es aus, als bewege er sich auf einemglücklichen Trip. Er trägt Turnschuheohne Strümpfe, die Jeans hochgekrem-pelt, er isst Pizza New York Style im „Vil-la di Wow“, er trinkt Club-Mate und biegt

um die Ecken, als wäre hier Wunderland.„Berlin“, sagt er. „Berlin, Berlin, Berlin.“

Das Einzige, was Sarrazin in dieserStadt je gestört hat, war ein Aufkleber,auf dem stand: „Kein Sex mit Sarrazin“.

Sarrazin findet, jeder Mensch sollte,wenn er möchte, in diesem Wunderlandleben können. Auch Usman Manir.

Als Sarrazin am 20. Juni in das Flug-zeug steigt, sieht er einen Mann in der

letzten Reihe sitzen. Er suchtseinen Blick.

Er fragt: „Sind Sie Manir?“„Yes“, sagt Usman Manir.Sarrazin geht zu seinem

Platz. Er reißt ein Blatt Papieraus seinem Notizbuch undschreibt mit Kugelschreibereine Botschaft darauf. Das Flug-zeug rollt los. Sarrazin stehtauf. Er bleibt im Gang stehen.

Er weigert sich, der zwei -fachen Aufforderung eines Ste-wards, er möge sich hinsetzen,Folge zu leisten. Er zeigt seinPapier, darauf steht: „For hu-manitarian reasons I refuse tolet this airplane depart withoutUsman Manir being taken off.“

Aus humanitären Gründenwürde er dieses Flugzeug nichtstarten lassen. Zumindest nichtmit Manir an Bord.

Die Passagiere schauen ihnan. Er erklärt, dass er kein Ter-rorist sei. Dass es um Menschen -rechte gehe. Ein Mann sagt:„Halt’s Maul“, die anderenschweigen. Der Pilot hält an.Die Polizei holt die Männer her -aus, Manir geht vor Sarrazin.

Der Flug AB 8636 startet an diesemMorgen mit zehn Minuten Verspätung.

Sarrazin wollte Manir Deutschland zuFüßen legen. Er wollte, dass Manir einglücklicher Migrant würde, wie er. Dasser eines Tages Ja sagen könne, wenn eineStadt sich ihm anböte. Manir brach, alser im Polizeibus saß, zusammen.

Er kam zurück nach Eisenhüttenstadt.Der Termin seiner Abschiebung wurdeauf den 11. Juli verlegt, sagt sein Anwalt,er möchte sie mit Hilfe eines ärztlichenGutachtens verhindern.

Sarrazin läuft weiter durch Kreuzberg,berauscht von diesem Ort. Manchmalhat er jetzt Angst, dass er abgeschobenwird. KATRIN KUNTZ

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Sarrazin vor Flüchtlingscamp in Berlin-Kreuzberg

Aus der Online-Ausgabe der „taz“

Für Diya begann der Aufstand in In-dien an dem Tag, als sie bei der Poli -zei saß, ein verschüchtertes 13-jäh-

riges Mädchen, und einen Satz fand für dasUnsagbare: „Er hat mir Falsches angetan.“Sie schwieg nicht, obwohl der Mann ge-sagt hatte: „Wenn du mich verrätst, töteich deinen Bruder.“ Sie sagte aus.

Über jenen Abend, als sie losgelaufenwar, ein Kind mit Spängchen im Haar, ei-nen Blecheimer in der Hand. Ein paarSchritte waren es nur von Diyas Hauszum Wasserhahn des Dorfes, die Elternhatten sie geschickt. Diya wollte schnellzurück sein. Die Stunden vor dem Schla-fengehen waren die schönsten am Tag.Diya liebte die Geschichten, die der Fern-seher abends erzählte, wenn die Familie

zusammensaß. Sie mochte Salman Khan,den Bollywood-Star, sie mochte sein Lä-cheln. Das war im April.

Jetzt im Mai will Diya lernen, wie maneinem Mann die Nase bricht. Sie will ler-nen, wie man einen Mann ohnmächtigschlägt, ihm die Hoden zertritt und einenSchlüssel ins Auge rammt. Sie will lernen,wie man einen Mann tötet.

Diya heißt sie seit jenem Abend, alsder Mann im Dorf sie packte und in denHof eines leerstehenden Hauses zerrte,als er seinen Mund auf ihren presste, sodass ihr nicht einmal Luft blieb zumSchreien. Es ist ein Name, hinter dem siesich verstecken soll. Niemand darf dieIdentität einer Geschändeten öffentlichmachen, so will es das Gesetz. Diya aber

will sich nicht verstecken. Diyas Familieist arm, sie sind Dalit, „Unberührbare“,tiefer kann man im indischen Kasten -wesen nicht stehen. Der Mann, der Diyadie Kindheit nahm, war Alkoholiker,ohne Frau, ohne Arbeit. Aber er stammteaus einer höheren Kaste. Dalit-Mädchen,glaubte er, kann man benutzen. So wares früher immer gewesen, doch diesmalirrte er sich.

Früher hätte Diyas Vater sie wahr-scheinlich nicht gedrängt, die Wahrheitzu sagen, früher wären sie wahrscheinlichnicht zur Polizei gegangen. Aber es istviel passiert in den Monaten zuvor, in In-dien, und nicht nur dort.

Geschichten gehen um die Welt, dievon dieser Welt als barbarischem Ort er-

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R E B E L L I O N E N

Malalas SchwesternIm vergangenen Herbst wurde eine 15-jährige Bloggerin in Pakistan niedergeschossen,

weil sie das Recht auf Bildung forderte. Nun kämpfen Mädchen weltweit gegen Gewalt und Unterdrückung – das Porträt einer jungen, globalen Bewegung.

Gesellschaft

zählen und ausgerechnet von Kindern,die sich dagegen wehren. Die Geschichtevon Malala, der 15-jährigen Bloggerinaus Pakistan, die ihre Lust zu lernen mitzwei Kugeln im Kopf bezahlte, überlebteund weiter zu ihrem Kampf für Mädchen-bildung steht. Die „Wedding Busters“ inBangladesch, das sind Minderjährige, diedurch die Dörfer ziehen, um Kinder vorZwangsehen zu bewahren. KenianischeMädchen, die sich der Genitalverstüm-melung verweigern, obwohl sie fürchtenmüssen, dass ihre Familie daran zer-bricht.

Das Erschrecken in den Ländern desWestens mischt sich mit Irritation.

So schlimm ist es?So schlimm ist es, immer noch.

Was alltäglich ist, wird übersehen, schrei-ben die amerikanischen Autoren NicholasKristof und Sheryl WuDunn in ihremBuch „Die Hälfte des Himmels“. „WirJournalisten sind meistens darauf bedacht,gut über Ereignisse des Tages zu berichten,übergehen aber Dinge, die jeden Tag pas-sieren – wie die alltägliche Grausamkeitgegenüber Frauen und Mädchen.“

Frauen verschwinden – 60 bis 100 Mil-lionen fehlen, nach Schätzungen von Ent-wicklungspolitikern. Weil sie abgetriebenwurden. Oder weil sie an Vernachlässi-gung gestorben sind. Weil sie die Geni-talverstümmelung nicht überlebt habenoder die häusliche Gewalt. Oder weil sieim Kindbett sterben, während sie selbstnoch Kinder sind. Die häufigste Todes -

ursache bei weiblichen Teenagern sindKomplikationen bei der Geburt.

Gordon Brown, der ehemalige briti-sche Premierminister, hat dazu eine Stu-die vorgelegt, seit seinem Abschied ausdem Amt beschäftigt er sich mit Kinder-rechten. Er sieht schon so etwas wie eineKinderrechtsbewegung: Zum ersten Mal,schreibt Brown, seien es nicht die Erwach-senen, sondern die Mädchen selbst, diesich als Motoren ihrer Bewegung verste-hen. Mädchen, die sich einmischen in politische Kämpfe oder die selbst solcheKämpfe entfachen. Nach den Schüssenauf Malala formulierte Brown: „Für jedeMalala, auf die geschossen wird, um sieverstummen zu lassen, gibt es jetzt Tau-sende Malalas, die man nicht mehr zumSchweigen bringt.“

Malala wird am Freitag dieser Wochevor der Uno sprechen. Eine Uno-Petitionfür Mädchenbildung geht um die Welt, „I am Malala“, heißt der Aufruf, er wirdgehört. Eine „Generation Malala“ ist her -angewachsen, Mädchen und junge Frauenwie Diya in Indien, Isadora in Brasilien,Valentini in Südafrika, wie die Kambo-dschanerin Sina, wie Nahla in Ägypten.Eine Generation, die es nicht mehr fürselbstverständlich halten will, dass ihreWeiblichkeit sie in Lebensgefahr bringt –der Beginn eines Aufstands? Oder gar ei-ner Revolution?

Indien jedenfalls hat sich radikal ver-ändert in den vergangenen Monaten.Nach dem Martyrium jener jungen Fraunamens Jyoti, die von sechs Männern ineinem Bus gefoltert und vergewaltigt wur-de und später in einem Krankenhausstarb, brach plötzlich Wut aus über Dinge,die lange alltäglich waren. Plötzlichschrieben die Zeitungen ständig über dasLeid von Indiens Töchtern: Vierjährigevergewaltigt, Fünfjährige vergewaltigt.Plötzlich drängten die Frauen auf die Stra-ße, Zehntausende, überall. In Delhi über-rannten Frauen die Behörden mit Anträ-gen auf einen Waffenschein. Im Bundes-staat Bihar stürzten sich Frauen auf einenMann, rasierten ihm Haare, Augenbrauenund Schnurrbart ab. Es hieß, er habe sei-ne neunjährige Tochter vergewaltigt. Bishin zum Lynchmord ging der Aufruhr: Ineinem Slum in Mumbai brachten vierFrauen einen Mann um, den sie als Täterbetrachteten, als dieser nackt aus seinerHütte kam.

So sind indische Frauen zu Rächerin-nen geworden, die nicht mehr glauben,dass die Männer im Dienste des Staatessie vor anderen Männern beschützen.

Diya, die in dieser rohen Zeit großwird, sitzt auf dem Bett in einem kleinenHaus in Lucknow, der Hauptstadt desBundesstaates Uttar Pradesh, ihre staksi-gen Beine hängen von der Kante. Sieschaut die Mädchen an, die in den Raumstürmen, sie sind 14, 16, 17 Jahre alt. Sienennen sich „Rote Brigade“ und sind eine

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Kampfsportgruppe „Rote Brigade“ im indischen Lucknow

Quellen: Uno, Weltbank

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INDIEN

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BRASILIEN

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SÜDAFRIKA

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Schulabschlusssekundar, Prozentder über 25-Jährigen,2006 bis 2010Frauen Männer

Festnetz- undMobiltelefonVerträge je 100Personen, 2010

Jugendliche MütterGeburten je 1000 Frauen(15 bis 19 Jahre), 2012

ParlamentssitzeAnteil der Frauenin Prozent, 2012

Müttersterblichkeitje 100000 Lebend-geburten, 2010

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ÄGYPTEN

*Schätzung

Die Welt der Frauen

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KAMBODSCHA

milie Diya nächstes Jahr verheiraten, mit14 Jahren, so wie es in Indien oft nochüblich ist. Doch seit sich der Mann anDiya verging, redet niemand mehr übereine Hochzeit. Es wird schwer sein, einenMann zu überzeugen, dass er ein geschän-detes Mädchen nimmt.

Diya muss ein neues Leben finden. Esfängt damit an, dass sie wieder zur Schulegehen wird, so wie die anderen von der

Roten Brigade auch. Die Gruppe will ihrBücher und eine Schuluniform besorgen,die sie sich sonst nicht leisten könnte. DerMann, an jenem Abend im April, hatteversucht, Diya die Zukunft zu nehmen.Die Mädchen versuchen, ihr eine andereZukunft zu geben.

Politik mit dem Computer: Rebellion in BrasilienFür Isadora begann der Aufstand in Bra-silien im vorigen Sommer, als ihre Schwes-ter von einem schottischen Mädchen er-zählte, das sein fieses Schulessen fotogra-fierte, die Fotos ins Netz stellte und Klicksaus aller Welt bekam.

Isadora Faber, 14 Jahre alt, ist Blogge-rin und Facebook-Kind, sie bekommtNachrichten mit. Sie weiß von Jyoti inIndien, und natürlich weiß sie auch vonMalala. Als sie auf Facebook von denSchüssen erfuhr, schrieb sie in ihren Blog:„Ich habe mir nie vorstellen können, dasses zu diesem Punkt kommen könnte.“Und dann machte sie weiter.

„Klassentagebuch“ heißt der Blog vonIsadora Faber ganz harmlos, „Diário deClasse“, er hat 600000 Leserinnen und

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Kampfsportgruppe. Sie tragen lange, roteHemden. Rot sei die Farbe für Gefahrund Kampf, sagen sie.

Sie erzählen vom Schulleiter, der ei-nem Mädchen an die Brüste fasst, vonder Schulkameradin, die vergewaltigtwird und danach nie wieder in die Schulekommt. Sie erzählen, wie sie sich wehren.

Zwei Jahre lang hatten die Mädchenmit Worten kämpfen geübt, hatten ihrerAnführerin zugehört, einer 25-Jährigen,die sie „große Schwester“ nennen. Fragt,hatte die große Schwester ihnen aufge-tragen, fragt eure Eltern: Warum be-kommt mein Bruder mehr Essen als ich?Warum kriegt er Milch und ich nicht?War um darf er weiter zur Schule gehenund ich nicht?

Seit Januar üben sie Kung-Fu, undDiya gehört jetzt dazu. Diyas Vater hattedie Anführerin der Roten Brigade ange-rufen. Diyas Vater dachte, vielleicht könn-ten die Mädchen irgendwie helfen.

Die Gruppe hält zusammen, über Kas-tenschranken hinweg, das ist ungeheuer-lich für Indien. Das hilft, das neue Lebenzu ertragen. Das alte Leben passt nichtmehr zu Diya. Eigentlich wollte die Fa-

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Bloggerin Isadora

Bewunderung und Hass

zu Unrecht an den Pranger gestellt. EineLehrerin erstattete Anzeige wegen Ver-leumdung. Mitschüler bedrohten Isadora.

Vier Wochen später flogen Steine überdie Mauer ihres Elternhauses. Ihre Groß-mutter wurde an der Stirn getroffen, dieWunde musste genäht werden, die Täterentkamen unerkannt. Im Februar schick-te ihr jemand unter falschem Namen eineMorddrohung via Facebook: „Halte dieAugen schön geöffnet, wenn du aus demHaus gehst“. Sie erstattete Anzeige, diePolizei ermittelt.

Sie hat eine große Sache in Gang ge-bracht, viel zu groß eigentlich für ihr Al-ter. Ein Kind der digitalen Moderne, dasdie Macht der Medien nutzt für eine Re-bellion, wie es sie früher nicht gab.

Auch weil Mädchen wie Isadora sojung sind, sind sie etwas Besonderes. Des-halb wird ihre Botschaft weitergetragen,von den lokalen Medien zu den nationa-len zu den internationalen, man hört jetztauch in den USA, in Europa von IsadoraFaber.

Die „Financial Times“ hat sie zu den25 einflussreichsten Menschen in Brasi-lien gezählt.

Flucht vor der Farm: Bildungshunger in SüdafrikaFür Valentini begann der Aufstand in Süd-afrika, als sie ein Gästezimmer putzteund plötzlich vor Lindiwe Mazibukostand. Vor der Oppositionschefin im süd-afrikanischen Parlament, die bekannt ist

für kluge Widerworte gegen die Männer-regierung, sie stammt aus einer Townshipund hat es nach ganz oben geschafft. Va-lentini hatte ihr Bild aus Zeitschriften ge-schnitten, weil diese Politikerin, abgese-hen von Michelle Obama, ihr wichtigstesVorbild war. Zwei sternenferne, unwirk-liche Idole, denen ein Landarbeiterkindnormalerweise nie begegnen würde.

Und da stand dieses Vorbild plötzlichim Zimmer, es war zu einer Hochzeitsfei-er in dieses Hotel gekommen, und fragteValentini aus: Wie alt bist du? WelcheSorgen hast du? Welche Wünsche?

Valentini ist 17 Jahre alt, ein Mädchenin braun-gelber Schuluniform, das ebenerhitzt vom Unterricht heimkommt, miteinem Bus aus der nächsten Kleinstadt.

Es ist schön, wo Valentini lebt,eine Apfelplantage im größtenObstanbaugebiet Südafrikas,das Äpfel für den Export produ-ziert, „Pink Lady“ für Europa.Das Landgut Montieth gehört einem wohlhabenden weißenFarmer, ihre Eltern arbeiten fürihn, jeder arbeitet für ihn. Esgibt wenige Alternativen für„coloureds“, wie das in Südafri-ka heißt, für Farbige wie Valen-tini Valentine und ihre Familie.

Sie weiß nicht mehr genau,wann es war, irgendwann letztesJahr zur Erntezeit, als sie mor-gens zum Bus ging, die Obst-baumreihen entlang, und sah,wie Apfelpflückerinnen Äpfelsortierten. Und dachte: Ich willnicht leben wie die.

Nicht wie diese Tagelöhnerin-nen, schuftend für den Boss, ver-gewaltigt vom Ehemann, der zuviel trinkt. Nicht wie diese Frau-en, die nichts anderes als denAlltag auf der Farm kennen. Diearm sind und dumm gehaltenwerden und schon in jungen Jah-ren resignieren.

Die Farm, sagt sie, sei wieeine Falle und dass viele dasnicht merkten, oder nicht früh

genug. Warum hat sie es gemerkt? Viel-leicht weil sie eine Mutter hat, die sichbis ins Büro hochgearbeitet hat und derTochter empfiehlt: Geh deinen Weg!Oder weil sie diese eine junge Lehrerinhat, eine engagierte unter vielen Gleich-gültigen, die das Selbstwertgefühl derMädchen stärkt: Glaubt an euch!

Es wirkt sich aus, dass immer mehrMädchen zur Schule gehen, weltweit undauch in Südafrika. Bildung bringt Hungerauf Bildung. Bildung bringt das Wissen:So, wie es ist, muss es nicht sein.

Aber wie dann? Bildung, als Globalisierung von Wissen,

bringt neue Ideen. Bringt Nachrichtenüber Länder, in denen Frauen Staats -chefinnen sind, in anderen dürfen sie

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Gesellschaft

Leser, hat ihr Bewunderung und Hass beiSchülern, Eltern und Lehrern eingebracht.Und Morddrohungen, auch das.

Isadora geht in die achte Klasse derSchule „Maria Tomázia Coelho“ in Flo-rianópolis im Süden Brasiliens und isteine Berühmtheit, durch ihren Blog undihre Wut.

Ein Mädchen in Jeans, T-Shirt und ro-ten Turnschuhen, das mit den Eltern undder Großmutter und seinem Pudel in ei-nem Flachbau in einem Mittelschichts-viertel von Florianópolis lebt. Und einenLaptop und ein Handy besitzt, das sinddie Mittel, mit denen es Lehrer und Bil-dungspolitiker quält.

Brasilien, ein „Schwellenland“, wie esheißt. Eine aufstrebende Wirtschafts-macht, wo die Dinge scheinbarin Ordnung waren, aber in Wirk-lichkeit sind sie es nicht. Isadoraist ein global sozialisiertes Kind,das die Band Nirvana liebt und„CSI: Miami“ guckt. Sie blickthinaus in die Welt und ver-gleicht, und was sie zu Hausesieht, gefällt ihr nicht. Es gefälltimmer mehr jungen Menschennicht, wie man nun auf Brasi-liens Straßen sieht.

Das Land gibt Milliarden für die Fußballweltmeisterschaft2014 und Olympia 2016 aus, 20Milliarden Euro mindestens, unddie staatlichen Schulen verrot-ten. Wer kann, schickt seine Kin-der auf Privatschulen. Isadorabesucht die öffentliche Schule,die einzige in ihrem Viertel, undmit ihrem Handy nahm sie dieMissstände auf: die kaputte Türzum Mädchen-WC. Die Strom-kabel des kaputten Ventilators,die offen aus der Decke hingen.Das zerbrochene Fenster einesKlassenzimmers. Die herunter-gekommenen Sportanlagen, dielängst hätten gestrichen werdenmüssen, der Maler war bezahlt,aber nie erschienen. Das Chaosin der Mathe-Stunde, wo dieSchüler über die Bänke turnten, währendder Lehrer tatenlos zusah.

Am 11. Juli vergangenen Jahres startetesie das Diário de Classe. Nach drei Wochenhatte sie 3000 Leser. Viele schickten Fotosund Berichte von ihrer eigenen Schule. Bilder von zerstörten, verfallenden, über-schwemmten Gebäuden, von Prügeleienund Vandalismus im Klassenzimmer, vonweinenden und schreienden Lehrern. DieLokalzeitungen berichteten über Isadora,Fernsehteams kreuzten vor ihrer Schule auf.Die Direktorin räumte Versäumnisse ein.

Nach zwei Monaten hatte Isadora 30 000 Leser und heftige Diskussionenüber die Bildungsmisere auf ihrem Blog,und bei den Kritisierten regte sich derZorn. Lehrer beschwerten sich, sie würden

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Schülerin Valentini: Aufstand im Apfelland

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nicht einmal Auto fahren. Es gibt unzähligviele Vorstellungen, wie das Leben einerFrau zu verlaufen habe, was zählt? Uni-verselle Werte, können die existieren?

Die Hoffnung darauf gibt es spätestensseit der Aufklärung, seit 1791 die fran -zösische Frauenrechtlerin Olympe deGouges, als Antwort auf die in der Fran-zösischen Revolution deklarierten „Men-schen- und Bürgerrechte“, eine „Erklä-rung der Rechte der Frau und Bürgerin“schrieb: „Die Frau wird frei geboren undbleibt dem Mann an Rechten gleich. DieFrau hat das Recht, das Schafott zu be-steigen; sie muss gleichermaßen das Rechthaben, die Tribüne zu besteigen …“

Die Festschreibung gibt es seit 1948, alsdie Vereinten Nationen die AllgemeineErklärung der Menschenrechtepublizierten, die für alle Men-schen gelten soll: „ohne irgend-einen Unterschied, etwa nachRasse, Hautfarbe, Geschlecht“.Es ist kein völkerrechtlich bin-dender Vertrag, nur ein Orien-tierungskanon, aber einer, denein Mädchen in der Schule ken-nenlernt.

In einer guten jedenfalls. Vie-le Schulen sind nicht gut in Süd-afrika, auch Valentinis Schulenicht, findet sie.

Im vergangenen Sommer, alsdie Unzufriedenheit an ihr nag-te, erfuhr sie von einem Treffenvon Landarbeiterinnen und fuhrmit. Dort stieß sie zum erstenMal auf rebellische Mädchen,die sich trauten, eine Meinungzu haben und laut zu sein. DieMädchen fragten sich: Warumist das Leben so schwer? Wiekönnen wir das ändern? Er fühltsich gut an, sagt sie, dieser neueGedanke: Ich bin nicht allein.Das hier ist unsere Rebellion.

Man kann Valentini nun aufPodien sitzen sehen, glühendvor Stolz, wie sie die Schulmi-sere beklagt, 200 Mädchen vorsich, sie stellen Forderungen auf,dann tanzen sie und singen Lieder ausdem Kampf gegen die Apartheid, ballendie Faust.

Valentini nennt sich und ihre Mitstrei-terinnen „Survivors“, Menschen, die eineaussichtslose Lage überstehen. Denn soerscheint vielen die Lage: aussichtslos.

Sie hat Chancen, bessere, als ihre Mut-ter, Großmutter und Urgroßmutter siehatten. Sie hat die Mittel, sich mit ihrenFreundinnen zu vernetzen, per SMS oderüber Mxit, ein soziales Netzwerk, das vie-le Jugendliche in Afrika nutzen.

Sie weiß mehr. Sie ist Teil der Welt,viel mehr, als es ihre Mutter und ihreGroßmutter waren.

Aber eine Angst ist geblieben. Valenti-ni spricht von einem Mädchen, das sie

kannte, das zwölf Jahre alt war undschwanger wurde, was aus ihm gewordenist, sagt sie nicht. „So etwas darf nicht pas-sieren. Das darf einfach nicht passieren.“

Ein zwölfjähriges Mädchen kann sichmeist nicht wehren. So stark der Kopfauch sein mag, der Körper ist zu schwach.

Aufklärung auf dem Straßenstrich: Kondome für KambodschaFür Sina Vann begann der Aufstand inKambodscha, als sie befreit wurde, mit15, nach drei Jahren Sklaverei. Jetzt läuftsie durch die Nacht und sucht nach sichselbst.

Nach Mädchen, wie sie selbst eines war,sie sucht nach „gebrochenen Frauen“,wie die Kambodschaner ihre Huren wört-

lich nennen, srey kouc. „Weil es nicht sobleiben darf, wie es ist“, hat der Dolmet-scher einen ihrer Sätze übersetzt. Weilsie etwas dagegen tun will, dass in Kam-bodscha jeden Tag Mädchen, wie sie ei-nes war, verkauft und zur Prostitution ge-zwungen werden.

Die gebrochenen Frauen sind leicht zufinden. Es gibt Tausende von ihnen inPhnom Penh, und jetzt, da Sina zu ihnenkommt, treten sie auf hohen Absätzenaus dem Schatten von Hauseingängen,aus dem Dunkel von Parkplätzen, undimmer lächeln sie das berühmte, grund-lose Lächeln der Khmer. Man müsse die-sen Frauen in die Augen blicken, sagtSina, „denn die Augen lächeln nicht“.Hier, im Viertel Tuol Kork, wo sie einst

selbst gefangen war, liegt der Strich fürdie Bauarbeiter, Lastwagenfahrer, Hand-werker, Sex für drei Dollar, die Puffs sindBretterverschläge, vorn eine Karaoke-Barzur Tarnung. Sina verteilt Kondome undSeifen, sie drückt den Frauen Zettel indie Hand, darauf die Kontaktdaten derStiftung, der sie ihre eigene Befreiungverdankt, „Somaly Mam Foundation“.

Somaly Mam, die aus der Sexsklavereientkam, ist die Gründerin der Stiftungund eine Brücke nach draußen, zur west-lichen Welt. Fotos zeigen sie zusammenmit der Schauspielerin Meg Ryan, mit derDesignerin Diane von Fürstenberg, mitder Sängerin Queen Latifah.

Es gibt reichlich Fürsprecherinnen fürdie Mädchen, sie geben ihren Namen, ihr

Gesicht und manchmal ihre Anwesenheit. Auf glamourösenKonferenzen wie dem „Womenin the World Summit“ treten Grö-ßen wie Chelsea Clinton, MerylStreep, Angelina Jolie gleich imDutzend auf, um für die Sacheder Geschundenen zu werben.„Girls not Brides“, „Girl Rising“,„Girl Up“, speziell um Mädchen-rechte kümmert sich eine wach-sende Zahl von Organisationen.

Die Autoren Kristof und WuDunn, die Somaly MamsStiftung lange schon unterstüt-zen, sehen es so: „Im 19. Jahr-hundert galt die Sklaverei als diegrößte moralische Herausforde-rung. Im 20. Jahrhundert war esder Kampf gegen den Totalita-rismus. Wir glauben, in unseremjetzigen Jahrhundert wird es derKampf für die Gleichheit derGeschlechter in den Entwick-lungsländern sein.“

Nicht alle denken so mora-lisch. Der moderne Kapitalis-mus verspricht ökonomischeModernisierung, wenn man zu-nächst einmal die Frauen befreit.

Weltbank-Ökonomen betrach-ten „Investitionen in die Bildungvon Mädchen als die ertrag-

reichsten, die in Entwicklungsgebietenmachbar sind“. Das amerikanische „Cen-ter for Injury Prevention and Control“ hatkühl errechnet, dass häusliche Gewaltmehr als vier Milliarden Dollar an Behand-lungskosten verursacht. Goldman Sachsstellte fest: „Ungleichheit der Geschlechterschadet dem ökonomischen Wachstum.“

Das mag befremdlich ökonomistischklingen, aber es hilft. Es bringt Aufmerk-samkeit und Geld.

Es hilft Sina Vann und ihrer Organisa-tion, sie kann den Mädchen von Heimender Stiftung erzählen und dass sie dort inSicherheit sind. Dass man dort lesen undschreiben lernen könne, eine Ausbildungzur Näherin oder Kosmetikerin machen,dass es genug Essen gebe.

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Prostituierten-Befreierin Sina: Hilfe für „gebrochene Frauen“

Sina Vann, die junge Frau, die von derLeibeigenen zur Rebellin wurde. Gekid-nappt mit zwölf Jahren aus ihrer HeimatVietnam. Von Menschenhändlern über dieGrenze nach Kambodscha verschleppt,wo Vietnamesinnen begehrte Ware sind,wegen ihres hellen Teints, je weißer, jeteurer. Mit Drogen betäubt, nackt undblutend auf einem Bett in Phnom Penhaufgewacht, ihre Jungfräulichkeit war fürein paar hundert Dollar an einen Sextou-risten verkauft worden, Sina weiß nicht,aus welchem Land er kam. Eingesperrt,gefesselt, geschlagen. Vier oder fünf wei-tere Male als Jungfrau verschachert, ankambodschanische Kunden, die nichtmerkten, dass ihre Vagina nur zugenähtwar, beliebte Praxis, Hauptsache, es blu-tet. Mit Elektroschocks gefoltert,wenn sie sich weigerte, Freier zubedienen, Elektroschocks habenden Vorteil, dass sie die Mäd-chenkörper äußerlich nicht wert-mindernd beschädigen. Gepei-nigt, entrechtet, entmenschlicht.

Durch eine Polizeirazzia, vonSomaly Mam bewirkt, kam siefrei. Sina bekam ein Zuhause,schöpfte Hoffnung, erhielt Bil-dung und schloss sich späterdem Kampf ihrer Retterin an. 29ist sie heute und wieder einmalfür diese Stiftung unterwegs.

„Bist du freiwillig hier?“, fragtSina ein Mädchen mit schläfri-gen Augen. Es nickt. „Gibt mandir Drogen? Wirst du geschla-gen?“ Wenn ihr bei diesen Ge-sprächen besonders gravierendeFälle zu Ohren kommen, Fällevon Folter, Fälle von verkauftenMinderjährigen oder Kleinkin-dern, manche erst drei Jahre alt,dann informiert sie die Polizei,und wenn sie Glück hat, wirdmal ein Puff ausgehoben.

Neu ist, dass Sina und ihre Mäd -chen jetzt auch Männer aufsu-chen, potentielle Freier, anspre-chen, aufklären. Mädchen, dieMänner belehren: eine Revolution.

Ohne Schleier auf dem Tahrir-Platz: Feminismus in ÄgyptenFür Nahla begann der Aufstand in Ägyp-ten auf dem Tahrir-Platz, und dort gehter weiter, lebensgefährlich manchmal, sowie am 25. Januar 2013, dem zweitenJahrestag der ägyptischen Revolution.Massen, Zehntausende waren auf demPlatz und viele darunter, die diese Re -volution bekämpfen wollten, die derFrauen vor allem. Vielleicht waren es Zivilpolizisten, vielleicht aufgeputschteZivilisten, fremde Männer jedenfalls, siegriffen Frauen an, betatschten sie, vonVergewaltigungen hörte man später. Nah-la, 24, war eine der Jüngsten auf demPlatz, Männer fassten ihr in die Hose,

zerrten am Shirt, drückten sie zu Boden.Nahla Enany und ihre Mutter waren vonMännern eingekreist, „sie würgten uns,es war die Hölle“.

Nahla steigt in die Metro Richtung Tahrir-Platz, erzählt von der Hölle, diesie an jenem Januartag erlebt hat, undzieht wieder los. Sie hat sich umgezogen,bevor sie losging. Sie wählte Schwarz,um weniger aufzufallen: schwarze Trai-ningshose, schwarzes T-Shirt, Turnschu-he. Trotzdem wird sie angestarrt. In derBahn, weil ihr dunkelbraunes Haar aufdie Schulter fällt, als Einzige im Frauen-waggon trägt sie weder Kopftuch nochNikab. Auf dem Tahrir-Platz, weil dasShirt hauteng sitzt und nur knapp dieSchultern bedeckt.

Mit schnellen Schritten läuft Nahlaüber den Platz, sie ignoriert die Blickeder älteren Männer, die auf den Mäuer-chen in der Hitze sitzen. Sie ignoriert diejungen Kerle, die in Gruppen um sie her -umspringen, nach ihr greifen, sie anglot-zen. Die Blicke, sagt sie, nehme sie nichtmehr wahr. Die Sätze, die man ihr hin-terherruft, höre sie nicht mehr.

Sie geht auf drei ältere Frauen zu. Einevon ihnen, ebenfalls in Schwarz, mit Bob-Frisur und Goldschmuck, ist ihre Mutter,unterwegs auf einer der vielen Demon -strationen, die letztlich den Abschied desPräsidenten Mursi bringen werden.

Seit Beginn der ägyptischen Revolutionsind Mutter und Tochter auf fast jederDemonstration, Teil des Protests, der um

demokratische Rechte kämpfte, für dieFrauen, für alle. Männer und Frauen Seitean Seite, es war – revolutionär.

Und dann war Konterrevolution. DieMuslimbrüder wurden auch deswegen ge-wählt, weil sie auf die traditionelle, diepatriarchalische Mehrheit im Land setzenkonnten, auf das alte Denken: dass ehr-bare Frauen auf der Straße nichts zu su-chen haben, und wenn, dann nur gut ver-hüllt. Und dass man sie bestrafen darf,wenn sie sich nicht an Regeln halten, be-grabschen, belästigen, erniedrigen.

Es wurde gefährlich für Ägyptens Frau-en, auf der Straße, in der Metro, vor al-lem auf Demonstrationen. Während der18 Revolutionstage wurde von keinenÜbergriffen berichtet. Dann aber wurde

es schlimmer als zuvor. 99,3 Pro-zent der Frauen geben an, sexu-ell belästigt worden zu sein.

Männer sind es, die Frauenauf dem Tahrir-Platz begrab-schen, entblößen, erniedrigenwollen und ihre Macht brutal demonstrieren.

Männer sind es, die als Lehrerdie Mädchen wie Valentini kleinhalten wollen, „glaubt ihr, ihrkönnt uns die Welt erklären?“,hört sie, wenn sie widerspricht.

Männer sind es, denen Mäd-chen wie Sina Vann in Kambo-dscha ausgeliefert sind, in diesemverrohten, vom Krieg traumati-sierten Land. In dem rund 70 Pro-zent der Männer den ersten Sexbei einer Prostituierten erleben.In dem Gruppenvergewaltigungfast schon als eine Art Freizeit-vergnügen gilt. Fünf Prozent derKambodschaner geben an, siehätten das schon einmal prakti-ziert.

Als ob Männer eben Monsterwären, so klingt das, aber so ein-fach ist es nicht. Es ist nicht so,dass Männer grundsätzlich dieFeinde und Frauen grundsätz-lich die Verbündeten der Mäd-chen wären.

Es gibt Männer als Helfer, die auf demTahrir-Platz versuchen, Frauen vor demMob in Sicherheit zu bringen. Es gibtMänner in Indien, die ihre Wut über Ver-brechen gegen Mädchen auf die Straßetragen. Es gibt Männer wie Malalas Vater,der sein Kind ermutigt hat. Männer, dieihre Tochter, ihre Schwester, ihre Frau alswertvollen Menschen ansehen.

Und es gibt Frauen, die verantwortlichdafür sind, wenn ein Mädchen am Lebenzerbricht. Kambodschanerinnen, die ihreTöchter wie Nutzvieh in die Stadt ins Bor-dell verkaufen. Frauen in Afrika, die ihreTöchter der Genitalverstümmelung un-terwerfen. Frauen in aller Welt, die ihreTöchter in Zwangsehen nötigen, und oft,wenn die Tochter vor einem gewalttäti-

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Demonstrantin Nahla: Seite an Seite mit Männern

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gen Ehemann flüchtet, jagen sie die Toch-ter zu ihm zurück.

Es gibt viele Gründe dafür, dass Frauenfür ihre Töchter zur Bedrohung werden.Mütter tun das, weil sie verroht oder vonder Armut zermürbt sind, weil sie den-ken, dass ein Mädchen im Bordell immer-hin etwas verdiene.

Oder weil in Gesellschaften, in deneneine Frau allein nichts wert ist, eben nurdie Ehe bleibt, weil diese Mütter also mei-nen, dass sie der Tochter mit einer erzwun-genen Heirat einen Gefallen tun. Es kannschwierig sein für eine Frau, sich von bru-talen Praktiken zu lösen, wenn sie denkt:Ich habe das alles duchgemacht. Wenn ichjetzt zulasse, dass es nicht so sein muss,habe ich mein Leben weggeworfen.

Es ist besonders schwer fürmuslimische Frauen, die Tradi -tion zu überwinden, Nahla weißes gut. Sie hat an der Amerikani-schen Universität von Kairo stu-diert, sie verdient in einer Firmaihr eigenes Geld, aber allein woh-nen darf sie nicht, und sie mussabends um 22.30 Uhr zu Hausesein, wie es ihr Vater verlangt.

Nahla demonstriert weiter, siebloggt weiter über die Lage derägyptischen Frauen. Die Frauenmachen ihre Anklagen öffent-lich, im Fernsehen und im Inter-net, schaffen Netzwerke undHilfsprojekte. Die Frauen habensich getraut, für eine neue Poli-tik und eine neue Gesellschaftauf die Straße zu gehen, und dieWelt weiß, dass sie es tun. Esgab die junge Frau mit dem blau-en BH, ihr Leiden ging als Videoum die Welt. Wie ein DutzendSoldaten ihr auf dem Tahrir-Platz die schwarze Abaja vomLeib rissen, wie sie entblößt undmisshandelt, wie sie beinahe er-schlagen wurde.

Für die Aufständischen ist esihr Mut, der im Gedächtnisbleibt. Für die Konservativen istes ihre Verkommenheit. Washatte sie auf dem Tahrir-Platz zu suchen?In einer Studie des „Pew Research Cen-ter“ wurden kürzlich Muslime in diversenLändern zu ihren Einstellungen befragt.Nur etwa die Hälfte der Ägypter fand,eine Frau dürfe selbst bestimmen, ob sieein Kopftuch trägt oder nicht – in Tune-sien und Marokko fanden das über 80Prozent. Sie soll sich scheiden lassen dür-fen, fanden drei Viertel der Tunesier undMarokkaner, während es nur 22 ProzentZustimmung in Ägypten waren. EineFrau soll ihrem Mann gehorchen, fandenin allen drei Ländern rund 90 Prozent derbefragten Männer und Frauen.

Nahla sagt, eine normale ägyptischeEhe könne sie sich nicht vorstellen. Sieerinnert sich noch an den Tag, an dem

sie, als Kind, auf die geschwollene Wangeihrer Mutter zeigte und dachte, die Mutterhätte ein Bonbon im Mund. Aber das warnicht der Grund für die Schwellung. Nochoft erlebte sie, wie ihr Vater ihre Mutterschlug, ihre Geschwister und auch sieselbst.

Nader Enany, der Vater, 65 Jahre alt,sagt: „Ägypten hat andere Probleme alsdie Rechte der Frauen.“

Im gemeinsamen Wohnzimmer ist erin einen schweren Sessel eingesunken.Nader Enany kämpfte bereits in den sieb-ziger Jahren gegen Sadat und saß mehr-mals im Gefängnis. Er hat im Textilexportviel Geld verdient, doch damit ist es langevorbei, jetzt hat er Mühe, die private Uni-versität für seinen Sohn zu bezahlen. Die

Bildung der Tochter ist ihm nicht wichtig,immerhin hat er sie geduldet. Er duldetauch das politische Engagement seinerFrau und seiner Tochter, er sagt nicht, warum. Ist er innerlich zerrissen? Duldeter es hilflos? Hat er etwas gelernt? Er sagtes nicht. Nach einer langen Pause sprichter. „Ägypten hat eine andere Mentalität.Ägypten hat die Religion.“ Was er vonden Vorstellungen seiner Tochter hält?„Ich weiß nichts von ihren Vorstellungen.“

Nahlas Vorstellungen haben dafür ge-sorgt, dass sie keine Ruhe geben kann.Dass sie wieder draußen war, seit vergan-genen Freitag, auf dem Platz und am Prä-sidentenpalast, um gegen Mursi und dieMuslimbrüder zu demonstrieren. Die Er-klärung des Armeechefs am Mittwoch-

abend, der den Sturz des Staatsober-haupts verkündete, konnte sie im Jubelkaum verstehen.

Still, laut, digital: die Mittel der globalen RevolutionEs ist eine neue Rebellion, mit neuen Mit-teln; Handy, Internet, Weltöffentlichkeit.Das Ziel gibt es schon lange, und immernoch ist es Utopie: dass eine Frau selbst-verständlich bestimmen darf über ihrenKörper und ihren Kopf. Lernen, was siewill, und lieben, wen sie will.

Neu ist, dass schon Mädchen um denPlatz auf der globalen Bühne kämpfen.Dass sie es wagen, Pläne zu haben. Eineandere Welt zu wünschen und sie für vor-stellbar halten, sogar das.

Ihre Chance: Das ist der Glau-be im modernen Kapitalismus,dass die soziale Modernisierung,die sie wollen, die wirtschaft -liche Modernisierung voran-treibt.

Ihre Mittel: eine stille Revolu-tion, so wie Sinas Umerziehungder Männer. Eine digitale, sowie Isadora mit ihren Klicks.Oder eine laute, wie die vonDiya, Valentini und Nahla, dieman auf der Straße hört.

Was sie brauchen, damit derAufstand gelingt, sind Vorbilder,wie Valentini in Südafrika siehatte, moderne Werkzeuge, wieIsadora in Brasilien sie benutzt.Sie brauchen das Gefühl von Solidarität, wie Diya in Indiensie erlebte, und einen his to -rischen Moment, der überlie -ferte Rollenbilder verblassenlässt, so wie bei Nahla in Ägyp-ten. Manchmal brauchen sieauch einfach die Hilfe von an-deren, die sie befreien. OhneHilfe wäre Sina in Kambodschanoch immer die Sklavin derMänner.

Sina Vann sagt, sie will wei-termachen, es gibt so viele ge-brochene Frauen.

Valentini sagt, sie will später auf demLand leben und Sozialarbeiterin sein.

Isadora will Journalistin werden, siewill „die Wahrheit wissen“, so sagt sie.

Nahla sagt, sie will am liebsten im Aus-land studieren.

Diya sagt, sie will gern weiter zur Schu-le gehen und Polzistin werden, später.Dann kommen die geschändeten Mäd-chen zu ihr, und sie hilft. JENS GLÜSING,

BARTHOLOMÄUS GRILL, GUIDO MINGELS, FRIEDERIKE SCHRÖTER,

SANDRA SCHULZ, BARBARA SUPP

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Vorbild Malala: Lernen trotz Lebensgefahr

Video-Spezial:

Der Aufstand der Mädchen

spiegel.de/app282013aufstandoder in der App DER SPIEGEL

Gesellschaft

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Je mehr geredet, geschrieben, getwittert wird, desto gellender ist die Stille. IL

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auch, dass sie bitte ein wenig schnellerreagieren sollen, ich komme mir dannzwar vor wie ein Zwölfjähriger, der Pro-fessor spielt: Ich spreche ihnen das meis-tens auf die Mailbox oder schicke die An-regung als SMS oder als Mail – und hörenichts zurück.

„Du glaubst noch an Mails?“, fragte michein befreundeter Journalist, den ich seitTagen zu erreichen versuchte, mit einemTon, als sei er schon weiter auf der Leiterder Erkenntnis. „Ich bekomme so viele

Mails“, sagte er, „ich lese sie gar nicht mehr.“Das wird ja oft gesagt: dass wir „i-crazy“

werden vor lauter Smartphones, Facebook,SPIEGEL ONLINE, dass unser Hirn das alles nicht mehr schafft,dass wir mit den Maschinen verwachsen, dass wir Werkzeugeder Technik werden und nicht umgekehrt.

Für mich klingt das wie eine Ausrede. Sicher hat sich absurdviel verändert in der Art, wie wir mit anderen in Kontakt treten. Sicher hat sich das Konzept von Präsenz radikal ge-wandelt, und wir wissen mehr über den Krieg im Südsudan,wenn wir wollen, als über die Gesundheit unseres Schwieger-vaters. Sicher gibt es eine Avantgarde, die sich von dem, wasman in den achtziger Jahren „Kommunikation“ nannte, eman-zipiert hat und Handys und Computer nutzt, um eine Mauer zwischen sich und der Welt zu errichten, eine Art digitalesKloster.

Aber erklärt die angebliche Überforderung wirklich schondie Unhöflichkeit, den beiläufigen Narzissmus und die in derKonsequenz stumme Verachtung, die darin liegt, in diesemFall mich so lange auf eine Antwort warten zu lassen?

Ich habe da eine andere Theorie. Ich glaube, dass die Men-schen die Logik der Technik in ihr Leben gelassen haben undnicht mehr unterscheiden zwischen dem, was sie denken, unddem, was sie tun. Wenn A also meinen Anruf abhört, denkt er,er sollte mich zurückrufen, und indem er das denkt, hat er imGrunde schon mit mir gesprochen. Für ihn ist die Sache erledigt.Der Gedanke hat die Tat ersetzt. Sitzen wir nicht alle längstim Kopf unserer Mitmenschen?

Manche nennen diesen Schwindelzustand die Postmoderne.Ich würde eher sagen, dass wir in der Apple-Moderne leben,die sich, und das ist jetzt gar nicht kulturpessimistisch gemeint,die sich dadurch auszeichnet, dass sich Allgegenwart und Solipsismus zu etwas verbinden, was man die digitale Unver-bindlichkeit nennen könnte.

Die Menschen, das darf man nicht vergessen, werden durchdie Maschinen nicht anders. Sie werden eher mehr wie sieselbst. Sie zeigen sich in ihrer Müdigkeit, in ihrer Zerstreutheit,in ihrer Faulheit – was ja alles wunderbare Zustände sind, wennman nicht gerade mit ihnen arbeitet oder redet.

Die Schönheit der Maschine könnte nun sein, dass sie offen-legt: Wie wir miteinander umgehen, rücksichtsvoll, höflich,respektvoll zum Beispiel – die Technik ist hier nicht der Feind,die Technik ist ein Mittel für den Menschen.

Im Grunde, das haben Sie schon richtig verstanden, würdeich mich freuen, wenn A mal wieder anruft. GEORG DIEZ

Es gibt ein Loch in meinem Leben, in das schaufle ich täg-lich Worte hinein, Ideen, Gedanken, ich schaue ihnennach, wie sie fallen, und warte, ob ich etwas höre, einen

Ton, einen Hall, eine Reaktion, aber das Loch bleibt schwarzund stumm.

Da rufe ich meinen Freund A an, der nicht an sein Handygeht, weil niemand mehr an sein Handy geht, ich spreche ihmauf seine Mailbox – und höre nichts zurück. Da schicke ichmeiner Kollegin B eine SMS, in der ich ein paar Anregungengebe für Themen – ich höre nichts zurück. Da schreibe ichmeinem Freund C eine Mail, weil wir gemeinsam an einer Sache arbeiten wollten – ich höre nichts zurück.

Was nun beginnt, ist die Dramaturgie von Ärger, Geduldund Selbstbefragung. Die ersten Stunden sind noch einfach,ich freue mich ja schon, dass ich ein paar der in meinem Kopftobenden Gedanken hinaus in die Welt gebracht habe, undwarte. Dann werde ich kurz und rasch sauer, weil ich es an-strengend finde, daran zu denken, eine stockende Unterhaltungin Gang zu halten: Was wollte ich noch mal sagen, worum ginges? Das schlechte Gedächtnis ist der Feind der Geduld.

Die setzt aber schließlich doch ein, es gibt sicher gute Gründe,dass sich A, B und C nicht melden, was weiß ich denn vonderen Leben, die haben Pläne zu schmieden, Konferenzen zuhalten, Familien zu ernähren. Also einatmen, ausatmen, mor-gen ist auch noch ein Tag. Nach 24 Stunden ist der allerdingsvorbei – und nun beginnt das schwierigste Stadium dieser ein-seitigen Einsamkeit, die Selbsterforschung. Was habe ich falschgemacht, habe ich schlecht über sie geredet, sind sie sauer? Irgendein Schlupfloch des Selbstzweifels ist immer offen.

Den Gedanken, dass mich niemand mehr mag, verwerfe ichrasch, aus Selbstschutz und weil das keine Grundlage sein kannfür weitere Freundschaft, Freude, Zusammenarbeit: Ich wun-dere mich jetzt über die anderen – und denke mir ganze Ge-schichten aus, warum sie nicht antworten, ich sehe A, B und Cvor mir, ihr Gesicht, wie sie in ihren Wohnungen stehen, wiesie sich durch die Schatten bewegen, in ihrem Schweigen.

Ich bin nun ganz auf mich zurückgeworfen – was eine merk-würdige Wirkung hat in diesem Zeitalter der Hyperkommuni-kation: Je mehr geredet, geschrieben und getwittert wird, destogellender ist die Stille, desto epischer entfaltet sich die Ruhe.Denn die Geschichten in meinem Kopf gehen ja weiter, sienehmen eine eigene Realität an, je länger sich die anderennicht melden – und sie haben dann, wenn sie sich doch melden,ein eigenes Gewicht, von dem ich mich und sie befreien muss,weil die anderen ja nicht wissen, dass ich schon seit Tagengrüble, was ich falsch gemacht habe.

Sie sind arglos. Sonst wären sie Sadisten. Auch diese Optionbedenke ich und verwerfe sie wieder, weil es zu traurig wäre,dass ich mit Sadisten befreundet bin. Ab und zu sage ich ihnen

Hallo?HOMESTORY Warum man als Mensch, der E-Mails schreibt, einsam wird

Gesellschaft

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Bremse für Fritten-Diesel

Die börsennotierte Petrotec AG in Bor-ken muss mit einem Rückschlag bei ih-rer bislang unumstrittenen Biodiesel-Produktion rechnen. Das Unterneh-men wandelt Brat- und Frittierfett ausRestaurants oder Burger-Filialen zuBiodiesel um und verkauft den so gewonnenen Sprit an die Mineralöl-wirtschaft. Im vergangenen Jahr erziel-te Petrotec einen Umsatz von rund 166Millionen Euro. Doch das lukrativeund umweltschonende Geschäftsmo-dell ist durch eine EU-Neuregelung ge-fährdet. Der zuständige Ausschuss willMittwoch eine entscheidende Richtlinieändern: Bislang hatte die Mineralöl-wirtschaft Vorteile, wenn sie recyceltesFrittenfett kaufte. Auf die dem Sprit-produzenten vorgeschriebene Biodie-sel-Quote von mehr als sechs Prozentwurde Frittenfett doppelt angerechnet.Begründung: Ohne Recycling müssedas Altöl aufwendig entsorgt werden –in Deutschland sind das 300 000 Ton-nen pro Jahr. Doch mit der Sonderbe-handlung soll bald Schluss sein. DieEU will Biodiesel aus Frittenfett künf-tig gleich behandeln wie Sprit ausRapspflanzen, die auf subventioniertenAgrarflächen angebaut werden. „Nichtnur für Petrotec wäre das ein schwererSchlag“, klagt Vorstand Jean Scemama,auch die Umwelt würde darunter leiden.

Trends

M A N A G E R G E H Ä L T E R

Die Gier hält anDas Vorhaben, dass Aktionäre bei der Festlegung der Vorstandsgehälter in Zukunft mäßigend eingreifen, scheint zumindest in den USA kläglich gescheitert. Wie die Bera-tungs- und Analysefirma Equilar für die „New York Times“ausrechnete, sind die Bezüge der obersten 200 Firmenchefsvon Aktienunternehmen mit mindestens einer Milliarde

Dollar Umsatz im vergangenen Jahr um 16 Prozent hoch -geschossen. Durchschnittlich erhielten die Bosse ein Gehalts-paket von 15,1 Millionen Dollar. Auf Platz eins steht Oracle-Gründer Larry Ellison, der mit 96,1 Millionen Dollar 24 Pro-zent mehr aus seiner Software-Firma zog als im Vorjahr.Den zweiten Platz hält Richard Bracken vom Krankenhaus-betreiber HCA (38,5 Millionen Dollar), gefolgt von Walt Disneys Robert Iger (37,1 Millionen Dollar). Um 219 Prozentexplodiert sind die Bezüge der Nummer vier: Mark Parker,Chef des Sportartikelherstellers Nike, erhielt im vergange-nen Jahr 35,2 Million Dollar für seine Bemühungen.

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Konflikt umZinsentscheid

Die Entscheidung der EuropäischenZentralbank (EZB), den Zinssatz bei-zubehalten, wurde alles andere als har-monisch getroffen. Vielmehr waren inder Ratssitzung vergangene Wocheheftige Diskussionen losgebrochen.Chefvolkswirt Peter Praet hatte eigent-lich einen Vorschlag zur weiteren Ab-senkung des Zinses auf 0,25 Prozentvorbereitet – offenbar unterstützt vonEZB-Chef Mario Draghi. Doch siebenRatsmitglieder, vor allem aus denNordstaaten, argumentierten heftig da-gegen. Darunter waren nicht nur derdeutsche Bundesbank-Chef Jens Weid-mann und der Niederländer KlaasKnot, sondern auch das deutsche Mit-glied des geschäftsführenden Direkto-riums, Jörg Asmussen. Am Ende setz-ten sie sich durch, die Endabstimmungverlief einstimmig: Der Zins bleibt vor-erst auf dem ohnehin schon niedrigenNiveau von 0,5 Prozent. Man einigte

sich aber auf ein ungewöhnlich deut -liches Versprechen: Die EZB werde dieZinsen „für einen längeren Zeitraum“niedrig halten, sagte Draghi im An-schluss an die Sitzung. Mit der klarenAnsage reagierte er auf die Politik derUS-Notenbank Fed: Diese will ihre ultralockere Geldpolitik beenden, wasTurbulenzen an den Finanzmärktenausgelöst hat. Denn wenn Notenban-ken weniger Geld in die Finanzweltpumpen, stecken Investoren auch weni-ger Geld in Staats- und Unternehmens-anleihen. Diese sogenannte Zinswendemachte sich zuletzt schmerzhaft beiden Preisen für Papiere der Euro-Süd-länder bemerkbar. „Draghis Aussagehat jetzt die Unsicherheit beseitigt,dass die EZB dem amerikanischen Vorbild folgen könnte“, sagt ClemensFuest, Chef des Zentrums für Europäi-sche Wirtschaftsforschung. „Das war inder aktuellen Situation sicher richtig.“

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Quellen: WeissmanGruppe für Familienunternehmen;Leibniz-Institut für Länderkunde (Nationalatlas aktuell)

Anzahl derUnternehmen: 1 5 10 30

in einer (sehr)peripheren Gemeinde

in einer (sehr)zentralen Gemeinde

Deutsche Weltmarktführer 2011

Albstadt 4

Künzelsau 5

Biberach an der Riß 4

Selb 4

Hamburg 33

München 30

Nürnberg 16

Heilbronn 16

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D E U T S C H E B A N K

Interne ErmittlungDie Deutsche Bank lässt intern untersu-chen, ob sie in zweifelhafte Aktien-Deals verwickelt war und deshalb Är-ger mit der Staatsanwaltschaft bekom-men könnte. Dabei geht es konkret umschnelle Handelsgeschäfte rund umden Dividendenstichtag von Unterneh-men. Über Jahre hinweg sollen sichBanken und Investoren zusammenge-tan haben, um so Steuererstattungenzu erschleichen. Bei der HypoVereins-bank ermittelt seit einiger Zeit die Ge-neralstaatsanwaltschaft Frankfurt; dasGeldinstitut betont die konstruktiveZusammenarbeit mit den Behörden.Bei der britischen Barclays Bank unter-suchen die zuständigen Steuerbehör-den einen ähnlich lautenden Verdacht;die Bank erklärt, sie habe stets im Ein-klang mit den Gesetzen gehandelt. InFinanzkreisen heißt es, die Ermittlerhätten weitere Geldinstitute im Visier,viele von ihnen prüften sich derzeit ei-genständig, um gegebenenfalls Selbst-anzeige zu erstatten. Zu denen gehörtauch die Deutsche Bank, die dabei miteiner großen Wirtschaftskanzlei zusam-menarbeitet. Einen „rauchenden Colt“habe sie bislang nicht gefunden, heißtes im Umfeld, die Untersuchungen dau-ern jedoch an, auch die FinanzaufsichtBaFin lässt sich auf dem Laufenden hal-ten. Nach bisherigen Erkenntnissengeht die Bank nicht davon aus, dassSteuerrückzahlungsverpflichtungen gel-tend gemacht werden. Anwälte schät-zen, dass in den Jahren 2007 bis 2010bis zu fünf Prozent der Finanzvermö-gen reicher Deutscher in die sogenann-ten Cum-Ex-Geschäfte investiert wur-den, um von einer mittlerweile ge-schlossenen Gesetzeslücke zu profitie-ren. Seit einigen Jahren hält der Fiskusdie erschlichenen Ausschüttungen je-doch zurück. Der Drogerie-Unterneh-mer Erwin Müller hat deshalb dieSchweizer Bank Sarasin verklagt, weiler sich von ihr betrogen fühlt. Sarasinweist die Vorwürfe zurück.

F R E I H A N D E L

Indien fürchtet EU-Importe

Wirtschaft

QUERSCHNITT

Know-how vom LandeÜber 1100 Unterneh-men in Deutschlandgelten als Weltmarkt-führer. Mehr als 20Prozent von ihnen be-finden sich in länd -lichen Gebieten, derGroßteil davon in Süd-deutschland. Daruntersind viele traditionelle Familienunternehmenwie etwa der Spezia-list für Montage- undBefestigungsmaterialWürth in Künzelsau.

Deutsche-Bank-Zentrale in Frankfurt am Main

Das angestrebte Freihandelsabkom-men zwischen der EU und Indienkönnte am bevorstehenden Wahl-kampf auf dem Subkontinent schei-tern. Seit 2007 verhandeln Brüssel undNeu-Delhi über eine drastische Redu-zierung der Zölle auf die meisten Wa-ren. Beide Seiten hätten ihre Positio-nen zwar „extrem angenähert“, sagteein indischer ranghoher Regierungsver-treter dem SPIEGEL in Delhi. „Aberes gibt eine winzige Kluft, und die er-weist sich als äußerst schwierig.“ DieZeit für eine Einigung wird knapp,denn die indischen Politiker wappnensich für die Parlamentswahl 2014. DieEuropäer drängen die Nation mit ihren 1,2 Milliarden Einwohnern vorallem zu drastischen Zollsenkungenbei Autos, Wein und Milchprodukten.Zweiter Hauptstreitpunkt ist der indi-sche Versicherungsmarkt, der für aus-ländische Anbieter nur schwer zugäng-lich ist. Bislang dürfen sie nur maxi-mal 26 Prozent der Anteile an lokalenVersicherern halten. Die indische Re-gierung will diese Grenze auf 49 Pro-

zent anheben, trifft damit aber im Par-lament auf heftigen Widerstand. Einsolches Abkommen dürfe Delhi nichtunterzeichnen, warnt Praveen Khan-delwal, Generalsekretär der Confede-ration of All India Traders: „Indienkann dabei nur verlieren. Wir kämp-fen schon gegen die chinesische Kon-kurrenz, wie sollen wir gegen ver-mehrte Importe aus der EU bestehen?“

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Einkaufszentrum in Neu-Delhi

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Wirtschaft

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ADRIAN DENNIS / AFP

R Ü S T U N G

Der UnglücksvogelDer Rüstungskonzern EADS hat beim Bau des

„Eurofighters“ offenbar geschlampt. Auf den Staat kommen milliardenschwere Mehrkosten zu. Die Bürger

sollten das erst nach der Bundestagswahl erfahren.

Es ist ein Vorfall, den die Bundeswehrlieber geheim gehalten hätte: Am27. Juli 2007 schießt ein „Eurofigh -

ter“ im Tiefflug über den FliegerhorstNeuburg in Oberbayern, plötzlich erblicktder Pilot einen Vogelschwarm vor sich.

Rasch will er seinen Flieger, Kennzei-chen 30+39, zur Seite ziehen, um den Tie-ren auszuweichen. Doch mit einem Malrollt sich die Maschine um 90 Grad uner-wartet stark zur Seite. Einfach so, ohnedass der Pilot ihr einen entsprechendenSteuerimpuls gegeben hätte.

Panik macht sich im Tower breit, dennder Jet rast auf den Turm zu. Erst in letz-ter Sekunde bringt der Pilot das Flugzeugwieder unter Kontrolle. Der Untersu-chungsbericht des Militärs spricht von einem „bank angle overshoot“, einerÜberdrehung des Neigungswinkels. Wei-ter heißt es im schönsten Verwaltungs-deutsch: „Das unerwartete Verhalten“hätte zu einem „Verlust des Luftfahrzeugsführen“ können. Mit anderen Worten:Um ein Haar wäre der Jet in einem Feu-erball aufgegangen.

Ein Fehler in der Software war schuld,und das war nicht der einzige Mangel, derbei den „Eurofightern“ gefunden werdensollte. Das größte europäische Rüstungs-projekt stand von Anfang an unter keinemguten Stern. Seit 25 Jahren entwickelt undproduziert der heutige RüstungskonzernEADS mit europäischen Partnern das Flug-zeug. Es soll den Beweis liefern, dass nichtallein die Amerikaner in der Lage sind,Hightech-Kampfjets zu bauen.

Schon die Tatsache, dass der Flieger inDeutschland einst „Jäger 90“ hieß, zeigtdas ganze Desaster. Als sich die Entwick-lung so dramatisch verzögerte, wurde dasKampfflugzeug in „Eurofighter“ umge-tauft, und selbst heute, im Jahr 2013, hatdie Bundeswehr noch längst nicht alle derursprünglich anvisierten 180 Jets auf demPlatz stehen.

Nun belegen interne Dokumente, dassdie Probleme mit dem Flugzeug viel gra-vierender sind als bisher bekannt. Zudemwird die Bundeswehr nach Berechnungendes SPIEGEL am Ende dieses Jahres bereits 14,5 der rund 14,7 Milliarden Euroausgegeben haben, die der Bundestag bislang für die Beschaffung bewilligt hat.Wenn das Geld alle ist, werden aber weder die geplanten 180 noch die 143 bis-her bestellten „Eurofighter“ ausgeliefertsein – sondern nur 108. EADS wird nichtkostenlos weiterproduzieren.

Selbst die Bundeswehr kalkuliert be-reits mit 16,8 Milliarden Euro bis zumJahr 2018. Dann sollen aber erst 143 Flug-zeuge geliefert sein. Die letzten Jets dersogenannten Tranche 3B kosten extra.Fällig würde ein weiterer hoher Milliar-denbetrag.

Bis zur Wahl am 22. September solltenden Bürgern die wahren Kosten für den„Eurofighter“ offenbar verborgen bleiben;

das jedenfalls ist wohl der Plan des Ver -teidigungsministeriums. Die Akte ist ge-schlossen. Eine weitere Befassung mit demThema „ist derzeit nicht erkennbar“, er-klärt das Wehrressort.

Auch EADS mag die Regierung nichtin die Bredouille bringen und will vorerstkeine neue Offerte vorlegen. Das Unter-nehmen hat kein Interesse daran, den oh-nehin schon angeschlagenen Minister Tho-mas de Maizière erneut in Schwierigkei-ten zu bringen. Die Opposition dagegenwill Klarheit: „Es droht nach dem ,EuroHawk‘ ein weiteres Rüstungsdebakel aufKosten der Steuerzahler“, sagt der SPD-Verteidigungspolitiker Rainer Arnold.

Der Preis für den „Eurofighter“ schießtauch deshalb in die Höhe, weil offensicht-lich bei der Produktion in bisher nicht ge-kanntem Maße geschlampt wurde.

Einen Einblick in die wohl chaotischeProduktion des Kampfflugzeugs gewäh-

ren nun Dokumente von Bundeswehrund EADS-Konzern, die dem SPIEGELvorliegen. Das Missmanagement ging soweit, dass die Bundeswehr dem EADS-Werk im oberbayerischen Manching zum1. Oktober 2008 die Zulassung als Luft-fahrtbetrieb der Bundeswehr nicht ver-längerte.

Was wie ein nüchterner Verwaltungs-vorgang klingt, kann ernste Konsequenzenhaben. Denn auch nach dem Verlust derZulassung wurden weiter Flieger in Dienstgestellt, die Bundeswehr als Abnehmerder Maschinen prüfte angeblich ein biss-chen genauer und erteilte dann doch denZulassungsstempel. Rechtlich ist dashöchst umstritten. Sollte ein „Eurofighter“über Deutschland abstürzen, könnten Ge-richte zu dem Ergebnis kommen, dass dieMaschinen niemals hätten abheben dürfen.

Der „Eurofighter“ ist eine Geschichteaus gebrochenen Versprechen. Als der

Vorgänger des „Eurofighters“ Anfang derachtziger Jahre konzipiert wurde – da-mals war Helmut Kohl gerade Kanzlergeworden –, sicherte die Industrie zu, ihnzu einem Stückpreis von 65 MillionenMark zu bauen. Von da an ging es mitden Kosten stetig bergauf.

Anfang der neunziger Jahre war schonvon 130 Millionen Mark die Rede, und alsder Haushaltsausschuss des Bundestags1997 endgültig beschloss, die Maschine zubestellen, legte er eine neue Obergrenzefest: 180 Stück sollten höchstens 11,8 Mil-liarden Euro kosten. In dem Preis warschon berücksichtigt, dass die Flieger tech-nisch abgerüstet sind. So wollte der da-malige Verteidigungsminister Volker Rüheverhindern, dass der Preis für den Jägerimmer weiter in die Höhe steigt.

Es half nichts: 2004 wurde die Preis-obergrenze für die Gesamtbestellung wie-der um 250 Millionen Euro erhöht, inzwi-

schen hieß der Kanzler Gerhard Schröder.Im aktuellen Haushaltsentwurf für dasJahr 2013 werden die Kosten mit fast 17Milliarden Euro angesetzt.

Das allerdings ist noch eine Rechnungmit den günstigsten Annahmen. Auch diewerden nicht reichen, das weiß wohl auchAngela Merkel. Denn die letzten 37 Ma-schinen, die die Bundeswehr bekommt,gehören zu denen, die über die aufwen-digste Technik verfügen. Es sind Jets miteiner „Mehrrollenfähigkeit“, die sowohlLuftangriffe fliegen als auch feindlicheMaschinen abfangen können.

Doch genau diese Version des „Euro-fighters“ wird auch die teuerste sein. DieBundeswehr steht vor einem Dilemma.Einerseits ist kaum noch Geld da. Ande-rerseits will sie keinesfalls auf die mo-dernste Variante des „Eurofighters“ ver-zichten. Offiziell sagt das Verteidigungs-ministerium nun, über einen Kauf der

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Minister de Maizière: Ein weiteres Rüstungsdebakel

Tranche sei noch nicht entschieden: „Der-zeit wird das weitere Vorgehen abge-stimmt“, heißt es in einer Stellungnahmedes Hauses. Doch erst Ende Juni präsen-tierte der stellvertretende Abteilungslei-ter für Beschaffung im Ministerium ver-blüfften Industriellen die alte, neue Stück-zahl: 180.

Zwar gibt es den Plan, jene Maschinenzu verkaufen, die zuerst an die Luftwaffeausgeliefert wurden. Das würde ein paarhundert Millionen in die Kasse zu spülen.Aber die Jets sind mittlerweile veraltet,und das Interesse der Nato-Partner ist über-schaubar.

Hinter den Kulissen schieben sich dieBeteiligten schon jetzt die Schuld für dasdrohende Debakel zu. Bei EADS heißt es,alles sei so teuer geworden, weil die Luft-waffe dauernd neue Extrawünsche ange-meldet habe. Das Verteidigungsministe -rium weist alle Verantwortung von sichund hält die Inflation für den Schuldigen.

Verschweigen aber wollen beide Sei-ten, dass die Preisexplosion beim „Euro -figh ter“ auch einen ganz einfachen

Grund haben dürfte: Bei der Produktionwurde offensichtlich geschlampt. Und da-für tragen sowohl EADS als auch dieBundeswehr die Verantwortung. DennEADS hat die Probleme im Werk Man-ching lange Zeit nicht in den Griff be-kommen. Und die Bundeswehr hat zulange die laxe Fertigungsmoral bei EADStoleriert.

Für die Kontrolle von EADS ist dasWehrbeschaffungsamt in Koblenz zustän-dig. Die mit 9600 Mitarbeitern größteBundeswehrbehörde unterhält Außenstel-len an den großen Produktionsstättendeutscher Rüstungsfirmen, unter ande-rem beim EADS-Werk im oberbayeri-schen Manching.

Schon bald nachdem die ersten „Euro-fighter“ das Werk verließen, stießen dieBeamten dort auf Probleme. So hielten sieam 23. August 2004 fest, dass in dem Werkspeziell ausgebildete Mitarbeiter fehlten,die jeden einzelnen Produktionsschritt deshochkomplexen Kampfjets beaufsichtigen.Ohne funktionierendes Qualitätsmanage-ment erlischt die Zulassung als anerkannter

Luftfahrtbetrieb der Bundeswehr. Schondamals drohten die Prüfer, nur dann dieZulassung zu verlängern, wenn eine langeMängelliste abgearbeitet würde.

Doch trotz der Ermahnungen passiertewenig. Am 31. März 2006 hob ein „Euro-fighter“ mit Kennzeichen 98+03 zumFlug in die Luftwaffenwerft Jever ab.Was der Pilot nicht ahnte: Der Bolzen,der das Bugfahrwerk in seiner Veranke-rung hielt, war nicht korrekt arretiert.Während des Fluges rutschte der Bolzenimmer weiter aus seiner Halterung. Alsder ahnungslose Kampfpilot aufsetzte,hing das Fahrwerk bereits schief unterdem Jet. Der Pilot hatte Glück, das Fahr-werk knickte nicht ein.

EADS meldete den Vorfall zunächstnicht, berichtet ein Insider. Doch die Flug-aufsicht der Luftwaffe erhielt einen Hin-weis. Sofort wurde die gesamte „Euro-fighter“-Flotte am Boden festgesetzt. DieUrsache war schnell gefunden. Der Bol-zen war stümperhaft montiert. EADSwurde dazu verdonnert, den gesamtenProduktionsprozess zu durchleuchten.

Kleinlaut musste das Unternehmen ineinem Memorandum vom 27. April 2006einräumen: „Es handelt sich um Arbeits-fehler, Bewertung: sorglose Unachtsam-keit.“ Der Vorfall hatte weitreichende Fol-gen. Die Produktion musste angehalten,alle bislang produzierten Maschinenmussten auf einen solchen Montagefehleruntersucht werden.

Die Kosten für die Schlamperei der bei-den Mitarbeiter trug: der Steuerzahler.Denn die EADS-Kontrolleure konnten,welch Wunder, keine grobe Fahrlässigkeiterkennen und sparten so ihrer Firma vielGeld. Denn der „Eurofighter“-Vertraglegt fest, dass der Hersteller nur bei gro-ber Fahrlässigkeit für Produktionsmängelhaften muss.

Im Laufe der Zeit wurde der Ton zwi-schen EADS und der Bundeswehr schrof-fer. Die Firma beklagte sich im BerlinerVerteidigungsministerium über die peni-blen Prüfer des Beschaffungsamts. DiePrüfer wiederum monierten, dass siemanche mangelhafte Maschinen bis zudreimal nachprüfen müssten. Mal lecktendie Tanks, dann öffnete sich auf dem Wegzur Startbahn das Kabinendach wie vonGeisterhand.

Welch schlechte Qualität die „Euro-fighter“ aus dieser Zeit haben, zeigt sichaus einer internen Aufstellung aus Öster-reich. Die dortige Luftwaffe bekam 15„Eurofighter“ der ersten Generation zwi-schen 2007 und 2009 geliefert, die zumgroßen Teil für die Bundeswehr bestimmtwaren. Bis zum Mai 2011 zählte ein Mit-arbeiter 68 Defekte an den Fliegern, diezu Notfällen geführt hatten.

So stellte sich heraus, dass die Höhen-messer „Fehlanzeigen“ bis zu 60 Meterproduzierten – im Ernstfall kann das fürden Piloten tödlich sein. Die Österreicher

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„Eurofighter“-Produktion in Manching: Stümperhaft montierte Bolzen

forderten eine F-4 „Phantom“ der deut-schen Luftwaffe an. Die Maschine solltezwei fehlerhafte „Eurofighter“ begleiten,damit man die Anzeige der Höhenmesservergleichen könne. Doch dann kam etwasdazwischen: Die Elektronik eines „Euro-fighters“ pumpte das Kerosin falsch um.Der Flieger geriet gefährlich aus demGleichgewicht. Absturzgefahr. EADS be-streitet dem SPIEGEL gegenüber, dassQualitätsmängel am eigenen Produkt fest-gestellt wurden.

Die deutschen Prüfer sind über die berichteten Mängel an den österrei-chischen Maschinen gut im Bilde. Denndas Berliner Verteidigungsministeriumhatte sie als kleine industriepolitische Fördermaßnahme dazu verdonnert, dieStückprüfung für die Österreicher zuübernehmen.

Im Wehrbeschaffungsamt reifte die Ent-schlossenheit heran, EADS erstmals rich-tig die Zähne zu zeigen. Am 30. Septem-ber 2008 ließ die Bundeswehr die Zulas-sung des Werks Manching als anerkann-ter Luftfahrtbetrieb auslaufen. In einemSchreiben vom März 2009, adressiert anden Chef der EADS Deutschland MilitaryAir Systems, Bernhard Gerwert, wies dasKoblenzer Amt auf „erhebliche Fehlerund Mängel im Qualitätsmanagementsys-tem“ hin.

In Sprechvorlagen für den Behörden-leiter finden sich konkrete Zahlen. Dem-nach seien „im Fertigungsablauf bei derEndprüfung 35 Mängel festgestellt unddokumentiert“. 49 Fehler weise das Qua-litätsmanagement innerhalb von siebenMonaten auf.

Im Schreiben an Gerwert resümiertendie Koblenzer Kontrolleure deshalb auch:„Der gegenwärtige Zustand ist sowohl ausluft-, haftungs- und zulassungsrechtlicherSicht seitens des Auftraggebers nicht wei-ter hinnehmbar.“

Doch mit dem Entzug der Zulassungbrachten sich auch die Prüfer in eine de-likate Lage. Denn sie agierten am Randeder Legalität: Sie stempelten etliche „Eu-rofighter“ für den Dienst in der Luftwaffeab, obwohl der Hersteller wegen seinerUnzuverlässigkeit keine Zulassung mehrbesaß.

Die Kampfjets bekamen reguläre Kenn-zeichen: 30+45, 30+15, 31+22. Damit don-nerten sie über Deutschland und wurdensogar auf eine Luftfahrtshow nach Un-garn geschickt. Glücklicherweise unfall-frei. Sonst hätten Richter wohl anschlie-ßend die Umstände der Zulassung zer-pflückt.

Die Prüfer im Wehrbeschaffungsamtwissen um die heikle Rechtslage. Sie haf-ten persönlich für die Unterschriften, diesie nach einer Endprüfung jedes „Euro-fighters“ unter die Papiere setzen. Man-che drohten damit, ihre Zustimmung zuverweigern. Auch für den Staat ist dasRisiko groß: Denn die Bundeswehr mussim Gegensatz zu zivilen Luftfahrtbetrie-ben in unbegrenzter Höhe für alle Schä-den aus einem Unfall geradestehen. Einbesorgter Beamter schrieb dazu in eineminternen Vermerk: „Wenn ein Bundes-wehr-Luftfahrzeug abstürzt und erhebli-che Drittschäden verursacht, die auf eineentzogene Zertifizierung zurückgeführtwerden könnten, haftet der Bund in je-dem Fall vollumfänglich.“

Die Vorgesetzten in Wehrbeschaffungs-amt und Verteidigungsministerium igno-rierten den Vermerk. Denn das Ministe-rium wollte das Kampfgerät haben, aufTeufel komm raus. In den Fliegerhorstenwartete man schon sehnsüchtig auf den„Eurofighter“, der die über 30 Jahre alten„Phantom“-Jäger des amerikanischenRüstungskonzerns McDonnell Douglasablösen soll.

Man solle die Flugzeuge einfach etwasgenauer prüfen und dann zulassen, wurdeangeordnet. Bis zum 6. April 2011 soll dieser Zustand nach dem SPIEGELvorliegen den Dokumenten angehaltenhaben, Bundeswehr und EADS bestreitendas.

Das Verhältnis zwischen EADS undVerteidigungsministerium ist vergiftet.Das liegt auch daran, dass EADS es ver-steht, Vorschriften zu umgehen und dieBeamten zu provozieren.

Vor einiger Zeit, so berichtet man sichin Koblenz, schaute ein potentieller Käu-fer aus dem Ausland im Werk Manchingvorbei. Dummerweise soll nur ein Flug-zeug der Bundeswehr im Hangar gestan-den haben, und dem habe auch noch derZulassungsstempel gefehlt. Die Testpilo-ten der Bundeswehr sollen sich geweigerthaben zu fliegen. Da habe sich kurzer-hand ein EADS-Pilot den Vogel ge-schnappt und eine Showrunde gedreht.

OTFRIED NASSAUER, GORDON REPINSKI, GERALD TRAUFETTER

Wirtschaft

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FehlstartKostenexplosion beim Eurofighter-Projekt, Anschaffungspreis je Flugzeug (geplante Stückzahl: 180)

80er JahrePlanung

bei Projekt-beginn

1997Der Haushalts-

ausschussbeschließt dieAnschaffungeiner bereits

abgespecktenVersion.

2013Planung

lautHaushalts-

entwurf

33,2Mio. €

(65 Mio. DM)

65,8Mio. €

93,5Mio. €

Stelios Stavridis hat mit dem Verkaufvon Swimmingpools viel Geld ver-dient, jetzt, findet er, muss er sein

unternehmerisches Talent der Rettung sei-ner Heimat widmen.

Der 66-jährige Manager mit den aristo -kratischen Zügen leitet seit kurzem diegriechische Privatisierungsagentur, dieHunderte staatlicher Grundstücke, Fir-men, Yachthäfen und Flughäfen zu Geldmachen muss.

Stavridis ist innerhalb eines Jahresschon der dritte Mann in diesem Job, dochseine professionelle Zuversicht schmälertdas nicht. Er habe gerade „exzellente“Gespräche mit den Beobachtern vom In-ternationalen Währungsfonds (IWF), vonder EU-Kommission und der Europäi-schen Zentralbank geführt, die regelmä-ßig die Fortschritte des Landes prüfen.

Dieser sogenannten Troika musste erallerdings beichten, dass seine Behördedie gesetzten Ziele dieses Jahr wohl nichteinhalten kann. Der Verkaufdes nationalen Gasversorgersan den russischen Gazprom-Konzern ist in letzter Minutegeplatzt, nun steht auch nochder sicher geglaubte 652-Mil-lionen-Euro-Deal für den WettanbieterOpap auf der Kippe, weil der Käufer sichüber den Tisch gezogen fühlt.

Die veranschlagten 2,6 Milliarden Eurowird Stavridis dieses Jahr damit wohlkaum an den Staat überweisen können.Wegen solcher Schwierigkeiten fehlt imFinanzierungsplan für Griechenland nunschon wieder jede Menge Geld, alles inallem 11,1 Milliarden Euro bis 2015.

Dabei haben die Euro-Partner Grie-chenland schon Hilfszusagen von über230 Milliarden Euro gemacht, die Staats-ausgaben wurden zudem um DutzendeMilliarden zusammengestrichen. Grie-chische Wirtschaftsvertreter sind über-zeugt: Ohne erneuten Schuldenschnittkann das Land nicht überleben.

Das Thema ist politisch heikel, vor al-lem in Deutschland. Denn ein solcherSchnitt träfe dieses Mal auch die öffentli-chen Gläubiger, die inzwischen 80 Pro-zent der griechischen Staatsschulden hal-ten. Ein großer Teil der deutschen Hilfs-kredite wäre damit unwiederbringlich weg.

Noch lehnt Bundeskanzlerin AngelaMerkel einen Schuldenschnitt energisch

ab. Sie fürchtet, dass der Reformeifer inGriechenland schwindet, wenn der finan-zielle Druck nachlässt. Denn mit Geld al-lein ist dem Land nicht zu helfen. Zwarbemängelt selbst der IWF die verheeren-den Auswirkungen der Sparprogrammeauf die Wirtschaft des Landes. Doch dasist nur die halbe Wahrheit. Tatsächlichhat Griechenland zwar seine Ausgabendrastisch gekürzt – aber die Sanierungdes Staatsapparats stockt. Das verhindertauch den wirtschaftlichen Erfolg.

Als die Beobachter der Troika 2010 daserste Mal ins Land kamen, waren sieselbst überrascht, wie überreguliert dieWirtschaft war und wie ineffizient der ge-samte Staats- und Justizapparat. Nichteinmal das kalkulierte Staatsdefizit für2009 stimmte: Aus 6 Prozent wurden beinochmaligem Nachrechnen erst 12,7 undschließlich sogar 15,6 Prozent.

Sechs Sparpakete später wird das Mi-nus dieses Jahr voraussichtlich auf rund

vier Prozent sinken. Dafürzollen die Euro-Partner demkonservativen Premier Anto-nis Samaras Respekt. „Dieaktuelle Regierung ist endlichfest entschlossen, Ordnung in

den Staat zu bringen“, lobt Panos Car-vounis, Repräsentant der EU-Kommis -sion in Athen, den Landsmann. „Es ge htvoran.“

Der Staat habe endlich ein vollständigesBild seiner Einnahmen und Ausgaben,Samaras habe außerdem die Reform desGesundheitswesens vorangebracht. Auchder Arbeitsmarkt sei radikal umgekrem-pelt worden. Die teuren Flächentarifver-träge sind jetzt Geschichte, die Abfin-dungsregeln bei Entlassungen lockerer.

Noch im Frühjahr sah es wegen solcherErfolge so aus, als sei das Land aus demGröbsten heraus. Die Lohnstückkosten,die als Indiz für die Wettbewerbsfähigkeiteines Landes gelten, waren infolge derLockerungen am Arbeitsmarkt um zehnProzent im Vergleich zu 2007 gesunken.Großkonzerne wie Unilever, Philip Mor-ris und Hewlett-Packard kündigten großeInvestitionen an.

Übermütig sprach Samaras bei einemBesuch in Peking von seiner „grie-chischen Erfolgsgeschichte“.

Doch die nach außen getragenen Sa-nierungserfolge gehen im Innern des Lan-

Wirtschaft

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WÄ H R U N G S U N I O N

Vergiftetes SystemDie Griechen sparen so drastisch wie kaum ein anderes Euro-Krisenland, dennoch scheint ein neuer Schuldenschnitt unaus-

weichlich. Mit Geld allein ist dem Land allerdings nicht zu helfen.

Trotz Sparbemühungen …Griechenlands Staatsausgaben, in Mrd. €

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Quelle: EU-Kommission

des vor allem auf Kosten der kleinen Leu-te. Ein paar hundert Meter vom Büro desEU-Vertreters Carvounis entfernt hat sichvergangenes Jahr ein Rentner aus Geld-not sogar erschossen. Die Haushaltsein-kommen brachen, Umfragen zufolge, seitKrisenbeginn um fast 40 Prozent ein. 64Prozent der Jugendlichen sind arbeitslos,und das Gesundheitswesen steht nachmehreren Sparrunden kurz vor dem Kol-laps. In vielen öffentlichen Krankenhäu-sern müssen Patienten Bandagen undTupfer privat besorgen und sich von ihrenVerwandten pflegen lassen, weil Kran-kenschwestern fehlen.

Die Troika hat angesichts solcher Zu-stände oft gebeten, die Reichen und Pri-vilegierten stärker an der Finanzierungdes Staates zu beteiligen. Doch vor dereneinflussreichen Lobbygruppen schrecktauch die Regierung Samaras zurück.

Die mächtigsten Unternehmer des Lan-des etwa, die griechischen Reeder, tragenwenig zur Gesundung des Landes bei.Ihre üppigen Einkünfte aus der Schiff-fahrt sind jedenfalls steuerfrei.

„Unser politisches System ist vergif-tet“, fasst Antigone Lyberaki, Wirt-schaftsprofessorin an der Panteion Uni-versität in Athen, die Probleme zusam-men. Jahrzehnte, in denen Schmiergelderund politische Beziehungen wichtiger wa-ren als jede Leistung, hätten den Staats-apparat und die Wirtschaftsstruktur zer-stört, findet die 54-Jährige.

Mächtige Lobbygruppen konnten überJahre Privilegien erstreiten, die sie nunerbittert verteidigen. Als der Staat etwadie überteuerten Lizenzen für Lkw-Fah-rer abschaffen wollte, legten die Laster-fahrer den gesamten Verkehr des Landeslahm, das Militär musste die Versorgungder Krankenhäuser sichern.

Es war nur eine von Hunderten zähenAuseinandersetzungen um die schrittwei-se Liberalisierung der vollkommen über-regulierten Wirtschaft.

In der aufgeblähten Verwaltung etwaverdanken viele Beamte ihren Job eherpolitischen Gefälligkeiten als ihren Kom-petenzen, auch Premier Samaras hobnach seinem Amtsantritt mehrere Ver-bündete aus seinem HeimatwahlkreisMessenien in führende Positionen.

Bis 2015 soll der Beamtenapparat nunum 150000 Stellen schrumpfen. 15000 Be-amten sollen zudem durch junge, gutqua-lifizierte Leute ersetzt werden. Doch anEntlassungen wagten sich die Regieren-den lange nicht heran.

Stattdessen wurden Frühpensionierun-gen befördert und 2000 Staatsdiener ineine sogenannte Mobilitätsreserve ge-steckt; sollte nach einem Jahr für sie keinneuer Job gefunden sein, müssten sieendgültig gehen, lautete das Versprechenan die Troika. Doch für alle fand sicheine neue Aufgabe. Die versprochene Su-che nach weiteren 12500 Staatsdienern

für die Prozedur versandete. Der Grundfür diese Zurückhaltung sind Männer wieOdysseas Drivalas: Der braungebrannteehemalige Verwaltungsbeamte ist Chefder Dachgewerkschaft der Staatsbediens-teten Adedy. Er steht damit rund 400000Mitgliedern vor und hält es schlicht füreinen „Mythos“, dass der Staat zu vieleMitarbeiter habe. „Wir planen bald einenneuen Generalstreik.“

Eigentlich müsste man Männer wie ihnin den Reformprozess einbeziehen, dochdie Chancen stehen schlecht. Viele Ge-werkschafter unterstützen die linke Sy-riza-Partei, deren Chef Alexis Tsipras da-vor warnt, Griechenland zur „deutschenKolonie“ zu machen.

Die teils grotesken Zustände in Grie-chenlands Behörden sind eine Haupt -ursache dafür, dass es der Wirtschaft soschlecht geht. So sollte ein 2010 einge-führtes „Fast track“-Verfahren Unterneh-mern binnen 60, und später sogar binnen45 Tagen zu allen Genehmigungen ver-helfen. Doch drei von vier Großinvesto-ren, die dieses Procedere durchlaufen ha-ben, kämpfen bis heute um ihre Projekte.

„Man hat die Schnelligkeit, mit der solche Reformen durchgeführt werdenkönnen, überschätzt“, sagt Paul Mylonas,Chefökonom der National Bank of Greece. Vor allem hat man wohl die Wi-derstandskräfte des alten Systems unter-schätzt.

An Ideen, wie man das Land aufbauenkönnte, mangelt es nicht: Ökonom My-lonas etwa ist überzeugt, dass sich derDienstleistungsbereich rund um dieSchifffahrt stark ausbauen ließe. „Logis-tik, Versicherungen, Lagerung“, lautenseine Stichworte. EU-Vertreter Carvouniswill, dass sich die Tourismusbranche mehrum Kulturinteressierte oder Mountain-bike-Fahrer kümmert. Das Land sei„sechs Monate im Jahr fast leer“.

Doch solche Pläne lassen sich nur insehr langen Zeiträumen realisieren. „90Prozent der Firmen haben nur drei bisfünf Mitarbeiter“, sagt Mylonas, „auf die-ser Basis können wir nicht wettbewerbs-fähig sein.“

Berechnungen der Troika über diekünftige Entwicklung wirken da wie Kal-kulationen aus Wolkenkuckucksheim.2017 soll das Land 3,5 Prozent Wachstumgenerieren. 2022 sollen die Schulden vonderzeit 175 Prozent des BIP auf „deutlichunter“ 110 Prozent sinken.

Selbst Chef-Privatisierer und Profi-Op-timist Stavridis gesteht ein, dass er undseine Landsleute „gewaltige Probleme“hätten. „Aber ich bin 100 Prozent sicher,dass wir gewinnen werden.“ ANNE SEITH

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Griechische Ferieninsel Santorin

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Syriza-Chef Tsipras

… steigende SchuldenlastStaatsverschuldung, in Prozent des BIP

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108Quelle: EU-Kommission

Schulden-schnitt

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Lesen Sie im nächsten Heft:

Portugal galt lange als Musterknabe unter

den Krisenländern. Doch die Angst

vor einer Staatspleite ist zurückgekehrt.

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SPIEGEL: Herr Persson, H&M bezeichnetsich selbst als verantwortliches Unterneh-men. Haben Sie über Ihre Verantwortungnach der Katastrophe von Bangladeschneu nachgedacht? Dort starben beim Ein-sturz des Rana-Plaza-Komplexes in Dha-ka mit fünf Textilfabriken mehr als 1100Menschen. Persson: Nein. H&M hat nicht im RanaPlaza produzieren lassen. Wir versuchenseit vielen Jahren, die Bedingungen inder Textilbranche zu verbessern. Diefurchtbare Katastrophe in Bangladeschhat jetzt bewirkt, dass wir als erstes Un-ternehmen ein Brandschutzabkommenunterzeichnet haben, dem sich inzwi-schen viele andere angeschlossen haben.SPIEGEL: Das hätten Sie doch viel frühertun können. Seit 2006 starben allein beiBränden in Bangladeschs Textilfabriken

etwa 700 Menschen. Warum hat H&Mdas Abkommen erst jetzt unterschrieben? Persson: Das ist das erste Abkommen die-ser Art. Ein solcher Schritt ist nur sinn-voll, wenn viele – am besten alle – Un-ternehmen ihn mitgehen. Das war zuvornicht der Fall. Aber wir haben bereitsvorher viel getan. Wir haben mehr als500 000 Texilarbeiter in Feuer- und Si-cherheitsmaßnahmen geschult, das istTeil unseres Verhaltenskodexes. Und wirhaben die Namen unserer 800 Zuliefer-betriebe veröffentlicht und damit erst-mals für Transparenz gesorgt. Das Pro-blem ist ein anderes. Wir haben es inBangladesch mit einem korrupten Sys-tem zu tun: Die zusammengestürzte Fabrik war für weniger Stockwerke ge-nehmigt, als es tatsächlich waren. DieKatastrophe hat nun alle – die Regierung

und die Unternehmen dort – enger zu-sammengebracht.SPIEGEL: Sie lassen Ihre Zulieferbetrieberegelmäßig durch firmeneigene Kontrol-leure prüfen, wie etwa 2009 die FirmaGarib & Garib in Bangladesch. Dort wa-ren Feuerlöscher nicht zugänglich, H&Mließ trotzdem weiterproduzieren. EinJahr danach kam es dort zu einem Brandmit 21 Toten …Persson: … das war ein Desaster. Wir hat-ten dort einmal kontrolliert und auf Bes-serung gedrungen. Wir trennen uns erstvon unseren Zulieferern, wenn sie bei ei-ner zweiten Kontrolle auffallen. Vielleichthätten wir in diesem Fall besser prüfenmüssen. Aber hätten wir diese Fabrik ver-lassen sollen? Ich glaube nicht, das hätteniemandem genutzt. Weil die Fabrik si -gnalisiert hat, dass sie die Situation ver-

S P I E G E L - G E S P R Ä C H

„Konsum ist etwas Gutes“H&M-Vorstandschef und -Miteigentümer Karl-Johan Persson über

die Verantwortung der Textilhandelskette für die Arbeitsbedingungen in Bangladesch und den Widerspruch zwischen Wachstum und Nachhaltigkeit

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Karl-Johan Perssonsteht seit 2009 an der Spitze von

H&M. Der 38-jährige Enkel von

Firmengründer Erling Persson

treibt die Expansion des schwe -

dischen Konzerns voran. Weltweit

existieren 2908 Filialen, auch für

Marken wie „COS“, „& Other

Stories“, „Monki“ und „Weekday“.

bessern will, haben wir sie nach dem Un-glück häufiger besucht.SPIEGEL: Es gab erschütternde Fotos derToten aus dem Rana-Plaza-Building. Waslösen diese Fotos bei Ihnen aus?Persson: Menschen sind gestorben. Das istfurchtbar. Es ist schwer für mich, das an-gemessen zu beantworten. Aber mich be-wegt das genauso wie Sie.SPIEGEL: Was wird Sie das Brandschutz-abkommen kosten?Persson: 500000 Dollar jährlich. Es läuftüber fünf Jahre, also insgesamt 2,5 Mil-lionen Dollar. SPIEGEL: 500 000 Dollar sind nicht mal0,0025 Prozent Ihres jährlichen Umsatzes.Mehr ist Ihnen Verantwortung nicht wert?Persson: Das ist nur eine von vielen Akti-vitäten. Wir sind unter anderem der größteAbnehmer von biologischer Baumwolle.Wir beschäftigen mehr als hundert Men-schen, die sich nur mit Nachhaltigkeits-aspekten befassen. Wir gehen äußerst re -striktiv mit Chemikalien in Kleidung um.Wir sind das erste Mode-Unternehmen, dasgebrauchte Kleidung wieder einsammeltund einem Recycling zuführt. Und wir wol-len bis 2015 CO2-neutral produzieren. SPIEGEL: Das klingt ambitioniert.Persson: Das ist es auch. Deshalb ärgertes mich, wenn H&M als verantwortungs-loser Billigheimer dargestellt wird. Wirorganisieren Programme, um den Dialogzwischen Arbeitgebern und Beschäftigtenzu fördern. Wir klären Textilarbeiter überihre Rechte und Mindestlöhne auf. Mitunserem Einfluss vor Ort können wir füreinen echten Wandel sorgen. Es gibt wohlkaum eine andere Firma, die so langfristignachhaltig denkt und investiert. SPIEGEL: Mit dem Brandschutzabkommenlösen Sie eigentlich nur eine Selbstver-ständlichkeit ein: sichere Arbeitsplätzefür die Näherinnen. Die restlichen Pro-bleme bleiben – Zwangsarbeit, Überstun-den, niedrige Löhne. Wann waren Sie dasletzte Mal in Bangladesch?Persson: Im vorigen September. Ich habedie Premierministerin Scheich Hasina ge-troffen und verlangt, dass die Mindestlöhnenicht nur angehoben, sondern jährlich neuüberprüft werden. Diese Forderung vonuns ist nicht neu, wir haben bereits 2006einen Brief an die Regierung geschriebenund höhere Mindestlöhne gefordert. 2010haben wir diese Forderung wiederholt, derMindestlohn wurde damals verdoppelt.SPIEGEL: Der Mindestlohn beträgt umge-rechnet etwa 30 Euro im Monat. WissenSie, wie viele Überstunden eine Näherinmachen muss, um den Lohn zu erzielen,damit sie eine vierköpfige Familie ernäh-ren kann?Persson: Es gibt mehrere Definitionen,welcher Lohn zum Lebensunterhalt be-nötigt wird. SPIEGEL: Die Organisation „Asia FloorWage“ sagt, dass ein existenzsichernderLohn bei etwa 120 Euro im Monat liege.

Für eine unqualifizierte Näherin sind biszu 100 Überstunden im Monat nötig, umdiesen Lohn zu erzielen.Persson: Die Asia-Floor-Wage-Definitionist umstritten. Wir halten uns an das „FairWage Network“. Die haben 200 H&M-Zulieferer und ihre Einkommensstruktu-ren sowie Überstundenregelungen unter-sucht. Es ist schwierig herauszufinden,was ein existenzsichernder Lohn ist. SPIEGEL: Auch die Näherinnen, die in Ih-rem Auftrag arbeiten, werden nach einemtäglich vorgegebenen Produktionsziel be-zahlt. Warum ist es so schwierig, den Min-destlohn zu erhöhen oder aber einen fes-ten Monatslohn einzuführen?Persson: Dann bliebe vielleicht H&M inBangladesch, aber Tausende andere Ein-käufer würden sich woanders eindecken.Das wäre ein Desaster für Bangladesch.Hier gibt es rund 3,5 Millionen Textilar-beiter, davon sind etwa 80 Prozent Frau-en. In 4500 Textilfabriken werden 20 Mil-

liarden Dollar Umsatz gemacht, 80 Pro-zent der Exporte sind Textilien. SPIEGEL: Glauben Sie ernsthaft, andereUnternehmen würden wegen so geringerMehrkosten den Produktionsstandortwechseln? Persson: Das ist nicht so einfach, wie esvielleicht klingt. In der Textilindustrie ver-dienen die Angestellten schon heute besserals in der Landwirtschaft, auch Lehrer oderÄrzte bekommen kaum mehr. Würde manden Lohn signifikant anheben, würde dasgesamte Einkommensgefüge durcheinan-dergeraten. Gleichzeitig bitten Entwick-lungshelfer mich immer wieder, die Pro-duktion nach Afrika zu verlagern, die Men-schen dort würden die Jobs dringend be-nötigen. Wenn ich das täte, würde das dortdie Armut schmälern, okay. Ich wette, inBangladesch käme sie schlagartig zurück.

SPIEGEL: Warum verlangen Sie von IhrenZulieferern nicht, höhere Löhne zu zah-len, wenn man sich schon nicht über ei-nen höheren staatlichen Mindestlohn ei-nigen kann? Sie sind der größte Einkäuferin Bangladesch. Sie haben die Macht.Persson: Ich würde sofort einen H&M-Aufschlag zahlen und hätte gern ein fai-res Lohnsystem für die gesamte Branche.In der Praxis aber arbeiten die Menschenin einer Fabrik vielleicht zu 10 Prozentfür uns, die übrigen 90 Prozent für an-dere Unternehmen. Wenn nur wir mehrfür unseren Teil der Waren zahlen, umdamit höhere Löhne zu ermöglichen,wäre das schwierig zu handhaben. Wirhaben außerdem ein anderes Problem:Die Kunden denken, ein Shirt, das für9,90 Euro verkauft wird, muss im Ge-gensatz zu einem für 49,90 Euro unterganz schlimmen Bedingungen hergestelltworden sein. Dabei stammt es aus der-selben Fabrik.

SPIEGEL: Die „Kampagne für Saubere Klei-dung“ hat ausgerechnet, dass ein T-Shirtgerade mal zwölf Cent mehr kosten wür-de, wenn die Mindestlöhne in Bangla-desch verdoppelt werden würden, weildie Lohnkosten nur ein bis drei Prozentdes Endpreises ausmachen. Warum sor-gen Sie angesichts solch marginaler Zu-satzkosten nicht für bessere Löhne? Persson: Noch einmal: Wir besitzen keineeigenen Fabriken, zahlen also die Löhnenicht. Es muss eine Gesamtlösung geben.Es bringt nichts, wenn nur wir allein besserzahlen. Alle Einkäufer müssen an einemStrang ziehen. Wenn wir die Zulieferer zu100 Prozent auslasten würden, ginge dasvielleicht. So ist es aber in der Realität nicht.Wir haben bislang nur vier Fabriken, dieausschließlich für uns arbeiten. Dort pro-bieren wir auch einiges aus. Eine fünfte Fa-

Wirtschaft

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Italien 25

Tunesien 5

Thailand 1

Niederlande 2

18 Portugal

1 Lettland

3 Schweden

1 Polen

27 Bulgarien

Griechenland 3

24 Rumänien

4 Ukraine

194 Türkei262 China

Kambodscha 34

11 Vietnam

Südkorea 37

165 Bangladesch

Indien 104

Pakistan 8

Indonesien 56

Sri Lanka 31

Ägypten 4

Planet H&M

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410 Deutschland

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104000 Mitarbeiter

brik ist gerade im Aufbau. Dort werden be-reits höhere Löhne gezahlt, und dort wirdnur ökologische Baumwolle eingesetzt. Dasist keine Mumbo-Jumbo-Folklore, was wirda machen. Wir meinen es ernst.SPIEGEL: Interessieren sich Kunden zu we-nig für die Herkunft ihrer Kleidung?Persson: Am liebsten würde ich an jedesKleidungsstück unseren Nachhaltigkeits-report hängen. Denn je mehr der Kundeweiß, desto größer wird der Druck aufFirmen, die ihrer Verantwortung nichtnachkommen. Insofern ist der öffentlicheDruck gut. Das zwingt uns, mehr zu ma-chen. Ich gebe zu, vor 20 Jahren hattenweder wir noch andere Firmen das The-ma Nachhaltigkeit auf dem Radar, weilder Druck fehlte. Aber die Fortschritteseither sind enorm – zumindest für uns. SPIEGEL: Kam es für Sie nie in Frage, eige-nen Fabriken aufzubauen?Persson: Nein, das wäre ein komplett an-deres Geschäftsmodell. Unser Geschäftist Design und Handel, darin haben wirlange Erfahrung, darauf wollen wir unsfokussieren. Kaum ein Händler hat eige-ne Fabriken. Das muss aber kein Nachteilsein. Wir haben trotzdem Millionen Men-schen Jobs gegeben, die vor 20 Jahrennoch in Armut lebten. Das ist phantas-tisch. Wir sorgen für ein besseres Leben.SPIEGEL: Jetzt tun Sie so, als hätten Siekeine ökonomischen Interessen, sondernwären eine Charity-Organisation.Persson: Nein, da verstehen Sie michfalsch. Wir sind ein profitorientiertes undwettbewerbsfähiges Unternehmen. Wirsind aus vier Gründen in Bangladeschoder China: geringe Kosten, gute Quali-tät, Nachhaltigkeit und Marktnähe. Trotz-dem ist es für mich kein Widerspruch, kostengünstig zu produzieren und Wohl-stand vor Ort zu schaffen.

* Mit den Redakteuren Janko Tietz und Susanne Amannin Stockholm.

SPIEGEL: Das Kampagnennetzwerk „Avaaz“hat Sie vor kurzem in einer Anzeige abge-bildet, auf der auch eine trauernde Frauaus Bangladesch zu sehen war. Die Fragelautete: „Enough Fashion Victims?“ Wasgeht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie soetwas sehen?Persson: Als weltweit agierendes Unter-nehmen sind wir nun mal eine Zielschei-be. Das finde ich zwar unfair, weil wirim Gegensatz zu vielen anderen hart anVerbesserungen arbeiten. Gemessen ananderen Ungerechtigkeiten, die es welt-weit gibt, ist das aber marginal, und ichkann gut damit leben. SPIEGEL: Es wurde zum Boykott von H&Maufgerufen. Spüren Sie Auswirkungen?Persson: Nein. Wir hatten bisher ein gutesJahr, obwohl die Textilbranche als Gan-zes gerade Probleme hat. Dennoch ist es natürlich nicht hilfreich, wenn zumBoykott aufgerufen wird. Deshalb spre-chen wir auch mit kritischen Institutio-nen oder Nichtregierungsorganisationen.Viele von denen sagen, wir machen ei-nen guten Job. Ist er perfekt? Nein. Aberdie Kunden müssen verstehen, dass dasein langfristiger Einsatz von unserer Seite ist.SPIEGEL: Liegt das nicht auch daran, dassdie Geschäftsphilosophie von H&M, alsoimmer schneller, immer mehr und immer

günstiger zu verkaufen, dem Prinzip vonNachhaltigkeit entgegensteht?Persson: Nein. Konsum ist etwas Gutes.Kein Unternehmen der Welt würde sichmit weniger Absatz, weniger Kunden,weniger Arbeitsplätzen zufriedengeben,nur weil das gut für die Umwelt ist.Wachstum ist ein Antreiber. Man mussden Prozess nur gestalten, der Profit mussnachhaltig erwirtschaftet werden. UnsereKunden sollen sich sicher sein, dass dasbei H&M an erster Stelle steht.SPIEGEL: Die deutsche Eco-Fashion-FirmaHess Natur verkauft ihre T-Shirts für 19,95Euro und verdient daran nur 28 Cent.H&M verkauft T-Shirts für 4,95 Euro. Wieviel verdienen Sie daran?Persson: Das weiß ich nicht. Aber unserdurchschnittlicher Gewinn liegt bei mehrals zehn Prozent. Firmen wie Hess Naturbeziehen keine so großen Mengen wiewir. Sie sorgen auch nicht für so vieleJobs weltweit. Dennoch: Auch wir habendas Ziel, komplett faire Mode herzustel-len. Mir schwebt ein weltweit gültigesSiegel für die Branche vor, ähnlich wiedas Fair-Trade-Siegel beim Kaffee. Nurwer sich an definierte Standards bei Löh-nen, Umwelt und sozialen Aspekten hält,soll es an seine Textilien hängen dürfen.Dann können die Kunden entscheiden,wo und was sie kaufen.SPIEGEL: Haben nicht gerade Sie die Kun-den erst dazu erzogen, immer schnellerzu konsumieren? H&M bietet jeden Tagneue Kleidungsstücke in seinen Geschäf-ten an. Wer braucht das?Persson: Das ist eine philosophische Frage.99 Prozent der Dinge des Alltags benöti-gen wir nicht, den regelmäßigen Friseur-besuch genauso wenig wie neue Klei-dung. Was hieße es denn, wenn wir alle20 Prozent weniger konsumieren? Eswürde bedeuten: 20 Prozent wenigerJobs, 20 Prozent weniger Steuern, 20 Pro-zent weniger Geld für Schulen, Ärzte,Straßen. Die Weltwirtschaft würde zu-sammenbrechen. Ich bin der festen Über-zeugung, dass die Welt durch Wachstumheute besser ist als vor 20 Jahren. Undsie wird in 20 Jahren besser sein als heute.SPIEGEL: Würden Sie im Zweifel dennochauf Wachstum und Gewinn verzichten,um nachhaltiger zu werden?Persson: Das ist eine schwierige Frage. Ichkönnte Ihnen jetzt sagen, wir investierenmorgen fünf Milliarden Euro in Nachhal-tigkeit. Würde das etwas bringen? Ja,denn wir glauben, dass Wachstum, Profitund Nachhaltigkeit keine Gegensätzesind. Aber wir wollen sowohl ein fairesals auch profitables Unternehmen sein,denn sonst könnten wir keine neuen Fi-lialen eröffnen, keine Designs mehr pro-duzieren, keine neuen Jobs schaffen.H&M gäbe es bald nicht mehr.SPIEGEL: Herr Persson, wir danken Ihnenfür dieses Gespräch.

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Persson beim SPIEGEL-Gespräch*

„Keine Mumbo-Jumbo-Folklore“

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Ausgebrannte H&M-Zulieferfabrik Garib & Garib 2010 in Bangladesch: „Das war ein Desaster“

Börsenankündigungen und Presse -erklärungen waren bereits geschrie-ben, lediglich Daten, genaue Sum-

men und die Uhrzeit mussten noch ein-gesetzt werden. Bis vier Uhr morgens saßin der Nacht zum Donnerstag ein ganzesTeam von Spezialisten in der Düsseldor-fer Zentrale des Energiekonzerns E.onbereit, um die frohe Kunde aus Brasilienmöglichst schnell an Aktionäre und Fi-nanzmärkte zu verteilen.

Doch die Lateinamerikaner ließen sichZeit. Erst am Donnerstag, kurz vor Mit-tag, kam die erlösende Mitteilung aus Riode Janeiro. E.on, hieß es darin, habe sichzusammen mit anderen Partnern zu einerKapitalerhöhung von rund 270 MillionenEuro bei seiner brasilianischen Stromtoch-ter MPX entschlossen. Rund 135 Millio nendavon werde der Düsseldorfer Energie riesekurzfristig aufbringen. Gleichzeitig legeder bisherige Aufsichtsratschef und Fir-mengründer Eike Batista seine Ämter beiMPX mit sofortiger Wirkung nieder.

„Das ist ein Befreiungsschlag“, freutesich E.on-Chef Johannes Teyssen in Lon-don, wo er mit Siemens-Chef Peter Lö-scher einen großen Offshore-Windparkeinweihte. Denn für die Wachstumsplänedes Firmenlenkers war der frühere brasi-lianische Multimilliardär und Inhaber eines riesigen Firmenimperiums in denvergangenen Wochen und Monaten zueinem ernsthaften Risiko geworden.

Noch im vorigen Jahr hatte das US-Ma-gazin „Forbes“ den Brasilianer mit deut-scher Abstammung zum siebtreichstenMann der Welt erkoren. Inzwischen hater rund zehn Milliarden Dollar und damitmehr als die Hälfte seines Ver mögens ver-loren. Der Börsenwert seiner Öl-und-Gas-Firma sank seit 2011 zeitweise um 98 Pro-zent – Batistas Versprechen zu künftigenUmsätzen und Gewinnen hatten sich alsallzu windig erwiesen.

Als dann auch noch Rating-Agenturendie Kredite seines Unternehmens aufRamschniveau absenkten, musste Batistain immer kürzeren Abständen immer grö-ßere Teile seines Vermögens verkaufen.

Finanzmärkte und Investoren, sagtTeyssen, hätten einfach kein Vertrauenmehr in den Geschäftsmann. Brasiliani-

sche Zeitungen formulierten es drasti-scher: Jahrelang habe Batista den Inves-toren „Luft in Tüten“ verkauft, nun er-halte er die Quittung.

Auch die gemeinsam mit E.on ge -haltene Stromtochter MPX drohte in denStrudel zu geraten. Da half es auch nicht,dass E.on seinen Anteil bereits im Märzvon knapp 12 auf rund 36 Prozent aufge-stockt und den Brasilianern weitere 700Millionen Euro überwiesen hatte. Der damals gefasste Plan, über eine Kapital-erhöhung Geld an der Börse zu beschaf-fen, um die Expansionsziele der Strom-tochter zu finanzieren, „war mit Batistaund den Problemen in seinem Firmenim-perium nicht mehr umzusetzen“, sagt

Teyssen. Und so beschloss der deutscheManager, die Flucht nach vorn anzutretenund Batista aus seiner eigenen Firma zuverbannen. Damit hat E.on zumindestfür eine Übergangszeit faktisch die Füh-rung bei MPX in Brasilien übernommen –ein Schritt, der so nie geplant war.

Eigentlich war Teyssen überglücklich,als Batista ihn im Jahr 2012 als Junior-partner für die „gewaltigen Aufgaben“ in

Brasilien auserwählt hatte. Das boomen-de Schwellenland Brasilien, so BatistasVersprechen an Investoren, werde in dennächsten Jahren neue Kraftwerke brau-chen. Viele davon werde MPX mit Un-terstützung der Regierung bauen.

Rund 350 Millionen Euro für einen An-teil von knapp zwölf Prozent schienenTeyssen ein vertretbarer Preis, um in ei-nem solchen Wachstumsmarkt dabei zusein, auch wenn die Firma damals nochnicht viel vorzuweisen hatte.

Dafür trumpfte Batista bei der Vertrags-unterzeichnung mächtig auf. Der E.on-Chef durfte den im Wohnzimmer des Mil-liardärs geparkten 450000 Euro teurenMcLaren-Mercedes-Sportwagen bestau-

nen. Dazu gab es Champagner,Samba-Rhythmen und signierteTrikots der brasilianischen Fuß-balllegenden Pelé und Cacau.

Er habe den „idealen Partner“für das Geschäft in Brasilien ge-funden, frohlockte FußballfanTeyssen damals. Selbst jetzt, daBatista weg ist, will er von „Auf-schneiderei oder windigen Ge-schäften“ nichts wissen – schongar nicht in Bezug auf die Strom-tochter MPX. „Das Geschäftsmo-dell“, sagt Teyssen, sei „nach wievor überzeugend und bietet dieChance auf Wachstum und Ge-winne“. Nur müsse man die Sa-che nun eben selbst machen.

In Russland habe man gezeigt,dass E.on zu solchen Geschäftenin der Lage sei. Dort hat derKonzern in den ver gangenenJahren rund fünf MilliardenEuro in den Aufbau neuer Kraft-werke investiert, in diesem Jahrerhalte er aus der russischen Ge-sellschaft, so Teyssen, immerhinrund 400 Millionen Euro alleinan Dividenden.

Ähnlich erfolgreich soll dasGeschäft nun auch in Brasilienlaufen. Das Management wurdeneu aufgestellt, als Aufseher setz-te Teyssen mit E.on-Vorstand Jørgen Kildahl einen engen Ver-trauten ein.

An der Strategie der Firma sollsich nichts ändern. MPX will inganz Brasilien Windparks undKraftwerke bauen. Lediglichbeim Tempo muss E.on mögli-cherweise ein paar Abstriche ma-

chen. Kapazitäten von 20 Gigawatt, dasentspricht einer Leistung von 20 Atom-kraftwerken, wollte MPX in kürzesterZeit aufbauen und damit zum Marktfüh-rer in Brasilien aufsteigen.

Doch diese Ankündigung, sagt Teyssenvorsichtig, „stammt noch aus der Zeitvon Batista“. Soll heißen: Sie war, wie sovieles, vielleicht ein wenig übertrieben.

FRANK DOHMEN

Wirtschaft

D E R S P I E G E L 2 8 / 2 0 1 3 69

K O N Z E R N E

Flucht nachvorn

Zusammen mit einem Milliardärverfolgte E.on in Brasilien ehrgei-zige Pläne. Die muss der Energie-versorger nun allein umsetzen, derPartner steckt in Schwierigkeiten.

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MPX-Gründer Batista, E.on-Chef Teyssen

Zum ernsthaften Risiko geworden

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Schwer zu sagen, wann die Millionä-rin Corinna von S. anfing, an dasWunder der Alchemie zu glauben,

an die Verwandlung von Schrott in kost-bares Metall. Und dass man sein Geldkaum besser anlegen kann als in eine Fir-ma, die diese Wundertechnik beherr-schen soll. Aber zumindest enthält dieSchadensersatzklage, die ihre Anwältejetzt beim Superior Court von Massachu-setts eingereicht haben, zwei Hinweise,wie es so weit kommen konnte.

Der erste: Zwischen 2004 und 2006 be-suchte Corinna von S. ein Labor in FallRiver, USA – ein Labor der Firma AOM,in die sie so viel Geld steckte. Sie bekamzwei Bröckchen überreicht, auf einemAufkleber stand in Rot: „Mit diesem Metall, aus einem der ersten AOM-Expe-rimente, ist es der Menschheit erstmalsgelungen, ein Element umzuwandeln.“

Faszinierend. Erst recht, weil der Fir-menchef um Verständnis bat, dass sie keinStück Papier über die angebliche Pionier-tat mitnehmen dürfe. Alles topsecret.

Und zweitens war da laut Klage im Jahr2006 noch ein Treffen: Gerade als Corinnavon S. zum AOM-Chef vorgelassen wurde,ließ der sich von einem Security-Expertenberaten. Wie Corinna von S. das damalsverstand – verstehen sollte? –, ging es umdie Sicherheit des Managers. Worauf erachten müsse, wenn er in Kürze welt -berühmt sei, wegen dieser grandiosen Er-findung, die alles verändern werde.

Klingt wie eine Räuberpistole? Magsein, aber eine mit großem Kaliber. Dennder Verlust, den die Schweizer Adlige ineinem US-Firmengestrüpp erlitten hat,liegt laut Klage bei 44 Millionen Dollar.Und für den Schaden soll die Rothschild-Bank in Zürich mithaften, eine der vor-

nehmsten Adressen für die Geldvermeh-rung gehobener Kreise. Die Bank soll zu-geschaut haben, wie ihr Kundenbetreuerdie reiche Dame ins Desaster stürzte.

Ende Mai ist der Prozess in Boston miteiner Anhörung angelaufen; er versprichtnicht nur einen hässlichen Streit umschnödes Geld, über das man in diesenKreisen eigentlich nicht redet. Er ver-strömt auch den unangenehmen Geruchvon Zank, zerbrochener Freundschaftund verlorenem Ansehen.

Die Klägerin Corinna von S. kommtaus Meggen, einem Dorf am Vierwald-stätter See, bekannt für seine niedrigenSteuersätze und eine umso höhere Mil-lionärsdichte. Allerdings gehört sie zu derSorte reicher Menschen, von denen Leserdes „Goldenen Blatts“ noch nie gehörthaben, was auch daran liegen kann, dassFrau S. bis 2002 nicht mal selbst etwasvon ihrem wahren Reichtum gehört hatte.Erst nach dem Tod ihrer Mutter, so dieKlageschrift, habe sie erfahren, dass einerihrer Vorfahren nicht nur ein Pionier desChemieriesen Ciba-Geigy war. Er hatteauch ein Aktienpaket der Firma hinter-lassen, deren Nachfolger heute No vartisheißt. Wert: rund 200 Millionen Euro.

Mit dem SPIEGEL wollte Corinna vonS. nicht reden; glaubt man ihren Beratern,hat sie allein schon die Anfrage so ener-viert, dass sie tagelang verstört gewesensei. Das passt in das Bild, das ihre Anwäl-te auch vor Gericht zeichnen wollen: aufder einen Seite eine naive, schüchterneFrau, auf der anderen ausgefuchste Profisauf der Jagd nach „stupid money“, demGeld der Dummen.

Auf der anderen Seite des Falls – unddes Atlantiks – steht John T. Preston, alsKopf diverser Firmen, in die das Geld ausder Schweiz floss. Für einen Mann, der win-dige Geschäfte gemacht haben soll, hat erexzellente Referenzen: Bis in die Neunzigerwar er Direktor am MIT in Cambridge, derwohl renommiertesten Technischen Hoch-schule der Welt. Preston kümmerte sichum die Vermarktung dessen, was MIT-For-scher herausfanden. In seinem Lebenslauftauchen auch Auftritte als Sachverständigerim US-Kongress auf, dazu Jobs für das US-Verteidigungsministerium und die Nasa.

Bekannt war er allerdings auch für eineVorlesung, bei der er Studenten in die„Elevator Speech“ einführte. Also in dieKunst, sich an mögliche Geldgeber heran-zuwanzen, sie für ein Projekt zu begeis-tern, wenn man dafür nur so viel Zeit hat,wie die Fahrt mit ihnen im Aufzug dauert.Und weil Start-ups meist kaum Geld ha-ben, lernten sie als goldene Regel fürCocktailpartys, auf denen man wichtigeLeute trifft: nie die Party selber schmei-ßen. „Never spend your own money.“

Als Preston dann 1999 mit einem Part-ner die AOM gründete, verließ er sich of-fenbar auf beides, sein Renommee undseine goldene Regel. Preston versprach

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A F F Ä R E N

Alchemie für ReicheErregung in feinsten Kreisen: Ein Rothschild-Berater soll

eine adlige Kundin in Deals getrieben haben, bei denen sie 44 Millionen Dollar verlor. Nun klagt sie in den USA.

Rothschild-Bank in Zürich: Eine der vornehmsten Adressen der Geldvermehrung

Beklagter Preston, Investoren Prinz zu Schleswig-Holstein, Henkel: Großes versprochen

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Großes. In der Klage ist tatsächlich von„Alchemie“ die Rede. Eine Art elektro-magnetische Maßschneiderei, bei der nor-malen Metallen erstaunliche Eigenschaf-ten angehext werden sollten. Kupfer wür-de magnetisch werden, Eisen so hart wieDiamanten. 100 Millionen Dollar sei AOMwert, behauptete Preston 2003 laut Klage.

Damit überzeugte er den deutschstäm-migen Investment-Experten Johan vonder Goltz, der mit seiner Firma in BostonRisikokapital einsammelt. Von der Goltzhatte die nötigen Beziehungen zu Geld-gebern in Europa. Schon kurze Zeit spä-ter machte er Preston mit einem Freundbekannt: Wilfrid Baron von P., 71, alterdeutscher Adel, verheiratet mit einer ge-borenen Prinzessin zu Schleswig-Hol-stein, die wiederum befreundet war mitCorinna von S. Adel unter sich.

Man kennt sich, vertraut sich, verlässtsich auf die Ehre des anderen. Baron vonP., damals Direktor bei der PrivatbankRothschild in Zürich, hatte mit Corinnavon S. noch keine Geschäfte gemacht.Aber kaum dass sie 2002 geerbt hatte,sollte sich das ändern. Baron von P. hatteeinen heißen Tipp für sie: AOM.

Zunächst lagen die Novartis-Aktien derreichen Dame aber noch bei einer ande-ren Bank. Glaubt man ihren Anwälten,machte Baron von P. Druck, einen Teilzu verkaufen. Das „Klumpenrisiko“ seizu groß, sie solle ihr Vermögen streuen.Den Erlös überwies Corinna von S. zurRothschild-Bank, wie empfohlen. Dorteröffnete sie sechs Konten, jedes für eineandere Anlagestrategie. Für die riskan-teste, Unternehmensbeteiligungen, soll-ten höchstens 5 Prozent verwendet wer-den. Am Ende, so die Klage, seien daraus40 Prozent geworden.

Anfang 2004 kaufte Corinna von S.zum ersten Mal AOM-Aktien, für zehnMillionen Dollar. Preston hatte ihr angeb-lich versichert, die AOM-Technik steheknapp vor der Marktreife; noch ein Test,dann sei es so weit. Doch so wenig sie jeeinen Prospekt oder Geschäftspläne ge-sehen haben will, so wenig soll die Bankdie Firma durchleuchtet haben, klagt sieheute. Im Gegenteil: Berater P. habe so-gar gesagt, das sei unnötig.

Selbst dann, als er ihr 2006 nahelegte,noch mal vier Millionen in die Firma zustecken. Da stand AOM angeblich immernoch kurz vor dem Durchbruch; Prestonsoll den Firmenwert inzwischen sogar mit500 Millionen Dollar beziffert haben.

Die Anwälte der Millionärin erklärendie Vorliebe ihres Beraters für AOM da-mit, dass Baron von P. auf beiden Seitenkassiert haben soll: Erst habe er sich vonseiner Kundin zehn Prozent ihrer AOM-Aktien übertragen lassen – als Belohnung,dass er die AOM ausfindig gemacht habe.Dann soll er auch von Preston noch AOM-Aktienoptionen im Wert von 250000 Dol-lar angenommen haben.

Offenbar glaubte auch der Baron andie Erfolgsstory. Sonst hätte er sich – lautKlage – kaum mit Anteilen bezahlen las-sen, die sich später als so gut wie wertlosherausstellten: Die AOM-Aktien derSchweizer Adligen, einst für 14 MillionenDollar gekauft, würden ihren Anwältenzufolge heute noch 53000 Dollar bringen.

Auch nachdem sich Baron von P. 2006selbständig gemacht hatte, arbeitete erweiter als Anlageberater der Millionärin.Und auch die Rothschild-Bank blieb of-fenbar im Geschäft: Zu Terminen für sei-ne Kundin fuhr der Baron angeblich wei-ter in die Bank; eine Visitenkarte wies

Nicht nur Corinna von S. ließ sich kö-dern. Als Anleger mit dabei in PrestonsFirmengeflecht waren nun auch Wasch-mittelmilliardär Christoph Henkel, dermit P. verschwägerte Christoph Prinz zuSchleswig-Holstein, eine Kölner Bankiers-gattin. Damals alles Gläubige John Pres-tons, heute vermutlich eher seine Gläu-biger, wie Corinna von S. Denn NC 12,die frühere Texas Syngas, musste Insol-venz anmelden, und über CET, die frü-here AOM, schrieb Preston 2011 selbst:„Entweder ist die Firma eine große Sum-me Geld wert oder gar nichts.“

Die meisten Investoren wollen sichdazu nicht äußern. Der Kölner Bankiers-frau ist die Sache heute unangenehm:„Ich habe auch Geld verloren“, sagt sienur. Die Privatbank Rothschild weist imFall Corinna von S. alle Vorwürfe „kate-gorisch zurück“. Man werde sich „dage-gen mit allen uns zur Verfügung ste -henden Mitteln wehren“. Zu einzelnenSachverhalten könne man sich wegen des laufenden Verfahrens aber derzeit nichtäußern. Preston und Baron von P. rea-gierten nicht auf eine SPIEGEL-Anfrage.Anders Investment-Experte von derGoltz: Preston habe ihn einst von „tech-nisch hochinteressanten Möglichkeiten“überzeugt. Heute würde er aber nie mehrin eine Preston-Firma investieren; erhabe selbst Geld verloren. Und über denBaron sagt er: „Das war ein engerFreund.“ Betonung auf „war“. Corinnavon S. tue ihm leid.

Ein Prüfbericht, den die Anwälte derMillionärin 2011 bei einer Beraterfirmain Auftrag gaben, kam zu vernichtenden Ergebnissen: Baron von P. habe Informa-tionen von Preston meist nur mündlicherhalten, allerdings auch mal Telefonkon-ferenzen geschwänzt. „Das Fehlen einesInvestorenprospektes und unabhängigerPrüfungen“ seien „Stopp-Zeichen“, dieP. nicht beachtet habe. Und AOM undCET seien in Wahrheit nie über Forschun-gen im Frühstadium hinaus gekommen,Texas Syngas und NC 12 kaum weiter.

Preston sagte den Prüfern, er wünschesich nichts sehnlicher als Erfolg für seineFirmen. Die Prüfer unterstellen ihm keineBetrugsabsicht, wohl aber, dass er vor lau-ter Technikbegeisterung seine Pflicht ver-gessen habe, „offensichtliche Problemekorrekt zu lösen“. Zu denen gehörte dem-nach auch eine „unglaublich hohe Geld-verbrennungsrate“, etwa für Jahresgehäl-ter von 500000 Dollar und mehr.

Im Superior Court, Raum 1309, wiesder Richter nun Ende Mai die Rothschild-Bank an, interne Papiere herauszurücken.Der Anwalt des Barons argumentierte da-gegen, das US-Gericht sei nicht zuständig.Ob das der Richter auch so sieht, wirdsich wohl im August zeigen. Beim nächs-ten Treffen im Kampf um Geld und Ehre.

JÜRGEN DAHLKAMP, JÖRG SCHMITT,SEBASTIAN SCHNEIDER

Wirtschaft

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ihn laut Klage als „Berater von Roth-schild“ aus. An den Geschäften mit Corinna von S. soll Rothschild über dieJahre 450000 Franken verdient haben.

Wie es um die US-Anlage stand, sollCorinna von S. dagegen niemand verra-ten haben. 2010 brauchte Preston erneutfrisches Geld für die AOM, die er inzwi-schen in CET umgetauft hatte. Kein gutesZeichen. Doch da hatten Preston und derBaron den Blick der Millionärin längstauf andere Firmen gelenkt: wieder Pres-ton-Firmen, denen angeblich ein raketen-hafter Aufstieg bevorstand, mit Namenwie Texas Syngas oder NC 12.

D E R S P I E G E L 2 8 / 2 0 1 372

Panorama

L I B Y E N

Nato warnt vor AnarchieLibyen stehe knapp zwei Jahre nachdem Sturz des Diktators Muammar al-Gaddafi vor dem Zerfall – warnteine Nato-Delegation, die Ende Junidas Land bereiste. „Alle Parteien inLibyen sind der Ansicht, dass die der-zeitige Lage des Landes fragil und un-haltbar ist“, heißt es in dem vertrau -lichen Bericht der Delegation, der demSPIEGEL vorliegt. „Armee und Poli-zei sind derzeit nicht in der Lage, dieSicherheit zu garantieren“, so die Ab-gesandten. In Libyen befinde sich„das weltweit größte ungesicherte Ar-senal von Waffen“, darunter Minen,Munition sowie tragbare Flugabwehr-systeme. „Die Unfähigkeit der liby-schen Behörden, die Kontrolle überdas Staatsgebiet herzustellen, hat eskriminellen und anderen bewaffnetenGruppen einschließlich transnatio -nalen Dschihadisten-Netzwerken er-laubt, Libyen als Basis oder Transitfür militärische Aktivitäten zu nut-zen“, heißt es weiter. Der libysche Außenminister Mohammed Imhamid

Abd al-Asis wird mit den Worten zi-tiert, Libyen werde zu einem „geschei-terten Staat“ („failed state“), wenndie internationale Gemeinschaft nichteingreife. Die Regierung in Tripolishat die Nato gebeten, den Aufbau ei-ner bis zu 35000 Mann starken Natio-nalgarde zu unterstützen. Doch dieMilitärexperten aus Brüssel äußernZweifel an dem Konzept. Sie bemän-geln, dass die neue Truppe direkt demlibyschen Premierminister unterste-hen soll. Zudem müssten auf jedenFall die regierungskritischen Revolu -tionsgarden mit einbezogen werden.„Sie zu ignorieren ist vollkommen un-realistisch.“ Aber es mangle den Re-gierungsstellen an der „Fähigkeit, Ratanzunehmen und umzusetzen“.

U K R A I N E

Flammende WutEine Vergewaltigung – ausgerechnetdurch Polizisten – hat landesweite Em-pörung und eine Debatte über Behör-denwillkür ausgelöst. Zwei Männer wa-ren in dem südukrainischen Ort Wradi-jewka über eine Frau hergefallen, einTaxifahrer schaute seelenruhigzu. Weil die örtliche Polizei ihreKollegen zunächst unbehelligtließ, versammelten sich rundtausend Einwohner vor dem Re-vier. Sie warfen Steine undsteckten das Gebäude in Brand.Der Oppositionspolitiker undBoxweltmeister Vitali Klitschkosagte, der Fall sei ein „Weckruffür die Gesellschaft“. Immerwieder werden in der Ukraineähnliche Skandale bekannt:Polizisten oder Politiker bege-hen Verbrechen – und bleibenstraffrei. Im März vergangenenJahres hatten drei Männer in

Nikolajew die 18-jährige Oksana Makar vergewaltigt, angezündet undauf einem Baugelände zurückgelassen.Obwohl die Frau drei Wochen späterstarb, erhob die Staatsanwaltschaftnicht einmal Anklage. Zwei Täter sindSöhne ehemaliger, aber immer nocheinflussreicher Regierungsbeamter.Erst nach Protestmärschen in Kiewund Nikolajew wurden die Männer zuhohen Haftstrafen verurteilt.

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Milizionäre in Tripolis

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Protest gegen Polizeiwillkür in Kiew

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Drei mögliche Varianten zum Kanalbau durch Nicaragua

Panama-Stadt

Panamakanal

2011: 14 684Panamakanal-

Schiffspassagen

100 km

W E L T H A N D E L

Chinesischer KanalDer Mann, der eine neue Ära im Welt-handel heraufbeschwört, ist 40 Jahrealt, lebt mit Mutter, Bruder und Tochter in Peking und hat Chinesische Medizin studiert. Wochenlang warüber Wang Jing spekuliert worden,nun stellte sich der Multimillionär, dereinen neuen Kanal zwischen Pazifikund Atlantik bauen will, der Öffent-

lichkeit vor. Das Projekt, Mitte Junivon Nicaraguas Parlament bewilligt,soll 40 Milliarden Dollar kosten undwäre eine Alternative zum 99 Jahrealten Panamakanal, der gerade fürmehr als fünf Milliarden Dollar er-weitert wird. Der Nicaragua-Kanalsolle deutlich breiter und tiefer wer-den – und sei damit geeignet, vielgrößere Schiffe aufzunehmen, so

Wang. „Die Aussichten sind gutund werden jeden Investor zumLächeln bringen.“ Allerdingswäre die neue Wasserstraße mit286 Kilometern auch mehr alsdreimal so lang wie der Panama-kanal und würde, wie Umwelt-

schützer kritisieren, wohl durchden Nicaragua-See führen, die größ-

te Süßwasserreserve Zentralamerikas.Wang behauptet, die Bewohner derKanalzone freuten sich auf die Jobs,die der Bau bringe. Bei einem Besuchhätten sie ihn mit „China!“- und „Kanal!“-Rufen begrüßt. Ende 2014soll Baubeginn sein. Nicaraguas links-gerichteter Präsident Daniel Ortega –mit dessen Sohn der Investor be -freundet ist – verfolgt mit dem Kanalauch ein politisches Ziel: Wangs Firmasoll die Konzession für 50 Jahre erhal-ten, das ist eine Provokation für dieUS-Regierung. Denn damit würden Nicaragua und eine chinesische Firmaeinen Engpass des Welthandels kon-trollieren.

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Ausland

PA K I S T A N

Gegen die ExtremistenUnter dem neuem Premier NawazSharif könnten sich die Beziehungenzu Indien entspannen. Um einen Frie-densprozess in Gang zu bringen, ver-einbarten Sharifs außenpolitischer Berater und Indiens Außenministeram Rande einer Konferenz südostasia-tischer Staaten in Brunei, enger zu-sammenarbeiten zu wollen. Spätestensim September könnten auch Sharifund der indische Premier ManmohanSingh zusammenkommen. Sharif willmit Indien über den Kauf von Stromverhandeln. Mit seinen Signalen derVersöhnung knüpft der Premier anden legendären Friedensprozess vonLahore an, den er in einer früheren

Amtszeit 1999 anstieß. Damals scheiterte er amWiderstand des pakistani-schen Militärs. Diesmalprovoziert Sharif den Un-mut heimischer Extremis-ten: Pakistan dürfe keinenStrom von Indien kaufen,fordert Hafis Said, Chefder islamistischen Organi-sation Jamaat-ud-Dawa.„Indien produziert Strommit pakistanischen Flüssenund bietet uns diesen dannzum Kauf an.“ Said giltmit als Drahtzieher desTerroranschlags auf die in-dische Metropole Mumbai2008; für seine Ergreifunghaben die USA eine Beloh-nung von zehn MillionenDollar ausgesetzt.

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Neuer Vorposten Kroatien lässt seine Polizisten mit

modernen Nachtsichtgeräten ausstatten. Denn seit das Land

vor einer Woche der Europäischen Union beigetreten ist, hat

es 1350 Kilometer EU-Außengrenzen zu bewachen. Jenseits

davon liegen Bosnien, Serbien und Montenegro – und die

sogenannte Balkanroute. Über diese schaffen Schmuggler

illegale Einwanderer und Drogen nach Europa. Kroatien ist das

28. EU-Land. Nach dem Zerfall Jugoslawiens hatte es die

Unabhängigkeit erkämpft. Heute setzt sich Zagreb dafür ein,

dass auch der Ex-Feind Serbien der EU beitreten kann.

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Militärzeremonie an der indisch-pakistanischen Grenze

Entschuldigung, Jasmin, eine Frage:Wie legitim ist so eine Revolution,wenn das Volk die Armee herbei-

zwingen muss? Das kommt einem dochvor wie auf dem Spielplatz, auf dem einerStreit anfängt, weil er weiß, dass derLärm den großen Bruder herbeiruft?

Eine wichtige Frage, sagt Jasmin al- Guschi, auch ihre Freunde finden das,sehr wichtige Frage, klar, auf jeden Fall.Man wird sie später beantworten, okay?

Dies ist nicht der Moment für schwie-rige Fragen, nicht jetzt, nach getaner Re-volution. In den vergangenen Wochenhat die sanfte, schöne Jasmin ein Dut-zend Mal ihr Leben riskiert, sie wäre beinahe im Gefängnis gelandet, und ges-

tern, am Mittwochabend, haben sie end-lich gesiegt.

Bis vier Uhr morgens tanzten, sangen,jubelten sie vor dem Präsidentenpalast inKairo, danach gingen sie zusammen in diekonspirative Wohnung, die sie vor zweiMonaten gemietet hatten, im obersten Ge-schoss eines zehnstöckigen Hauses, keinNamensschild an der Tür. Nur neun Men-schen wussten, dass hier die Revolutionwohnte, sagt Jasmin. Sie nennen die Woh-nung „Control Room“, hier stehen immernoch ihre Computer, hier haben sie einenTeil der Unterschriftenlisten versteckt.

In der Nacht nach dem Sieg waren siefroh und erleichtert, erzählt Jasmin, alleinschon deshalb, weil sie nicht im Gefängnis

gelandet waren. Sie waren aufgedreht, undsie feierten Mahmud Badr, ihren gewähltenAnführer, der hinter Armeechef Abd al-Fattah al-Sisi saß, als dieser die entschei-denden Worte in die Kameras sprach: Prä-sident Mohammed Mursi habe die Forde-rungen des Volkes enttäuscht, er werdedurch den Verfassungsrichter Adli Mansurersetzt; es solle bald gewählt werden, bisdahin würden Technokraten regieren.

Ein Symbol für diesen Umsturz wardas, wie sie da saßen: in der Mitte derGeneral, um ihn herum der koptischePapst, der Großscheich der islamischenAzhar-Universität, der Friedensnobel-preisträger Mohamed ElBaradei – undeben er, Mahmud Badr, Anführer der

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Ä G Y P T E N

Revolution reloadedVolk und Militär haben zusammen die Regierung von Präsident Mursi gestürzt. Ein Zeichen fehlender Demokratie – oder genau das Gegenteil? Der Aufstand

aus Sicht einer Tamarud-Aktivistin, eines Unpolitischen und eines Muslimbruders.

KHALIL HAMRA / AP / DPA

Einsatz gegen Anhänger der Muslimbrüder in Kairo: „Wir sind die Opfer eines kriminellen Staatsstreichs“

rebellischen Jugend. Er trat gleich nachdem General ans Rednerpult und hielteine bewegende Ansprache.

Doch was genau ist an diesem Abendgeschehen? Wie soll man es nennen,wenn Volk und Militär zusammen die Re-gierung stürzen? Ist das ein Zeichen man-gelnden demokratischen Bewusstseins –oder genau das Gegenteil?

Irgendwann wurden die Rebellenschließlich doch müde in ihrem ControlRoom. Draußen war es wieder hell ge-worden, um acht Uhr legte sich Jasminal-Guschi dann in eines der Feldbetten,die sie dort aufgestellt hatten. Ihr letzterGedanke, bevor sie die Augen schloss:Wir können alles erreichen.

Jasmin al-Guschi ist eine junge Frauaus Kairo, 25 Jahre alt, freundlich, unauf-fällig. Sie trägt ein helles Kopftuch, hateinen Freund, liebt Verdi-Opern undBeethoven-Sonaten, den ägyptischenSchauspieler Adil Imam, außerdem Al Pacino, Robert De Niro und Gamal Abdal-Nasser, den einstigen Präsidenten undVolkshelden. „Ich fürchte, ich habe einendurchschnittlichen Geschmack“, sagt sie.

Doch Jasmin al-Guschi hat die vielleichtgrößte friedliche Protestbewegung der ara-bischen Welt mitbegründet: Tamarud, Re-bellion. Dabei waren sie am Anfang nurneun junge, wütende Ägypter aus der Mit-telschicht, doch sie rekrutierten Helfer, organisierten, planten monatelang. AmEnde brachten sie angeblich 22 MillionenUnterschriften gegen Mursi zusammenund rund drei Millionen Menschen auf dieStraße – und sie brachten damit das Militärdazu, im Namen des Volkes zu putschen.

Präsident Mursi, ein Muslimbruder, insAmt gewählt vor einem Jahr, wurde abge-setzt und in Hausarrest genommen; meh-rere Anführer der Bruderschaft wurdenvorübergehend verhaftet, ihre Sender ab-geschaltet, ihre Zeitungen nicht gedruckt.

Verwirrte westliche Politiker kritisier-ten die Mittel, aber lobten den Zweck;scheuten das Wort Putsch und sprachenlieber von einer Militärintervention, un-ternommen, um Schlimmeres zu verhin-dern. Seit Ende Juni, zählte Human RightsWatch, sind mindestens 39 Ägypter beiStraßenkämpfen ums Leben gekommen.

Während Jasmin al-Guschi den halbenTag nach der Revolution verschläft, wäh-rend „Apache“-Hubschrauber über denNilbrücken kreisen, die Luftwaffe ihreKampfflugzeuge über Kairo hinwegdon-nern lässt, geht Mohamed Sharaf pünktlichum neun Uhr morgens ins Büro. Sharaf istein Mann von Anfang vierzig, fröhlich, ge-mütlich, Vater zweier Söhne, Computer-experte. „Ich war ein ganz normaler, harm-loser Bürger“, sagt er. „Bis gestern.“

Die Nacht von Mittwoch auf Donners-tag verbrachte Sharaf vor dem Fernseher,er erklärte seinen Jungs die Politik, dis-kutierte mit seiner Frau. Er sagt, es seidie Nacht gewesen, die für ihn das Ende

seines bisherigen Lebens markiere – undden Anfang eines neuen. Sharaf gehörtebis dahin zum unpolitischen Bürgertum,er war einer von jenen, die vorwurfsvoll,wenn auch scherzhaft „Hisb al-Kanaba“genannt werden, die Kanapee-Partei. Die,die nur auf dem Sofa sitzen und Politikden anderen überlassen. „Aber in denvergangenen zwei Monaten habe ich vielgelernt: Ich muss mich einmischen. Un-bedingt! Sonst geht mein Land vor dieHunde. Wir durften Ägypten nicht denMuslimbrüdern überlassen.“

Am Tag nach Mursis Sturz haben dieMuslimbrüder sich zurückgezogen inViertel wie Nasr City, eine Hochburg derIslamisten im Nordosten von Kairo. Schät-zungsweise 7000 Menschen haben sichvor der Moschee am Platz Rabaa al-Ada-wija versammelt, sie haben Zelte aufge-baut, eine ganze Zeltstadt, denn sie wol-len bleiben. Vor allem Männer sind da,von jung bis greisenhaft, alle mit stren-gem Gesicht, viele tragen Bauhelme, hal-ten Baseballschläger und kräftige Stöckein den Händen. Überall hängen Plakate,die ihren gestürzten Präsidenten zeigen.

Einer der Männer ist Fahmi Fausi, 45Jahre alt, Buchhalter. Er ist kräftig, bärtig,er trägt eine blaue Baseballkappe. Und erist wütend. „Die ganze Welt soll es wis-sen“, sagt er. „Sie haben uns keine Chancegegeben, das Militär, die Christen, dieAgenten des Auslands und die Anhängerdes alten Regimes, die Tamarud unterwan-dert haben. Wir Muslimbrüder sind dieOpfer eines kriminellen Staatsstreichs.“

Während Fausi erzählt, reihen sich hin-ter ihm etwa hundert Männer auf, davorein Einpeitscher mit Megafon. „Wir wol-len einen islamischen Staat!“, ruft er. DieMänner brüllen: „Wir wollen einen isla-mischen Staat! Einen islamischen Staat!“

Drei Ägypter, grundverschieden: Jas-min al-Guschi, die Tamarud-Aktivistin;Mohamed Sharaf, der wachgerüttelte Bür-ger; und schließlich Fahmi Fausi, der ver-bitterte Muslimbruder. Sie kennen sichnicht, aber sie haben in den vergangenenTagen und Wochen mit verteilten Rollendas Schicksal Ägyptens mitbestimmt.

Ohne die zu allem entschlossenen Ak-tivisten von Tamarud hätte Mohamed Sha-raf sich niemals aufgerafft, auf dem Tah-rir-Platz zu demonstrieren und den SturzMursis zu fordern. Er wäre nicht auf denGedanken gekommen, dass er sein Lebenändern müsse. Ohne Sharaf und all dieanderen unpolitischen, empörten Bürgerwäre Tamarud wiederum nur eine Cliquevon Träumern aus irgendeinem Internet-café geblieben. Und ohne die Allianz vonTamarud und der Kanapee-Partei wärendie Muslimbrüder wohl noch an der Macht– und Fahmi Fausi ein glücklicher Mann.Er hätte aufsteigen können in der straffenHierarchie der Bruderschaft, mit Aussichtauf mehr Geld und mehr Ansehen.

Die Geschichte dieser drei Ägypter istdie Geschichte einer zurückeroberten Re-volution oder die eines Putsches – je nachPerspektive. Diese Geschichte begann miteinem „Tag der Wut“ am 25. Januar 2011,sie fand ihren ersten Höhepunkt am 11.Februar 2011, dem Tag, an dem PräsidentHusni Mubarak vom Militär zum Rücktrittgezwungen wurde, und dann, vergangeneWoche, ihren zweiten Höhepunkt, als seinNachfolger gestürzt wurde. In der Zwi-schenzeit gab es ein Verfassungsreferen-dum, eine Parlaments- und eine Präsident-schaftswahl, es gab Millionenproteste und

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Mursi-Gegner Guschi, Sharaf, -Anhänger Fausi

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„Wir hatten keine andere Wahl“Friedensnobelpreisträger Mohamed ElBaradei, 71, über die Hintergründe des Militärputsches

SPIEGEL: Herr ElBaradei, Sie haben dieautoritäre Herrschaft Mubaraks be-kämpft. Jetzt stehen Sie Schulter anSchulter mit den Militärs, die den demokratisch gewählten PräsidentenÄgyptens gestürzt haben. Darf ein Frie-densnobelpreisträger mit putschendenGenerälen paktieren?ElBaradei: Lassen Sie mich gleich einesklarstellen: Dies war kein Staats streich.Mehr als 20 Millionen Menschen sindauf die Straße gegangen, weil es sonicht mehr weitergehen konnte. Ohnedie Absetzung Mursishätten wir uns auf einenfaschistischen Staat zu-bewegt, oder es wäre zueinem Bürgerkrieg ge-kommen. Es war eineschmerzliche Entschei-dung. Sie war außerhalbdes legalen Rahmens,aber wir hatten keine an-dere Wahl.SPIEGEL:  Soll das die Botschaft sein: Die Stra-ße ist wichtiger als dasParlament?ElBaradei: Nein. Aber wir hatten gar keinParlament, sondern nur einen Präsiden-ten, der zwar demokratisch gewähltwar, aber autokratisch regierte und ge-gen den Geist der Demokratie verstieß:Mursi hat sich mit der Justiz angelegt,die Medien gegängelt, die Rechte vonFrauen und religiösen Minderheitenausgehöhlt. Er hat sein Amt miss-braucht, um seine Muslimbrüder an dieSchaltstellen zu befördern. Er hat alleuniversalen Werte mit Füßen getreten.Und er hat das Land wirtschaftlich end-gültig in den Ruin getrieben.SPIEGEL: Wie immer Sie das Vorgehenrechtfertigen, demokratisch ist es nicht.ElBaradei: Sie dürfen nicht Ihre hohenMaßstäbe an ein Land anlegen, aufdem Jahrzehnte der Autokratie lasten.Unsere Demokratie steckt noch in denKinderschuhen. SPIEGEL:  Beginnt nun eine Hexenjagdauf die Islamisten? ElBaradei: Dazu darf es nicht kommen.Das Militär hat mir versichert, dass vie-le Meldungen über Verhaftungen nichtstimmen, die Zahlen weit übertriebensind. Wo es zu Festnahmen gekommenist, soll es triftige Gründe geben, etwa

unerlaubten Waffenbesitz. Und die isla -mistischen TV-Stationen wurden ge-schlossen, weil sie die Menschen auf-gewiegelt haben. Ich fordere zudem seitTagen, dass wir die Bruderschaft in denDemokratisierungsprozess miteinbe -ziehen. Niemand darf ohne triftigenGrund vor Gericht gestellt werden. Ex-Präsident Mursi muss mit Würde be-handelt werden. Das sind die Vorausset -zungen für eine nationale Versöhnung.SPIEGEL: Viele befürchten das Gegen-teil. Im vergangenen Jahr haben auch

Sie vor der Gefahr einesBürgerkriegs gewarnt. ElBaradei: Gerade umeine blutige Konfronta-tion zu verhindern, wardas Eingreifen des Mili-tärs nötig. Auch wenndie Emotionen hochko-chen: Ich hoffe, dass dieGefahr eines Bürger-kriegs gebannt ist. SPIEGEL:  UnterschätzenSie da nicht die Empö-rung der Muslimbruder-schaft und deren Millio-

nen Anhänger? Warum sollten sie nochInteresse an Wahlen haben? ElBaradei: Ägypten ist in der Tat zutiefstgespalten. Ohne Aussöhnung haben wirkeine Zukunft. Die Muslimbrüder sindein wesentlicher Bestandteil unsererGesellschaft. Ich hoffe sehr, dass sie anden nächsten Gesprächen teilnehmen.SPIEGEL: Vertrauen Sie nicht zu sehrdem Militär, das ja in der Vergangen-heit oft eigene Interessen verfolgt hat?ElBaradei: Das Militär hat sich diesmalnicht an die Macht gedrängt. Es hatkein Interesse, in der Politik offensivmitzumischen. Die Generäle sind sichbewusst, dass sie eine historische Mit-schuld tragen an dem Desaster, in demdas Land jetzt steckt. Deshalb sprecheich die Armee auch nicht frei von Ver-antwortung.SPIEGEL: Fürchten Sie nicht, als Feigen-blatt missbraucht zu werden? ElBaradei: Das ist keine Frage des blin-den Vertrauens. Das nächste Treffenmit den Generälen ist schon verein-bart, sie hören mir immerhin zu. Meinerote Linie ist: Ich lasse mich mit nie-mandem ein, der Toleranz und Demo-kratie missachtet.

SPIEGEL: Gibt es einen Fahrplan für dieÜbergangszeit? ElBaradei: Spätestens in einem Jahr soll-te es demokratische Wahlen geben.Wir brauchen eine neue Verfassung,die nicht missbraucht werden kann, dieGleichheit und Freiheit jedes Einzel-nen festschreibt. Daran werde ich mit-arbeiten. Und wir brauchen funktio-nierende Institutionen, unabhängigeGerichte, Gewaltenteilung. SPIEGEL: US-Präsident Barack Obamaund sein Außenminister John Kerry haben Sie angerufen. Sehen die beidenin Ihnen den kommenden Präsidenten?ElBaradei: Ich habe versucht, sie vonder Notwendigkeit der AbsetzungMursis zu überzeugen. Aber ich sehemich nicht in der Rolle des künftigenStaatschefs. Ich möchte meinen Ein-fluss nutzen, um die Ägypter zusam-menzubringen und miteinander zu ver-söhnen. SPIEGEL: Bundesaußenminister GuidoWesterwelle spricht von einem „schwe-ren Rückschlag für die Demokratie“.Wie wollen Sie das verlorene Vertrau-en Ihrer Partner im Westen zurückge-winnen?ElBaradei: Die Deutschen sollten Ver-ständnis für uns haben. Sie wissen, wieschwierig es ist, nach einer Diktatureine Demokratie aufzubauen – und sie waren als Erste kritisch gegenüberMursis antidemokratischer Politik. Icherinnere nur an die Mitarbeiter derpolitischen Stiftungen in Ägypten, diegerade vor Gericht gezerrt wurden.Wir hoffen auf finanzielle Hilfe ausBerlin und auf Rat beim Aufbau un-serer Institutionen. Am wichtigsten ist es, den jungen Menschen, die sozahlreich und mutig für mehr Demo-kratie auf die Straße gegangen sind,eine wirtschaftliche Perspektive zu geben.SPIEGEL: Falls die Muslimbrüder bei dernächsten Wahl antreten und gewin-nen – würden Sie einen von ihnen ander Spitze des Staates akzeptieren? ElBaradei: Ja, wenn die Muslimbrüdersich zur Demokratie bekennen unddurch eine Verfassung und ein Par -lament so eingebunden sind, dass sie ihre Macht nicht wie Mursi miss-brauchen.INTERVIEW: DIETER BEDNARZ, ERICH FOLLATH

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Oppositioneller ElBaradei

Dutzende Tote, wilde Streiks und blindeGewalt. Und doch ist diese Geschichtenoch längst nicht zu Ende.

„Jetzt geht es erst richtig los“, sagt Mo-hamed Sharaf. Es ist der Morgen nachder Revolution. Er sitzt mit seinem Kol-legen Hussam Hussain im Büro. Eigent-lich müssten sie arbeiten, aber sie sindaufgewühlt. Sharaf überlegt, ob er amNachmittag noch auf den Tahrir geht;Hussain war in der Nacht zuvor dort, mitseiner Frau, die erst Angst hatte. „Aber

ich sagte zu ihr, wir können uns da nichtraushalten, wir müssen unseren Beitragleisten. Es ist unsere Demokratie, die wirerst noch gestalten müssen.“

Die Ehefrauen der beiden, Lehrerin dieeine, Anwältin die andere, haben nochvor einem Jahr Mohammed Mursi ge-wählt. Sie hielten ihn für unbestechlich,weil fromm, vor allem aber für unbelastet,im Unterschied zu dem GegenkandidatenAhmed Schafik, einem ehemaligen Muba-rak-Mann. Sharaf und Hussain wussten

nicht, wem der beiden sie ihre Stimme ge-ben sollten, also enthielten sie sich. Dochsie akzeptierten das Ergebnis, so ist dasnun mal in der Demokratie, dachten sie.

„Aber Mursi hat dramatische Fehler ge-macht“, sagt Mohamed Sharaf. „Undwenn du merkst, dass der Pilot sein Flug-zeug nicht fliegen kann, musst du ihn ausdem Cockpit holen. Du kannst nicht sa-gen: Lasst ihn, er hat einen Arbeitsvertragfür vier Jahre!“ Ägypten, finden die bei-den Kollegen, sei kein Flugsimulator.

Nach der Befreiung von der Herrschaftder Muslimbrüder kommen nun die Mühen der Ebene: Die Tamarud-Aktivis-ten um Jasmin al-Guschi müssen ihresmarten Guerilla-Techniken alltagstaug-lich machen, sie dürfen sich nicht zerrei-ben lassen. Die Partei der Couch-Potatoesdarf nicht wieder in den alten Trott ver-fallen – Mohamed Sharaf und HussamHussain müssen sich ihr politisches Ver-antwortungsgefühl erhalten. „Meine Frauwill jetzt einer Partei beitreten“, sagt Hussain. „Das ist zwar nichts für mich,aber ich werde sie unterstützen.“

Und die Muslimbrüder? Sie müsseneine neue Rolle finden. Wollen sie nichtin Sektierertum verfallen, dann müssensie sich von Verschwörungstheorien undAllmachtsphantasien verabschieden. IhrPart ist der schwierigste. Denn Fahmi Fausi und seine Leute haben noch nicht

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Verletzter Mursi-Anhänger nach Protesten: „Wir werden unsere Seelen und Leben opfern“

begriffen, dass Ägypten sich geänderthat. Dazu kommt noch: Es darf nun keinChaos ausbrechen, damit sich die Armeebald wieder in ihre Kasernen zurückziehtund das Regieren den Zivilisten überlässt.Doch das wird nicht einfach sein, mansieht das bereits am Freitag, zwei Tagenach dem Freudentaumel.

Zehntausende Mursi-Anhänger ziehenda zum Tahrir-Platz, aufgewiegelt von Mohammed Badi, dem Chef der Bruder-schaft, der zuvor auf einer Kundgebunggerufen hatte: „Wir werden für Mursi un-sere Seele und unser Leben opfern.“ Mo-lotow-Cocktails fliegen, es fallen Schüsse,es gibt Schlägereien überall in der Stadt.17 Tote werden allein bis Mitternacht ge-meldet. Das Beispiel Algerien macht jetztöfter die Runde, auch dort gewannen dieIslamisten die Wahl, putschte die Armee,es begann ein Bürgerkrieg mit Zehntau-senden Toten. Sicher, Ägypten ist nichtAlgerien. Aber die Polarisierung ist groß,und niemand weiß, was die Muslimbrüdertun werden: Nehmen sie an Wahlen teil?Gehen sie wieder in den Untergrund?Wird es Anschläge und politische Mordegeben, wie schon früher einmal?

Jasmin al-Guschi und ihre Mitstreite-rinnen Sara Kamal und Mai Wachba sit-zen bei McDonald’s im Stadtteil Dokki,nicht weit vom Tahrir-Platz entfernt. Sietrinken Tee und essen Erdbeerjoghurt,arabische Popmusik plärrt aus den Laut-sprechern, ihre Laptops sind aufgeklappt.

Jasmin, noch mal die Frage: Wie legi-tim ist eigentlich eine Revolution, diedazu das Militär braucht?

„Das ist ein wichtiger Punkt, wir habenganz zu Anfang immer wieder darüberdiskutiert. Aber das ist sehr theoretisch.Die Realität dagegen sah so aus: Wir hat-ten nichts, die Muslimbrüder hatten denStaatsapparat auf ihrer Seite. Die Armeeeinzubinden, das war für uns die einzigeOption.“ Sie schiebt ihren Joghurt beisei-te. „Ganz ehrlich, viele von uns habenMursi anfangs eine Chance gegeben, aberwir wurden schnell enttäuscht.“

Mohammed Mursi wurde Ende Juni2012 im zweiten Wahlgang gewählt, in ei-ner Stichwahl, für ihn stimmten 51,7 Pro-zent. Die Beteiligung war jedoch gering,nur etwas über die Hälfte aller wahlbe-rechtigten Ägypter gab ihre Stimme ab.Stellt man noch dazu in Rechnung, dassviele nur aus Protest für ihn stimmten,weil der Gegenkandidat ein Mubarak-Mann war, hat tatsächlich nur etwa einViertel der Wähler den Muslimbruderwirklich gewollt. Eine Mehrheit auf demPapier, formal korrekt, von Mursi genutztals moralischer Freibrief. Und er hat esgeschafft, in nur einem Jahr eine überwäl-tigende Mehrheit gegen sich aufzubringen.

Deswegen ist die Frage nach der Legi-timität dieses Putsches so kompliziert, sielässt sich nur beantworten, wenn mandieses zurückliegende Jahr betrachtet.

Drei Fehler lasten Jasmin al-Guschi,Mohamed Sharaf und viele andere De-monstranten den Muslimbrüdern an.

Erstens: Mursi habe jede Gelegenheitgenutzt, seine Gefolgsleute im Staats -apparat, in den Medien, der Justiz undPolizei unterzubringen – ohne sich umihre Kompetenz zu scheren. „Es zählt füruns, ob jemand ein Problem lösen kann“,sagt Mohamed Sharaf, „und nicht, ob erfrömmlerisch ist.“ Der Tiefpunkt, ergänztJasmin al-Guschi, war Mursis Versuch imNovember 2012, eine islamische Verfas-sung durchzusetzen.

Zweitens: seine Unfähigkeit, die Nationzu vereinen; das Fehlen jeglicher Sensi-bilität. Als der neue koptische Papst seinAmt antrat, blieb Mursi demonstrativfern. Er ließ zu, dass islamistische Predi-ger gegen Christen, Schiiten und Liberalehetzten. Und er ernannte ein Mitgliedder radikalen Gamaa al-Islamija zumGouverneur von Luxor, ausgerechnet, da-bei hatte die Terrorgruppe doch dort einstAnschläge auf Touristen verübt.

Drittens: die Wirtschaft. „Natürlichkonnte Mursi die Korruption von Jahr-zehnten nicht über Nacht beseitigen“,sagt Sharaf. „Aber was tat er? Gar nichts.Die Muslimbruderschaft ist selbst einekorrupte Mafia, das haben wir in diesemJahr gelernt.“ Benzin wurde knapp, esgab oft keinen Strom. Das ägyptischePfund fiel, die Preise für Brot und allesandere stiegen.

Die Ursachen hierfür liegen in der Ge-schichte der Bruderschaft, 1928 gegründet,seither größtenteils im Untergrund tätig,taktierend, aber mit einer geheimbünd-lerischen Märtyrer-Mentalität. Viele ihrerMitglieder und Anführer saßen im Ge-fängnis, daher das ständige Denken inKategorien von „die“ und „wir“.

„Man kann mit den Muslimbrüdernnicht normal reden, ihre Weltsicht ist abgeschottet, überall wittern sie eine Verschwörung“, sagt Jasmin al-Guschi.„Noch dazu glauben sie, im Auftrag Got-tes zu handeln – das macht sie unbelehr-bar.“ Dieser Argwohn sei wie eine an -steckende Krankheit, „er hat sich in derganzen Gesellschaft verbreitet“.

Die jungen Frauen von Tamarud dis-kutieren leidenschaftlich und laut, ihreStimmen sind heiser vom Singen undSchreien. Ab und zu schaut einer der Gäs-te von seinem Milchshake auf, da stehtplötzlich der Geschäftsführer am Tisch,angespannt, unwirsch. Die Frauen solltengehen, sofort, bei McDonald’s seien poli-tische Diskussionen unerwünscht.

Die drei jungen Frauen zögern einenMoment, dann klappen sie ihre Laptopszu. Sie stehen auf, würdigen den Mannkeines Blickes, gehen hinaus.

Warum lasst ihr euch das gefallen, Jas-min?

„Es gibt Wichtigeres“, sagt sie. RALF HOPPE, DANIEL STEINVORTH

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Protestierende Hussain, Kamal, Wachba

„Es ist unsere Demokratie“

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Atmih sieht aus, als drehte hier je-mand gerade einen Qaida-Spiel-film: Neuankömmlinge mit Roll-

koffern suchen ihre Emire, auf der Dorf-straße sind Afrikaner und Asiaten zu sehen, Männer mit schulterlangem Haarin afghanischer Tracht führen ihre Ka -lasch ni kows spazieren. Am Kebab-Standmischt sich ein Dialekt Nordenglands mitarabischen Einsprengseln: „Subhanallah,Bro, I asked for Ketchup.“ Russisch ist zuhören, Aserbaidschanisch, der kehligeAkzent der Saudi-Araber.

Das einst verschlafene Schmugglernestdirekt an der türkischen Grenze ist zumMekka für Dschihad-Reisende aus allerWelt geworden. Vor einem Jahr trafenSPIEGEL-Reporter hier einen der erstenausländischen Kämpfer in Syrien, einenjungen Iraker, der sagte, er seigekommen, um die Diktaturzu stürzen. Inzwischen habensich mehr als tausend Dschi-hadisten in und um Atmih nie-dergelassen, nirgendwo in Sy-rien sind mehr auf so dichtemRaum versammelt. Mitten im

Krieg haben die ausländischen Dschiha-disten ausgerechnet einen der ruhigstenFlecken des Landes zu ihrem Zentrumgemacht. Oder eben gerade deshalb.Denn sind sie erst mal hier, wollen vielevon ihnen gar nicht mehr weg.

Das türkische Mobilnetz funktionierthervorragend, die Läden führen afghani-sche Pakhul-Wollmützen, Qaida-Kappenund knielange schwarze Hemden aus der-bem Stoff wie in den pakistanischen Stam-mesgebieten. Neue Restaurants haben auf-gemacht, das Büro „International Con-tacts“ bucht Flüge, tauscht saudische Rial,britische Pfund, Euro und Dollar. Die Apo-theke bietet „Miswak“ an: faserige Holz-stäbchen aus Pakistan, mit denen auch derProphet Mohammed seine Zähne geputzthaben soll. Der Gebrauch erhöhe den

Wert des folgenden Gebets umdas 70fache, verspricht die Pa-ckungsaufschrift.

Weil all die Dschihadistennach Hause telefonieren, mai-len und chatten wollen, eröff-nete Mitte Juni das dritte Inter-netcafé. Woraufhin der Besit-

zer des ersten Cafés Qaida-Fahnen überden Computern aufhängte, als Treuebe-kenntnis für die Stammkundschaft. Seit-dem läuft das Geschäft, trotz zunehmen-der Konkurrenz. Die martialisch ausstaf-fierten Kunden schwärmen ihren Freun-den daheim im Skype-Chat von Atmihvor: Hier sei das Paradies! Die Mieten bil-lig, Wetter und Essen gut, man könne be-waffnet herumlaufen und mit etwas Glücksogar eine Frau finden. Nachts klingt dieKakophonie der Kämpfe bis auf die Stra-ße, wenn mehrere Dschihadisten gleich-zeitig „Counter-Strike“ spielen. Der hei-lige Krieg ist in Atmih ein Kostümspekta-kel, und jeder kann sich fühlen, als sei erdabei – ohne dass es weh tut.

Sogar die örtlichen Geschäftsleute er-freuen sich an ihrer fanatischen Kund-schaft. Im Handy-Shop sagt der syrischeVerkäufer: „Alle paar Tage kommt einMann aus Dagestan hierher, erst hat erein Samsung Galaxy gekauft, eine Wochespäter ein iPad, danach ein noch neueresSamsung Galaxy. Der hat bestimmt übertausend Dollar hier ausgegeben.“

Wozu seien die Ausländer überhauptin Atmih, fragt ein entnervter Komman-deur der Freien Syrischen Armee (FSA)aus der Gegend: „Wenn sie hergekommensind, um zu kämpfen – bitte schön, dageht’s zur Front.“ Er zeigt nach Osten.

Eigentlich ist Atmih Transitstation derDschihadisten, die zumeist über den na-hen türkischen Flughafen in Hatay anrei-sen. Die einen bleiben in der Region, dieanderen ziehen weiter nach Aleppo, indie Berge von Latakia, nach Rakka imOsten, wo auch immer die unübersicht -liche Frontlinie gerade verläuft.

Manch ein syrischer Rebell schließt sichden Dschihadisten an, aber vielen sind dieAusländer unheimlich. Und selbst wenndiese gegen Regimetruppen kämpfen, wieder tschetschenische Kommandeur AbuUmar al-Schischani, wundern sich FSA-Kommandeure: Wozu habe Schischani dieMunition inklusive Flugabwehrraketen er-beutet, wenn er sie doch nicht einsetze?Sie fürchten, die Dschihadisten könntenihre Waffen gegen die FSA-Rebellen oderfür Terroranschläge weltweit einsetzen.

„Wir hoffen, dass die Dschihadistennach dem Sturz Assads wieder gehen“,

Atmih

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Damaskus

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Disneyland für DschihadistenIm ruhigen Norden sammeln sich die ausländischen Islamisten, die lieber „Counter-Strike“

spielen, als in den Krieg zu ziehen. Sie streiten sich, ob Rauchen erlaubt ist – und kämpfen eher gegeneinander als gegen das Regime.

Radikaler Abu al-Banat im Hinrichtungsvideo: Drei Männern den Kopf abgehackt

sagt Luftwaffenoberst Hassan Hamada,der vor einem Jahr in die Schlagzeilengeriet, weil er sich samt seiner MiG-21nach Jordanien absetzte, und nun im FSA-Führungsstab in Nordsyrien sitzt.

Doch noch kämpfen sie zusammen,noch gibt es ein Nebeneinander vonDschihadisten und Säkularen. In Atmihwerden weiterhin Musik-CDs verkauft,Frauen gehen nach wie vor in Hosen aufdie Straßen. Das liegt daran, dass es hierkein Machtvakuum gibt wie 2003 im Irak.Stattdessen existiert ein kompliziertes Gefüge von lokalen Räten, FSA-Brigadenund gemäßigten Islamisten, mit denensich die Radikalen arrangieren müssen.

Fragt man die Zugereisten nach ihrenPlänen, kommt Syrien nur als Etappe vor:„Dschihad erst hier, bis zum Sieg! Danachwerden wir den Irak, Libanon und Paläs-tina befreien“, zählt ein junger Araberaus Großbritannien auf. Israel ist auf ei-nen hinteren Platz gerutscht, Schiiten sindnun die wahren Feinde: Muslime zwar,aber für die sunnitischen Radikalen hiersind sie schlimmer als jeder Ungläubige.

So reden sie in Atmih. Doch bereits inder Stadt Daret Azze, 25 Kilometer ent-fernt, verblasst ihr Einfluss. Versuche vonDschihadisten, hier die Macht zu über-nehmen, wurden von der FSA abgeblockt.Nun stehen beide Gruppen in wechseln-den Schichten an den Kontrollposten.Aber als der Stadtrat um Hilfe bat bei derReparatur einer Wasserleitung, hätten dieDschihadisten nur mit den Schultern ge-zuckt. „Die wollen die halbe Welt er-obern“, sagt Ahmed Raschid, Anwalt undRatsmitglied. „Aber sie würden schon aneiner Kleinstadt scheitern.“

In Atmih proben sie derweil das Lebenwie zu Zeiten des Propheten, allerdingsmit Facebook und „Counter-Strike“. Aufungewollte Art ähnelt die Szenerie denAnfängen des Islam, als drei der erstenvier Kalifen nach dem Tod des Prophetenmit Gegnern aus den eigenen Reihen ran-gen: Alle Radikalen in Atmih wollen ei-nen Gottesstaat – was die einzelnen Grup-pen aber nicht davon abhält, fortwährend

übereinander herzuziehen, sich zu spal-ten und gelegentlich zu befehden. Alleinin und um Atmih existieren Mitte Junimindestens fünf Dschihadisten-Gruppen:‣ „Daula al-Islam fi al-Irak wa bilad al-

Scham“, der „Islamische Staat im Irakund in Syrien“, mit über 200 Anhän-gern, Tendenz steigend;

‣ „Dschaisch al-Ansar wa al-Muhadschi-rin“, die „Armee der Unterstützer undHinzugekommenen“, mit etwa 170Männern;

‣ „Abu al-Banat“, eine Gruppe, die sichnach ihrem Emir benannt hat und fastnur aus Tschetschenen, Dagestanernund Aserbaidschanern besteht, etwa70, Tendenz fallend;

‣ „Abu Musab al-Dschasairi“, benanntnach ihrem algerischen Gründer undFinanzier, mit rund 60 Anhängern;

‣ „Dschabhat al-Nusra“, die „Beistands-front“, mit rund 100 Kämpfern.Nusra ist die undurchsichtigste der Frak-

tionen – und sie ist dabei zu zerfallen,nachdem ihr nur virtuell in Erscheinung

tretender Anführer Mohammed al-Dschu-lani vor drei Monaten dem Qaida-FührerAiman al-Sawahiri die Treue geschworenhat. Denn von Sawahiri hält das Fußvolkin Syrien wenig, aus mehreren Gründen:Der Ägypter gilt als wenig charismatisch,und es ist ihm zwar gelungen, sich aus sei-nem Versteck im afghanisch-pakistani-schen Grenzgebiet zum Nachfolger vonOsama Bin Laden küren zu lassen, aberseither schafft er es nicht, das Terror-Kon-glomerat zusammenzuhalten, so dass anden Rändern neue Gruppen wachsen.

Dazu kommt, dass Dschihad-Pilger ei-nen Führer haben wollen, der ihnen sagt,wo es langgeht. Einen Emir mit Haut undvor allem Haaren, der persönlich Befehlegibt und Urteile spricht. Die Nusra aberhat keinen solchen Emir. Mohammed al-Dschulani kennen die meisten nur aus Videos, mit einer blechern verzerrtenStimme und gepixeltem Gesicht. UnterMitgliedern heißt es immer wieder, mankenne einen, der einen kenne, der denEmir getroffen habe – aber geht man dem

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Waffenlager eines tschetschenischen Kommandeurs: „Wir hoffen, dass sie bald wieder gehen“

Ausschnitte aus Propagandavideos ausländischer Dschihadisten, die in der Umgebung von Atmih in Nordsyrien aktiv sind

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nach, verlaufen die Spuren im Sand. Meh-rere Aussteiger von Nusra aus Aleppo,Idlib und Damaskus gaben in den vergan-genen Monaten an, niemand habe denMann je gesehen oder gar gesprochen.

Außerdem, sagt ein Syrer, der von Nus-ra auf Daula umgestiegen ist, seien Letz-tere „cooler“. Man dürfe dort rauchen, so-lange es keiner sehe. Das ist ein großerWettbewerbsvorteil in der kettenrauchen-den syrischen Rebellenszene. Zigarettensind bei den Dschihadisten normalerweisetabu, denn „Rauchen vertreibt die Engelund verzögert unseren Sieg“, zitiert derAussteiger seinen ehemaligen Nusra-Emir.

Während viele der syrischen Nusra-Gefolgsleute zu gemäßigten Gruppen ab-gewandert sind, haben sich die Ausländerdem Daula angeschlossen,der zur stärksten Gruppeim Norden geworden ist.

Der radikalste Emir imNorden jedoch ist Abu al-Banat, ein früherer russi-scher Offizier aus der Kau-kasus-Republik Dagestan,der zum Islam konvertiertist und seither Anhängerwie Jünger um sich schart.Er spricht zwar nur radebrechend Ara-bisch, erklärte aber Nusra und die ande-ren Dschihadisten-Gruppen kurzerhandzu „Kufr“, zu Ungläubigen, weil sie sichnicht seinem Befehl unterwarfen.

Im Frühjahr zog der selbsternannteEmir aus Atmih mit seinen Anhängernins neun Kilometer entfernte Dorf Masch-had Ruhin, das er durch bewaffnete Kon-trollposten abriegeln ließ und in sein per-sönliches Emirat verwandelte.

Im April ließ er dann auf dem Dorf-platz drei Männer köpfen. Gerade tauch-te das Video der bestialischen Hinrich-tung auf: Begafft von einer Menge, dar -unter auch Kinder, spricht ein verzottelterMann in gebrochenem Arabisch in dieKamera, es ist Abu al-Banat. Neben ihmkauern die drei Männer gefesselt am Bo-den. Ein Gehilfe hackt mit einem Messererst einem, dann dem zweiten Mann lang-

sam den Kopf ab und hält diesen dannals Trophäe in die Kamera.

Veröffentlicht wurde das Video erstjetzt, eigentümlicherweise ausgerechnetauf Syria Tube, einer PR-Seite des Re-gimes. Laut Legende zeigt es die Ent-hauptung dreier christlicher PriesterEnde Juni im Ort Rassania, was umge-hend verbreitet wurde von der katholi-schen Nachrichtenseite Agenzia Fides,die schon früher erfundene Gräuelge-schichten lanciert hat.

Tatsächlich zu sehen ist die Ermordungangeblicher Assad-Getreuer, im April, imLager von Abu al-Banat – auch wenn unbekannt ist, wer die drei wirklich warenund was sie getan hatten. Denn Abu al-Banat „war Richter und Ankläger in ei-

nem“, erinnert sich einAussteiger. Die Dorfbe-wohner seien entsetzt ge-wesen, erzählt ein Mannaus dem Nachbarort: „Egalwas die drei getan haben,Menschen sind doch keineSchafe, die man schächtet.“Nach den Morden begannein Exodus, nur etwa 70Anhänger blieben.

Offenbar aber fanden die anderenDschihadisten einmütig, die Enthauptun-gen gingen zu weit – und beschlossen inder Nacht zum Samstag vor einer Wocheeine seltene Kooperation: Ein tschetsche-nischer Daula-Kommandeur rückte miteiner Schar Schwerbewaffneter in Masch-had Ruhin ein und erklärte Abu al-BanatsHorrorherrschaft für beendet. Dessen ver-bliebene Anhänger ergaben sich ohne Wi-derstand, er selbst und zwei Gehilfen wur-den abgeführt. Alle Zufahrtswege warenwährend der Aktion abgeriegelt worden,um zu verhindern, dass andere Dschiha-disten dem Emir zu Hilfe kommen könn-ten – doch es kam niemand.

Der führungslose Rest von Abu al- Banats Dschihadisten-Truppe soll in denfolgenden Tagen seine Sachen gepacktund das Dorf verlassen haben.

CHRISTOPH REUTER

Selbst die Radi-kalen hatten

genug und setz-ten den Emir fest.

In den Tagen, in denen der brasiliani-sche Fußball starb, wurde die brasilia-nische Demokratie geboren. Das wäre

ein hübscher erster Satz, allerdingsstimmt er nur halb, denn die Seleção, dieNationalmannschaft, spielt prächtiger alserwartet während des Confed-Cups, derGeneralprobe für die Weltmeisterschaft.Sie hat es aber auch leichter als die De-mokratie. Sie spielt nach Regeln, an diesich alle halten müssen, und sie kann Er-gebnisse vorweisen. Die Demokratie da-gegen ist endlose Fummelarbeit, und stän-dig ändern sich die Regeln.

Die wichtigste Regel im Moment ist dieEinhaltung der Redezeit, hier in Leblon-Ipanema, auf den teuersten Quadratme-tern Rio de Janeiros, vielleicht ganz Bra-siliens, wo die Demonstranten vor demHaus des Gouverneurs ihre Zelte aufge-stellt haben. Eine Art brasilianisches Oc-cupy. Drei Minuten, sagt Bruno, der dieStoppuhr laufen lässt, dann aber souveränignoriert.

Über die Felsen am Ende der Buchtsind die Lichter der Favela Vidigal ge-streut wie Sternenstaub, vom Meer herweht eine sanfte Brise und vom Kioskder scharfe Geruch eines Churrasco, dochvor den Zelten wird debattiert wie derzeitüberall im Land. Brasilien ist erwacht,und das Volk stellt Forderungen.

Das Volk hier besteht aus ein paarKunststudenten, einigen Hausfrauen undRentnern. Luiza singt sonst Jazz undwohnt in der neureichen Barra, Bárbaraschreibt Gedichte, ihre Eltern sind Pro-fessoren, und Jair, der Rasta aus Bahia,schwört, er werde „sterben für die Sache“.Alle applaudieren hingerissen, allerdingsweiß noch keiner, was die Forderungeneigentlich sind. Das soll dieser Kreis er-mitteln, den sie „Aquárius“ nennen.

Freie Aussprache. Der junge Feuer-wehrmann Álvaro, den sie mit 13 Kolle-gen während der gewalttätigen Protesteein paar Tage zuvor ins Hochsicherheits-gefängnis Bangu 1 gesteckt hatten, for-dert seine Wiedereinstellung sowie bes-sere Bezahlung und Ausbildung der Mi-litärpolizei!

Häh? Erstaunen in der Runde. Álvarobegründet: Bessere Bildung macht besse-re Menschen.

„Aber du kannst doch nicht die ganzeMenschheit erziehen, das dauert Jahre“,wirft Sylvia, die Hausfrau, ein.

Erregter Wortwechsel. Weiter. Rodrigofindet, man müsse etwas gegen die wie-derkehrenden Überschwemmungen imLandesinneren unternehmen. Lúcio will,dass die vertriebenen Obdachlosen wie-der in die leerstehenden Häuser zurück-kehren dürfen. Rentner Renato will hiereigentlich nur Bananen essen, er nimmtsich die dritte, und die alte Lourdes ausVidigal möchte, dass ihr Haus repariertwird, weil der Nachbar ihre Wände beimUmbau eingerissen hat.

Vor allem aber soll der Gouverneurendlich erklären, warum der Staat für dieRenovierung des Maracanã-Stadions soviel Geld zahlt – dabei sollte doch keineinziger Real an Steuergeldern ausgege-ben werden. Mittlerweile geht der Zu-schuss in die Hunderte Millionen. Die Lis-te ist lang. Demokratie ist schwer, und eshat sich einiges angesammelt.

„Falls die Seleção in ihrem Bus vorbei-kommt, lasst euch nicht ablenken“, be-schwört Bruno. Man ist sich hier einig:Fußball ist Opium für das Volk. Fußballist Verlegenheit, ist ein Zeichen der Un-reife. Dass der Volksaufstand ausgerech-net ein brasilianisches Fußballfest nutzt,ist nicht ohne Ironie. Möglicherweise aberhat er auch mit der Arroganz der Fifa zutun, die unten im Copacabana Palace amschimmernden Pool feiert; sie steht füralles, was schlecht ist am Fußball, für Kor-ruption, Verschwendung und Zynismus.

Milliarden für Stadien, die keinerbraucht, nur um Brasilien glänzen zu las-sen? Ein Stadion in Manaus am Amazo-nas, einer Stadt ohne Fußballmannschaftin der ersten Liga, so heiß, dass derAsphalt von der Straße schmilzt? Fast je-der Bundesstaat solle ein Stadion haben,hatte die Regierung von Luiz Inácio Lulada Silva beschlossen, und die Gelder da-für flossen reichlich – statt in Schulen,Straßen, Krankenhäuser.

Wohl deshalb hatte Padre José Roberto,bärtig und bullig, in seiner Predigt in Riode Janeiro ironisch ausgerufen: GroßerVater Fifa, nimm du unsere Bedürftigenund Kranken, und heile sie. Und die Gläu-bigen hatten verstanden und gelacht.

Das hier ist der Brasilianische Frühling,eine Bewegung ohne Anführer, organi-siert über die sozialen Netzwerke, das istihre Stärke. Aber können Facebook-Netz-werke Politik gestalten?

Sie können jedenfalls Druck machen.Und sie zeigen durchschlagende Wirkung,denn sie mobilisieren die Straße.

Was am 6. Juni mit einem Marschvon gerade mal 500 Menschen, die

gegen die Erhöhung der Fahrpreise pro-testierten, in São Paulo begann, hat sichzu einem Flächenbrand des Un muts aus-geweitet. Am 17. Juni marschierten be-reits über 200 000 Menschen in Rio deJaneiro, Belém und rund 20 anderenStädten, am 20. Juni waren 1,4 MillionenProtestierende in über 120 Städten un-terwegs. In Brasília, der Hauptstadt, tanz -ten sie auf dem Dach des Kongresses,

Ausland

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B R A S I L I E N

Sturm auf die BastilleDas Volk ist erwacht und richtet seinen Zorn gegen eine politische Klasse, die arrogant und korrupt ist – und den

Reichtum des Landes verschwendet. Von Matthias Matussek

Protestierende vor Finale des Confed-Cups in

die ganze Welt kennt mittlerweile dieseBilder. Es sind die Tourneedaten einerVolkserhebung, die die Zeitungen so stolzpräsentieren wie die Siege der Seleção.Das Volk ist in Bewegung, und die Politikhat Angst.

Präsidentin Dilma Rousseff wurde aus-gepfiffen während der Eröffnung des Con-fed-Cups, ihre Popularität stürzte um 27Prozentpunkte ab. Sofort versprach siein einer Fernsehansprache Reformen undstellte ein Plebiszit in Aussicht. Die Fahr-preiserhöhungen wurden zurückgenom-men, genauso ein skandalöses Gesetzes-vorhaben, das Straffreiheit für korrupteAbgeordnete ermöglichen würde. Auf ei-nen Schlag sollen 19 Milliarden Euro füröffentlichen Transport lockergemachtwerden. Und gerade ist der erste korrupteAbgeordnete inhaftiert worden, der seinVerfahren drei Jahre hinausgezögert hat.

Die Regierung überschlägt sich förmlichin diesen Tagen.

Allerdings laufen gegen fast 200 Abge-ordnete Ermittlungsverfahren. Einer istunter Mordverdacht, weil er seinen poli-tischen Gegner mit einer Kettensäge zer-legt haben soll. Der andere hat zehn Mil-lionen Dollar, gedacht für ein Straßen-projekt, ins Ausland geschafft. Wieder einer hat drei Priester, die sich für dieLandlosen einsetzten, entführen lassen.

Der Kongress ist heute in Brasilien diewohl am meisten verachtete Institution.Das Magazin „Veja“ zeigt ihn auf einerKlippe, Abgeordneten-Ratten fallen in denAbgrund, während von der anderen SeiteDemonstranten hineindrängen. „Vielleichtniemals zuvor war Brasilien unter demKommando von Leuten, die so überheb-lich waren wie Lula, Dilma Rousseff unddie Barone der PT“, schreibt „Veja“.

Tatsächlich scheint die PT völlig ab -gehoben zu haben. Allein der aufge -blähte Staatsapparat mit seinen 39 Mi-nisterien verschlingt 100 Milliarden Europro Jahr. Rousseff gibt pro Friseurbesuch214 Euro aus. Wieso, fragen die Leute?Hat sie Haare aus Gold, seit sie Präsi -dentin ist?

In einer vornehmen Dinnergesellschaftin den Hügeln des Jardim Botânico

beugt sich der Staatsrechtler Carlos Bo-lonha über sein Kristallglas und erklärt,wie undurchführbar das von Dilma Rous-seff angekündigte Plebiszit sei. Und wiesehr es einem Staatsstreich von oben nahekäme. Venezuelas einstiger Links -populist Hugo Chávez hat vorwiegendmit Plebisziten regiert.

Schwere Zeiten für die ArbeiterparteiPT. Sie sitzt im Glashaus, und sie kann

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IMA

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Rio de Janeiro: Dass der Volksaufstand ausgerechnet ein Fußballfest nutzt, ist nicht ohne Ironie

nicht mit Steinen schmeißen. Ja, die Lin-ke, die traditionelle Vertretung des Vol-kes, ist an der Macht, doch nicht erst seitder Verstrickung der Regierung Lulas ineinen Bestechungsskandal ist diese tradi-tionelle Allianz gebrochen und das Ver-trauen verspielt. Und Vertrauen war dochimmer ihr Kapital!

Jetzt heißt es auf der Straße: Sie klauenalle, die da oben sind, egal welches Par-teibuch sie in der Tasche haben. Es gehtin diesen Tagen um einen fundamentalenVertrauensbruch. Eine neue Zivilgesell-schaft wehrt sich gegen das Prinzip Poli-tik, gegen die Parteienvertretung, gegendie Fäulnis der Institutionen.

Fußball? Ein Lacher. Samba? Hör mirauf. Karneval? Vergiss es.

Die Gastgeberin, eine Professorin, for-dert einen neuen Sturm auf die Bastille.Ein junger Unternehmer spricht über dieenormen Steuern und die wenigen Leis-tungen, die der Staat im Gegenzug liefert.Alle sind sich einig: Der Gigant Brasilien,die mächtige Wirtschaftslokomotive, istin Fahrt gekommen in den vergangenenJahren, allerdings sind die Gleise verrottet,das Stellwerk ist veraltet, das Personal ausden feudalen Zeiten. Tatsächlich schaffendie Autos heute in den verstopften Innen-städten von Rio oder São Paulo im Durch-schnitt genau das Tempo der Kutschen –rund 18 Kilometer pro Stunde. Das Landdurchläuft vielleicht keine Revolution,aber eine Modernisierungskrise.

Ein weißbärtiger Arzt zitiert denSpruch, den er auf einer Demonstrationgesehen hat: „Ein wahrhaft entwickeltesLand ist keines, in dem die Armen ein

Auto haben, sondern eines, in dem alleden öffentlichen Transport benutzen kön-nen.“ Tatsächlich wirken die vollgestopf-ten Busse in den aufgerissenen Straßenvon Rio wie Gefangenentransporte.

Mein Gott, er ist so schön, dass die Au-gen tränen, dieser Blick von der An-

höhe der Küstenstraße Avenida Niemeyerüber das Meer. Unten am Ipanema-Strandvor dem Occupy-Lager spielen die Vol-leyballmannschaften. Marcus hier obenam Kiosk spielt den Klassiker „País Tro-pical“, eine Alte singt mit. Das alles sollnun nicht mehr gelten? Das soll nun falschsein?

Ist es nicht. Nur das gönnerhafte Grin-sen, das diese Folklore begleitete in derVergangenheit, ist verschwunden. DenBrasilianern hängen in diesen Tagen dieeigenen Klischees zum Hals heraus.

In der Favela Vidigal ein paar Kurvenweiter, gleich gegenüber vom Sheraton-Hotel, in dem die Seleção abgestiegen ist,wird der Besucher mit einer Weisheitempfangen, schwarz auf türkisfarbenenKacheln: „Alle Menschen wollen von Na-tur aus den Weg zum Guten finden. Allesind von Natur aus mit den gleichen Rech-ten ausgestattet.“ Als Autor steht Aristo-teles darunter.

Das Pathos und das Ideal gehören sosehr zur sentimentalen Propaganda Bra-siliens wie seine zynischen Politiker. Hiersollen sie die Herzen in der Favela höher -schlagen lassen. Gegen das Elend gibt eszwar kein vernünftiges Abwassersystemund keine Ärzte, aber die moralische Auf-rüstung.

Gegen das Elend gibt es allerdings seiteinigen Jahren auch die UPP, die Nach-barschaftspolizei, die nun zumindest fürSicherheit sorgen soll auf einem der einstgewalttätigsten Hügel von Rio. Seit dieElitetrupps der BOPE, diese schwarz uni-formierten Außerirdischen, die Herrschaftdes „Comando Vermelho“ gebrochen unddie Drogenbosse vertrieben haben, wirdder Hügel für die Mittelklasse interessant.Spekulanten kaufen Grundstücke auf; derBlick ist einfach unwiderstehlich.

Auf einer Mauer ist noch ein Graffitoaus den alten Tagen zu sehen, das sich einer der Bosse bestellt hatte: Es zeigtihn als Kapitalisten mit Zigarre. Nun sitztder Boss im Gefängnis, und die Jungs, dieauf dem ummauerten Fußballplatz mitein paar Kampfhundwelpen spielen, hal-ten wenig von den Polizisten, die hiermit umgehängtem Sturmgewehr patrouil-lieren.

„Es ist vielleicht sicherer geworden fürdie Touristen und die Spekulanten, aberfür uns hat sich nichts geändert“, sagt Fe-lipe, der seine blutige Nase abtupft, weilihm einer der Hunde die Pratze überge-zogen hat. Blöde Töle, böser Blick, Bluttropft. Die Bosse sind weg, sagt Felipe,aber Drogen sind noch immer leichter zubesorgen als Brot. Gut, es ist ruhiger ge-worden, früher wurden hier Verräter inAutoreifen verbrannt, aber sonst?

Die UPP-Polizisten werden regelmäßigausgewechselt, um Korruption zu verhin-dern. Aber Felipe glaubt nicht, dass esfunktioniert. Nach der WM werde alleswieder wie zuvor. Nicht nur in Brasíliaim Kongress wird geklaut, alle haben Teil

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Demonstranten am Ipanema-Strand: Sie klauen alle, die da oben, egal welches Parteibuch sie in der Tasche haben – heißt es auf der Straße

am „Jeitinho“, an der Kultur der Durch-stecherei; jeder macht seinen Schnitt.

Marco Túlio Zanini, ein junger Be-triebswissenschaftler, der in Deutsch-

land studiert hat, hat die BOPE-Einheitenuntersucht. In einer aufsehenerregendenStudie ist er zu dem Befund gelangt, dassausgerechnet sie, diese schwerbewaffneteSchocktruppe mit den hinter einem To-tenkopf gekreuzten Pistolen im Wappen,von Idealen beseelt ist. „Die Jungs tunihren Job nicht für Geld, sondern sie füh-len sich als Missionare.“ Einsatzbereit-schaft, Opfermut, Korpsgeist. Womöglichdie einzige staatliche Institution, von dersich das sagen lässt. Das muss sich dochauch auf andere Bereiche übertragen las-sen. Eine Sturmtruppe als Modell? Wieverzweifelt muss die Lage sein!

Sie haben aufgeräumt in der Stadt, un-ter José Mariano Beltrame, dem Sicher-heitschef Rios, der von außen kam undniemandem etwas schuldete. Beltrame istsauber, und seine Jungs sind es auch,glaubt Zanini.

Das zentrale Thema des Wissenschaft-lers ist Vertrauen, in der Wirtschaft undin der Politik. Seine letzte Veröffentli-chung heißt „Führung durch Werte“.Doch die Werte sieht er durch die Auf-stiegsgesellschaft in den letzten Jahrenzerrieben, verantwortlich ist ausgerechnetLulas linke Wirtschaftswunderpartei PT.

„Man kann nur hoffen, dass die Protes-te anhalten, denn sie sind Ausdruck derBürgergesellschaft“, sagt Zanini. Sie sindTrainingseinheiten, demokratische Wach-samkeitsübungen.

Die Demonstranten marschieren weiter.Fürs Endspiel vor dem Maracanã sind zurSicherheit 6000 Militärpolizisten zusam-mengezogen worden. Sicher sind immereinige wenige Militante unter den Demon -strierenden. Doch vor allem die Mittelklas-se zeigt mit ihren weitgehend friedlichenProtesten, dass sie nicht nur nach Kühl-schränken und Autos verlangt, sondernnach den Rechten einer Bürgergesellschaft,die für ihre Steuern Gegenleistungen for-dert: ein vernünftiges Gesundheitssystem,Straßen, Nahverkehr, Schulen.

Ironischerweise war es gerade die re-gierende Arbeiterpartei, die dachte, essei mit dem Ankurbeln des Konsums ge-tan. Doch mittlerweile macht das Wirt-schaftswunder schlapp. Die Staatsver-schuldung ist laut der Tageszeitung „OGlobo“ so hoch wie seit 18 Jahren nicht,die mehrheitlich staatliche Ölfirma Petro-bras praktisch bankrott, die Inflationwächst. Auch das Volk hat Angst.

Nichts jedoch hatte die Öffentlichkeitin den letzten Jahren so bewegt wie dieAnhörungen zum „Mensalão“-Skandal,einer kriminellen Operation, mit der dieRegierungspartei PT in Zusammenarbeitmit Staatsbetrieben mehrere Abgeordnetegeschmiert hatte, um lukrative Großpro-jekte durch den Kongress zu schleusen.

Ausgerechnet Joaquim Barbosa, dennoch Lula ins oberste Gericht geholt hat-te, verlangte in einer Brandrede, denSchweinestall auszumisten. Barbosa wirdseither als Held gefeiert. Einer, der fürdie Werte der Demokratie steht. Er wür-de sofort gewählt werden, wenn er kan-didierte, sagen die Leute. Mittlerweile

sind 74 Prozent der Bevölkerung dafür,dass die Drahtzieher des Bestechungs-skandals sofort ins Gefängnis wandern.

Keiner aus den Occupy-Zelten in Ipa-nema hat hingeschaut, als die Seleção

ins Maracanã zum Finale einlief. Nur Jair,der Rastamann, der für die Sache sterbenwollte, war plötzlich abtrünnig.

An der Copacabana sind nur zwei Kios-ke mit Fernsehern bestückt. Im „Sindica-to“ dagegen, einer Churrascaria an derPromenade, haben sich ein paar DutzendFans zusammengefunden. Sie haben kaumPlatz genommen, als Fred, der neue Bom-ber der Nation, sich durchrammelt in denStrafraum der Spanier und im Liegen ver-wandelt. Das zweite Tor von Neymar istspektakulär, der Jubel schwillt an. Sie spie-len gut, die Brasilianer, schlank, ideen-reich, schnell. Sie haben sich zurückgemel-det im Weltfußball. Nach dem 3:0 gibt esstehend Applaus. Fußball funktioniert.

Doch nach dem Spiel ist vor dem Spiel.Das gilt ganz besonders für den endlo-

sen Prozess der brasilianischen Demokra-tie, in der es offenbar auch künftig nichtohne Doppelpässe und taktische Winkel-züge abgeht. Für diese Woche haben dieGewerkschafter, die meisten PT-Mitglieder,einen Generalstreik angekündigt. Brasi-liens Arbeiterpartei mobilisiert gegen sichselbst, um erneut in Führung zu gehen.

Mal sehen, wer gewinnt.

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Blick von einer Favela auf das Maracanã-Stadion in Rio: Gegen das Elend gibt es zwar kein Abwassersystem, aber moralische Aufrüstung

Video: Matthias Matussek über

den Brasilianischen Frühling

spiegel.de/app282013brasilienoder in der App DER SPIEGEL

Ausland

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Moleskine, haucht Maria Sebre -gondi, mit französischer Beto-nung. „Der Name stammt von

ihm, wir mussten ihn nur übernehmen.“Moleskine, Maulwurfsfell, das legendäreNotizbuch, das der britische Reiseschrift-steller Bruce Chatwin so taufte, weil sein Einband aus schwarz glänzendem Wachs-tuch gemacht war. Daumendick, die Seiten kariert, liniert oder blanko, zu -sammengehalten von einem Gummi, imhinteren Einband eine Tasche, in die mangetrocknete Blätter stecken kann, Vi -sitenkarten, Haarlocken,Glücksbringer.

Chatwin soll unzähligedieser Bücher besessen ha-ben, er kaufte sie in einerPariser Papeterie, reiste mitihnen nach Feuerland, Af-ghanistan und Australien.Immer schrieb er seinen Na-men auf die erste Seite unddazu, wie viel Finderlohn erzahlen würde, sollte dasBuch abhandenkommen. Sozumindest geht die Legende.

„In einer Welt, die tipptund wischt und doppel-klickt, ist dieses Buch sehraltmodisch“, sagt Sebregon-di. Die Römerin, 64, TypDonna Leon, sitzt in einerGerberei im Bahnhofsvier-tel von Mailand. Die Wändesind azurblau gestrichen, esriecht nicht mehr nach Le-der; es duftet, sagt Sebre-gondi. Sie steckt ihre Nase in die Seitenihres Moleskine: „Es duftet nach vergilb-ten Büchern, frischem Brot und Kindheit.“

Vor ihr auf dem Tisch liegen zwei Notizbücher, mit winziger Handschrift be-schrieben, rote und schwarze Tinte, dane-ben zwei Smartphones, die würdigt sie kei-nes Blickes. „Und beachten Sie diesen elfenbeinfarbenen Schimmer“, sagt sie,blättert durch das Büchlein, als wäre es einDaumenkino, und lauscht seinem Klang.

Maria Sebregondi hat Soziologie stu-diert und erfolgreich die 68er hinter sichgebracht. Im Sommer 1995 segelte sie mitFreunden vor der tunesischen Küste. Ei-ner, Francesco, handelte mit T-Shirts undGeschenkartikeln in Mailand, träumtevom Erfolg, er bat Maria um eine Idee.

Sie las an Deck Chatwins „Traumpfa-de“, immer wieder die Stelle, an der er

klagt, dass ihm seine Kladden fehlen. Erkaufte sie stets in der Pariser Rue de l’An-cienne Comédie, doch dann starb der ein-zige Lieferant aus Tours. Maria las: „Mei-nen Pass zu verlieren war das Geringstealler Übel – ein Notizbuch zu verliereneine Katastrophe. In den rund zwanzigJahren, in denen ich gereist bin, verlorich nur zwei. Eins verschwand in einemafrikanischen Bus, das andere entwende-te die brasilianische Geheimpolizei.“

Maria bewunderte diesen ruhelosenWeltenwanderer. In London war er Auk-

tionator bei Sotheby’s; Frauen wie Män-ner sollen verrückt nach ihm gewesensein. In Patagonien suchte er nach demBrontosaurus und machte daraus einenRoman; in Australien schrieb er über denGesang der Aborigines.

Maria Sebregondi dachte: Seine Ge-schichten sind phantastisch, sie klingennach Fernweh und Sehnsucht. Machenwir unsere eigene Geschichte daraus. Eswaren die neunziger Jahre, es war dieZeit der Billigflieger und der Buchhand-lungen, die nicht mehr mit Büchern, son-dern mit Geschenkartikeln Geld mach-ten. Dazu passte dieses Notizheft, ein„Accessoire für den modernen Noma-den“, so nannte sie es. Ihr Freund, sagtsie und lächelt, habe damals nur die Au-genbrauen ge hoben; die Genialität ihrerIdee begriff er erst später.

Sie reiste nach Paris, fand aber wederdie Papeterie noch Spuren des Lieferantenaus Tours. Also ging sie in Museen undArchive, sah alte Skizzenbücher von Ma-tisse und Picasso, sah Fotos, auf denen Er-nest Hemingways Notizbücher abgebildetwaren, alle klein und schwarz, alle ähnlich.Damals verfasste sie das Faltblatt, das heu-te jedem Moleskine beiliegt. Es erzähltvon großen Künstlern, die alle das „legen-däre Moleskine“ benutzten. Es klingt wieein Versprechen, dabei ist es eine ausge-dachte Geschichte. Ein simples, überteu-

ertes Notizbuch – eine ge-niale Marketing-Idee.

So kommt es, dass eineItalienerin einer vermeint-lich französischen Erfin-dung zu Weltruhm verhilft,ausgerechnet zu einer Zeit,in der Papier totgesagt wird.

Fast 20 Jahre später ge-hört Moleskine Finanzinves-toren, 15 Millionen Notiz-bücher wurden im vergan-genen Jahr in 90 Ländernverkauft. 78 Millionen EuroUmsatz, die Wachstumsra-ten sind zweistellig. NurChatwin hat nichts von die-ser Wiedergeburt; er starbbereits 1989 an Aids.

„Una bella storia“, sagtMaria Sebregondi: eine ita-lienische Geschichte überkreatives Unternehmertum,nicht ganz der Wahrheit ent-sprechend, aber schön. „Un-

sere Rache dafür, dass Frankreich die,Mona Lisa‘ geklaut hat“, sagt ihr Presse-sprecher und lacht. „Dabei ist Moleskinezu 100 Prozent chinesisch, denn wir pro-duzieren dort, weil das billiger ist und dieChinesen bereits Pinsel und Tinte benutz-ten, als wir noch Felshöhlen bemalten.“

Seit April ist Moleskine an der Mailän-der Börse. Nur drei anderen Italienerngelang das in letzter Zeit, Lapo Elkannmit Brillen, Salvatore Ferragamo mit Bal-lerinas und Brunello Cucinelli mit Kasch-mir. Ansonsten: Krise und Kapitalflucht,Braindrain, Trübsal.

Es läuft gut für Moleskine, im Sommerwerden weitere Bahnhofsläden eröffnet,und Maria Sebregondi wird sie noch einpaarmal erzählen müssen: die schöne Ge-schichte vom Maulwurfsfell und ihrem tunesischen Segeltörn. FIONA EHLERS

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Unternehmerin Sebregondi: Accessoire für moderne Nomaden

MAILAND Geschichten im MaulwurfsfellGLOBAL VILLAGE: Eine Italienerin erfindet jene Notizhefte neu, die schon der Reiseschriftsteller Bruce Chatwin nutzte – und bringt ihre Firma an die Börse.

Szene Sport

K R A F T S P O R T

„Breit wie hoch“Der Hamburger Fotograf

Firat Kara, 40, über seine

Begegnung mit Bodybuil-

dern und den Bildband

„Herkules“

SPIEGEL: Was fasziniert Sie so an Män-nern mit Muskelbergen?Kara: Die Besessenheit, mit der dieseSportler an ihrem Körper arbeiten. Ichhabe Typen gesehen, die waren genausobreit wie hoch, andere, die praktisch nuraus reiner Muskelmasse bestanden.SPIEGEL: Die Verwandlung beruht in derRegel auch auf dem ausgiebigen Konsumvon Anabolika. Stört Sie das nicht?Kara: Für mich ist das, was diese Leutemachen, Kunst. Die Sportler, die ich foto -grafiert habe, haben normale Gesichter.Ihre Muskulatur aber wirkt, als gehörtesie nicht zu ihrem Körper, als trügen sieein Kostüm. Ich hatte manchmal das Ge-fühl, ich sei in eine andere Welt geraten.SPIEGEL: Sie waren bei Meisterschaftenin Los Angeles und in Deutschland. Diemeisten Fotos entstanden hinter der Bühne. War es schwer, an die Darstellerheranzukommen?Kara: Eher nicht. Die meisten wollen sichja zeigen. Wenn die eine Kamera sehen,begeben sie sich sofort in Pose.

Firat Kara: „Herkules“. Verlag Seltmann + Söhne, Lüdenscheid; 80 Seiten; 39 Euro.

T R A I N I N G

Fußfesseln im UrlaubVor den Gefahren von Sommerspecknach den Ferien sind die wenigsten gefeit. Als nun allerdings der Fußball-profi Rafael van der Vaart nach der

Spielpause beim Hamburger SV mitÜbergewicht auf die Waage stieg(„Bin ganz schnell wieder runter“),wirkte der niederländische National-spieler etwas aus der Zeit gefallen.„Dass ein Profi gleich mit mehrerenKilo zu viel aus dem Urlaub kommt,habe ich in den letzten sieben, achtJahren nicht erlebt“, sagt Christian

Kolodziej, seit 13 Jahren Fitnesstrainer in der Bundes -liga, jetzt bei Eintracht Frank-furt, früher beim VfB Stutt-gart und bei Borussia Dort-mund angestellt. Der Fußballist schneller und athletischergeworden, die Spieler sindnotgedrungen disziplinierter.Das Aufbautraining zum Saisonstart ist intensiver undbeginnt früher – nämlichschon im Urlaub. Die Faust -regel bei der Eintracht wie beiden meisten Clubs: Maximal

die ersten zwei Wochen des Sommer-urlaubs darf gefaulenzt werden, dannfolgt Gymnastik für Bauch- und Rü-ckenmuskulatur, am Ende sind Steigerungs- und Intervallläufe täg -liche Pflicht. Die Profis bekommenvor dem Urlaub Trainingspläne sowie Pulsuhren mit GPS ausgehän-digt, eine Art elektronische Fuß -fessel – damit kann man nachträglichdie Belastung kontrollieren oder sogar in Echtzeit die Laufstrecke amComputer beobachten. „Das macheich aber nicht“, beteuert Kolodziej.Allerdings wird nach dem Urlaub derKörperfettanteil gemessen. Die Profis wissen, wie sie sich zu ernährenhaben. In Dortmund habe der Stür-mer Marcio Amoroso wegen mut -maßlich undisziplinierter Nahrungs-aufnahme einst nach dem UrlaubGichtanfälle bekommen, erinnert sich Kolodziej, doch „diese Zeitensind einfach vorbei“.

Bodybuilder

Hoffenheimer Fußball-Profis

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Mit kräftigen Ruderschlägen zie-hen die Männer die Riemendurch das Wasser. „Außenschul-

ter oben lassen, nicht im Rücken zusam-mensacken“, brüllt der Trainer, der in ei-nem Motorboot nebenherfährt.

Es ist sechs Uhr morgens, der Achterdes Ruderklubs Favorite Hammonia trai-niert auf der Hamburger Außenalster. DieHerren im Boot, weiße Bärte, alle um die70 Jahre alt, haben einen roten Kopf undSchweißperlen auf der Stirn. Profis, diebei Olympia starten, rudern mit rund 42Schlägen in der Minute. Die HamburgerSenioren, Weltmeister in ihrer Altersklas-se, schaffen immer noch 35 Schläge proMinute.

Nach dem Training sitzt Horst Poschar-sky, 73, klein, kräftig, eine runde Brilleauf der Nase, beim Frühstück im Vereins-heim. Er rudert im Boot auf der Positionzwei, er ist für das Gleichgewicht desAchters zuständig. 16 Kilometer sind erund seine Kameraden an diesem Morgengerudert. Poscharsky ist erschöpft, aberzufrieden.

Früher arbeitete er als Creative Di-rector in einer Werbeagentur. Täglichzehn Stunden im Büro, auch am Wochen-ende. Zum Ausgleich ging er ab und zujoggen, mehr war nicht drin.

Seit er in Rente ist, hat Poscharsky vielZeit. Er überlegte, ob er promovieren soll-te. „Doch dann merkte ich, dass ich ei-gentlich nicht schlauer werden möchte.Mir wurde klar, dass ich mehr davonhabe, meine Körperlichkeit zu genießen.“

Er begann zu rudern, das hatte er alsStudent schon gemacht. Poscharsky trai-niert jetzt sechsmal in der Woche, nebendem Rudern macht er Lauf- und Kraft-training. Er führt ein Trainingstagebuch,macht Belastungstests, überprüft seineLaktatwerte und betrachtet seine Leis-tungskurven, um noch besser zu werden.Er isst mittags Salat, abends Fleisch, sel-ten Süßigkeiten, um sein Idealgewichtvon 70 Kilogramm zu halten.

„Ich bin so fit wie nie zuvor“, sagt Po-scharsky, „ich fühle mich wie ein 60-Jäh-riger, höchstens.“

Deutschland ist das Land der Senio-rensportler. Nie zuvor waren die Alten

Sport

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F I T N E S S

Im Land der wilden AltenVier Millionen Senioren machen Sport im Verein, nie war die Generation der

über 60-Jährigen so fit wie heute. Deutsche Rentner rennen, radeln oder machen Triathlon – und übertreffen mit ihren Leistungen oft sogar die Jungen.

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Triathlet Klittich: „Ich habe keine Lust, auf einer Kreuzfahrt dahinzuvegetieren“

so gut in Form. Jeder fünfte deutscheRentner treibt mehrmals in der WocheSport. Über vier Millionen der über 60-Jährigen sind im Verein aktiv, das sindrund dreimal mehr als noch 1990.

Nordic Walking oder Aquagymnastiksind beliebte Leibesübungen bei Senio-ren, die in Form bleiben wollen. Dochvielen aus der Generation Ü-60 reicht esheute nicht mehr, nur mit der Schwimm-nudel zu planschen. Sie suchen im Ruhe-stand nicht die Ruhe – sondern die Her -ausforderung.

„Ich habe keine Lust, auf einer Kreuz-fahrt dahinzuvegetieren“, sagt ManfredKlittich, 76, aus Eschborn, der kürzlichseinen zwölften Ironman-Wettkampf ab-solviert hat: 3,9 Kilometer Schwimmen,180,2 Kilometer Radfahren, 42,2 Kilo -meter Laufen. Die wilden Alten machenJudo, Karate, Gewichtheben. Selbst Grei-se suchen noch den Reiz des Wettkampfs:Bei der deutschen Leichtathletik-Meis-terschaft der Senioren, bei der jedes Jahrrund 3000 Athleten starten, wird es ab2014 eine Altersklasse für über 90-Jährigegeben.

„Sich zu vergleichen, der Stärkere seinzu wollen, das hat etwas Juveniles“, er-klärt Ruderer Poscharsky. „Wir haben alsjunge Kerle Armdrücken und Wettrennengemacht. Und wir wollen dieses Kräfte-messen auch auf unsere alten Tage, weiles uns wieder an unsere Kindheit erin-nert. Wir alten Säcke benehmen unsmanchmal ja auch wie Kinder.“

Der typische deutsche Seniorensport-ler ist gebildet und wohlhabend. Es sindeher die Männer, die als Rentner nochmal richtig angreifen. Viele entdeckenden Sport erst im Alter für sich, sie be-greifen die Rente als Start in einen neuenLebensabschnitt. Der Sportwissenschaft-

ler Ingo Froböse spricht von einer „zwei-ten Pubertät“. Der Hormonhaushalt ver-ändere sich, „im Kopf werden die Men-schen kirre, sie sind aufgekratzt und fragen sich: Was kommt als Nächstes inmeinem Leben? Ein Motorrad? Ein neuesHaus? Eine neue Sportart? Alles ist jetztmöglich“.

Heinz Weisbarth ist 78 Jahre alt. Erlebt allein, vor zehn Jahren starb seineFrau. Er liest nur selten ein Buch, gehtnicht in die Oper, den Fernseher schalteter so gut wie nie ein. Weisbarths Lebenist der Sport. Und er hat sich für eine Disziplin entschieden, mit der er sogarhalbstarke Jugendliche beeindruckenkann.

Agrippabad in Köln, kurz nach elf Uhrmorgens. Weisbarth, blaue Badehose,weißblonde Haare, macht am Becken-rand 20 Klappmesser und 20 Liegestütze,er dehnt seine Füße, überstreckt die Ze-hen wie eine Ballerina. Dann beginnt dieShow.

Weisbarth klettert den siebeneinhalbMeter hohen Sprungturm hinauf, erdrückt das Kreuz durch, breitet die Armeaus und springt.

Eineinhalbfacher Salto mit ganzerSchraube. Weisbarth dreht nicht weit ge-nug, kommt leicht schräg auf, Wasserspritzt. Als er auftaucht, flucht er: „Schei-ße, explosiver abspringen, Junge.“ Nächs-ter Versuch.

Als Jugendlicher hat Weisbarth mitdem Wasserspringen begonnen, 1957wurde er deutscher Meister vom Zehn-Meter-Turm. Der Sport hat ihn sein Lebenlang nicht losgelassen. Inzwischen istWeisbarth ein Exot unter den Senioren-sportlern, bei internationalen Wettkämp-fen in seiner Altersklasse hat er nie mehrals zehn Gegner. Turmspringen ist ge-

fährlich, Weisbarth hat keine Angst. Ermacht bis zu 40 Trainingssprünge am Tag.„Blaue Flecken sind normal, man wächstin die Gefahr rein“, sagt er.

Noch vor zwei Jahrzehnten haben Ärz-te und Wissenschaftler Rentnern empfoh-len, sich zu schonen, Kräfte zu sparen.Jetzt zeigt sich, dass die Experten langeunterschätzt haben, was der Körper imAlter noch alles leisten kann.

Forscher der Sporthochschule Köln ha-ben die Zeiten von knapp einer Millionjungen und alten Athleten verglichen, diebei Marathon- und Halbmarathonläufenam Start waren. Das Ergebnis: Jeder vier-te Senior zwischen 65 und 70 Jahren istschneller als der durchschnittliche 20- bis54-jährige Marathonläufer. Das bedeutet,dass ein Viertel der Senioren vor denmeisten jüngeren Läufern im Ziel ist.

„Früher stand in den Lehrbüchern,dass wir mit zunehmendem Alter schwä-cher und kränker werden und es ab 26Jahren abwärtsgeht. Heute wissen wir,dass das ein Irrtum ist“, sagt Klaus- Michael Braumann, Präsident der Deut-schen Gesellschaft für Sportmedizin undPrävention. „Muskeln können in jedemAlter wachsen, Kraft und Ausdauer kön-nen in jedem Alter trainiert werden.“

Der Körper braucht im Alter zwar län-ger, um sich nach der Belastung zu rege-nerieren, Senioren müssen nach demSport längere Pausen einlegen. Doch ab-gesehen davon, können sie genauso in-tensiv trainieren wie Mittzwanziger.

Manfred Klittich, der Ironman ausEschborn, machte sich während seinerJahre als Ingenieur bei AEG und Daimlernie viel aus Sport. Kurz nachdem er inRente gegangen war, erkrankte seineMutter an Demenz. Klittich dachte sich,falls es nun auch mit ihm bald bergab

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Seniorensportler Weisbarth, Sauer: Experten haben lange unterschätzt, was der Körper im Alter noch alles leisten kann

gehen sollte, hätte er neben seinem Berufnichts vom Leben gehabt.

„Ich erschrak“, sagt er. „Ich fing voneinem Tag auf den anderen ein neues Le-ben an.“

Er begann, regelmäßig zu joggen, erlief und lief und startete schon bald beieinem Marathon. Doch er wollte mehr.Klittich nahm Schwimmunterricht, kauf-te sich ein Rennrad, wurde Triathlet, erstauf der Kurzstrecke, dann auf der Mit-telstrecke.

Irgendwann reichte ihm auch diese Be-lastung nicht mehr. Er trat bei Ironman-Wettbewerben an und qualifizierte sichfür Hawaii. Das Rennen auf Big Islandist so etwas wie der Mount Everest derTriathleten.

Klittich kämpfte sich durch meterhoheWellen im Pazifik, beim Radfahren bliesihn der Gegenwind fast aus dem Sattel.Mit Beinen wie aus Holz rannte er bei 40Grad Celsius durch dampfende Lava -felder. Als er ins Ziel kam, bekam er eineBlumenkette um den Hals gehängt. SeineZeit: 14 Stunden und 48 Minuten.

In der Szene ist der Oldie berühmt fürseine Willensstärke. Bei einem Wettkampfvor zwei Jahren schleppte sich Klittichtrotz Leistenbruchs und Bandscheiben-vorfalls ins Ziel. Ein anderes Mal traf ihnbeim Schwimmen ein Konkurrent mitdem Fuß am Hals, Klittich verlor das Be-wusstsein und musste gerettet werden.Später diagnostizierten die Ärzte, dass erwohl einen Herzstillstand erlitten hatte.

Klittich ist ein Sportextremist. Schwerzu sagen, ob das, was er seinem Körperzumutet, noch gesund ist. Vor einem Jahrstürzte er im Training vom Rad, brachsich den Oberschenkelhals. Trotzdem

möchte er sich nochmals für Hawaii qua-lifizieren. Er trainiert gerade 25 Stundenin der Woche. „Viel Leiden bedeutet vielBelohnung“, sagt er.

Oft ist es die Angst vor Krankheiten,die Senioren dazu bringt, Sport zu trei-ben. Es hat sich herumgesprochen, dasssich Bewegung lohnt. Schwedische For-scher an der Universität Uppsala fandenheraus, dass sportlich aktive Senioreneine um 3,8 Jahre höhere Lebenserwar-tung haben als untrainierte Gleichaltrige.

Es hat sich aber auch der Blick auf dieletzte Lebensphase gewandelt. Alternwird nicht mehr wie noch bis in die neun-ziger Jahre hinein mit körperlichem Ver-fall gleichgesetzt. Heutige Senioren nut-zen ihren Lebensabend dazu, gegen den

drohenden Verfall anzukämpfen. DerTraum von den jungen Alten ist nichtmehr unrealistisch.

Erika Sauer fing auch erst mit 46 Jahrenmit Leichtathletik an. Die heute 73-Jäh-rige hält den Weltrekord im Siebenkampfin ihrer Altersklasse. Ihre stärkste Diszi -plin ist der Weitsprung, ihre Waden sindso dick und durchtrainiert, als wäre sieBergsteigerin. Sauer ist Deutschlands er-folgreichste Seniorenathletin, sie gewann36 Goldmedaillen bei Europameister-schaften und 18 bei Weltmeisterschaften.

„Vor 20 Jahren wurden wir dafür aus-gelacht, dass wir Alten Sport treiben“,sagt Sauer. Nun bekomme sie ständig Ehrenpreise verliehen und Einladungenzu Podiumsdiskussionen geschickt. „Wirsind jetzt wichtig“, sagt sie. Mit den Leis-tungen, die Senioren im Sport erbringen,„zeigen wir, dass wir auch im Alter nochselbständig sein können und wertvoll fürdie Gesellschaft“.

Sport

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Video: Turmspringer Heinz

Weisbarth beim Training

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Hamburger Ruderteam: „Ein Puls von 170, 6500 Kalorien verbraucht“

Der Anteil der über 60-Jährigen inDeutschland liegt heute bei 26 Prozent.Im Jahr 2030 werden 36 Prozent der Be-völkerung Senioren sein. Schon aus Grün-den des demografischen Wandels ist esfür die Politik daher ein Staatsziel, mög-lichst viele Rentner zum Sport zu bringen,damit sie lange fit und gesund bleiben.

Denn rüstige Rentner sparen viel Geld:Für einen gesunden Mann von 50 Jahren,so hat das Robert-Koch-Institut hochge-rechnet, muss die Krankenkasse 300 Euroim Jahr einplanen. Ein gleichaltriger Dia-betiker mit schlechten Gefäßen verur-sacht Kosten von 20000 Euro. Viele Kas-sen haben Bonusprogramme für Senio-ren, die sich regelmäßig in Form halten.Vereine und Verbände kreieren immerneue altersangepasste Angebote, umSportmuffel vom Sofa zu kriegen.

Die klassische Sitzgymnastik ist out.Heute bieten Clubs Kurse an wie Aerobic50 Plus, bei denen die Teilnehmer zu Mu-sik aus den siebziger Jahren auf die Step-per steigen. Es gibt Yoga für Seniorenoder Kurse in Tai-Chi. Der neueste Trendist Aqua-Spinning. Dabei strampeln dieSportler auf einem Hydro-Rad, das mit-ten im Schwimmbecken steht.

Ruderer Poscharsky würde sich bei sol-chen Trimmspielarten erst recht alt füh-len. Er braucht den Wettkampf, will sichauspowern bis zum Umfallen.

Er steht am Ufer der Dove Elbe, einesNebenarms der Elbe im Südosten Ham-burgs, und legt sich ein Stück Trauben-zucker auf die Zunge. Seine Teamkame-raden saugen Powergel aus Plastikfläsch-chen. Die Männer bereiten sich auf ihrenersten wichtigen Wettkampf der Saisonvor. Die Rallye auf der Dove Elbe ist eineLangstreckenregatta, 13 Kilometer, über1600 Ruderschläge.

Schon nach 500 Metern bricht beimAchter aus Hamburg einem Ruderer eineStrebe am Ausleger, auf dem der Riemenaufliegt. Für einen kurzen Moment ver-liert das Team seinen Schlagrhythmus,das Boot kippelt.

Nach 54 Minuten und 26 Sekundenkommt der Achter ins Ziel, der Schlag-mann bekommt einen Hustenanfall, Poscharsky legt den Kopf in den Nackenund stöhnt. Dann wirft er einen Blick aufseine rechte Handfläche. Es haben sichsieben Blasen gebildet, drei davon sindaufgeplatzt, an seinem kleinen Fingerläuft Blut nach unten.

„Ein Puls von 170, 6500 Kalorien ver-braucht“, sagt Poscharsky später. Ein gu-ter Tag, auch wenn es nur zu Platz zweigereicht hat.

Dann geht er los und besorgt Bier fürseine Mannschaft. LUKAS EBERLE

Das Boot, das bei der schrillen Pa-rade durch die Grachten Amster-dams für die größten Beifallsstür-

me der mehr als 300000 Schaulustigensorgte, trug das Abzeichen des niederlän-dischen Verteidigungsministeriums. AnDeck standen junge Männer in Uniform:homosexuelle Soldaten, die – mit demSegen der Armeeführung – erstmals ander Amsterdamer Schwulen- und Lesben-parade Gay Pride teilnahmen. Das warim Sommer 2009.

Die Hauptattraktion dieses Jahres beidem Bootskorso durch die Kanäle Amster -dams, einem der bedeutenden Homo -sexuellen-Happenings Europas, wird eineorangefarbene Barkasse mit den Groß-buchstaben KNVB sein. Das steht für Koninklijke Nederlandse Voetbal Bond,den Königlichen Niederländischen Fuß-ballverband. Prominentestes Gesicht anBord: Nationalcoach Louis van Gaal.

Die Zusage des früheren FC-Bayern-Trainers, bei der bunten Homosexuellen-Party Anfang August mitzuschippern, istein deutliches Signal. Denn auch in denfür ihre Weltoffenheit und Toleranz ge-rühmten Niederlanden gehören homopho-be Sprüche und Gesänge inFußballstadien zum Alltag, keinschwuler Profikicker hat bis-lang sein Coming-out gewagt.

Stattdessen halten sichselbst krudeste Vorurteile amLeben. Noch im vorigen Som-mer irritierte Frank de Boer,der Trainer des Rekordmeis-ters Ajax Amsterdam, seineLandsleute mit einer Bemer-kung über die vermeintlicheUnsportlichkeit von Schwulen.

Sie halte de Boers Äußerung „nichtfür schwulenfeindlich, sondern für ein-fältig“, sagt Irene Hemelaar, die Ver -anstalterin des Amsterdamer Gay-Pride-Events. De Boer, der sich öffentlich fürseinen Kommentar entschuldigte, hatteHemelaars spontane Einladung zur letzt-jährigen Amsterdamer Homosexuellen-Fete ausgeschlagen.

Auch deshalb wertet die 44-jährige Ak-tivistin die Zusage Louis van Gaals nunals einen „Meilenstein für die internatio-

nale Schwulen- und Lesbenbewegung“.Die Grachten, prophezeit sie, „werdenrocken“.

Den Rummel um die holländische Parade wollen Schwulenorganisationenauch hierzulande nutzen, um den Deut-schen Fußball-Bund (DFB) wieder stärkerin ihren Kampf gegen Ausgrenzung undDiskriminierung einzubinden. Das En -gagement, das der frühere Verbandsprä-sident Theo Zwanziger begann, habe seitdessen Rückzug spürbar abgenommen,beklagt Torsten Siebert, Leiter des Ber -liner Projekts „Soccer Sound“ gegen Homophobie im Fußball. Seit Anfang ver-gangenen Jahres, seit einem Dialogforumüber sexuelle Identitäten in der Sport-schule Hennef, habe man vom DFB „sogut wie nichts mehr gehört“, sagt Siebert.

Zwanziger hatte das Aufweichen vonHomophobie zu einem sozialen Kern -thema des Verbands gemacht. Es gab

Aktionsabende, einen RundenTisch vor einem Länderspielin Hamburg, die DFB-Kultur-stiftung ließ ein Theaterstückgegen Diskriminierung auffüh-ren. Beim Berliner Christo-pher Street Day, dem Fest-und Demonstrationstag vonLesben, Schwulen, Bisexuel-len und Transgendern, standZwanziger vor zwei Jahren als Laudator auf der Bühne.Und beim Kölner Christopher

Street Day sponserte der DFB über meh-rere Jahre mit je 5000 Euro einen Parade-wagen.

Unter Zwanzigers Nachfolger Wolf-gang Niersbach ist die Förderung ausge-laufen, Kölns Parade fand ohne Fußball-wagen statt. Das sei nicht schlimm, heißtes bei den Organisatoren, teilnehmendeschwul-lesbische Fußballfans seien ohne-hin jetzt so zahlreich, dass sie als Fuß-gruppe besser in den Umzug passten alsauf einem Wagen mit begrenztem Platz.

Doch die Angst, dass sich der DFB ganzausklinkt, greife um sich, sagt der Nie-derländer Robert Thewessen, der seitzwei Jahren den Berliner ChristopherStreet Day mitorganisiert.

Mit dem Rückenwind aus Holland wol-len die Veranstalter nun einen neuen An-lauf nehmen und den DFB zur Teilnahmean der nächsten Berlin-Parade einladen,es müsse ja kein Wagen sein. Zwanzigersei „das Gesicht der Kampagne“ im Fuß-ball gewesen. Doch „künftig kann das jaauch der Bundestrainer sein“, findet The-wessen.

Während zum Gay Pride in Amster-dam die gesellschaftlichen Organisatio-nen Schlange stehen – angeblich gab eszuletzt über 200 Anfragen für 75 Boote –,müsse man in Deutschland betteln. „Dageht Gesellschaftspolitik langsamer“,meint Thewessen.

Der DFB wehrt sich gegen den Vorwurfdes Desinteresses. Gegen die Diskrimi-nierung Homosexueller werde weiter mitgleichem Schwung gearbeitet, heißt es inder Frankfurter Verbandszentrale, wennauch vielleicht weniger offen mit Wortenals früher. Zum Beispiel stehe der Leit -faden für Vereine kurz vor der Fertigstel-lung. Eine Kommission hatte zehn Mona-te lang an dem Papier zum Umgang mitComing-outs im Fußball gearbeitet, nunist eine ganze Informationsbroschüre„Fußball und Homosexualität“ dabei her -ausgekommen – „20 bis 30 Seiten, imLängsformat“, verrät Gunter A. Pilz, derVorsitzende der Arbeitsgruppe.

Vielleicht hätte es weniger lange ge-dauert, hätte man einfach abgeschrieben.Seit Herbst vergangenen Jahres liegt der„Aktionsplan“ des niederländischen Ver-bands mit dem Titel „Fußball für alle“vor, zehn Seiten in Orange. Enthalten sindAnleitungen für Trainer, wie das Themain Mannschaften behandelt werden soll.

Die Holländer waren wieder schneller.JÖRG KRAMER, MICHAEL WULZINGER

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Amsterdamer Parade Gay Pride 2010: „Meilenstein für die internationale Bewegung“

F U S S B A L L

RockendeGrachten

Der niederländische National-trainer Louis van Gaal demonstriert

für die Rechte von Homo-sexuellen. Jetzt sollen auch die

Deutschen Farbe bekennen.

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Van Gaal

A R C H Ä O L O G I E

Göttliches Bier Archäologen vom Oriental Instituteder University of Chicago haben sichmit einer kleinen Brauerei im US- Bundesstaat Ohio zu einem unge-wöhnlichen Projekt zusammengetan:Sie wollen Bier genau so brauen, wiees die Sumerer vor Tausenden Jahrenin Mesopotamien taten. Anleitungenfür das Experiment holte sich dasTeam von der um 1800 vor Christusentstandenen „Hymne an Ninkasi“,die der sumerischen Göttin des Brau-

ens huldigt, aber auch schildert, wieman das in allen Schichten der Hoch-kultur verbreitete flüssige Nahrungs-mittel herstellt. Neben Tipps gaben dieForscher den Braumeistern auch dierichtigen Tongefäße – Kopien von Gra-bungsfunden aus dem Irak. Mit denersten Ergebnissen lässt sich derzeitnoch kein moderner Gaumen ent -zücken: Der frühgeschichtliche Getrei-desaft schmeckt leicht nach Essig.Schuld sind Bakterien, die mangelsmoderner Reinigungsverfahren in denTöpfen gedeihen. Mehr Kostprobendes Trunks wollen die Hersteller laut„New York Times“ im Spätsommer aufVeranstaltungen in den USA anbieten.

Viele Reisende kehren offenbar einigermaßen verstört zurück ausdem Urlaub in einer mediterranen Touristenhochburg. Eine Um-frage eines Forscherteams vom Europäischen Institut für Präven -tionsstudien unter mehr als 6500 britischen und deutschen Urlau-bern ergab, dass eine von zehn Touristinnen in Südeuropa sexuellbelästigt wurde oder gar „unfreiwilligen Geschlechts verkehr“ hat-te, wie die Wissenschaftler im Fachblatt „Archives of Sexual Be-havior“ berichten. Befragt hatten die Forscher Reisende im Altervon 16 bis 35 Jahren, die von Urlaubszielen in Italien, Spanien,Portugal, Zypern oder auf Kreta zurückkehrten. Ergebnis: Frauenwaren zwar häufigstes Opfer sexueller Nachstellungen, Männerstanden ihnen aber nicht viel nach, wenn sie schwul oder bisexu-ell waren und den Urlaub auf Mallorca oder Kreta verbracht hat-ten. Um solche Erlebnisse zu vermeiden, raten die Wissenschaft-ler weiblichen wie männlichen Strandbesuchern zur Vorsicht:„Wichtig ist es, sich bewusst zu machen, dass es diese Problemedort gibt – wir neigen dazu, den Urlaub stets nur in posi tivemLicht zu sehen“, erklärt Teamleiter Amador Calafat.

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S O Z I O L O G I E

Stark durch Opa Britische Enkelkinder haben einemehr als doppelt so große Chance, eszu akademischen Berufen oder hoch-karätigen Managerjobs zu bringen,wenn schon ihre Großeltern diesenAufstieg auf der sozialen Leiter ge-schafft hatten. Der berufliche Statusder Großeltern väterlicherseits fiel dabei etwas weniger ins Gewicht alsderjenige der mütterlichen Vorfahren.Diesen „Großeltern-Effekt“ habenjetzt Sozialwissenschaftler von derUniversity of Oxford und der DurhamUniversity bei der Auswertung vonüber 17000 britischen Lebensverläufenentdeckt. Demnach konnten 80 Pro-zent der Enkel den privilegierten Sta-

tus bewahren, wenn schon Großelternund Eltern zur beruflichen Elite zähl-ten. Nur 61 Prozent von ihnen gelangdas dagegen, wenn erst den Eltern der Sprung nach oben gelungen war. Warum genau die Aufstiegschancenim britischen Klassensystem so gene-rationenübergreifend stabil sind, wollen die Wissenschaftler demnächstin weiteren Untersuchungen klären.

T I E R E

Abflug verpasstVielen Singvögelnwill es offen-bar nichtso rechtgelingen, ihreFlugpläne an den Klimawandel anzu -passen. Sie verlassenihr Winterquartier zu spät, um im Früh-jahr rechtzeitig imBrutgebiet zu sein. WasOrnithologen lange argwöhnten, lässtsich jetzt belegen: Biologen von derkanadischen York University rüstetenPurpurschwalben mit Sensoren aus,um deren jährliche Wanderungen zwischen dem Amazonasbecken undden Fortpflanzungsgefilden im Nord -osten der USA zu verfolgen. Die Flug-daten zeigen, dass die Vögel im ver-gangenen Jahr ihre Reisezeiten nichtkorrigierten, als der Frühling auf demnordamerikanischen Kontinent schonweit ins Land gegangen war und inden Brut gebieten bereits Rekordtem-peraturen gemessen wurden. Das falsche Timing könnte einer der Grün-de dafür sein, dass die Populations -zahlen vieler Singvogelarten seit eini-ger Zeit sinken – vor allem bei jenenSpezies, deren Winter- und Sommer -reviere oft Tausende Kilometer voneinander entfernt liegen. „Sie treffen so spät im bereits weit fortge-schrittenen Frühling ein, dass sie dasbeste Nahrungsangebot für die Auf-zucht ihrer Jungen verpassen“, erklärtStudienautor Kevin Fraser.

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Strandparty an der italienischen Adriaküste

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Sexfallen am Mittelmeer

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Englische Adelsfamilie mit Großvater 1925

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Der Marburger Kinder-

arzt Stephan Heinrich

Nolte, 57, über eine

ver pflichtende Masern-

impfung und das ver -

altete Impfschema für

Säuglinge

SPIEGEL: BundesgesundheitsministerDaniel Bahr erwägt eine Pflicht zurImpfung gegen Masern, weil immermehr Erwachsene erkranken. GreifenDeutschlands Kinderärzte zu seltenzur Spritze?Nolte: Aus epidemiologischer Sicht isteine möglichst flächendeckende Masernimpfung sehr sinnvoll, weil bei einer hohen Immunität der Gesamt -bevölkerung auch diejenigen geschützt

sind, die nicht geimpft werden können,etwa weil sie einen Immundefekt ha-ben. Wir sollten aber auf Aufklärungund Information setzen. Eine Gesund-heitsdiktatur würde zu Protesten undVerweigerung führen. In Deutschlandwerden Babys ohnehin zu häufig ge -impft, was nicht zur Akzeptanz sol-cher Maßnahmen beiträgt.SPIEGEL: Es wird zu oft geimpft?Nolte: Ja, weil das derzeitige Impfsche-ma veraltet ist. Die Grundimmunisie-rung gegen Polio, Diphtherie, Tetanus,Keuchhusten, Haemophilus influenzaeund Hepatitis B schreibt drei Impfun-gen im Abstand von vier bis acht Wochen sowie eine Auffrischung imAlter von etwa einem Jahr vor. Dasberuht aber auf einem Keuchhusten-

impfstoff, den es schon lange nichtmehr gibt. Heute genügen zwei Imp-fungen und eine Auffrischung. InSkandinavien und in Österreich wirddas längst so praktiziert. In Deutsch-land hat niemand ein Interesse daran,das Schema zu ändern, weil Impfun-gen extra vergütet werden. Die rund600000 überflüssigen Impfungen kos-ten die Kassen etwa hundert MillionenEuro pro Jahr.SPIEGEL: Ist einmal zu viel impfen nichtbesser als einmal zu wenig?Nolte: Impfungen sind ein großer Se-gen. Wenn wir aber öfter impfen alsnötig, öffnen wir den Gegnern Türund Tor. Wir Ärzte sind verpflichtet,den Patienten nicht zu schaden. Esmacht keinen Spaß, ein Baby zu imp-fen. Eine intramuskuläre Injektion istschmerzhaft, vielen Kindern geht esdanach schlecht. Sie kriegen Fieber,schreien schrill oder sind apathisch.Das macht den Eltern Angst.

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Wissenschaft · Technik

M E D I Z I N

„Vielen geht es danach schlecht“N

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Erker mit Aussicht In einer verglasten Kuppel der Inter -

nationalen Raumstation ISS bieten sich dem Nasa-Astro -

nauten Chris Cassidy Motive, die Fotografen auf der Erde nur

im Traum mal erblicken. Die Oberfläche des Heimatplaneten

zieht ungefähr 400 Kilometer unter ihm vorbei. In der

Schwerelosigkeit lassen sich auch mit dem 400-Millimeter-

Tele objektiv verwacklungsfreie Aufnahmen aus der Hand

machen. Kamera und Optik sind an Bord leicht wie eine Feder.

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KYODO NEWS / ACTION PRESS

Nomura-Riesenquallen

und Taucher vor

der japanischen Küste

Ö K O L O G I E

Triumph der GlibbermonsterQuallenplagen an Stränden weltweit alarmieren nicht nur Touristen, sondern auch For-

scher: Verdrängt das Gallertgetier andere Meeresbewohner? Wie gefährlich ist es fürs Ökosystem? Fest steht: Quallen profitieren von Überfischung und Klimawandel.

Wenn der Meeresforscher JosepMaria Gili von seinem Büro aufdie Terrasse tritt, sieht er zu sei-

nen Füßen das Menschengetümmel amStrand von Barcelona. Links schließt sichder Port Olímpic an, mit der Skulptur, dieFrank Gehry hier für die Olympischen Spie-le von 1992 errichten ließ: ein gigantischerFisch aus Stahl, der, im Sonnenlicht fun-kelnd, majestätisch aufs Mittelmeer blickt.

Aus heutiger Sicht muss man leider sagen: Der Stararchitekt hat aufs falscheTier gesetzt. Der Fisch taugt nicht längerals ein Wahrzeichen Barcelonas. Dennwas hier unter der glitzernd blauen Ober-fläche vor der Küste treibt, sind immerweniger Fische, stattdessen, in riesigenMengen: Quallen.

Blind, herz- und hirnlos wabern sie,von Wellen und Strömungen gelenkt, aufdie Küste zu, viele mit giftigen Tentakelnim Schlepp – nicht nur hier in Katalonien,sondern nahezu überall auf der Welt. Werdas Pech hat, einer nesselnden Qualle indie Quere zu kommen, dem macht sieschmerzhaft klar, wer die neue Königinder Meere ist. Gelegentlich enden solcheBegegnungen tödlich. Für den Menschen,versteht sich.

Etwa zu jener Zeit, als Gehry seinenRiesenfisch erschuf, begann Meeresfor-scher Gili, sich für Quallen zu interessie-ren. Ein exotisches Forschungsgebiet wardas damals, selbst für einen Biologen vomInstitut de Ciències del Mar. Heute, mehrals 20 Jahre später – das war damals nichtzu ahnen –, beschäftigt das Glibbertierinternationale Konferenzen; es werdenganze Bücher über die mutmaßliche „Gal-lertisierung der Meere“ geschrieben, undWissenschaftler streiten sich darüber, obQuallen Fische und andere Meereslebe-wesen verdrängen, ob sie die Herrschaftüber ganze Ökosysteme übernehmen undob wir sie künftig essen müssen, um siein Schach zu halten, wie es die Chinesenseit Jahrhunderten tun.

Dass Menschen und Quallen heute häu-figer aneinandergeraten als früher, ist fürbeide Seiten unerfreulich – und kostet jedes Jahr viele Millionen Euro, wobeidie genauen Kosten schwer zu beziffernsind: So verursachen Quallen wiederholtStromausfälle und Schäden, weil sie indie Kühlwassersysteme von Kraftwerkenund Meerwasserentsalzungsanlagen ge -raten.

Zugleich schaden Quallen der Fischerei:Sie ruinieren Fangnetze und verätzen Fi-schern die Hände. Prallt ein Quallenhau-fen gegen die Netze, die Fischfarmen vomoffenen Meer trennen, kommt es vor,dass sämtliche Tiere in den Aquakulturenam Nesselgift sterben.

Und dann ist da das Problem vor JosepMaria Gilis Terrasse: Quallen am Strand,ausgerechnet zur Badesaison, ein Debakelfür den Tourismus. In diesem Sommer istes die rötliche Leuchtqualle Pelagia nocti-

luca, die in den Wassern vor Barcelonalauert. Bis zu 400 Badende pro Tag muss-ten Sanitäter des Roten Kreuzes in denvergangenen Tagen wegen Quallenverlet-zungen verarzten. Unten, am Strand,weht eine gelbe Warnflagge. Eine schep-pernde Lautsprecherstimme mahnt aufSpanisch, Französisch und Englisch, manmöge sich vor den Quallen hüten.

„Am Mittelmeer sind wir an Quallengewöhnt“, sagt Gili, 60, ein kleiner grau-haariger Mann. „Aber was wir seit eini-gen Jahren hier beobachten, ist nichtmehr normal.“ Pelagia noctiluca beispiels-weise schwimmt nicht selbständig ausdem offenen Meer an die Küste – sie wirdvon Wellen und Strömung angetriebenund stirbt, wenn sie strandet. Dieses Un-glück widerfährt Leuchtquallen im Mit-telmeer etwa alle 10 bis 15 Jahre, so wares jedenfalls früher. Nun aber: 2005, 2006,2007, 2011, 2012, 2013 – lauter Quallen-jahre.

Auch die Europäische Union zeigt sichneuerdings besorgt über die häufigenQualleninvasionen, die die Wirtschaft oh-nehin gebeutelter südlicher Mitgliedstaa-ten zusätzlich belasten. Deshalb finan-ziert die EU nun ein internationales For-schungsprojekt, das erstmals systematischDaten über die Quallenverbreitung imMittelmeerraum erfassen und eine Stra-tegie für das Küstenmanagement ent -wickeln soll. Testen wollen die beteiligtenWissenschaftler unter anderem Schutz-netze an Stränden und eine Smartphone-App, mit der Strandbesucher melden sol-len, wenn sie irgendwo ein Glibbertiererspähen.

Der Anschubser aus Brüssel war über-fällig: Die Wissenschaft weiß bis heutewenig über Quallen, weil die Tiereschwierig zu studieren sind. Scheinbaraus dem Nichts tauchen sie auf, zahlreich,aber unvorhersehbar – und wenn man sie

dann einsammeln will, um sie im Laborzu untersuchen, gehen sie leicht kaputt.Quallen im Aquarium zu züchten istebenfalls ein kompliziertes Unterfangen.So gibt es weltweit nur eine kleine Ge-meinde von Quallenkundigen.

Gili kann nicht mehr genau sagen, war -um er sich damals entschied, ausgerech-net Quallen zu erforschen. Vielleicht in-teressierten sie ihn, weil er mit ihnen aufgewachsen war, auf Mallorca. „Als ichklein war, rieb mein Vater mich vor demBaden immer mit Olivenöl ein, um michvor Quallenverletzungen zu schützen“,erinnert er sich und lächelt. „Olivenöl istder beste Schutz. Viel Sonnencreme hilftauch.“

Er und seine Kollegin Verónica Fuentes,35, sind für die Durchführung des EU-Projekts in Spanien zuständig. Wichtigsei vor allem, die Menschen aufzuklären,so Gili: „Wir sagen den Touristen, dasssie zu uns kommen sollen, weil das Mit-

telmeer phantastisch ist“, sagt er, „aberwir müssen ihnen auch mitteilen, dassdas Meer kein Schwimmbad ist. Mankann hier die Sonne und das warme Was-ser genießen, und manchmal gibt es ebenQuallen im Wasser. Damit muss manrechnen.“

Am Mittelmeer und weltweit: In Nord-und Ostsee treffen Badende vor allem imSpätsommer öfter auf Gelbe Haarquallen,aus gutem Grund auch „Feuerquallen“genannt. Noch viel häufiger sichten siedort Massen milchig-bläulicher Ohren-quallen – die aber wenigstens, wie übri-gens die Mehrzahl der Arten, dem Men-schen keinen Schmerz zufügen.

In den Küstengewässern Namibias,einst reich an Sardinen, dominieren mitt-lerweile Kompass- und Kristallqualle.

Fischer im Ostchinesischen und im Gel-ben Meer klagen schon seit Mitte derneunziger Jahre darüber, dass ihnen im-

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Wissenschaft

Anstieg gesichert vermutet

keine Veränderung

Rückgang

keine Daten

Erhebung aufgrund der Analyse von Datenreihen, Medienberichten und Auskünften von Wissenschaftlern, Fischern u. a.

Quelle:L. Brotz et al.

2012

Weiche Welle Veränderung der Quallenbestände, seit 1950

Wenn die Meere jedoch, wie mittlerwei-le fast überall auf der Welt, überfischt wer-den, kann es zu einem sich selbst verstär-kenden, fatalen Mechanismus kommen:Quallen konkurrieren mit weniger Fischenum Zooplankton, sie fressen also mehrund vermehren sich, und zugleich fressensie den Fischen den Nachwuchs weg undbringen so deren Populationen weiter un-ter Druck. Die Folge: Fischbestände kolla-bieren, Quallen triumphieren.

Dabei sind die Glibberer an Schlicht-heit eigentlich kaum zu überbieten: Sie

bestehen zu rund 98 Prozent aus Wasser.Der Rest setzt sich zusammen aus galler-tigem Gewebe, Geschlechtsorganen, demMagenraum, einem primitiven Nerven-system und Nesselkapseln, die, wenn siegereizt werden, Giftprojektile mit derWucht von Gewehrkugeln abschießenkönnen. Es gibt rund 1500 bekannte Arten von Quallen, manche sind winzigwie ein Sandkorn, andere schwer wie ein Gnu.

Quallen, so fragil das Einzeltier erschei-nen mag, sind unglaublich zäh, Meister-werke der Evolution. Seit rund 600 Mil-lionen Jahren überdauern sie dramatischeVeränderungen in den Ozeanen – die Ent-stehung der Fische, ihrer größten Fress-feinde und Konkurrenten, massive Hitze -

perioden, Eiszeiten, das Werden und Vergehen von Weltmeeren, Meteoriten-einschläge –, ohne sich groß zu ver -ändern.

So trotzen sie auch der Umweltzerstö-rung durch den Menschen wie kaum einanderes Meereslebewesen. Mit Dreck, Al-genblüten, trübem Wasser und Sauerstoff-mangel kommen sie besser zurecht als Fische. Verbaute Ufer und Anlagen aufhoher See dienen ihnen gar als Kinderstu-be: Die Flächen bieten den Jungtieren, diesich als Polypen an feste Strukturen heften,mehr Lebensraum. Studien haben gezeigt,dass Quallenplagen gehäuft an Orten auf-treten, wo Menschen das Meer besondersintensiv nutzen und verschmutzen.

Auch der Schiffsverkehr begünstigt denSiegeszug der Quallen. Werden sie imBallastwasser in fremde Gewässer trans-portiert, siedeln sie sich dort häufig er-folgreich an und verdrängen einheimischeArten. Sie sind nicht wählerisch, sondernfressen, was ihnen so vor die Mundöff-nung kommt – und wenn sie einmal zuwenig Nahrung bekommen, schrumpfensie einfach vorübergehend zusammen.

Nicht zuletzt profitieren Quallen offen-bar vom Klimawandel. Bei höheren Tem-peraturen wachsen viele Arten schneller.Und tropische Quallen wie die Seewespe,deren Gift einen Menschen innerhalb vonzwei Minuten töten kann, breiten sich insubtropischen Gewässern aus.

Sind Quallen also die Nutznießer desRaubbaus, den der Mensch an der Naturbetreibt? Eine giftige Erinnerung daran,dass letztlich alles seinen Preis hat?

Um den Tourismus in seinem Land ma-che er sich keine allzu großen Sorgen,

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Leuchtquallen, Meeresforscher Gili in Barcelona: „Olivenöl ist der beste Schutz“

Quallen, so fragil das Einzeltier erscheinen mag,sind äußerst zäh, Meister-

werke der Evolution.

mer weniger Fische und immer mehrQuallen in die Netze gehen.

Stoff für einen Horrorfilm böte die Si-tuation in Japan, wo die MonsterqualleNemopilema nomurai durch die Wellenschwappt – ihr Schirm kann einen Durch-messer von zwei Metern erreichen. Imvergangenen Jahrhundert fiel sie genaudreimal durch erhöhte Präsenz auf, 1920,1958 und 1995. Seit 2002 aber, so berich-ten japanische Forscher, überfällt Nomuraasiatische Gewässer alljährlich und bringtmit ihrem Gewicht ganze Fischkutter zumKentern. Nur 2004 und 2010 verhielt sichdas Schwabbelmonster unauffällig.

Was hat das alles zu bedeuten? Warumverglibbern die Meere?

Josep Maria Gili zieht die Stirn in Fal-ten. „Die Quallen sind eine Flaschenpost,die uns das Meer an den Strand schickt“,sagt er. Die Botschaft des Meeres an dieMenschen laute: „Ihr zerstört mich.“

Der Wissenschaftler lässt die Wortekurz wirken, dann wird er wieder sach-lich. Das größte Problem, erklärt er, seidie Überfischung der Meere. Simple Ma-thematik: „Wenn man die Zahl der Fischevermindert, die Quallen fressen“, sagt er,„und zugleich auch die Zahl jener Fische,die mit Quallen um Nahrung konkurrie-ren, nun – damit erhöht man natürlichdie Zahl der Quallen.“

Normalerweise sind die Medusen einwichtiger Bestandteil mariner Ökosyste-me: Von 124 Fisch- und 34 anderen Tier-arten, beispielsweise Schildkröten, ist be-kannt, dass sie gern Quallen verspeisen.Quallen ihrerseits fressen vor allem Zoo-plankton, also kleineres Getier, sowieFisch eier, Fischlarven und kleinere Fische.

Technik

sagt Quallenforscher Gili. Bislang gebees im Mittelmeer keine tödlichen Quallenwie in Australien oder Asien. Beängsti-gend findet der Biologe jedoch, dass Qual-len das ökologische Gleichgewicht ver -ändern. Aber was kann man dagegentun? Die Überfischung der Ozeane stop-pen? Die Umweltverschmutzung? DenKlimawandel?

Gilis Mitarbeiterin Verónica Fuentesbeginnt damit, katalanische Fischer fürihr Forschungsprojekt zu gewinnen. Kei-ne triviale Aufgabe: Welcher Fischer willhören, dass er weniger fischen soll, derUmwelt zuliebe?

Fuentes hat den Anwalt der Fischer ansInstitut eingeladen, Mario Vizcarro, Se-kretär der „Federació Nacional Catalanade Confraríes de Pescadors“. Vizcarrovertritt die Interessen von 1200 Fischernaus der Region. Nun sitzen sie sich in einem abgedunkelten Konferenzraum gegenüber, die zierliche Wissenschaftlerinund der stiernackige Jurist. Fuentes be-ginnt diplomatisch: „Es gibt viele Gründe,warum sich die Quallen ausbreiten – dieFischerei ist ein Grund, aber auch dieWasserverschmutzung, die wärmere Tem-peratur.“ Vizcarro guckt zweifelnd.

Die Forscherin projiziert ein Foto aufeine Leinwand: eine Qualle, an derenTentakeln kleine silberne Fische hängen.Manche Quallen fräßen Fische, erklärtFuentes, ihre Stimme klingt sanft. Viz -carro beugt sich vor und starrt auf dasBild. „So etwas gibt es bei uns?“, fragt erangewidert. „Bei uns bislang nicht“, sagtFuentes, „aber in der Nordsee schon.“

Vizcarro fixiert das Foto. Seine Fischerhätten auch ein Problem, sagt er dann,sie fingen fast keine Sardinen mehr. Obdie kleinen Sardinen wohl auch von Qual-len weggefressen würden? Die Vorstel-lung beunruhigt ihn. Er mustert Fuentesmit neuerwachtem Interesse.

Sie zeigt jetzt einen kurzen Film ausJapan: massenhaft Monsterquallen in bers-tenden Fischernetzen. „Ah!“, ruft Vizcar-ro, er wendet sich ab. Es ist der Moment,auf den die Wissenschaftlerin hingearbei-tet hat. „Wir brauchen eure Hilfe“, sagtsie. „Wir überwachen die Küste, aber wirbenötigen auch Informationen darüber,wie viele Quallen da draußen im Meersind. Diese Informationen können uns nurdie Fischer geben.“ Ihre Idee: eine Smart -phone-App, speziell für Fischer.

Vizcarro nickt. „Das interessiert uns“,sagt er. Seine Fischer berichteten eben-falls, dass sie mehr Quallen sähen als früher – und wo viele Quallen seien, gebees weniger Fische. Vizcarro richtet sichauf: „Auch wir wollen wissen, was da losist.“ SAMIHA SHAFY

Nur selten verdankt ein Produkt seinen Erfolg ausgerechnet dem,was es nicht kann. Bei Robert

Beens’ Angeboten ist das so. Seine beiden Suchportale, Ixquick und Start-page, versagen just in dem Fach, in demGoogle spitze ist: im Bespitzeln der Nutzer.

Beens vertreibt ein besonders kost -bares Gut: Anonymität. „Die diskretesteSuchmaschine der Welt“, werben die bei-den Portale, hinter denen jeweils die gleiche Technik steckt. Wer Anfragen ein-gibt, wird eben nicht mit Cookies ver-folgt, die Daten werden nicht gespeichert,die Verbindung ist verschlüsselt, die Web-inhalte können so umgeleitet werden,dass die Nutzer für Werbekraken unsicht-bar bleiben.

Wirtschaftlich erfolgreich sind die Por-tale dennoch, der Montag voriger Wochewar der vielleicht beste Tag in Beens’ bisheriger Karriere. Die Anfragen an seine Suchmaschinen knackten die Vier-Millionen-Marke. Diesen Triumph hat er vor allem den Geheimdiensten derUSA und Großbritanniens zu verdan-ken. Seit den immer neuen Enthüllungender globalen Internet spitzelei explodiertdie Nachfrage nach dezenten Suchma-schinen.

Trotz der vielen Klicks – gemessen ander Big-Brother-Konkurrenz ist die Da-tenschutz-Suchmaschine wenig bekannt.Was wohl auch an Robert Beens liegt. Erfühlt sich sichtlich unwohl, wenn er seineProdukte Fremden erklären soll – Mar-keting-Preise wird er wohl nie gewinnen.„Ich schätze meine Privatsphäre“, sagtder Niederländer. „Deswegen mache ichja auch diese Suchmaschine.“

Der stille Mann sitzt im opulent einge-richteten Empfangszimmer einer wohl -tätigen Immobilienstiftung in Den Haag.Hier hat Beens’ Firma ein Büro, zur Un-termiete. Der Chef selbst arbeitet meistam Laptop von unterwegs. Hauptberuf-lich ist er nämlich Pilot bei der Fluggesell-schaft KLM.

Eher offensiv tritt dagegen seine Kon-kurrenz in den USA auf. Seit Wochentrommelt die Such maschine DuckDuck-Go für sich. 2008 gründete Gabriel Wein-berg die Suchmaschine. Der Physiker istAbsolvent der Eliteuniversität MIT. Erweiß, wie man Aufmerksamkeit erzeugt,

er arbeitet an einem Buch zum Thema.Rein technisch funktionieren die ameri-kanische und die niederländische Such-maschine ähnlich, auch von der Reichwei-te her liegen sie fast gleichauf.

„Aber wir unterliegen eben nicht derUS-Rechtsprechung“, sagt Beens lapidar.Er meint damit: DuckDuckGo könnteausgespäht werden. Aber ein solcher Zu-griff der Schlapphüte mit Billigung von

Gerichten wäre in den Niederlandenkaum denkbar.

Standortfaktor Datenschutz: Plötzlichhat Europa wieder eine Chance, in derHightech-Branche zumindest ein kleinwenig aufzuholen. In Zeiten von Big Dataund Cloud-Computing könnte die AlteWelt digitale Reinheitsgebote in Wettbe-werbsvorteile ummünzen.

Doch es fehlt an politischen Konzepten.Wer Angst habe, ausgespäht zu werden,so Bundesinnenminister Hans-Peter Fried-

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I N T E R N E T

Spitze ohne BespitzelnEine niederländische Suchmaschine zeigt, wie Datenschutz

in Zeiten der Komplettüberwachung zu einem europäischen Exportschlager werden könnte.

Video:

Die Quallen-Flut

spiegel.de/app282013quallenplage oder in App DER SPIEGEL

Suchmaschinenbetreiber van Eesteren, Beens:

rich vorigen Mittwoch, solle eben keineDienste nutzen, die über US-Server laufen.Das lässt sich nur deuten als Kapitulation –immerhin ist der Minister an der Gestal-tung der europäischen Datenschutzreformbeteiligt. Jeder weiß: Ein Alltag ohne Goo-gle, Apple, Microsoft und Amazon ist nurfür zwei Minderheiten attraktiv: Technik-verweigerer und Computer-Nerds.

Zwar fordern französische und deut-sche Politiker seit vielen Jahren eine europäische Suchmaschine. Doch trotzmillionenschwerer Forschungsprogram-me sucht man bis heute vergebens nacheiner echten Alternative zu Google.

Ixquick dagegen entstand durch Zufallund ohne Subventionen. Beens versuchtezunächst, Elektrofahrräder zu verkaufen.Aber damit, das konnte er damals nichtwissen, war er zehn Jahre zu früh dran.Er studierte Jura, wurde schließlich Be-rufspilot und flog Jumbojets nach Hong-kong, Kapstadt, New York.

Während der ersten Internetblase in-vestierte Beens in die Suchmaschine. Ixquick verbrannte damals viel Geld und sammelte jede Menge Verbindungs-daten. Als 2001 der Crash kam, brachteder Niederländer die Firma auf Spar-kurs – sowohl finanziell als auch in Sachen Datensammelwut. „Es ist garnicht so einfach, das automatische Spei-chern von IP-Adressen herunterzufah-ren“, so Beens. Aber er fand: Wenigerist mehr.

Seit 2004 ist Ixquick nach eigener Aus-sage profitabel, mit heute nur noch dreiVollzeit-Mitarbeitern sowie Entwicklernin Europa, den USA und Indien. Daten-schutz lohnt sich. Allerdings ist das bis-lang nicht allzu vielen Leuten aufgefallen:Vier Millionen Anfragen pro Tag – dasist weniger als ein Prozent von Google.DuckDuckGo sei hilfreich für sein Anlie-gen, so Beens: „Die größte Konkurrenzsind Trägheit und Unwissen der Nutzer.“

Nun tüftelt sein Team an einem neuenCoup: verschlüsselte E-Mails für Technik-muffel. Beens hat neun Monate Auszeitvom Pilotenjob genommen, um die Kryp-to-Mail an den Start zu bringen.

„Viele Nutzer wissen nicht, dass ihre E-Mails im Internet von beliebig vielenLeuten gelesen und gespeichert werdenkönnen, Postkarten sind im Vergleich geradezu diskret“, sagt Alexander vanEesteren, der technische Leiter von Start-mail.

Die beiden demonstrie-ren erstmalig ihr neues E-Mail-System. Es wirkt ein-fach und elegant. Schrittfür Schritt werden die Nut-zer bei der Anmeldungdurch die Installation ge-führt. Sie müssen zunächsteinen öffentlichen und ei-nen privaten Schlüssel er-zeugen. Alle E-Mails undAdressen werden auf demServer verschlüsselt, sodass nicht einmal der Sys-tembetreuer sie ohne wei-teres lesen kann. Wer seinPasswort vergisst, verliertalle E-Mails und Adressen.

Startmail ist nicht per-fekt; am sichersten wäre es,wenn man auf dem eigenenRechner ein Verschlüsse-lungsprogramm wie „PrettyGood Privacy“ installierte,zu Deutsch: ziemlich gutePrivatsphäre. Doch derleiSoftware ist kompliziertund setzt voraus, dass alleEmpfänger sie benutzen.

Der Markt ist zersplittert,Standards sind rar. De-Mailzum Beispiel, die Krypto-Mail, die von der Bundes-regierung initiiert wurde,

funktioniert nur, wenn Sender und Emp-fänger Konten bei De-Mail haben. Außer-dem stuft der Chaos Computer Club dasSystem als unsicher ein. Aus all diesenGründen verzichten derzeit fast alle Nut-zer auf Verschlüsselung. Das Postgeheim-nis ist damit faktisch ausgehebelt.

Startmail ist anders. Es erlaubt sogardas Verschicken verschlüsselter Mails anbeliebige Adressen: Der Empfänger be-kommt dann einen Link, loggt sich aufdem Startmail-Server ein und kann die

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Spurlose SuchenInternetsuchanfragen, in Mio. pro Tag

Enthüllung zu„Prism“

und

neue Nutzerdaten-auswertung bei Google

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Geheimnachricht entschlüsseln, indemer ein vorher vereinbartes Passwort ein-tippt.

Außerdem bietet Startmail gutüber -legte Zusatzfunktionen: Wer sich bei Online-Diensten anmeldet, muss meisteine E-Mail-Adresse angeben. Mit Start-mail kann man daher Wegwerfadressengenerieren, die wahlweise ein paar Minu-ten oder wenige Tage aktiv bleiben, bissie erlöschen. So wird Spam reduziert.

Natürlich wird Startmail nicht kosten-los sein: „Der Monatsbeitrag dürfte un-gefähr so viel kosten wie eine Tasse Kaf-fee“, sagt Beens. Der Datenschutzpilotspekuliert auf einen Mentalitätswandel,ähnlich wie in den siebziger, achtzigerJahren, als die Verbraucher sich langsamvon industrieller Billigware abzuwendenbegannen, hin zu teuren Ökoprodukten.

Noch sitzen die Datenökos in kleinenNischen, ignoriert von Großkonzernenund Politik. Der Berliner E-Mail-ProviderPosteo zum Beispiel, ein Unternehmenmit vier Mitarbeitern, bietet von Kreuz-berg aus nicht nur verschlüsselte E-Mails,sondern auch Server, die mit Ökostromvon Greenpeace betrieben werden.

„Prism hat ein Umdenken angestoßen“,sagt Beens. Ursprünglich hatten sich 5000Tester für die Krypto-Mail angemeldet.Seit Prism, das Spähprogramm der USA,entlarvt wurde, sind es zehnmal so viele.Die Server stehen in einem Rechenzen-trum in Amsterdam, ausgelegt auf einenAnsturm von 100000 Nutzern. Der Test-betrieb läuft, im Herbst soll es losgehen.

Derzeit scheint es denkbar, dass dasneue Datensparen bald auch von Groß-konzernen entdeckt wird. Vielleicht wie-derholt sich mit der Krypto-E-Mail dieErfolgsgeschichte der Biomöhrchen, dieeinst aus den Reformhäusern heraus diegroßen Supermärkte eroberten.

Denkbar wäre sogar, dass irgendwanndie Politik reagiert und strengere Standardsvorschreibt. „Das wäre vielleicht schlechtfür unsere Firma, aber gut für die Gesell-schaft“, sagt Robert Beens. Aber sollteStartmail abstürzen, kann er ja wieder alsPilot durchstarten. HILMAR SCHMUNDT

Eine Menge Geld verbrannt

Die Fremden kamen von weit her,und sie rückten mit Streitwagenan. Doch das fahrende Volk kam

in friedlicher Absicht. Die Migranten ausEuropa brachten nicht Krieg, sondernSchafe und Ziegen aus der alten Heimatmit – Nutztiere, die man in der Wüstenicht kannte. Bedeutsamer als ihr Vieherwies sich jedoch ihr Glaube: Sie ver-breiteten eine Weltreligion in Asien.

„Tocharer“ nennen die Geschichtskund-ler jenes sagenhafte Volk, das sich nachderzeitigem Kenntnisstand vor 1500 Jah-ren im Westen des heutigen China nie-derließ und dort einen Aufstieg sonder-gleichen erlebte. Schon diese Bezeich-nung basiert allerdings auf einem Irrtum;

Wissenschaft

G E S C H I C H T E

Rotbärte an derSeidenstraße

Vor 1500 Jahren brachten Europäerden Buddhismus und eine

blühende Handelskultur nach China. Dann verlor sich

plötzlich die Spur dieser Menschen.

C H I N A

Tocharisches Manuskriptetwa aus dem 7. Jahrhundert n. Chr.

Mumienfund aus der Wüste Taklamakan

Hochkulturin der Wüste

MumienfundeNachweise für die Verbreitung der tocharischen Sprache

Tarim-becken

Wüste Taklamakan

T i b e t

P r o v i n zX i n j i a n g

CHINA

M O N G O L E IRU SSL AND

XIN

HU

A /

LA

IF

500 km

kann dieser Quellenschatz von Histori-kern gehoben werden“, sagt Malzahn. Einhoffnungsfrohes Unterfangen, denn dasgrößte Rätsel ist noch ungelöst: Wer ge-nau waren die Tocharer, und was ver-schlug sie aus Europa nach China?

Gesichert ist, dass die Einwanderer inZentralasien für etliche Jahrhunderte einblühendes Handelszentrum etablierten –an der Seidenstraße sprach man Tocha-risch. Die größte Kulturleistung der To-charer bestand aber darin, auf dem Wegin die neue Heimat den Buddhismus vonseinem Ursprungsland Indien nach Chinaimportiert zu haben.

Den überwiegenden Teil der Schrift-zeugnisse fanden Archäologen in denÜberresten buddhistischer Klöster. UralteWandmalereien geben Auskunft über dieBewohner. Zu sehen sind bärtige Gestal-ten mit blondem Haar, wie Experten siekaum in der asiatischen Steppe vermutethaben. „Die sehen aus wie Schotten“, be-richtet Malzahn.

Nun rätseln die Forscher, ob die ausden Quellen bekannten Bewohner des to-charischen Sprachraums mit jenen Mu-mien in Verbindung stehen, die ebenfallsin der Gegend geborgen wurden. Etwader ausgezeichnet erhaltene Cherchen-Mann – ein Riese von zwei Metern mitrötlichem Haar, rotem Zottelbart, vollenLippen und einer langen Nase. Kurz: eherder europäische Typ.

Es sei verlockend für die Wissenschaft-ler, räumt Malzahn ein, die europäisch an-mutenden Körper den Texten der Tocha-rer zuzuordnen, nur: Die Mumien sindmindestens 2000, teils sogar 4000 Jahrealt. Die frühesten Textfetzen lassen sichindes erst auf das 4. Jahrhundert datieren.Die jüngsten Schriftstücke stammen ausdem 13. Jahrhundert, dann versiegt derQuell der Informationen plötzlich.

Fiel die buddhistische Hochkultur derTocharer einer schleichenden Islamisie-rung zum Opfer? Denkbar auch, dasseine anhaltende Wirtschaftsflaute derzeit weilig so begüterten Gesellschaft zu-

setzte. Darüber können womöglichjene Wirtschaftsbilanzen Auskunftgeben, die sich neben den zumeistliturgischen Texten aus den Klostern

erhalten haben.Gesichert ist, dass auch weit profanere

Sorgen die tocharischen Muttersprachlerquälten: „Früher war mir kein Menschgenanntes Wesen lieber als du“, texteteetwa ein Liebeskranker in der einzig erhaltenen Minne-Depesche auf To -charisch. Der Verzweifelte schuf ein Vermächtnis zeitloser Seelenpein: „DerGott der Taten allein kannte meine Gedanken; deshalb säte er Streit; er rissmir das Herz heraus, das dir gehörte. Erführte dich fort, trennte mich von dir; erließ mich teilhaben an allen Leiden; ernahm mir die Freude an dir.“

FRANK THADEUSZ

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die Tocharer selbst nannten sich durchausnicht so; ihren Zeitgenossen waren sie alsArsi und Kucha bekannt – basierend aufden Namen ihrer Machtzentren.

Doch die so imposante wie rätselhafteKultur verschwand samt ihrer Sprache imNichts.

Wissenschaftler wissen heute von ihrerExistenz, weil Archäologen in der WüsteTaklamakan im chinesischen Tarim -Becken Tausende Papierfetzen fanden,die auf eine reiche und hochgebildete Ge-sellschaft hindeuten. Vor gut hundert Jah-ren gelang es den deutschen IndologenEmil Sieg und Wilhelm Siegling nach jah-relanger Arbeit, die Schriftzeichen aufden Schnipseln als eigene Sprache zuidentifizieren. Verblüfft notierten die Ex-perten, dass die in der chinesischen Pro-vinz Xinjiang geborgenen schriftlichenZeugnisse eindeutig auf den indogerma-nischen Sprachraum hinweisen.

Seitdem versuchen Forscher, Ordnungins Schnipselchaos zu bringen. Wenig hilf-reich war, dass die papiernen Zeugnissein Sammlungen auf diversen Kontinentenverteilt sind. Dass weltweit nur eineHandvoll Wissenschaftler des Tochari-schen mächtig ist, erschwerte die Aufbe-reitung zusätzlich.

Eine der wenigen Kundigen auf diesemGebiet ist die Sprachforscherin MelanieMalzahn von der Universität Wien. Siegehört einem Team von Wissenschaftlernan, die nun das Vermächtnis von Sieg undSiegling angetreten haben. Die Gelehrtenbauten eine Datenbank auf, in der einGroßteil der tocharischen Quellen erfasstund übersetzt ist; sie enträtselten die Syn-tax und Mehrfachbedeutungen unter-schiedlicher Wörter.

Der Datenfundus ist für jedermann imInternet einsehbar – kaum je ist eine un-tergegangene Sprache für die Öffentlich-keit so umfangreich aufbereitet worden(www.univie.ac.at/tocharian). „Erst jetzt

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Nerven unter StromDie renale Denervation gegen Bluthochdruck

Nerven-geflecht

Ein Katheter wird über einen Einstichin der Leiste ein-geführt und entlang der Bauchschlagader in die Nierenarterien vorgeschoben.

Eine Elektrode an der Katheterspitze sendet lokal begrenzt Strom aus: Das Nerven-geflecht rings um die Arterie wird dadurch verödet. Auf diese Weise wird das Stressnervensystem (Sympathikus) herunter- geregelt. Dadurch soll der Blutdruck sinken.

obwohl noch gar nicht bewiesen ist, dasssie den Menschen tatsächlich hilft.

Karl Hilgers, 50, Facharzt für InnereMedizin und Nephrologie am Univer -sitätsklinikum Erlangen, sagt: „Die Me-thode ist interessant. Aber wir haben dieLangzeiteffekte noch viel zu wenig er-forscht.“ Sein Kollege Johannes Mann, 63,vom Städtischen Klinikum München-Schwabing urteilt: „Es ist völlig ungeklärt,ob die Methode für Patienten in punctoHerzinfarkt, Schlaganfall oder Herzschwä-che einen klinischen Nutzen bringt.“

Die Einführung des neuen Verfahrensstützte sich auf eine Studie mit nur 100Patienten. Die Untersuchung ergab zwareine Senkung des Blutdrucks, jedoch hatsie methodische Schwächen und wurdevon der Herstellerfirma des Katheters fi-nanziert. Diese hieß Ardian und wurdeinzwischen von der Firma Medtronicübernommen. Felix Mahfoud, der ehrgei-zige Befür worter der Methode, hat da-nach für Medtronic gegen Honorar Vor-träge gehalten. Die Höhe dieser Einkünf-te, sagt er, dürfe er aus Vertragsgründennicht verraten.

Wissenschaft

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M E D I Z I N

Vergebensverbrutzelt

Ein Eingriff an den Nierennervengilt als neues Wundermittel gegen

Bluthochdruck. Dabei ist nicht bewiesen, dass die Methode

den Patienten wirklich nutzt.

D E R S P I E G E L 2 8 / 2 0 1 3

Das Erhitzen soll Wunder wirken.Der Arzt schiebt einen biegsamenKatheter durch einen kleinen Ein-

stich in der Leiste bis in die Nierenarte-rien und tritt auf ein Pedal. An der Spitzedes Katheters fließt Strom. Es wird warm– und schon sind die Nervenfasern rundum die Nierenarterien verödet.

Die renale Denervation, so der Fach-begriff für die neue Methode, findet zu-nehmend Anhänger unter den Ärzten andeutschen Krankenhäusern. In wenigerals einer Stunde soll die Methode im Pa-tienten wirksam ein Übel bekämpfen, dasdie Gesundheit von Millionen Bundesbür-gern bedroht: den krankhafterhöhten Blutdruck, der zuHerzinfarkt und Schlagan-fall führen kann.

Das Veröden dämpft dasStressnervensystem (Sym -pathikus), der Blutdrucksoll dadurch sinken. „FürPatienten, die nicht auf Me-dikamente ansprechen, istdas eine super Sache“, sagtder Kardiologe Felix Mah-foud vom Universitätskli-nikum des Saarlandes inHomburg.

Mit seinen Kollegen hatMahfoud, 33, die Metho-de in Europa als Erster er-probt und mit ihr inzwi-schen 600 Patienten be-handelt – damit sind dieHomburger führend inder Welt. Aber andereholen schnell auf. In-zwischen werden je-des Jahr Nierenner-venfasergeflechte Tau-sender Patienten inDeutschland verbrut-zelt. Nach Schätzun-gen von AOK und Bar-mer GEK hat sich die Zahl der Eingriffeinnerhalb eines Jahres verdoppelt. JedesMal kostet das rund 4500 Euro.

Doch nicht alle Ärzte teilen die Be -geisterung. Sie sehen die renale Dener -vation als Lehrstück dafür, wie eine me-dizinische Methode die Kliniken erobert,

D E R S P I E G E L 2 8 / 2 0 1 3 103

Auf einem Kongress in Mailand setztees vergangenen Monat noch mehr Kritik.Die Wirkung der renalen Denervation seinicht sonderlich groß und beruhe vermut-lich teilweise auf einem Placeboeffekt,verkündete der Arzt Alexandre Persuvon der Université Catholique de Lou-vain in Brüssel.

Mit Kollegen aus europäischen Zentrenhat Persu eine eigene, unabhängige Aus-wertung durchgeführt: Demnach sank derBlutdruck bei ambulanter 24-Stunden-Messung nur bei einem Drittel der Patien-ten. Auch änderte der Eingriff nichts daran, dass die Menschen weiterhin Me-dikamente gegen Bluthochdruck nehmenmussten.

Tierversuche lassen daran zweifeln,dass das Veröden der Nerven die Niereüberhaupt beruhigen kann. Als ForscherNieren von Ratten mit Bluthochdruck aufnormale Artgenossen verpflanzten, ent-wickelten die Empfänger ihrerseits hohenBlutdruck – und das, obwohl Spendernie-ren an sich nicht mit dem Stressnerven-system verbunden sind.

Da verwundert es nicht, dass die staat-liche Gesundheitsbehörde FDA in denUSA das Verfahren bis auf weiteres alsexperimentell einstuft und nicht zulässt.Eine deutsche Sonderregelung dagegenerlaubt seinen routinemäßigen Einsatz inhiesigen Kliniken. Wie generell alle Me-dizinprodukte musste der Nierennerven-katheter keine Studien durch laufen, son-dern nur ein sogenanntes CE-Zeichen erlangen. Das sagt nichts über die Wirk-samkeit aus, es bescheinigt bloß die Ver-kehrsfähigkeit eines Produkts und giltauch für Lockenwickler.

Es ist dieses deutsche Laisser-faire, dasKritiker wie den Münchner JohannesMann am meisten aufregt: „Es kann dochnicht sein, dass die Krankenkassen dieMethode jetzt schon erstatten müssen –und auf diese Weise die Entwicklungskos-ten der Herstellerfirmen bezahlen.“

Felix Mahfoud dagegen findet es gut,dass die von ihm vorangebrachte Ner-venverödung in Deutschland so schnellden Weg in die Praxis gefunden hat. „Eswäre unethisch, die renale Denervationaus gesuchten Patienten vorzuenthalten“,sagt der Kardiologe. Jedoch sollte dasnoch junge Verfahren lieber nur in Zen-tren durchgeführt werden, in denen dieÄrzte systematisch erfassen, wie es denPatienten nach dem Eingriff geht – sowie in Homburg.

Allerdings dürfte sich der unkontrol-lierte Einsatz der Methode kaum mehrstoppen lassen. Die Industrie drückt denNierennervenkatheter (Stückpreis etwa4000 Euro) gerade mit Macht in denMarkt. Neben dem Branchenprimus Medtronic haben inzwischen fünf weitereFirmen Systeme zur Nierennervenver-ödung entwickelt. Das CE-Zeichen habensie schon. JÖRG BLECH

D E R S P I E G E L 2 8 / 2 0 1 3104

Karlheinz Dörrhöfer saß mit Ehe-frau und Tochter beim gemütli-chen Freitagnachmittagskaffee, als

er plötzlich laute, ungewohnte Geräuschehörte. „Erst war es ein Rauschen“, erzähltder 78-Jährige, „und dann hat es überallgerappelt und gerumst.“

Was da rappelte und rumste, konntendie Dörrhöfers schon beim Blick aus demFenster erkennen. Die Straße vor ihremHäuschen in der Innenstadt von Flörs-heim am Main war übersät von roten undblauen Brocken aus Ton. Etwa 80 massiveZiegel waren aus dem Dach ihres Hausesherausgebrochen und wie bei einemSturm in die Luft geschleudert worden.

Mindestens ein Dachziegel hatte dasVordach über der Haustür durchschlagen,die anderen knallten auf den Bürgersteig,die Fahrbahn und in den Hof des Nach-barhauses. „Kurz vorher sind da nochLeute langgelaufen, und Kinder habenauf der Straße gespielt“, sagt Dörrhöfer,„es ist ein Riesenglück, dass denen nichtspassiert ist.“

Doch solche Vorfälle häuften sich inFlörsheim: Seit im Herbst 2011 wenige Ki-lometer von der Stadt entfernt eine neueLandebahn am Frankfurter Flughafen er-öffnet wurde, sind schon 20-mal bei ruhi-ger Wetterlage Tonziegel oder Beton-Dachsteine von Flörsheimer Dächern ge-hoben worden, so die aktuelle Statistikdes Bürgermeisters Michael Antenbrink.

Die Ursache des Ziegelschlags warenoffensichtlich sogenannte Wirbelschlep-pen – Luftverwirbelungen, die von Jetsim Landeanflug ausgelöst werden undsich dann Richtung Boden senken. Dassdiese künstlichen Stürme mitunter nochMinuten nach dem Überflug Schäden anHäusern anrichten, weiß man von vielengroßen Verkehrsflughäfen in Stadtnähe,etwa London-Heathrow.

Aber ausgerechnet in Flörsheim, wodie Maschinen seit Eröffnung der neuenLandebahn bei Frankfurt oft im Minuten-takt und manchmal in nur 270 MeterHöhe über die Dächer brausen, solltendiese Schäden angeblich so gut wie aus-geschlossen sein. Das steht zumindest indem Gutachten von Ende 2006, mit demder Flughafenbetreiber Fraport die Ge-nehmigung der neuen Bahn beantragte.Allenfalls „geringe Gefährdungspotentia-le“ seien durch diese Bahn zu erwarten,versicherten die Fraport-Gutachter, „we-niger als ein Schaden durch Wirbelschlep-pen in tausend Jahren“.

Dass diese Prognose geschönt gewesensei, hätte der Genehmigungsbehörde,dem hessischen Verkehrsministerium,von Anfang an auffallen müssen, meintBürgermeister Antenbrink. Schließlichhabe die Nachbargemeinde Raunheim,die in der Einflugschneise zweier ältererLandebahnen des Flughafens liegt, mehr-fach über Gebäudeschäden durch Wirbel-schleppen geklagt – obwohl die Flug -zeuge über Raunheim mit mehr Höhen-abstand donnern als über Flörsheim.

Die Fraport-Gutachter hatten das Risi-ko von Wirbelschleppen unter anderemaufgrund des Gewichts der landendenFlugzeuge berechnet – und dabei mögli-cherweise zu niedrige Werte angesetzt.Der größte Flugzeugtyp, der auf der neuen Bahn landen darf, ist der AirbusA340-600. Im Gutachten wird für diesenTyp, eines der längsten Flugzeuge derWelt, ein „Landegewicht“ von rund 173Tonnen angenommen. Ein vergleichbaresWirbelschleppen-Gutachten für den Flug-hafen München, das 2007 vom DeutschenZentrum für Luft- und Raumfahrt erstelltworden war, rechnete für denselben Flug-zeugtyp allerdings mit 254 Tonnen – alsomit einem Drittel mehr Masse.

Fraport hält das eigene Gutachten fürkorrekt. In München sei das maximalmögliche Landegewicht angesetzt wor-den, das in der Praxis jedoch kaum vor-komme. Die Werte im Frankfurter Gut-achten seien „in der Realität üblich“.

Für den Flörsheimer Bürgermeistersteht dagegen fest, dass die Genehmigungder neuen Bahn durch falsche Prognosenerschlichen worden ist. Mit einem Eil -antrag beim Hessischen Verwaltungsge-richtshof in Kassel wollen die Flörsheimererreichen, dass die Bahn bis auf weitereszumindest für schwere Flugzeugtypenwie den A340 gesperrt wird.

Der hessische Verkehrsminister FlorianRentsch will davon nichts wissen. Die Ge-fahr durch herabstürzende Ziegelsteinewill der FDP-Mann mit technischen Maß-nahmen bekämpfen. Schon seit Mai kön-nen Eigentümer der Häuser in der Ein-flugschneise verlangen, dass ihre Dächerauf Kosten der Fraport durch spezielleZiegel-Klammern gesichert werden.

Den Flörsheimern reicht das nicht. Dielärmgeplagten Einwohner hoffen auf einenTeilsieg gegen den Betrieb der Landebahn.Sie argumentieren, dass die Verklamme-rung nicht verpflichtend sei und nicht alle Dächer gesichert würden. Außerdemkönnten die Wirbelschleppen, wie bereitsmehrfach geschehen, vom Seitenwind ummehrere hundert Meter versetzt werdenund dort die Dächer abdecken.

Im Fall der Dörrhöfers hat die Fraportden Schaden vom April zwar anstandslosreparieren lassen, sagt Karlheinz Dörr -höfer. Aber die Angst sei nicht weg: Gutzwei Monate nach dem Vorfall rappelteund rumste es wieder auf der Straße –diesmal waren die Ziegel bei einem Nach-barn heruntergeflogen, nur drei Häuservon den Dörrhöfers entfernt.

MATTHIAS BARTSCH

GUIDO SCHLÜTER

Beschädigtes Dach in Flörsheim: Wie bei einem Sturm in die Luft geschleudert

F R A N K F U R T E R F L U G H A F E N

Ton, Ziegel,Scherben

Landende Jets erzeugen Luftwirbel, die schon

mal Hausdächer abdecken. Das hessische Flörsheim

geht nun gerichtlich dagegen vor.

Wissenschaft

Quellen: WILD, DJV

Niedersachsen

Bayern

Nordrhein-Westfalen

Erlegte Fasanein tausend

Nieder-sachsen

Bayern

Nordrhein-Westfalen

gesamt

2011/122009/102007/08

193

275

205

268

444

92

192

148

60

42

57

2222übrige Länder

FasanenreviereErlegte Tiere auf 100 Hektar Jagdfläche pro Jahr Durchschnitt 2000/01 bis 2007/08

unter 1

1 bis 2,5

über 2,5 bis 5

über 5 bis 10

über 10 bis 15

über 15

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Taskforce gebildet. Die Forscher fangenJungtiere mit Fallen, um nach Krankheits-erregern zu suchen. Pathologen sezierengeschossene Tiere und entnehmen Leber,Herz und Nieren.

In einer Probe wurde bereits das Gum-boro-Virus entdeckt. Die Mikrobe traterstmals 1957 im US-Staat Delaware aufund löste ein Massensterben auf einer Geflügelfarm aus.

Petrak hält es für möglich, dass sichder verseuchte Wildvogel über Kompostansteckte: „Manche Düngemittel werdenaus Pferdemist und Hühnerkot gemixt,europaweit herumgekarrt und auf dieÄcker gestreut“, erklärt der Biologe.

Auch die zunehmende Zahl an Biogas-anlagen macht ihm Sorgen. Manche Fer-menter werden zum Teil mit Gammel -gemüse oder verdorbenem Fleisch aus Supermärkten bestückt. Petrak: „AmEnde kommen die Gärreste als Keim-schleuder auf die Felder.“

Die Idee vom Seuchenkreislauf ist al-lerdings nur ein Verdacht. Die TierärztinFriederike Gethöffer tippt auf ein „multi-faktorielles Geschehen“: „Auch Insekti-zide könnten die Ursache für das seltsameVerschwinden des Fasans sein.“

T I E R E

Kalte KükenEin mysteriöses Fasanensterbenstellt Tiermediziner vor Rätsel.

Verenden die Vögel an Keimen, dieaus Hühnerfarmen stammen?

Als der griechische Mythenheld Ja-son mit seinem Schiff, der „Argo“,Richtung Schwarzes Meer segelte,

um das berühmte Goldene Vlies und dieKönigstochter Medea zu stehlen, brachteer noch eine weitere – gefiederte – Kost-barkeit aus der Fremde mit. AntikeSchriften berichten, dass der Abenteurerim Lande Kolchis (heute: Georgien) meh-rere Fasane einfing und nach Hause mit-nahm.

Ursprünglich nur in Asien beheimatet,gedieh der bunte Hühnervogel auch inEuropa bestens. Aristoteles lobte seineReinlichkeit, weil er sich mit Sandbadengegen Läuse wehrt. Roms Oberschichtschätzte sein leckeres Fleisch.

Über die Königshöfe der Merowingergeriet der Flatterer schließlich in den Nor-den, wo man ihn in Zuchtgehegen hielt.Im 18. und 19. Jahrhundert vermehrtensich ausgewilderte Tiere sprunghaft infreier Natur.

Nun jedoch sieht es düster aus. DerFlieger aus Fernost (Gewicht: bis 1,6 Kilo-gramm), der im Frühjahr rund zehn Eierausbrütet, ist in seinen Hochburgen (sieheKarte) immer seltener anzutreffen. DerLeiter der Bonner Forschungsstelle fürJagdkunde und Wildschadenverhütung,Michael Petrak, beklagt einen „drasti-schen Rückgang“ der Bestände.

Im Tiefland, wo der Vogel lichteWälder, Auen und Felder bewohnt,sind die Zahlen erschreckend ge-schrumpft. In Niedersachsen wur-den vor fünf Jahren noch 150000Fasane erlegt. Zuletzt waren esrund 60 000. Nordrhein-West -falen meldet einen Schwund von52 Prozent.

Durch Gebell von Jagdhundenaufgescheucht, startet Phasianuscolchicus mit lautem „Gockgock“

senkrecht aus dem Busch – wasihn zur leichten Beute macht.Nun ist die Flur verarmt. „Reihen-weise“, so die Website „Jagd & Fe-der“, habe man die traditionellen Treib-hatzen „auf den prächtigen und wohl-schmeckenden Vogel“ absagen müssen.Schon im fünften Jahr in Folge hält derSinkflug an. Verendete Tiere („Fallwild“)sind im Gelände allerdings kaum zu fin-den. Was ist da los?

Um das Rätsel zu lösen, hat die Tier-ärztliche Hochschule Hannover nun eine

Die Gifte töten Käfer und Heuschre-cken. Diese tierische Nahrung aber brau-chen die Küken in ihren ersten Lebens -tagen, um zu überleben. Erst danach er-weitern sie ihren Speiseplan und fressenauch vegetarische Kost.

Oder hat der „Prädatorendruck“ zuge-nommen, wie einige Fachleute glauben?Fuchs, Habicht und Marderhund erbeu-ten gern erwachsene Fasane. Krähen ma-chen sich gierig über deren Gelege her.Um die reale Gefahrenlage zu ermitteln,werden in den Landkreisen Osnabrückund Emsland nun Nester mit Kamerasüberwacht.

Doch es gibt offenbar ein weiteres Pro-blem, das dem gefiederten Asiaten dasLeben schwermacht: der Anbau von Ener-giepflanzen. Die Äcker in Deutschlandverwandeln sich zunehmend in Mais -steppen. Oben wachsen fette Kolben, amBoden gedeiht kaum ein Kraut. In dieserunwirtlichen Stängelwelt ist bereits dieWachtel dezimiert worden. Rebhuhn undFeldlerche stehen sogar auf der Roten Liste.

Womöglich spielt die Intensivlandwirt-schaft ebenfalls dem Fasan übel mit. Feststeht: Im Jahr 2007 lief das Flächenstill -legungsprogramm der EU aus, woraufhinviele Bauern wieder ihre Brachen be-ackerten. Unmittelbar danach begann dieTragödie jenes Wildhuhns, das mit Futter-lockrufen (gaugau), Meldetönen (toketok)und Kampflauten (trrr-trrr-trrr) im Ge-büsch lärmt.

Auch für die Zukunft sieht es übel aus.Wenn es im Mai und Juni, zur Zeit derAufzucht, viel gewittert und regnet,saugt sich der Flaum der Küken mitWasser voll. Die Folge: Unterkühlung.

Dieser Frühling war feucht wie selten. Tausende Piepmätze könn-ten verendet sein.

MATTHIAS SCHULZ

D E R S P I E G E L 2 8 / 2 0 1 3 105

D E R S P I E G E L 2 8 / 2 0 1 3106

Szene

A U S S T E L L U N G E N

VerloreneTochter

Das überraschendste Exponat der Aus-stellung „A Family Portrait“ über die2011 verstorbene Sängerin Amy Wine-house ist ein schwarzer Koffer. Wine housebewahrte darin ihre Lieblingsfotos auf,einen Haufen Schnappschüsse, die sieim Lauf der Jahre zusammengesammelthatte. Der Koffer wurde ihr privatesTrost archiv, eine Schatztruhe für glück-liche Momente. Einen Teil dieser Samm-lung überließ ihre Familie nun dem Jew -ish Museum in London, das bis MitteSeptember das „Familienporträt“ derSängerin zeigt, deren jüdische VorfahrenEnde des 19. Jahrhunderts aus Weißruss-land nach England eingewandert waren.Amy verschlang als Mädchen „Snoopy“-Comics, später las sie Hunter S. Thomp-son, dessen verlorenen Romanfigurensie immer ähnlicher wurde. Mit 27 starbsie an den Folgen einer Alkoholvergif-tung, aber natürlich fehlen in der Aus-stellung die Referenzen zu all den Ab-stürzen, Besäufnissen und Schlägereien,für die sie die Paparazzi so liebten. Diebislang unveröffentlichten Bilder zeigenAmy lachend mit Freunden, posierendin ihrem Apartment, bei einer Familien-feier oder an einer Mauer lehnend, un-geschminkt. Es sind Aufnahmen aus demAlltag einer jüdischen Familie, die jetztdarum ringt, die Deutungshoheit überdas Leben ihrer verlorenen Tochter zu-rückzuerobern. Er hoffe, sagt Amys Bruder Alex, dass die Welt endlich dienormale Amy kennenlerne – jene Seitevon ihr, die sie selbst nie zeigen wollte.

F I L M

Die Geheimnis-DiebeDie Welt diskutiert den Fall EdwardSnowden, doch die Behörde im Mittel-punkt des Skandals schweigt: die Natio-nal Security Agency (NSA), jener US-Geheimdienst, der offenbar sogar diedeutsche Bundesregierung ausforscht.Umso überraschender ist die Offenheit,mit der sich jetzt der langjährige NSA-und spätere CIA-Chef Michael Haydenin einem Dokumentarfilm äußert: „Wirstehlen Geheimnisse“, sagt Hayden, 68,mittlerweile Geheimdienstpensionär,

aber man sieht ihm an, dass er nichtnur stolz ist auf diese Arbeit. Die Inter-view-Sequenzen mit Hayden, gedrehtlange vor Snowdens Enthüllungen, sindeiner der Höhepunkte der sehenswer-

ten Dokumentation „We Steal Secrets:Die WikiLeaks-Geschichte“, die dieseWoche in den deutschen Kinos startet.Im Mittelpunkt des Films stehen jedochWikiLeaks-Gründer Julian Assange so-wie der Obergefreite Bradley Manning,der rund 700000 geheime Dokumentean WikiLeaks weitergeleitet haben soll.Ironie der Geschichte: Auch RegisseurAlex Gibney kann es nicht lassen, inder Privatsphäre seiner Protagonistenherumzuschnüffeln. Ausführlich zitierter aus der privaten Chat-Korrespon-denz zwischen Manning und dem Hacker Adrian Lamo – jenem Mann,der Manning schließlich an das FBI verriet (SPIEGEL 24/2013).

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Winehouse in ihrem Haus in London 2004

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Assange-Graffito

S A C H B Ü C H E R

„Verspäteter Falter“Am 24. Juli zeigt die ARD dasDoku-Drama „George“. DerSchauspieler Götz George, 74,spielt seinen Vater HeinrichGeorge (1893 bis 1946), der einerder berühmtesten Schauspielerder Weimarer Republik und derNS-Zeit gewesen ist. Am Montagdieser Woche bringt der Langen-Müller-Verlag ein Buch über dieFamilie heraus: „Mein MannHeinrich George“ ist die Wieder-auflage eines Werks, das BertaDrews, die Ehefrau Heinrichs undGötz’ Mutter, 1959 geschriebenhat. Ergänzt wird das Buch jetztdurch ein Vorwort von Götz undein Nachwort des Bruders Jan.Hinzu kommen bisher unveröf-fentlichte Briefe, die sich BertaDrews und Heinrich George schrieben,als dieser von Juni 1945 an in sowjeti-scher Gefangenschaft war. Da in die-sem Buch ausschließlich Familienmit-glieder zu Wort kommen und ein Ge-leitwort eines Historikers fehlt, gibt eskaum kritische Worte über HeinrichGeorge. Dessen Anpassung ans NS- Regime – er spielte eine Hauptrolle imantisemitischen Propagandafilm „JudSüß“ (1940) – wird familientypisch erklärt: Er habe sich und die Seinenschützen wollen. Das Buch ist auchdas Dokument einer großen Liebe: desEhemanns zur Frau, des Vaters zu denSöhnen. Sohn Götz bekommt seinenNamen, weil er am 23. Juli geborenwurde, dem Todestag des ReichsrittersGötz von Berlichingen. Die Hauptfi-

gur eines Goethe-Dramas war eine Pa-raderolle Heinrich Georges gewesen –und die „Berliner Illustrirte“ brachte1938 dazu eine Karikatur. Währendder Haft, die er nicht überleben sollte,schrieb Heinrich George auch Gedich-te über seine Familie, die seine Ver-zweiflung und Zuneigung dokumentie-ren: „Verspäteter Falter, Freudbote desFrühlings, / was suchst Du in diesemElendsrevier? / Bringst Du einen Grußmir von der Frau / und den Söhnen? –oder willst Du mich höhnen? – / Sofliege zurück in heitere Sphären / undsage, / ich möcht’ ihre Stimmen hören /und sage, ich möchte sie wiederseh’n. /O grüße sie beide / und sage – / ich würde vor Freuden vergeh’n / und sag’auch / ich leide – ich leide!“

107

Kultur

L I T E R A T U R

Mit Dante ins InfernoSchon als Kind auf dem Spielplatzempfand Clemens Lang sich als Außen -seiter; das Gefühl, beobachtend da nebenzustehen, ist ihm eingeprägt.Lang ist Fotograf, Ende vierzig, mit einer Astrophysikerin verheiratet undin seiner Schweizer Heimat verwur-zelt; kein flotter Reporter, sondern einvon Kennern geschätzter Meister derKunst, das Unwiederbringliche einesAugenblicks im Bild zu bannen. DerRoman „Der seltsame Fremde“ vonChristian Haller, dessen Ich-ErzählerLang ist, beginnt damit, dass der Foto-graf die Einladung erhält, sein Werkauf einem Kunstwissenschaftlerkon-gress in einer asiatischen Metropole zupräsentieren. Er berichtet, wie dieseReise für ihn (mit bewusstem Bezugauf Dante) zu einem Gang ins Infernowird: einerseits dieser Kongress in kolonialistischer Kulisse mit seinemThemenspektrumvon der Erfindungder Zentralperspek-tive bis zum Reali-tätsverlust in der digitalen Fotografie,andererseits diesebrodelnde Vitalitätder Stadt rundum.Irgendwann hocktLang neben einerBettlerin auf derStraße und fühlt sich„in all dem Dreck,Lärm, Gestankglücklich“ wie niezuvor, endlich vomLeben überwältigt.Der Schweizer Schriftsteller ChristianHaller, 70, hierzulande unbegreiflichwenig beachtet (obwohl seine Romaneseit mehr als 20 Jahren in einem deut-schen Verlag erscheinen), versteht es,den Gang der Erzählung voranzutrei-ben und zugleich schwungvoll mit Ideen und Deutungen zu jonglieren.Besonderen Glanz gewinnt die Geschichte des Fotografen durch einengeisterhaften Mitreisenden, der immerwieder unvermutet auftaucht, mal alsNothelfer, mal als diabolischer Menschenmanipulator. Das Motiv (wie der Titel des Buchs) stammt ausMark Twains Roman „The Mysterious Stranger“, und Haller macht darausdie schillernde Figur eines philoso -phischen Taschenspielers und Ideen-Feuer werkers: Er mag ein Engel sein,doch einer aus Satans Sippe.

Christian Haller

Der seltsameFremde

Luchterhand Lite-raturverlag, Mün-chen; 384 Seiten;22,99 Euro.

KINO IN KÜRZE

„Ein Freitag in Barcelona“ ist ein Episodenfilm über acht Männer in der Midlife-

Crisis. Der spanische Regisseur Cesc Gay lässt seine mit ihrem Alter, den Frauen

und der Welt im Allgemeinen hadernden Helden zu einem munter-melancholischen

Großstadtreigen antreten.

Angenehm unaufgeregt, mit

sanfter Ironie und großer

Langmut beobachtet er sie bei

ihren Versuchen, sich auf ein

ihnen bislang gänzlich unbe-

kanntes Terrain zu wagen: die

Selbstreflexion. In dem unun-

terbrochenen, bisweilen et-

was ermüdenden Redeschwall

erfährt der Zuschauer

noch viel mehr, als er

jemals über Männer

wissen wollte.

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Karikatur aus der „Berliner Illustrirten“ 1938

Szene aus „Ein Freitag in Barcelona“

D E R S P I E G E L 2 8 / 2 0 1 3

CA

MIN

O F

ILM

VE

RLE

IH

Der Morgen bricht an, und der Kriegist immer noch nicht vorbei. Siehaben getanzt, bis ihr Schweiß von

den Wänden tropfte. Jetzt stehen sie aufder Straße, die Sonne geht auf über Rui-nen. Die Mauern kaputt, die Fenster ka-putt, die Straßen kaputt, das Land kaputt.

Hallo, du hässliche, tote DDR.

Ein paar Staatsbürger laufen vorbei, einpaar Plattenbauten stehen herum. Um dieEcke, in der Auguststraße, sieht es aus,als hätten die Russen gerade die Stadt ein-genommen. Wird da noch geschossen?Wird da noch getanzt? Die DDR wolltedie Altbauten verfallen lassen, um sie irgendwann abzureißen. Dann kam die

Wende, und es war die DDR, die abgeris-sen wurde. Die Altbauten blieben, leer,zerstört, von Einschusslöchern durchsiebt.

Es gibt keinen Strom, kein Wasser, kei-ne Heizung. Wer eine Wohnung sucht,tritt die Haustür ein, sucht sich die schöns-te aus, schleppt eine Matratze rein, haustdort drei Monate lang und geht danach

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M E T R O P O L E N

Sei glücklich!Ein Buch über die Kulturrevolution in Berlin nach dem Mauerfall erzählt von

Technoclubs und Untergrund-Galerien, von Hausbesetzungen und Drogennächtenund davon, wie aus einem Provinzkaff eine Weltstadt wurde. Von Georg Diez

Kultur

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Berliner Party-

szene zwischen

1990 und 2005

Es fehlt an

Geld und

an Gesetzen

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zum Amt, lässt sich einen Mietvertrag ge-ben und zahlt 100 Mark im Monat.

Das ist das Leben im rechtsfreien RaumBerlin, etwa 1991. Keine Tomaten undkeine Taxis. Es stinkt nach Kohle. Es wirddie beste Zeit ihres Lebens.

Party-Mutanten, Aliens, Kinder aus derProvinz, Kiffer aus West-Berlin, Hasar-deure, Hochstapler, Hedonisten, ein paarIdealisten, egal woher du kommst: Werjung ist und das Abenteuer sucht und denSpaß, der ist hier richtig.

Sie sind die Botschafter der neuen Zeit,und manche wissen das auch. Sie sind dieGewinner der Geschichte, und manchebenehmen sich auch so. Die meisten ah-nen nur, was sie da machen, aber so istdas immer bei Revolutionen.

Es gibt hier keine Erwartungen und kei-nen Druck. Es fehlt an Geld und an Ge-setzen. Es herrscht die radikale Abwesen-heit von fast allem, was den Westen aus-macht und damit in diesem Moment die

Welt. Es gibt nur Mangel und Möglich-keiten. Eine kollektive Glückssuche. Essind: „Die ersten Tage von Berlin“.

So heißt das Buch des Journalisten Ul-rich Gutmair, der von dieser Zeit in Berlinerzählt, von den Jahren unmittelbar nachdem Mauerfall, 1990, 1991, 1992 und spä-ter, vom „Sound der Wende“, wie dasBuch im Untertitel heißt – von Techno,der Musik, die die Nächte so lang dehnt,bis sie im Drogennebel verschwinden,und von den Clubs, die kommen und ge-hen, an versteckten oder verbotenen Or-ten, oft nur eine mickrige Anlage undeine improvisierte Bar, ein Loch in irgend-einem Hinterhof, durch das man kriechenmuss, um das zu trinken, was sie in Bra-silien wohl Caipirinha nennen*.

Alles ist neu, alle sind gleich, so scheint es, alles geschieht zum ersten

* Ulrich Gutmair: „Die ersten Tage von Berlin“. TropenVerlag, Stuttgart; 256 Seiten; 17,95 Euro.

Mal, es ist das Privileg der Jugend, daszu glauben. Sie kommen aus Kreuzbergund Esslingen, aus Dresden und Leipzig,aus New York, Madrid und Hamburg undbauen sich ihre eigene Stadt. Niemandfragt, wer sie sind. Sie existieren erst einmal für den Moment und für denRhythmus, Techno ist die Musik dazu,ein Beat ohne Narrativ, ein Klang, derRäume öffnet.

Der DJ ist ein Gott dieser Zeit, derHerrscher über Tag und Nacht – es istaber nur eine Rolle in dieser neuen Welt.Du willst Galerist sein? Dann häng Bil-der an die Wand, und schau, ob sie je-mand kauft. Du willst Künstler sein?Dann mach etwas, das du für Kunsthältst, und schau, wie die Welt daraufreagiert.

Gutmair, der seit 1989 dabei war alsjunger Student, beschreibt das Treibenjener Tage ohne übertriebene Nostalgie,ohne Veteranenpathos, aber doch mit

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dem Blick darauf, was damals möglichwar – und was verlorenging.

„Vakuum“, so nennen viele von denen,die dabei gewesen sind, den Zustand jenerJahre: Der Fotograf Christian Brox war damals dabei, seine Bilder illustrieren die-sen Artikel, es sind Aufnahmen zwischenRausch und Kater, zwischen Nacht undMorgen, sie erinnern an den frühen Wolf-gang Tillmans, weil die Euphorie noch echtist und die Enttäuschung nur eine Ahnung.

„Im Interregnum zwischen den Syste-men hat sich ein Zustand etabliert, derdem nahekommt, was Utopisten im 19. Jahrhundert als Anarchie bezeichnethaben, eine Ordnung, die fast ohne Herr-schaft zu funktionieren scheint“, so be-schreibt es Gutmair.

Er erzählt von der Hausbesetzer-Szene,die es schon zu DDR-Zeiten gibt, die sichaber nach dem Fall der Mauer verändert,weil sie eben nicht mehr die Nische desProtests ist, sondern der Kern für etwasNeues – so sehen es damals viele Haus-besetzer, die versuchen, in dieser Situa -tion der Anarchie zu definieren, was Ei-gentum, Alltag, Gemeinschaft für sie be-deuten: „Die Frage war“, sagt Gutmair,„wie sich Soziales herstellen lässt außer-halb eines Markts und mitten im Herzender großen kapitalistischen Siegesfeier,die die Wiedervereinigung war.“

Was in den frühen neunziger Jahrenauf ein paar Quadratkilometern in Berlin-Mitte geschieht, ist mehr als ein Lebens-gefühl, das sich schließlich in ein Labelverwandelt.

Es ist ein Experimentierfeld für die Zu-kunft, politisch, sozial, künstlerisch, unddie Gewinner der Geschichte, die in Gut-mairs Buch genauso vorkommen wie dieVerlierer, die Verschwundenen, die Ver-storbenen – die Gewinner prägen heute

noch das Bild von Berlin, an dem sichvor allem die freuen, die nichts dafür ge-tan haben, Berlins mittelmäßige Politiker.

Wenn man zum Beispiel in GutmairsBuch liest, wie im Nachwende-Chaos eineeinzige Frau, Jutta Weitz, zur Schlüssel-figur dieses triumphalen kulturellen Auf-bruchs wird, weil sie als Angestellte derstädtischen Wohnungsverwaltung dieRäume für Clubs, Galerien, Off-Theaterlieber an Typen mit langen Haaren undeinem sympathischen Lächeln gab als anden nächsten Videothekenbesitzer mit ei-nem Businessplan – dann versteht man,was städtische Politik leisten kann undwie städtische Politik heute oft versagt.

Es ist viel Vertrauen im Spiel und vielZufall, nach und nach werden die Men-schen und Orte deutlich, die das Bild deshedonistischen, diskursiven, kreativenBerlin bis heute prägen.

Die frühen Clubs, der Eimer, das Elek-tro oder der Friseur etwa, sind klein, eng,klandestin. Man trifft sich montags in derMontagsbar, dienstags in der Dienstags-bar, und die wenigsten, die in dieser Zeitin Mitte leben, müssen wirklich arbeiten,weil das Geld, das sie an einem Wochen-ende als Barkeeper verdienen, ausreichtfür Miete und Essen – zu versteuern gibtes nichts, weil sich eine Art Parallelwirt-schaft entwickelt hat, Geld auf die Hand,ein bisschen Schwarzmarkt, ein bisschenwie nach einem Krieg.

Es gibt kaum Telefone, es gibt nochlange kein Internet, also verabredet mansich morgens um halb drei im WMF, einem der wichtigen Clubs dieser Zeit,der immer wieder umzieht, es folgt derTross, der größer wird, immer noch sehrdeutsch, das alles, immer noch gibt eshier und da Neonazis, die sich in der Eck-kneipe „Zum Afrikaner“ treffen.

Im Tresor wird in dieser Zeit Technozur größten mitteleuropäischen Musik -erfindung seit der Zwölfton-Revolutionund die Love Parade zur politischen De-monstration: Jemand wie der Tresor-ChefDimitri Hegemann versucht bis heute,diesen hedonistischen Idealismus in ge-sellschaftliche Realität umzuwandeln.

Er war einer von denen, die, gleichnachdem die Mauer geöffnet worden war,aus dem Westen Berlins in die neuen Gebiete vordrangen – es herrschte eineMischung aus Langeweile und Überdruckim alten Westen, eine Stimmung, die imOsten der Stadt regelrecht explodierte.„Gebt den Kids Raum, und let it be“, sagtHegemann, so schafft man Kreativität.

Es war eine Schwellenzeit, ein kultu-reller Umbruch, der nicht als solcherwahrgenommen wurde, weil er vom poli -tischen Umbruch überdeckt wurde – aberdie Ästhetik unserer Zeit, das Denkenunserer Zeit, das Bewusstsein unsererZeit ist in Teilen bis heute von dem ge-prägt, was damals entstand.

1990, 1991, 1992 wurden in Berlin dieRegeln neu definiert. Wem gehört was,wer braucht was, warum nimmt sichnicht einfach jeder das, was er braucht?Das Schild zum Beispiel an der StändigenVertretung der Bundesrepublik Deutsch-land in Ost-Berlin? Einfach abschrauben,so der Mythos, und im Tacheles auf -hängen.

Etwas von diesem Geist ist auch nochin Dimitri Hegemann. „Ich hab da so eingroßes Eisentor gesehen, auf einem Ge-lände, wo ein Haus abgerissen wird“, sagter zu einem Handwerker, der sich um sei-nen neuen Club kümmert, der immernoch Tresor heißt und jetzt in einem ehe-maligen Heizkraftwerk untergebracht ist.„Das sollten wir uns holen.“

Berliner Szene in den neunziger Jahren: „Im Interregnum zwischen den Systemen hat sich ein Zustand etabliert, der dem nahekommt, was

einen Widerhall: Sei es die Frage danach,wie gemeinschaftliches Bauen, Wirtschaf-ten, Leben gehen könnte, sei es in der Fra-ge, wie es eigentlich kommen konnte, dassso viele der politischen Praktiken und In-novationen der Wendezeit verschüttgegan-gen sind, die Runden Tische etwa – es istein utopisches Strahlen, das aus den neun-ziger Jahren zu uns her überdringt.

Und das auch Gerd Harry Lybke leuch-ten lässt. Er ist einer der Gewinner dieserZeit, in der die Kunst die Deutungsmachtund auch die Finanzkraft bekam, die sieheute noch hat – eine Sexiness, die ent-stand, als sich Nachtleben, Elektromusikund zeitgenössische Kunst vermischten,in den Kellern der Auguststraße etwa, woLybke bis heute seine Galerie Eigen+Arthat, war der Club Cookies.

„Geld spielte keine Rolle damals“, sagtLybke mit der Sicherheit von jemandem,der heute genug davon hat, „für Geld be-kam man nichts.“

Heute sagt er: „Ich bin froh, dass derKapitalismus gesiegt hat.“ Er ist schnellund lustig und trocken, ganz anders, aberauch wieder ganz ähnlich wie ThiloWermke von der Galerie Neu, einer an-deren der heute tonangebenden Galerien,die damals in Mitte entstanden: „Irgend-wann“, so erzählt es Wermke, „kam je-mand und sagte, das will ich kaufen.“

Es dauerte bis 1998, erst da wurde all-mählich klar, welche Dominanz die Kunstund die Kultur in Berlin entwickeln wür-den. Damals fand die erste Berlin Bien-nale statt, in den Kunst-Werken in der Au-guststraße, einer alten Margarinefabrik,einer jener Institutionen, die aus demNichts gegründet wurden – Initiator warKlaus Biesenbach, eine jener Figuren, dieaus dem Nichts ihren Ruhm begründeten:Heute ist er am MoMA in New York.

Irgendetwas gab es damals immer zu„holen“: zwei sowjetische Kampfflug -zeuge, Tausende Neonröhren, HunderteHüte aus dem Fundus eines Kinderzirkusoder einen Container voller Felle von ei-nem Kürschner, der seinen Laden aufgibt.Mit diesen Fellen dekoriert man danneine Wohnung oder wickelt sie einfachum die Laterne auf der Straße – es war„der totale Surrealismus“, so nennt dasBen de Biel, für den die Jahre nach derWende so etwas wie eine „Waschmaschi-ne im Schleudergang“ waren.

Wie Hegemann hat er etwas Entspann-tes und gleichzeitig Waches, er sprichtohne große Sentimentalität über dieseZeit, er beschreibt, wie die DDR vor ihmauf dem Seziertisch lag, und die Gedärmeeiner Gesellschaft hingen da heraus. Erkam aus Hamburg und nennt das, wasnach 1989 im Berliner Nachtleben passier-te, eine „feindliche Übernahme, aber mitunseren Mitteln“.

Er arbeitet in der „Ständigen Vertre-tung“, so hieß der Club im Kunsthaus Ta-cheles, „das war orgiastisch“, sagt er, „dashabe ich verstanden“.

Er wehrt sich gegen die Räumung be-setzter Häuser, er verschenkt Rollen gol-dener Tapete, die er irgendwo gefundenhat, an andere Hausbesetzer und bekommtsie wieder zurück, weil sie zu golden sindfür den Hausbesetzergeschmack. „Geradedie linke Szene war sehr dogmatisch“, sagter, und das klingt schlecht, wie er das sagt,Dogma. Heute ist Ben de Biel Pressespre-cher der Berliner Piratenpartei, „die sindeher weniger dogmatisch“, sagt er, sie sindso pragmatisch und libertär, wie er es inden frühen neunziger Jahren gelernt hat.

Diese Verbindungen zur Gegenwart ma-chen die heutige Relevanz von GutmairsBuch aus. Das Denken von damals hat

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Jemand wie Biesenbach, der Vermark-ter, Kommunikator, Selfmade-Kurator, istein Symbol für jene Zeit und jenen Stilund Drive, die manche der Protagonistenvon damals bis heute antreiben: JochenSandig etwa, der das Kunsthaus Tachelesmitgründete, eine Riesenruine, die 1990gesprengt werden sollte und daraufhinbesetzt wurde, die erst ein Zeichen fürden künstlerischen Aufbruch war unddann ein Zeichen für die künstlerischeVerkitschung – aber Sandig war da schonweitergezogen auf der Suche nach Ortenwie den Sophiensälen oder dem Radial-system V, Institutionen, die er gegründetund geprägt hat mit dem Geist des kultu-rellen Just-do-it der neunziger Jahre.

Die Polizisten, erzählt Sandig, die da-mals kamen, um sie aus dem Tacheles zuwerfen, waren ratlos, weil sie nicht wuss-ten, was sie tun durften und was nicht, siewaren ja nun nicht mehr in der DDR undfuhren die demütigenden Plastik autos die-ses verschwundenen Staates – also ließensie die Besetzer in Ruhe gewähren undbrachten ihnen sogar Kuchen vorbei.

Aber irgendwann ist der Karneval vor-bei. „Nachts herrscht in Mitte die Utopieeiner klassenlosen Gesellschaft“, schreibtGutmair. „Morgens sieht es anders aus.Dann nehmen die einen den Scheck derEltern in Empfang oder gehen zur Arbeitin Ämtern und Agenturen, während dieanderen Essen im Supermarkt klauenoder auf der Straße Möbel sammeln, umsich die Wohnung einzurichten.“

Wie es alles mal enden würde, wusste jadie Künstlerin Natascha Sadr Haghighian:„Während die einen bis zur nächsten Partyweiterschliefen, waren andere, mit denenman nachts noch getanzt hatte, womöglichschon dabei, das Gebäude zu kaufen, indem die Party stattgefunden hatte.“

Utopisten im 19. Jahrhundert als Anarchie bezeichnet haben“

Es war kein anderer als der amerikanische Präsident, deruns in Schrecken versetzt hat. In seiner Berliner Redevor dem Brandenburger Tor hat man immer auf den

einen Satz gewartet, der daraus ein schönes Ereignis gemachthätte, und dabei vor lauter Jubelbereitschaft überhört, was eruns über Deutschland mitgeteilt hat.

Nummer eins sind für ihn natürlich die USA, die Nummerzwei ist erwartungsgemäß China. Aber das dritteinflussreichste,drittwichtigste und drittmächtigste Land der Welt ist im Augen -blick offenbar Deutschland. 80 Millionen in der Mitte Europasunter 7 Milliarden auf der ganzen Welt.

Das wollen wir deshalb nicht hören, weil uns bei diesem Gedanken einigermaßen schlecht wird. Denn darin steckt dieAufforderung zum Bruch mit einem uns liebgewonnenen Selbstverständnis als Land in der Deckung. Über eine langeNachkriegszeit ging die Arbeitsteilung in Europa so, dassDeutschland für die Wirtschaft und Frankreich für die Politikzuständig war.

Dabei haben wir so langsam erst verstanden, dass Deutsch-land heute als der große Gewinner der Krise von 2008 dasteht.Wir haben nicht wie die Briten daran geglaubt, dass die Öko-

nomie der Zukunft eine Dienstleistungsökonomie mit einemfetten finanzindustriellen Komplex ist. Wir haben nicht wiedie Amerikaner darauf gesetzt, dass man durch eine enormeSteigerung privater Verschuldung auf Dauer Wohlstand füralle schaffen kann. Wir sind nicht wie die Franzosen davonausgegangen, dass durch die staatliche Regulierung des priva-ten Lebens eine sozial befriedete und wirtschaftlich leistungs-starke Gesellschaft entstehen kann. Und wir haben schließlichauch nicht wie die Skandinavier daran geglaubt, dass mandurch die steuerbasierte Ausweitung des öffentlichen Sektorsdie private Initiative und die persönliche Verantwortung för-dern kann.

Deutschland ist jetzt deshalb so stark, weil es in den vergan-genen 20 Jahren eine Kompetenzrevolution in der industriellenFacharbeit auf den Weg gebracht hat, weil der Familienkapita-lismus des deutschen Mittelstandes sich trotz einiger gierigerSpielereien mit Schweizer Konten nicht hat beirren lassen,Rücklagen zu bilden und intelligent zu investieren. Und vorallem, weil die Politik die Gemeinsamkeit mit den wichtigenKräften der Gesellschaft auf der Kommandobrücke gesuchthat. In welchem anderen Land der Welt kann sich eine Kanz-

Kultur

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E S S A Y

Entdeckung der GroßzügigkeitWarum dieses Land endlich seine Rolle als eine der mächtigsten Nationen der Welt

annehmen muss – und wie das aussehen könnte / Von Heinz Bude

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„Economist“-Report über Deutschland, Staatschefs Obama, Xi Jinping: Die Nummer drei – das wollen wir nicht hören

lerin aus dem konservativen Lager mit dem Gewerkschaftschefaus der Metallbranche und einem Banker mit schweizerischemMigrationshintergrund auf eine Linie der Krisenbewältigungeinigen, die von allen Beteiligten Opfer fordert?

Deutschland hat weder durch neoliberale Entfesselung nochdurch neoklassische Austerität aus der schärfsten und tiefstenKrise der Nachkriegszeit herausgefunden, sondern durch einein langer Dauer eingeübte und unaufhörlich verwandelte Praxisder gesellschaftlichen Kooperation.

Französische Gewerkschafter mit antikapitalistischem Geiststehen fassungslos vor dem Institut tarifvertraglich verein-barter Fortbildungen, die von den Unternehmen angeboten

und von den Kollegen tatsächlich wahrgenommen werden. DerPatron dort steht prinzipiell auf der anderen Seite, mit demkann man sich auf Strategien zur Steigerung des Unternehmens-erfolgs nicht einigen. Bürger aus Mailand wie aus Palermo wür-den gern einem Staat vertrauen, der alles daransetzt, dass dieoffensichtliche Uneinheitlichkeit der Lebensverhältnisse nichtin ein Regime von Bürgern erster und zweiter Klasse ausartet.

Im Vergleich mit anderen Ländern Europas ist in Deutschlandalles so gut und so schön, dass man es kaum glauben kann.Vielleicht haben wir einfach Glück gehabt mit unserer Strategieder Lohnstückkosten-Reduktion durch kon-tinuierlichen Reallohnabbau, die uns heuteerhebliche Wettbewerbsvorteile zu Lastenunserer Partner beschert. Vielleicht lügen wiruns über die gesellschaftlichen Kosten derBevorzugung von Prosperitätsregionen wieIngolstadt, Passau oder Regensburg nur indie Tasche, weil wir von den Verhältnissenin Cuxhaven, Parchim oder Hamm nichtswissen wollen. Und ist durch die Hartz-IV-Reformen nicht ein neues „Dienstleistungs-proletariat“ mit prekären Jobs in den Berei-chen von Sicherheit, Sauberkeit und Serviceentstanden?

In dieser Unsicherheit über uns selbst und unseren unglaub-lichen Erfolg ruft Barack Obama Deutschland in die Verant-wortung. Das Schicksal des Kontinents wird in Deutschlandausgemacht und entschieden.

Die erste Reaktion darauf hierzulande ist Flucht. Die ent-sprechenden Argumente lauten: Die Einführung des Euro wareine dumme Idee, weil die Einheitswährung über die gravie-renden nationalen Produktivitätsdifferenzen hinweggeht unddadurch einen ungeheuren sozialen Sprengstoff in Europaschafft. Ein anderes Argument heißt, dass den Leuten Europasowieso nichts bedeutet. Ein gewisser, auch nicht gerade hoherAnteil der jungen Intelligenz nimmt zwar das Erasmus- Programm wahr, aber eine besondere Identifikation mit Europaist deswegen nicht feststellbar. Schließlich wird argumentiert,dass Deutschland Europa gar nicht mehr so nötig hat, weil wirimmer mehr in die Schwellenländer exportieren. DeutschlandsZukunft wird als Ausrüster der Weltwirtschaft gesehen undnicht vornehmlich als Exporteur für Europa.

Deshalb verteidigt man die deutschen Stärken und machtdie anderen dafür verantwortlich, dass Europa mit Hilfe derEuropäischen Zentralbank so viel Geld für die Stabilisierungbankrotter Volkswirtschaften aufwenden muss und gerade die starken Partner in den Strudel zum Abgrund treibt. DieVorstellung dabei ist wohl, dass es Deutschland ohne Europabesser gehen würde und es befreiter in der Welt aufspielenkönnte.

Aber das ist falsch. Deutschland braucht Europa, um dasLand zu sein, das Obama als so stark und so mächtig anspricht.Denn wenn es uns auf dem eigenen Kontinent nicht gelingt,die Dinge wieder ins Lot zu bringen und nach vorn zu ent -wickeln, wird uns im Rest der Welt niemand abnehmen, dasswir ein Akteur von Relevanz sind. Als Erstes werden das die

Finanzmärkte zum Ausdruck bringen. In dem Moment, in demDeutschland allein den Euro verlässt, werden die Zinsen fürdie notwendigen Kredite unserer Staatsschulden in die Höheschnellen. Das Rückzahlungsversprechen, dem die Anleger ausChina, den USA, aus Brasilien oder aus Indien vertrauen, istan seine zentrale Rolle in und für Europa gebunden.

Die britische Wochenzeitschrift „The Economist“ titelte vorwenigen Wochen über die Deutschen: „The reluctant hege-mon“. Der widerstrebende Hegemon. Es ist der Augenblickgekommen, an dem die anderen hören wollen, wie man sichvon hier aus die Zukunft Europas denkt.

Sich selbst zum Maßstab für die anderen zu erheben reichtdafür nicht. Denn das läuft auf eine unausgesprochene Zu-sammenbruchstheorie für Europa hinaus. Es kann gar nichtsein, dass Italien einen mit Deutschland vergleichbaren Steuerstaat aufbaut. Es ist überhaupt nicht zu erwarten, dassFrankreich, das über ein so gutes demografisches Polster verfügt, sein Sozialversicherungssystem nach Maßgabe desdeutschen umbaut. Und es ist völlig ausgeschlossen, dass in Griechenland die Branche der Medizintechnik oder des Auto-mobilbaus gedeiht.

Die Botschaft aus Deutschland für Europa heißt Kooperation.Wer sein Land entwickeln, die Talente seiner Leute fördern

und die Vorzüge seiner Lebensweise pflegenwill, braucht einen Geist der Kooperation,der sich nicht schon von vornherein auf einPrimat festlegt: weder der Ökonomie nochder Politik und schon gar nicht der Kultur.Die Deutschen behaupten mit der ganzenMacht ihres Erfolges, dass es einen Begriffverallgemeinerbaren Interesses gibt, der die gesellschaftliche Zusammenarbeit anleitenkann. Nichts ist dringender und nichts isthoffnungsvoller als der Blick auf Problemeund Phänomene, die alle angehen.

Es gehört freilich zu den Gesetzen derGastfreundschaft in Europa, dass man groß-

zügig zueinander ist. Differenz wird nur dann zu einer Quellevon Reichtum, wenn nicht nur das Interesse und die Nütz -lichkeit, sondern auch die Freigebigkeit und der Respekt regieren. Deutschland wird seine Großzügigkeit für Europaentdecken müssen. Nur dann kann ein Bündnis zustande kommen, das belastbar ist, weil man sich gegenseitig die Wahr-heit zumuten kann. Sonst bleibt erzwungener Friede, wasfreie Übereinkunft sein könnte. Europa ist dann ein Ver -sprechen nicht nur aus der Vergangenheit, sondern für die Zukunft. Auf dieses großzügige Versprechen aus Deutschland,so darf man den amerikanischen Präsidenten verstehen, wartetdie Welt.

Darauf wartet auch in Deutschland eine ganze Generationjunger Leute, die ohne Sorgen aufgewachsen sind, abertrotzdem mit sich selbst hadern. Es ist die Generation

der Millennials, der bescheinigt wird, dass sie genau das macht,was man von ihr verlangt. Aber eben auch nicht mehr. Hinterdieser freundlichen Zurückhaltung stecken der Wunsch unddas Bedürfnis nach ein bisschen Vision. Wer in Deutschlanddie Kräfte für die Zukunft mobilisieren will, muss deutlich machen, dass er an die Zukunft glaubt.Flucht ins Überleben oder vollendete Resignation kann nicht das letzte Wortsein. Für die heute 25- bis 35-Jährigen istEuropa ohne jedes Versprechen. Die Ent-deckung der Großzügigkeit wäre das Zei-chen für eine kommende Zeit.

Bude, 59, ist Soziologe, lehrt an der

Universität Kassel und arbeitet am

Hamburger Institut für Sozialforschung.

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Im Vergleich mit anderen Ländern

Europas ist inDeutschland alles so

gut und so schön, dass man es kaum

glauben kann.

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An der Hand ihrer Mutter stolpertMaisie durch das Gerichtsgebäu-de. Sie müsse dem Richter erzäh-

len, dass ihr Vater sie angeschrien undherumgestoßen habe, schärft ihr die Mutter ein. „Ach, hat er das?“, erwidertMaisie und blickt nach oben, hoch zu dermajestätischen Kuppel, die sich über ihrwölbt. Mitten im Scheidungskrieg hatMaisie nur Augen für die Schönheit.

Die sechsjährige Maisie (Onata Aprile)ist die Hauptfigur in Scott McGehees undDavid Siegels Film „Das Glück der gro-ßen Dinge“ (Originaltitel: „What MaisieKnew“). Sie ist die Tochter der amerika-nischen Rocksängerin Susanna (JulianneMoore) und des britischen KunsthändlersBeale (Steve Coogan), die in New Yorkleben und am Ende ihrer Ehe stehen.

Der Film beschreibt eine Odyssee. Mai-sie weiß nie, wo sie in der nächsten Nachtschlafen wird: bei ihrem Vater, bei ihrerMutter oder bei dem KindermädchenMargo (Joanna Vanderham), das zuerstdie Geliebte des Vaters und dann seineneue Frau wird. Möglicherweise landet

Maisie aber auch bei dem Barkeeper Lin-coln (Alexander Skarsgård), den die Mut-ter geheiratet hat.

Man könnte das als Geschichte überzerrüttete Familienverhältnisse, fehlendeNestwärme und ein schwer traumatisier-tes Kind erzählen. Doch die RegisseureScott McGehee und David Siegel habendaraus einen Film gemacht, in dem dieHeldin die Herausforderungen der Er-wachsenenwelt bestehen muss wie eingroßes Abenteuer.

Immer wieder öffnen sich in „DasGlück der großen Dinge“ Wohnungs-oder Autotüren, Schiebe- oder Drehtüren.Der Zuschauer wird zurückversetzt in einAlter, in dem sich für ein Kind ständigneue, aufregende Räume auftun. DerFilm zeigt, wie hart die Wirklichkeit fürMaisie ist, und feiert zugleich ein Lebenvoller Möglichkeiten.

Doch die vielen Türen reichen nichtaus, um Maisie vor den Problemen derErwachsenen abzuschirmen. Vor denSchreiereien findet sie nirgendwo Schutz.Als sie in einer fremden Wohnung über-nachtet, dringen durchs offene Fensterdie Worte eines Paares, das sich weit ent-fernt streitet, an ihr Ohr. Obwohl derZank kaum zu hören ist, reißt er Maisieaus dem Schlaf.

McGehee und Siegel lassen den Zu-schauer die Welt durch die Augen ihrerHeldin erleben. Eine Bar sieht anders aus,wenn man gerade über den Tresen schau-en kann und die Menschen durch dieCocktailgläser betrachtet, die einem di-rekt vor der Nase stehen. Maisies Blickist oft verstellt und wird gerade deshalbmehr und mehr geschärft.

Der Film nutzt diesen Blick, um sichdie Erwachsenen genau anzusehen, in all

ihrer Egozentrik und Hilflosigkeit.Susanna und Beale sind keine bö-sen Eltern. Sie sind nur so sehr mitsich selbst beschäftigt, dass ihnenMaisie immer fremd bleiben wird.Das Kind ist für sie eine Idee, diesie einfach nicht verwirklichenkönnen, und daran leiden sie.

Wenn Beale seiner Tochter er-klärt, dass er nach England zurück-kehren und sie dorthin mitneh-men will, dass sie aber ihre Mutterfür lange Zeit nicht sehen wird,betrachtet ihn Maisie fast aus-druckslos. Ihr Gesicht wird zumSpiegel, der Beales Rücksichts -losigkeit auf ihn selbst zurückwirft.Diese Momente, in denen die Er-wachsenen in den Augen einesKindes erkennen, was sie tun, ge-hören zu den stärksten des Films.

„Das Glück der großen Dinge“beruht auf dem Roman „Maisie“,den Henry James 1897 veröffent-lichte. Der aus New York stam-mende Romancier erschloss derLiteratur damals ein neues Thema:

das Sorgerecht mit seinen kompliziertenKonsequenzen. Staunend, etwas ratlos,aber mit größtmöglicher analytischer Präzision beschreibt er, was erst viele Jahre später Patchwork-Familie genanntwird.

Mit der Neugier eines Pioniers machtsich Henry James daran, die Gedanken-welt eines Mädchens zu erforschen, dasin einen Scheidungskrieg gerät und sichdagegen wehrt, von einem der Partnerals Waffe gegen den anderen eingesetztzu werden. „Maisies Unschuld“, schreibtJames an einer Stelle, „ist mit Wissen gesättigt.“

Die sehr langen und verschachteltenSätze, mit denen James beschreibt, wasin Maisies Kopf vorgeht, standen denFilme machern nicht zur Verfügung. Dafürfanden sie in Onata Aprile eine Haupt-darstellerin, die eine außerordentlicheemotionale Intelligenz ausstrahlt. Siespielt Maisie als ein Mädchen, das zwaroft nicht so genau weiß, was die Erwach-senen gerade umtreibt, aber immer eineAhnung davon hat.

Es wäre für McGehee und Siegel leichtgewesen, Aprile ständig so ins Bild zu set-zen, dass sie süß und niedlich wirkt unddem Zuschauer zu Herzen geht. Aberweil die beiden davon erzählen wollen,was es bedeutet, Kinder zu instrumenta-lisieren, tun sie dies gerade nicht. Sieüberlassen ihrem kleinen Star einfach dasFeld. Und Aprile nimmt es spielend ein,mit berückender Unbeschwertheit.

LARS-OLAV BEIER

K I N O

Cocktail für ein KindDer Film „Das Glück

der großen Dinge“ beschreibt eine Scheidung als

Abenteuer – aus der Sicht eines kleinen Mädchens.

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Darsteller Moore, Aprile: Ein Leben voller Möglichkeiten

Rubrik: Ausschnitte aus

„Das Glück der großen Dinge“

spiegel.de/app282013kino oder in der App DER SPIEGEL

Auf dem Foto ist Joseph Beuys einnoch jungenhafter Mann und trägtdie Uniform eines Unteroffiziers.

Mit einem fast stolzen Lächeln im Gesichtsteht er am Rand einer Gruppe von Sol-daten. Unter ihnen befindet sich der PilotHans Laurinck.

Bald nach dieser Aufnahme wird Lau-rinck tot sein. Ein bisher unveröffentlich-ter Brief von Beuys aus Kriegszeiten gibtnun darüber Auskunft, wie er starb. DasDokument ist im Besitz der Familie Lau-rinck, ebenso wie Fotos, Flugbuch undweitere Kriegskorrespondenz.

Der 16. März 1944 ist der Tag, an demLaurinck und sein Begleiter, der Bordfun-ker und -schütze Beuys, laut Flugbuchzweimal in ihrer Ju 87, einem Stuka(Sturzkampfflugzeug), zu Feindflügenaufbrechen. Laurinck und Beuys sindjung, beide erst 22 Jahre alt. Ihre Jugendist ihnen bewusst, das wird in Beuys’Brief deutlich. Die Jugend ist das Beson-dere, die Gefahr das Alltägliche.

Sie starten morgens um 7.15 Uhr, lan-den um 8.35 Uhr, heben um 11.05 Uhr er-neut ab. Dieser zweite Flug endet um

11.45 Uhr mit dem Absturz. Beuys über-lebt, Laurinck nicht. Beuys wurde in denJahrzehnten danach zu einem der be-kanntesten Künstler der Nachkriegszeit.Dass er damals auf der Krim dem Todentkam, schien der Ausgangspunkt fürall das zu sein, was er später schuf. Eswar die Geburtsstunde eines großenKünstlers, er selbst machte sie dazu.

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Flug in die Ewigkeit Ein bisher unbekannter Brief von Joseph Beuys aus

dem Jahr 1944 schildert seinen Absturz mit einem Stuka. Das Ereignis gilt als eine Gründungsepisode der Nachkriegs -

moderne – nun bleibt von der Heldengeschichte wenig übrig.

Unteroffizier Beuys (r.), Stuka-Pilot

Beuys-Brief aus dem Jahr 1944: Die Jugend war das Besondere, die Gefahr das Alltägliche

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Der Künstler Joseph Beuys gilt als mo-ralische Instanz. Seine Erlebnisse scheinenihn, den ehemaligen Soldaten, zu einemKämpfer gegen den Krieg gemacht zu ha-ben. Denn viele seiner Werke sehen auswie Relikte eines Krieges, wie Sinnbildereines Traumas. Mit ihnen wurde er einweltweit beachteter Künstler, ein mehr-facher Teilnehmer der Documenta. Zu-gleich war er eine prominente Figur derFriedensbewegung, einer der ersten Grü-nen, ein Querdenker, der ein neues Gesell -schafts- und Wirtschaftssystem forderte.Was für ein System das sein sollte, ver-stand wohl niemand genau. Aber sicher-lich wollte er – so unterstellte man – einbesseres. Er war schließlich Joseph Beuys.

Den Kern dieses Künstlermythos bildetder Absturz im März 1944. Beuys hat dasEreignis später mehrfach geschildert, esimmer wieder neu erfunden. So erzählteer von seiner Rettung durch Tataren,durch Schamanen, die ihn mit Fetten ein-gerieben, ihn in einem Zelt aus Filz ge-pflegt, ihn sogar in Filz eingehüllt hatten.

Er erweckte den Eindruck, selbst Stu-ka-Pilot gewesen zu sein. Und er behaup-tete, die Maschine sei vor dem Absturz„von einem russischen Geschütz getrof-fen“ worden. Für die Kunsthistoriker wur-de das Kriegsereignis auf der Krim – odergenauer: Beuys’ spätere Version davon –zur Gründungsepisode einer neuenAvantgarde. Jahre nach seinem Tod 1986kam heraus, dass vieles an den Berichtenvon Beuys nicht stimmte, nicht stimmenkonnte. An der Wahrhaftigkeit von Beuyszweifelte trotzdem niemand.

Und nun der handschriftlich verfassteBrief, der vom Unteroffizier Joseph Beuysunterzeichnet und am 3. August 1944 vonder Deutschen Reichspost abgestempeltwurde. Er wirkt erst einmal harmlos. Einjunger Soldat richtet sich mit einem

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Laurinck (3. v. l.) 1944: Ein auf den Krieg zugeschnittenes Leben

durchaus üblichen Kondolenzbrief an dieFamilie des toten Kameraden, formuliertihn in typischer Landser-Rhetorik.

Dennoch enthält das Schreiben vielmehr, in Hinblick auf die spätere Meta-morphose des Ereignisses sogar Sensatio-nelles. Denn es war dem Verfasser schondamals, 1944, durchaus wichtig, nebendem toten Helden Laurinck (der postumsofort mit dem Eisernen Kreuz 2. Klasse

ausgezeichnet wurde) nicht wie ein Anti-held zu wirken. Beuys wollte womöglich,dass sein Überleben auch von der Familiedes Verstorbenen als wundersame Fü-gung und nicht als Ungerechtigkeit ver-standen wurde. Und so hat er wohl schonin diesem frühen Dokument einiges ab-geschwächt, anderes dramatisiert.

Die Beileidsbriefe der Vorgesetztenund der Kameraden hatten den Sinn, zu

beschwichtigen. Von einer Trostfunktionsolcher Korrespondenzen spricht der Militärhistoriker Sönke Neitzel. DieseBriefe waren auch immer ein Mittel derPropaganda, weil sie das Bild vom tapfe-ren, pflichtbewussten und beliebten Sol-daten malten.

Um die reine, oft allzu grausame Wahr-heit, um die genauen Umstände durftees nach damaliger Logik nicht gehen. Alldie Hinterbliebenen, die Familien der to-ten Soldaten, hätten sonst den Krieg inFrage gestellt.

Beuys nahm diese Regeln ernst. Fastlesen sich seine Zeilen, als wäre er ge-mahnt worden, einen Brief aufzusetzen,aber dann wurden es gleich neun Seiten.Seine Worte richtete er an die Muttervon Hans Laurinck, und er erwähnt, siehabe ihn um Auskunft gebeten. Ein ers-ter Brief von ihm sei offenbar nicht an-gekommen.

Schnell betont Beuys, er sei mit Lau-rinck befreundet gewesen. „Wir wareneine Besatzung durch persönl. Freund-schaft enger aneinander geschweisst, als es oft üblich ist.“ Er nennt Hans Lau-rinck mehrmals bei dessen SpitznamenHanne.

Beuys entwirft pathetische, nebulöseBilder, er verzerrt den Krieg, macht ihnharmloser. Kein Wort davon, dass ihreMission in dem Stuka denen da unten aufdem Boden den Tod bringen sollte. DieGefahr für ihn selbst wird positiv gedeu-tet: „Weil wir ja dauernd den Tod um unshaben, den wir zwar in jugendl. Kraft im-mer besiegen zu können glauben, so ha-ben wir keine Geheimnisse voreinanderu. verheimlichen auch unser Innerstes un-sern anderen, würdigen Kameraden inkeinster Weise.“

Ein eingespieltes Team waren er undLaurinck nicht. Im Flugzeug saßen sie nur

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Beuys-Brief von 1944: Selbst das Beileid hatte eine Propagandafunktion

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Künstler Beuys 1983: Angepasster, kleiner, als er sich selbst sehen wollte

an zwei Tagen zusammen, am 25. Januar1944 und eben am 16. März. Man sei,schrieb Beuys, aufgebrochen in der Staf-fel, doch wegen eines Schneesturms umgekehrt. Er und Laurinck hätten dielangsamste Maschine der Staffel gehabt,„die ‚Anton‘“. Man habe den Anschlussverloren. Und dann die Szene des Ab-sturzes:

Wir aber waren abgehangen.

Wir sprachen nicht viel miteinander.

Nur Beobachtung u. Dinge die zur Len-

kung des Flugzeuges im Blindflug unbe-

dingt erforderlich sind. Keiner dachte an

einen schlechten Ausgang.

Ich sagte: „Hanne, geh’ lieber etwas

höher, damit wir keine Bodenberührung

bekommen“.

H.: „Ja, ist gut … geht in Ordnung“

„Hanne, siehst Du was?“

„Nein, aber die Scheiben werden vom

Schnee verkleistert .. Mist!“

„Immer schön ruhig, fliege nur nach

Instrumenten!“

„Ja“

Dieses „Ja“ von Hanne ist das Letzte

was mir von ihm in Erinnerung ist.

Wir müssen unmittelbar oder während

er „Ja“ sagte, dem Boden entgegengerast

sein. Das nächste was mir wieder klar

bewusst wurde, war, dass Russ. Arbeiter

u. Frauen (auf unserem Gebiet) die mich

wohl aus den Trümmern geborgen hatten,

sich mit mir abgaben, das Blut aus dem

Gesicht spülten und mir auf eine fragende

Bewegung hin zu verstehen gaben, dass

Hanne, mein lieber Hanne seinen Flug

in die Ewigkeit bereits getan hatte.

Beuys erfüllte mit diesem Brief seinevermeintliche Pflicht. Aber er traf ebenauch Vorsorge, selbst nicht zu schlechtwegzukommen. Geradezu heldenhaft be-sonnen wirkt er, wenn er dem anderenrät: „Immer schön ruhig.“ Panik? Odersogar Todesangst, weil man den An-schluss an die Staffel verloren hatte?Mögliche eigene Fehler? Fast wirkt erwie ein bloßer Passagier und nicht wieder Mann, der für die Navigation zustän-dig war.

Hans Laurinck wird bei ihm, einer-seits, vom Flieger zum Überflieger. „DasLeben war für Hanne kein Problem. Wieein lachender Sieger stand er mittendrin.“ Andererseits skizziert Beuys ihnmit seinen Worten als die ungestümere,beinahe leichtfertige Figur. „Hanne hatviel Pech gehabt in seiner Frontzeit, vielBruch, viel Ärger, den manchen andernverbittert hätte. Hanne dagegen sangnach einem solchen schlechten Erlebnisin vollster Überzeugung (auch von sei-nem fliegerischen Können) genau soschön, so wunderschön (…) seine Lieb-lingslieder.“

Was für ein verkürztes, auf den Kriegzugeschnittenes Leben. Wie Beuys war

Kultur

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Hinreißende Novelleüber den Rückzug eines erfolglosen

Schriftstellers in ein andalusisches Dorf

Laurinck ein Kind der Provinz, der einestammte aus dem niederrheinischen Kle-ve, der andere aus einem Ort namens Vreden im Münsterland. Sie wurden inZeiten der Diktatur erwachsen. Beide zoges von der Schule aus bald zur Luftwaffe,im Verständnis vieler damals eine echteHeldenfabrik.

Ahnte aber Laurinck, dass es ein ande-res Leben geben könnte? Er wollte sichverloben, hatte offenbar die Fliegerei satt,das geht wiederum aus einem Brief seinerSchwester hervor.

Und Beuys? Bis Kriegsende sollte ernoch Schlachten von Mann zu Mann er-leben. Fürchterliche Gemetzel müssendas gewesen sein. Erzählt hat er davonspäter nie, nur allgemein von der „Schei-ße“, in der man als Soldat stand, und dasses moralisch richtig gewesen sei mitzu-kämpfen.

In der Fernsehserie „Unsere Mütter, un-sere Väter“ werden die Geschichten die-ser Generation erzählt, zu der auch Beuysgehörte. Sie handeln von jungen Leuten,von denen viele verführt und dann ver-heizt wurden und die später nicht mehrdazu fähig waren, ein Verhältnis zu sichund ihrer Schuld zu entwickeln.

Der Brief aus dem Jahr 1944 liest sich,als wäre Beuys eine dieser Figuren, vondenen die Serie erzählt. Ein Verführter,der ein Held sein wollte. Er wurde es, abererst als Superstar der modernen Kunst,und ein solcher wurde er eben auch, weiler seine Vergangenheit im Krieg und ins-besondere auf der Krim mythologisierte.Sich vom „Funker“ zum „Sturzkampfflie-ger“ erhob, zum Opfer eines Abschusses,obwohl er wohl wegen schlechten Wettersvom Himmel fiel. Auch sammelten ihnkeine schamanischen Tataren auf, son-dern laut diesem Brief russische Arbeiter.

Und während Beuys Teil der Auf-bruchsbewegung in der Bundesrepublikwurde, so jedenfalls schildert es der AutorHans Peter Riegel in seiner vor kurzemveröffentlichten Beuys-Biografie, blieb erdoch gleichzeitig ein gestriger Geist, dersich nicht wirklich von seiner frühen Begeisterung für die völkische Ideologielösen konnte. Beuys nahm an Treffen al-ter Kameraden teil, suchte die Nähe zuehemaligen Nazis, wie Biograf Riegelnachweist. Noch 1980 bekannte er, dasser sich einst zur Hitlerarmee gemeldethabe, sei einem „Gefühl der Zugehörig-keit und Solidarität mit meinen Alters -genossen“ zuzuschreiben gewesen.

Als Künstler, als Professor stand Beuysnicht mehr nur am Rand wie auf demFoto von der Krim. Vielmehr wurde erzum Mittelpunkt einer neuen Avantgarde.Er fühlte sich als Auserwählter, und ir-gendwann nahmen ihn auch die anderenso wahr. Doch dieser Brief zeigt Beuysauf jeden Fall angepasster, durchschnitt-licher, kleiner, als er sich später selbst hatsehen wollen. ULRIKE KNÖFEL

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Was im Leben wirklich wichtig ist: Die australische

Krankenschwester hat jahrelang todgeweihten

Patienten zugehört

Kultur

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Drei Minuten dauerte der Werbe-spot, der am 16. Juni in der Halb-zeitpause des Spiels Miami Heat

gegen San Antonio Spurs lief, es war eines der Basketball-Finalspiele dieserSaison, 16 Millionen Fernsehzuschauersahen zu – und als der Spot vorbei war,dessen Ausstrahlung allein Millionen Dollar kostete, hatte der Rapper Jay-Zgerade den digitalen Kapitalismus neuerfunden.

Der Spot selbst ist in drei Akte unter-teilt: Der erste Akt beeindruckt vor allem dadurch, wie hiervor aller Augen Geld verbrannt, also Sende -zeit verschwendet wird.Schaut her, sagt Jay-Z,während er mit seinenFreunden, den Produzen-ten Rick Rubin und Phar-rell Williams, im Studiositzt und über das Le benphilosophiert. „Weißt du“,sagt Jay-Z und malt seineGe danken mit den Hän-den in die Luft, „es gehtum diese Dualität, wieman den Weg findet inseinem Leben, mit all sei-nen Siegen und Nieder-lagen, das ganze Ding,und dabei man selbstbleibt.“

Im zweiten Akt dannsagt Jay-Z: Schaut her,so arbeite ich, das sindmeine Goldketten, dassind meine Bässe, ich binder bessere Businessman,also bin ich auch der bes-sere Rapper.

Und im dritten Akt skizziert Jay-Z sei-nen Plan: Schaut her, sagt er, so definiereich die Regeln neu. „Ich will der Weltmein Album geben, und dann könnenalle es sich teilen.“

Eine Million Besitzer eines Samsung-Smartphones, das ist die Botschaft desSpots, werden sein neues Album übereine App bekommen, umsonst, und diesTage vor dem Rest der Welt.

„Great“, sagt im Spot der weise RickRubin mit seinem Rauschebart. „Beau -tiful.“

Samsung hat Jay-Z dafür fünf Dollarpro App bezahlt. Fünf Millionen Dollarauf einen Schlag von einem Konzern,

der ein ganzes Album finanziert, so etwas gab es noch nie in der Geschichtedes Pop.

Das Ganze ist auch der Versuch vonSamsung, Apple im Kampf um Markt -anteile direkt anzugreifen. „Wir müssenneue Regeln definieren“, das hat Jay-Zin dem Fernsehspot auch gesagt, denn„das Internet, das ist der Wilde Westen,der Wilde, Wilde Westen“.

Aber so klug und smart der Spot auchist, das Album selbst zeigt nur, dass esim HipHop längst nicht mehr um die

Musik, die Beats und die Reime geht:„Magna Carta Holy Grail“ heißt dasWerk, das am 4. Juli erstmals für die Samsung-Kunden zu hören war – es istMusik, die sich anhört, als würde ein Starabstürzen vom Empire State Building,ohne je unten anzukommen.

Der Heilige Gral, die Magna Carta, deramerikanische Unabhängigkeitstag –man wüsste wirklich gern, was Jay-Z derWelt zu sagen hat außer: Größer geht es nicht.

Es beginnt weinerlich. Das klingt wieElton John, das klingt, als würde KurtCobain kurz aus dem Grab auferstehen,als würde jemand Justin Timberlake

ständig auf den Fuß treten, so gequengeltsingt er bei diesem Gastauftritt: Das istHipHop als gesellschaftlicher Kitt.

Längst geht es nicht mehr um Auf-stieg oder Emanzipation bei dieser Musik, es geht um Macht und die Frage,wie man sie am besten absichert: Dafiepst und piepst es, zu breitbeinig- hüftsteifen Beats rappt Jay-Z über Pi -casso und Jeff Koons und die Art Basel,über seine schmutzige Vergangenheitund die Schönheit seines Mercedes heute, über Nicholas Brody aus „Home-

land“, der sich fremd im eigenen Land fühlt,und immer wieder da-zwischen stöhnt es: ooh,ooh, ooh.

Das ist HipHop ohneAngstmacherei, eherVersöhnungsangebot alsTriumphgeste, das istHipHop, der Tom Fordauf Concorde reimt. DerWerbespot und die Ver-kaufsstrategie dagegenhaben die Kraft vonKunstwerken eigenenRangs, sie betreten#Neuland, es sind tat-sächlich Innovationen ei-nes digitalen und kultu-rell codierten Kapitalis-mus.

Und so zeigt diesesPop-Paket „Magna CartaHoly Grail“ sehr gut, wiedie Verhältnisse 2013 aus-sehen.

HipHop ist heute einSpiel, das derjenige ge-winnt, der am besten

Ego, Sex und Sehnsüchte in Geld undMacht verwandelt.

In seinem früheren Leben mag Jay-Ztatsächlich ein Drogen-Pusher aus demGhetto gewesen sein. Heute ist er mitBeyoncé verheiratet und lässt sich mitPräsident Obama fotografieren.

Natürlich profitiert Obama heute vonso einem Foto und nicht Jay-Z. Der Präsident ist nicht mehr das, was er malversprach, er hat graue Haare darüberbekommen, dass Guantanamo immernoch nicht geschlossen ist.

Jay-Z hat die Telefonnummer des Präsidenten, er hat das Spiel schon längstgewonnen. GEORG DIEZ

#NeulandPOPKRITIK: Der HipHopper Jay-Z verschenkt sein neues Album – finanziert wird die Aktion von einem koreanischen Konzern.

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Rapper Jay-Z: Tom Ford reimt sich auf Concorde

Trends Medien

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Gottschalk-Jauch-Show mitSchöneberger

Als die Nation vor eineinhalb Jahren überseine Nachfolge bei „Wetten, dass ..?“ de-battierte, schlug Thomas Gottschalk öffent-lich Barbara Schöneberger („NDR Talk

Show“) dafür vor. Der Wunsch des Altstarsging bekanntlich nicht in Erfüllung. Statt-dessen sind die beiden nun in einer gemein-samen Show zu sehen. Im September solldie 39-Jährige die RTL-Sendung „Die 2 –Gottschalk & Jauch gegen alle“ moderie-ren, in der Gottschalk, 63, und GüntherJauch, 56, gegen Kandidaten antreten.Schöneberger komme ihm in ihrer Art sehrnahe, hatte Gottschalk 2011 erklärt: Sie seiblond, hübsch, furchtlos und schnell.

K O N Z E R N E

„Opfer deseigenen Erfolgs“

Götz Mäuser, 50, Mana-

ger beim Investor Per-

mira, über den Ausstieg

aus dem TV-Konzern

ProSiebenSat.1

SPIEGEL: 2006 übernahmen die Private-Equity-Gesellschaften Permira undKKR die Mehrheit am TV-Konzern Pro-SiebenSat.1, in den nächsten Monatenwollen Sie Ihre Anteile verkaufen. Hatsich das Investment gelohnt?Mäuser: Es war auf jeden Fall eine span-nende Zeit, in der uns wenig erspartblieb. Da gab es eine millionenschwereKartellstrafe, die Finanzkrise, einenWechsel an der Führungsspitze und einestrategische Neuorientierung.SPIEGEL: Sie zahlten damals 28 Euro proAktie, jetzt liegt der Kurs bei rund 34Euro. Zwischenzeitlich haben Sie über700 Millionen Euro Dividende kas-siert und Ihre Beteiligung am TV-Kon-zern SBS an ProSiebenSat.1 verkauft.Wie hoch ist unterm Strich Ihre Ren -dite?Mäuser: Abgerechnet wird zum Schluss.Bislang ist aber bei unseren Geldgebernkein Cent angekommen, alles ist in Zinsund Tilgung unserer Kredite geflossen.Wir sind zuversichtlich, dass wir amEnde ein zufriedenstellendes Ergebnis

erzielen, die Entwicklung des Aktien-kurses gibt uns zurzeit recht. Rekord-verdächtig wird die Rendite wegen derFinanzkrise aber kaum werden.SPIEGEL: Alle Medienkonzerne habenschon abgewinkt, von Time Warner biszum Axel Springer Verlag. Warum inter -essiert sich keiner für eine Mehrheit anProSiebenSat.1?Mäuser: Wir sind ein Stück weit Opferdes eigenen Erfolgs. Die Marktkapita-lisierung liegt derzeit bei mehr als sie-ben Milliarden Euro, die müsste einKäufer komplett finanzieren können,weil er zu einem Übernahmeangebotan alle Aktionäre verpflichtet ist, sobalder mehr als 30 Prozent der Aktien er-wirbt. Ich sehe zurzeit kein deutschesMedienunternehmen, das dazu in der

Lage wäre. Und für globale Medien -konzerne steht die Digitalisierung anerster Stelle, nicht Internationalisierung,schon gar nicht in Europa.SPIEGEL: Auf der Hauptversammlung am23. Juli wollen Sie die Aktiengattungenvereinheitlichen. Das kostet Sie Ihre bisherige Stimmenmehrheit. Warum ge-ben Sie dieses Pfund aus der Hand?Mäuser: Ein strategischer Käufer ist momentan nicht in Sicht, die Mehrheitbringt uns daher nicht mehr Geld ein,als die Börse uns bietet. Wir sind des-halb zu dem Schluss gekommen, dasswir den größten Wert für unsere Inves-toren wohl mit einem Ausstieg über dieBörse erzielen. Mit der Aktienumwand-lung werden unsere Stammaktien nunzum Handel zugelassen.

K I N O

Aldi-Buch wird SpielfilmDie Skurrilitäten und Abgründe beim Discounter Aldi, dieder Ex-Aldi-Manager Andreas Straub im Bestseller „Aldi –Einfach billig“ beschreibt, sollen jetzt auch Publikum insKino locken. Der Rowohlt-Verlag hat die Optionsrechte an

die Münchner Filmproduktion „Fireapple“ verkauft. DerenCo-Chef Sebastian Bandel wirkte bereits an Erfolgsproduk-tionen wie „Wer früher stirbt ist länger tot“ mit und will dasAldi-Buch „nicht so verfilmen, wie man es erwarten würde,sondern den Zuschauer überraschen“. Die Besetzung stehtnoch nicht fest. Straub sorgte voriges Jahr mit seinen Innen -ansichten aus dem Aldi-Imperium für Aufsehen (SPIEGEL18/2012); die fragwürdige Überwachung der Mitarbeiter schil-derte er genauso wie den Perfektionswahn des Managements.

ProSieben-Show „Germany’s Next Topmodel“

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Schöneberger, Gottschalk

Der deutsche Fernsehzuschauermuss ein Scheusal sein. Sonntagfür Sonntag fordert er ein Men-

schenopfer: erschossen, stranguliert, er-tränkt, vergiftet, die Treppe hinunter -geschubst, in den Selbstmord getrieben,erfroren oder verbrannt. Vor einigen Wo-chen, im „Tatort“ aus Frankfurt am Main,wurden dem Mordopfer sogar die Zehen-nägel ausgerissen. Neun Millionen Men-schen sahen zu; womöglich schautenmanche im entscheidenden Moment aberauch weg.

Weil ein Verbrechen pro Woche denZuschauer offenbar nicht befriedigt, wirdauch an allen anderen Tagen fröhlich ge-tötet, wenigstens aber entführt oder er-presst. Cops von Rosenheim bis Hamburgermitteln, und in irgendeinem dritten Pro-

gramm wird immer ein alter „Tatort“oder „Polizeiruf 110“ wiederholt. DasFernsehprogramm liest sich wie der Ge-genentwurf zur im Mai veröffentlichtenKriminalstatistik, die bundesweit einenRückgang der Morde und Körperverlet-zungen verzeichnet.

Vor allem die öffentlich-rechtlichenSender planen mit Wollust ständig neueStraftaten. Zu deren Aufklärung lässt dieARD allein in diesem Jahr fünf neue „Tat-ort“-Teams antreten, 21 Städte und Re-gionen werden dann mit Ermittlern be-stückt sein, so viele wie noch nie undvielleicht mehr, als der Reihe guttut.

Das ZDF zieht nach; auf dem FilmfestMünchen stellte es vorige Woche zweiSerien vor, eine mit Chiemsee-Krimis undeine mit extrem abgehalfterten Münchner

Ermittlern. Im Herbst holt der Senderdann zum großen Schlag gegen die Orga-nisierte Kriminalität aus: Fünf Teams sei-ner „Soko“-Reihe sollen über fünf Folgengemeinsam einen Fall lösen.

Deutschland, deine Detektive. 37 Pro-zent jener Zeit, die TV-Zuschauer im ver-gangenen Jahr mit Filmen oder Serienverbrachten, entfielen auf Krimis. Diezehn meistgesehenen Spielfilme warenallesamt „Tatorte“. Lässt man die Cham-pions League außen vor, war im erstenHalbjahr 2013 die Sendung mit den meis-ten Zuschauern ein „Tatort“ mit dem Blö-delduo aus Münster. Selbst die Wieder-holung eines Frankfurter Falls vom Vor-jahr lockte am letzten Junisonntag mehrSchaulustige an als die jüngste Ausgabevon „Wetten, dass ..?“.

Medien

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T V - U N T E R H A L T U N G

Das Grauen am AbendIn Fernsehdeutschland wird gemordet, entführt und erpresst wie noch nie,

vor allem die öffentlich-rechtlichen Anstalten planen ständig neue Krimis. Nun aber wächst die Kritik an der erfolgreichen Monokultur.

„Tatort“ Münster

Szenen aus deutschen Krimi-Reihen: „Mit dem guten Gefühl entlassen, dass es noch so etwas wie Gerechtigkeit gibt“

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SonntagsritualDie erfolgreichsten Folgen des ARD-„Tatorts“2013, Zuschauer in Millionen

„Summ, summ, summ“ (Münster)

„Willkommen in Hamburg“ (Hamburg)

24. März 12,99

10. März 12,74

„Trautes Heim“ (Köln)

21. April 10,32

„Spiel auf Zeit“ (Stuttgart)

26. Mai 10,24

„Kaltblütig“ (Ludwigshafen)

13. Januar 10,07

„Feuerteufel“ (Hamburg)

28. April 10,07 Quelle: ARD

Schwer zu sagen, ob es so viele Krimisgibt, weil die Zuschauer sie so gern sehen.Oder ob so viele Menschen Krimis schau-en, weil die Sender ihnen kaum noch an-dere Filme anbieten.

Folgt man dem Göttinger PsychiaterBorwin Bandelow, der zuletzt ein Buchüber die Faszination von Verbrechern ge-schrieben hat, dann ist der Erfolg von Kri-mis auf das primitive Angstsystem desMenschen zurückzuführen: „Dieses Sys-tem unterscheidet nicht zwischen echterBedrohung und Fernsehen. Es denkt wirk-lich, dass da etwas Schlimmes passiert.“Im Extremfall reagiert es mit Herzrasenoder nervösem Zittern. Zugleich, so Ban-delow, wirke Angst aber anregend.

„Krimi schauen ist wie Achterbahn fah-ren“, sagt Bandelow. Vor jeder Kurve habeman Angst, rausgeschleudert zu werden.Nach überstandenem Schreckensmomentwerden eine Menge Glückshormone aus-geschüttet. „Die Angst zahlt sich aus. Spä-testens gegen 21.40 Uhr, wenn der Tätergefasst ist. Aber auch zwischendurch,nach einer Prügelei oder einer Verfol-gungsjagd mit gutem Ausgang.“

Damit das ständige Grauen auf Dauernicht zu eintönig wird, reichern ARD undZDF ihre Krimis gern mal mit Romantikoder Klamauk an. Seit anderthalb Jahrengestaltet das Erste seine Vorabende mitsogenannten Schmunzelkrimis, deren Ti-tel wie „Fuchs und Gans“ oder „Henker& Richter“ bereits eine Ahnung von derArt des dort vorherrschenden Humors

geben. Die meisten sind mehr Heimatfilmals Krimi, sie spielen auf dem Land undsehen aus wie vom örtlichen Tourismus-verband in Auftrag gegeben. Ähnlich den„Rosenheim-Cops“ im ZDF, die seit Jah-ren vor prächtiger Alpenkulisse ermitteln.

Am Ende ist natürlich immer alles gut,so verlangt es die Serienlogik. Währendlaut Polizeilicher Kriminalstatistik rund54 Prozent der Fälle gelöst werden, liegtdie Aufklärungsquote der TV-Ermittlerbei mindestens 99 Prozent.

Liane Jessen, Fernsehfilmchefin desHessischen Rundfunks, sieht den Erfolgvon TV-Krimis denn auch weniger in der

menschlichen Psyche begründet als in einer zerberstenden Gesellschaft: „DieWelt zerfällt zunehmend in ihre Einzel-teile. Politiker, Konzerne und Kranken-kassen gehen nicht unbedingt wahrhaftigmit uns um. Die Kommissare sind die Hel-den, die für den Einzelnen kämpfen undden zerbrochenen Spiegel zusammenset-zen. Ist der Fall gelöst, wird man mit demguten Gefühl in die Woche entlassen, dasses noch so etwas gibt wie Gerechtigkeit.“

Manchmal aber gibt es diese Gerech-tigkeit nicht einmal mehr im Fernsehen.Und dann?

Das Bayerische Fernsehen hat jetzt ei-nen Krimi produziert, der so gelungenist, dass den Verantwortlichen in derARD ein wenig bange wird. Er heißt „DerTod macht Engel aus uns allen“.

Dieser „Polizeiruf 110“, der am kom-menden Sonntag im Ersten läuft, zeigtein schmuddeliges, tristes München. EinTranssexueller ist in Polizeigewahrsamzu Tode gekommen. Kommissar Hannsvon Meuffels, gespielt von MatthiasBrandt, muss gegen ein ganzes Revier er-mitteln. Die Polizisten dort sind ebensohilflos wie gewalttätig, der Film selbst istgewaltig.

Er könnte Fernsehpreise gewinnen, fürdas Drehbuch, für die Regie, für denHauptdarsteller. Aber es kann gut sein,dass viele Zuschauer mit dem Film nichtsanfangen können. Eben weil er so gut ist.

Gut, das heißt in diesem Fall: mit den Sehgewohnheiten brechend. Der Zu-

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„Bella Block“„Tatort“ Berlin

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schauer wird mit dem Grau-en alleingelassen. Hier sorgtkeine Kaffee kochende, Dia-lekt sprechende Sekretärinfür Geborgenheit. Hier kas-pert niemand in der Patho-logie herum oder klopftSprüche an der Würstchen-bude. Am Ende löst sichnichts in Wohlgefallen auf.

Das Drehbuch für dieseFolge stammt von GünterSchütter, der schon für dielegendäre ARD-Reihe „DerFahnder“ arbeitete. In denneunziger Jahren schrieb erdas Buch zu „Frau Bu lacht“,der von Menschenhandelund Kindesmissbrauch er-zählt und vielen bis heute als bester „Tatort“ gilt. „DerErfolg des Genres Krimikommt uns Autoren zugute“,sagt Schütter. „So könnenwir Themen ins Fernsehenschmuggeln, die uns am Her-zen liegen. Eine starke Mar-ke hilft uns.“

Die aus vier Fensehfilm-chefs bestehende Sichtungs-gruppe der ARD jedoch, die alle Filmeim Voraus begutachtet und eine Quoten-prognose wagt, sagt dem „Polizeiruf“ amkommenden Sonntag ungefähr siebenMillionen Zuschauer voraus. Was eigent-lich nicht schlecht ist für einen Fernseh-film, für die Erstausstrahlung eines Krimisam Sonntag aber schon.

Die vier Sichter hatten sogar befürch-tet, dass der Jugendschutz eine Ausstrah-lung um 20.15 Uhr verhindern würde,weil der Film so hart ist. So wie bei jenem„Polizeiruf“ mit Brandt, der im vorver-gangenen Jahr erst nach 22 Uhr gesendetwerden durfte. Wenn sich das wiederholthätte, so die Befürchtung der ARD-Ver-antwortlichen, wäre es wohl schwierig geworden, Brandt zu halten. Aber dannwurde der Film doch für die Hauptsende-zeit freigegeben.

Was die Reaktionen der Zuschauer aufdiesen Film angeht, ist man beim Baye -rischen Rundfunk auf alles gefasst. Spä testens seit dem letzten BR-„Tatort“.Da scheuchte Kommissar Franz Leit -mayer einen Verdächtigen durch denWald auf eine Straße, wo er von einemAuto erfasst und getötet wurde. War erder gesuchte Mörder? Oder hatte er andere Gründe, vor einem Polizisten Reißaus zu nehmen? Das blieb unklar.Und sorgte für Zuschauerkritik an einemFilm, der aus der Masse herausragt, weiler Regeln bricht und verstört, und dasauf der Deutschen heiligstem Programm-platz.

Dabei stand der Sonntagskrimi bei wei-tem nicht immer so gut da wie heute.Mitte der neunziger Jahre steckte der

„Tatort“ in seiner größten Krise. Immerweniger Zuschauer wollten die großteilsgesellschaftskritischen Fälle sehen, denJungen galt der „Tatort“ ohnehin alsAbenteuer für Spießer. Die ARD reagier-te, setzte junge Teams ein und produzier-te mehr Folgen.

Hatte es in den siebziger und achtzigerJahren nur zwölfmal pro Jahr einen neuen „Tatort“ gegeben, steigerte mansich im Lauf der Jahre. Seit 2006 gibt es35 Fälle pro Jahr, den „Polizeiruf“ nicht mitgezählt. Viele Kommissare sind alteBekannte. Die immer leicht sauertöp -fisch dreinschauende Lena Odenthal

eben so wie die Kumpels aus Köln oderMünchen.

Heute ist der „Tatort“ das, was früher„Wetten, dass ..?“ war: ein Wochenend -ritual. Der Sonntag ist der neue Samstag,nur dass man die Kinder vielleicht schonetwas früher ins Bett schickt.

Ein guter „Tatort“ oder „Polizeiruf“birgt mehr politischen Stoff als der nach-folgende Talk von Günther Jauch, wasüber Jauch genauso viel aussagt wie überden Krimi.

Oft aber sind die sonntäglichen Ermitt-lungen einfach nur gaga. Oder, nochschlimmer, eine Wiederkehr des Immer-

gleichen: Leichenfund, siehtschlimm aus; Ermittler/in be-sucht Frau, Freund, Chef,Nachbarn; ein paar ver -halten sich seltsam, alle hät-ten ein Motiv; zwei, dreiVolten; vielleicht eine wei-tere Leiche; am Ende war’stat sächlich einer, meist der,der bei der ersten Befragungam wenigsten seltsam er-schien.

Die Kritiker dieser Mono-kultur muss man nicht langesuchen, man findet sie imHerzen des Geschehens. „In-zwischen gibt es so viele Kri-mis auf allen Kanälen, dassind ja gefühlt schon mehr,als es Verbrecher gibt“, be-klagte sich voriges Jahr Han-nelore Hoger, die seit fast 20Jahren im ZDF als burschi-kose Ermittlerin Bella Bockihren Dienst tut.

Den Noch-„Tatort“-Kom-missar Joachim Król nervtdie Krimi-Flut Interviews zufolge ebenso wie den Re-gisseur Christian Petzold

(„Yella“, „Barbara“). Selbst der ARD-Vor-sitzende Lutz Marmor, der in Sachen Pro-grammgestaltung ja mit am Drücker sitzt,räumte im Dezember dem SPIEGEL ge-genüber ein: „Wir müssen tatsächlich auf-passen, den Bogen nicht zu überspannen,es kann auch zu viel werden.“

Ähnlich sagt es ZDF-FernsehfilmchefReinhold Elschot, der für die trutschigen„Rosenheim-Cops“ ebenso verantwort-lich ist wie für die funkelnde Polizeireihe„Nachtschicht“: „Vielleicht übertreibenwir es manchmal.“ Auch im eigenen Hausmüsse er sich bisweilen rechtfertigen fürdie Vielzahl an Krimis und Thrillern.„Aber wo viele Krimis sind, sind auchviele gute.“

Außerdem könne man mit diesem Gen-re einfach wenig falsch machen – zumin-dest was den Erfolg angeht: „Selbst beieinem schlechten Krimi geht die Quotenie ganz runter. Eine Grundzuschauer-schaft ist immer da. Bei schlechten Ko-mödien dagegen verliert man die Leutesofort. Humor ist bei jedem unterschied-lich ausgeprägt. Spannung dagegen er -leben wir alle gleich.“

In jüngster Zeit beobachtet Elschot,dass besonders schaurige Filme geradebei Frauen gut ankommen.

Die erste Folge der gepriesenen Reihe„Verbrechen“, die das Zweite im Frühjahrsonntags um 22 Uhr ausstrahlte, hatte auf-fallend viele Zuschauerinnen. Dabei warder Inhalt alles andere als frauenfreund-lich. Es ging um einen Mann, der sichnach 40 Jahren Ehehölle mit Hilfe einerAxt seiner Gattin entledigt.

ALEXANDER KÜHN, MARCEL ROSENBACH

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Szene aus der ZDF-Serie „Rosenheim-Cops“: Mehr Heimatfilm als Krimi

„Wir müssen tatsächlichaufpassen, den Bogennicht zu überspannen, eskann auch zu viel werden.“

Hätte Jim Gilliam auf die Ärzte ge-hört, wäre er wahrscheinlichschon lange tot. Seine Lunge war

ruiniert von wiederholter Chemotherapieund Bestrahlung, nur eine Transplanta -tion gleich beider Lungenflügel konnteihn retten. Doch die Chirurgen des Uni-versitätskrankenhauses von Los Angeles(UCLA) lehnten ab: Sein Fall sei aussichts-los, das Risiko, dass er während derschwierigen Operation sterben würde, seiin seinem Zustand zu groß.

Das war vor sechs Jahren. Gilliam, 36,hat überlebt, weil er selbst Widerstandüber das Internet organisierte. Der stu-dierte Computerwissenschaftler bauteeine Website mit dem Titel „UCLA-Chir -urgen sind Feiglinge“ und drohte damit,sie online zu stellen. Gleichzeitig bom-bardierten Freunde und Bekannte dasKrankenhaus mit E-Mails. Es dauertenicht lange, bis Gilliam einen Anruf bekam:Die Chirurgen seien nun doch zu einerOperation bereit. Der Eingriff glückte.

Die erfolgreiche Kampagne hatte fürGilliam neben der Rettung seines eigenenLebens noch einen zusätzlichen Lern -effekt: wie schnell, effektiv und billig sichüber das Internet eine Graswurzelbewe-gung organisieren lässt.

Inzwischen hat Gilliam aus dieser Ein-sicht ein schnell wachsendes Internet -unternehmen gemacht: NationBuilder lie-fert Politikern, wohltätigen Organisatio-nen und Bürgerbewegungen ein einfachzu bedienendes Software-Paket, um alleArbeitsbereiche besser und erfolgreicherzu organisieren.

Gilliam, groß, schlaksig, Glatze, willzeigen, dass man heutzutage überlegeneTechnik einsetzen muss, um Wahlen zugewinnen oder politische Bewegungenzum Erfolg zu führen.

Vordergründig bietet NationBuilder sei-nen Nutzern eine relativ simple Internet-präsenz. Dahinter verbergen sich jedocheine ganze Reihe komplexer Werkzeuge:So gibt es Module, um politische Anhän-ger und ehrenamtliche Helfer zu rekru-tieren und zu managen, Veranstaltungenzu organisieren und Spenden einzuneh-men und zu verwalten. Alle Daten sinddabei miteinander verknüpft und durch-suchbar.

Gilliam will mit seinem neuen Unter-nehmen zu einer Art SAP für politische

Organisationen und Graswurzelbewegun-gen werden. Bis dahin ist es allerdingsnoch ein weiter Weg, auch wenn Nation-Builder seit der Gründung vor knappzwei Jahren schnell wächst: 2500 Kundenhat das Software-Unternehmen mittler-weile gewinnen können.

Darunter sind Bürgerbewegungen allerArt, etwa gegen Mobbing oder für mehrRadwege, wohltätige Organisationen, dieEssensausgaben und Spendenaufrufe or-ganisieren, oder Künstler, die ihre Fan-Basis und Veranstaltungen verwalten. DieKosten für den Software-Service richtensich nach der Zahl der in der jeweiligenDatenbank erfassten Anhänger: GroßeOrganisationen mit einer Million Adres-sen zahlen rund 1000 Dollar im Monat,kleine Bürgerbewegungen dagegen nur20 Dollar.

Vor allem aber hilft NationBuilder Par-teien und Politikern, ihre Anhängerschaftzu mobilisieren. In den USA wurde dieSoftware inzwischen bei Hunderten lo-kalen und regionalen Wahlkämpfen ein-gesetzt. Der erste Kunde aber kam ausGroßbritannien: Die Scottish NationalParty nutzte NationBuilder und gewannim Mai 2011 völlig unerwartet die Mehr-heit im schottischen Parlament.

Inzwischen hat Gilliam zahlreiche Beispiele von Politikern parat, die mitNa tionBuilder im Wahlkampf Erfolg hatten – etwa der neue Bürgermeistervon Los Angeles oder die ehemalige

Schönheitskönigin von Hawaii: Sie setztesich bei den Wahlen zum Landesparla-ment als Republikanerin gegen einen fa-vorisierten demokratischen Kandidatendurch.

Im kanadischen Bundesstaat Ontariowurde in diesem Jahr die erste offen les-bische Regierungschefin gewählt. Hinter-her schwärmte ihr Wahlkampfmanagerin Fernsehinterviews, dass die NationBuil-der-Software mit zum Erfolg beigetragenhabe. „Das war natürlich super für uns“,sagt Gilliam. Es gibt für das Unternehmenkeine bessere und billigere Werbung alserfolgreiche Politiker und begeisterteWahlkampfmanager.

Gilliam, der im Silicon Valley auf-wuchs, arbeitete früher unter anderembei der legendären Suchmaschine Lycos.Für NationBuilder konnte er in kurzerZeit nicht nur rund 15 Millionen DollarWagniskapital, sondern auch namhafteUnterstützer gewinnen, beispielsweise Facebook-Mitgründer Chris Hughes, der2008 die Online-Wahlkampagne von US-Präsident Barack Obama geleitet hatte.Und Sean Parker, Gründungspräsidentvon Facebook, sitzt heute im Verwal-tungsrat von NationBuilder.

Nun strebt Gilliam die internationaleExpansion an. Ziel sind vor allem Ländermit traditionell starken Bürgerbewegun-gen und gleichzeitigem technologischemNachholbedarf. Ganz oben auf der Liste:Deutschland. THOMAS SCHULZ

Medien

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I N T E R N E T

SAP für PolitikerEin amerikanischer Gründer hat

eine Plattform entwickelt,mit der sich politische Wahlkämpfe

und Bürgerbewegungen erfolgreicher organisieren lassen.

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Software-Entwickler Gilliam: Bessere Ergebnisse dank überlegener Technik

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WASHINGTON Marc Hujer, Dr. Gregor Peter Schmitz, 1202 NationalPress Building, Washington, D.C. 20045, Tel. (001202) 3475222, Fax3473194

DOKUMENTATION Dr. Hauke Janssen, Cordelia Freiwald (stellv.), AxelPult (stellv.), Peter Wahle (stellv.); Jörg-Hinrich Ahrens, Dr. SusmitaArp, Dr. Anja Bednarz, Ulrich Booms, Dr. Helmut Bott, Viola Broecker,Dr. Heiko Buschke, Andrea Curtaz-Wilkens, Johannes Eltzschig, Jo-hannes Erasmus, Klaus Falkenberg, Catrin Fandja, Anne-Sophie Fröh-lich, Dr. André Geicke, Silke Geister, Thorsten Hapke, Susanne Heitker,Carsten Hellberg, Stephanie Hoffmann, Bertolt Hunger, Joachim Im-misch, Kurt Jansson, Michael Jürgens, Tobias Kaiser, Renate Kemper-Gussek, Jessica Kensicki, Ulrich Klötzer, Ines Köster, Anna Kovac, Pe-ter Lakemeier, Dr. Walter Lehmann-Wiesner, Michael Lindner, Dr.Petra Ludwig-Sidow, Rainer Lübbert, Sonja Maaß, Nadine Markwaldt-Buchhorn, Dr. Andreas Meyhoff, Gerhard Minich, Cornelia Moormann,Tobias Mulot, Bernd Musa, Nicola Naber, Margret Nitsche, MalteNohrn, Sandra Öfner, Thorsten Oltmer, Dr. Vassilios Papadopoulos,Axel Rentsch, Thomas Riedel, Andrea Sauerbier, Maximilian Schäfer,Marko Scharlow, Rolf G. Schierhorn, Mirjam Schlossarek, Dr. ReginaSchlüter-Ahrens, Mario Schmidt, Thomas Schmidt, Andrea Schumann-Eckert, Ulla Siegenthaler, Jil Sörensen, Rainer Staudhammer, TuiskoSteinhoff, Dr. Claudia Stodte, Stefan Storz, Rainer Szimm, Dr. EckartTeichert, Nina Ulrich, Ursula Wamser, Peter Wetter, Kirsten Wiedner,Holger Wilkop, Karl-Henning Windelbandt, Anika Zeller

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Chantal de Freitas, 45. Vorigen Sommergab sie mit ihrer neuen Band The Ste -wardesses ein Geheimkonzert auf einer Barkasse im Hamburger Hafen. Erst zweiJahre zuvor hatte Chantal de Freitas miteinem Album ihr Debüt als Sängerin ge-geben; die Lieder hatte sie selbst geschrie-ben. Eine neue CD war in Arbeit. Die ge-bürtige Kielerin verbrachte einen Großteilihrer Kindheit in New York. Sie besuchtedie Hochschule für Musik und Darstellen-de Kunst in Frankfurt am Main sowie dieCircle in the Square Theatre School amBroadway. Fernsehzuschauer kannten siedurch Rollen etwa im „Tatort“ und bei„Stubbe“ sowie als Kommissarin CarolReeding im „Polizeiruf 110“. Bei Dreh -arbeiten lernte sie den Schauspieler KaiWiesinger kennen, mit dem sie zwei Kin-

der hat und 14 Jahre lang verheiratet war.In mehreren Filmen standen sie gemein-sam vor der Kamera. 2012 trennte sich dasPaar. Chantal de Freitas starb am 2. Juli.

Ulrich Matschoss, 96. Das schönste Ge-schenk zu seinem 80. Geburtstag bekamer aus Hollywood: eine Rolle als deut-scher Industrieller in dem Film „Red Cor-ner“ an der Seite von Richard Gere. Seinebeste Zeit als Serienstar im deutschenFernsehen lag da schon lange zurück: Inden Achtzigern gab er im Duisburger„Tatort“ den Kriminaloberrat Karl Königs-berg. „Klops“ verzweifelte regelmäßig anden Alleingängen seines Untergebenen„Schimanski“ (Götz George). Matschoss,der sich schon während seiner Kriegs -gefangenschaft in Kanada schauspiele-risch erprobt hatte, wirkte auch in denTV-Serien „Ein Fall für zwei“ und „Hallo,Onkel Doc!“ mit. Der aus Schlesien stammende Schau-spieler war zunächstam Theater aktiv, vorallem am HamburgerThalia. 2007 hatte erin dem Film „Die Entführung“ seinenletzten Auftritt. Ul-rich Matschoss starbam 1. Juli in seinemWohnort in der Lüne-burger Heide.

Erich Greipl, 72. Erhat seine Pflicht er-füllt, bis zum Schluss:Nur wenige Tage vorseinem Tod regelte er als Testamentsvoll-strecker des Metro-Gründers Otto Beis-heim noch die letztenDetails für den Nach-lass seines Freundes.

Über Jahre war Greipl, Metro-Aufsichts-rat, promovierter Betriebswirt und Hono -rarprofessor, der engste Vertraute des kinderlosen Milliardärs. Der stets im Zwei-reiher und oft mit Einstecktuch gekleide -te Greipl galt als die graue Eminenz desdeutschen Einzelhandels, als versierterManager und Branchenkenner. In der Sa-che bisweilen hart und eindeutig, war ihmimmer wichtig, anständig miteinander um-zugehen. In der Öffentlichkeit sah manihn selten, dabei war der Bayer bestensvernetzt. Neben Ehrenämtern und Auf-sichtsratsmandaten hatte er Positionen inWirtschaftsverbänden inne. Erich Greiplstarb am 2. Juli in München an Krebs.

Douglas Engelbart, 88. Als Computernoch tonnenschwere Kolosse für Spezia-listen waren, blickte der kalifornische In-genieur schon Jahrzehnte in die Zukunft:Warum sollte nicht jedermann diese Ma-schinen so umstandslos und intuitiv be-dienen können wie ein Auto? Er probiertees mit einer Kniesteuerung unter derTischplatte und einem Helm, der die Be-wegungen des Kopfs registrierte. Am bes-ten aber machte sich ein kleiner Kastenmit zwei Rädchen, den alle bald „Maus“nannten. Im Dezember 1968 stellte En-gelbart seine Erfindung vor – und bei derGelegenheit auch gleich eine grafische Be-nutzeroberfläche mit Fenstern, vernetzteComputer und einiges mehr. Das Ver-markten war allerdings nicht seine Stärke,reich wurden andere. Douglas Engelbartstarb am 2. Juli in Atherton, Kalifornien.

Erich Kiesl, 83. „I mog d’ Leit und d’ Leitmög’n mi“, war der Lieblingsspruch desCSU-Politikers. Zunächst schien ihm derErfolg auch recht zu geben: Der gebürtigePfarrkirchener wurde 1966 und 1974 inden Landtag gewählt; 1978 zum Ober -bürgermeister von München. In seinerAmtszeit stieß „Propeller-Erich“– als In-nenstaatssekretär flog er gern mit demHubschrauber – auf viel Kritik, etwa weiler Straßenmusiker und Bettler aus denFußgängerzonen entfernen ließ. In denAchtzigern geriet er wegen der „Bauland-Affäre“ und später aufgrund dubioserGrundstücksgeschäfte ins Gerede; er wurde wegen einer Falschausage zu einerBewährungsstrafe verurteilt. Erich Kieslstarb am 4. Juli in München.

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SONNTAG, 14. 7., 22.25 – 23.10 UHR, RTL

SPIEGEL TV MAGAZIN

Leben mit dem Tod – Der deutscheUmgang mit dem Ende

Nichts ist so sicher wie die Tatsache,dass wir sterben werden, und dochweiß niemand, was nach dem Todkommt. Die meisten Religionen gebenvor, es zu wissen, und zwei Drittel allerDeutschen glauben, dass dem Diesseits

ein Jenseits folge. Doch über das Ster-ben spricht kaum jemand. In Deutsch-land ist der Tod ein Tabu. Spiegel TVhat mit Menschen gesprochen, die ster-ben, mit Hinterbliebenen, die trauern,und mit Bestattern, die mit dem TodGeld verdienen.

SAMSTAG, 13. 7., 20.15 – 0.20 UHR, VOX

DIE GROSSE SAMSTAGS-DOKUMENTATION

Grenzgänger –Die Sucht nach Adrenalin

Sie sind auf der ständigen Suche nachHerausforderungen, um ihre Grenzenauszuloten. Beflügelt vom Adrenalin-rausch, nehmen sie hohe Risiken inKauf. Ob in der Luft, am Boden oderim Wasser: Extremsportler lieben denNervenkitzel. Doch damit sind sie nichtallein: Die Suche nach dem besonderenKick hat Konjunktur. Viele entdecken

ihre Lust am Limit. Extremsport ist zueiner Art Massenbewegung geworden.Grenzerfahrungen zwischen Kalkül undWahnsinn – SPIEGEL TV porträtiert inder vierstündigen Dokumentation wag-halsige Abenteurer und moderne Grenz-gänger, die das kalkulierte Risiko ein-gehen, nicht aus Todessehnsucht, son-dern, wie sie sagen, aus Lust am Leben.

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Moderatorin Maria Gresz

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Felix Magath, 59, Fußballtrainerohne Verein, sammelt derzeit außer-halb der Bundesliga-Tabelle fleißigPunkte. Am Donnerstag vergange-ner Woche lehnte das MünchnerAmtsgericht Magaths Einspruch ge-gen einen Bußgeldbescheid über50 Euro und einen Strafpunkt imFlensburger Verkehrszentralregisterab. Der Ex-Trainer des FC BayernMünchen war im Februar von derPolizei aus dem Verkehr gezogenworden, weil er mit Handy am Ohrhinterm Steuer gesessen haben soll.Bei der Verhandlung stellte sich her -aus, dass die in München begangeneOrdnungswidrigkeit nicht Magathseinzige Verkehrssünde gewesen ist.Schon mehrmals hat Magath wegenMissachtung der VerkehrsregelnFahrverbot erhalten. Mehrere Minu-ten war der Richter damit beschäf-tigt, die Verstöße der vergangenenJahre – meist überhöhte Geschwin-digkeit – aufzuzählen. Magath warnicht vor Gericht erschienen, er ließsich von einem Anwalt vertreten.

George W. Bush, 67, ehemaliger Präsident der Vereinigten Staaten,reagierte zu Amtszeiten sehr emp-findlich auf Kritik von seiner Ehe-frau. Das legt jedenfalls die Anekdo-te nahe, die Laura Bush jetzt bei einem Besuch in Tansania zum Bes-ten gab. Die Bushs waren vergan -gene Woche dort, um an einer Men-schenrechtskonferenz teilzunehmen.Vor vielen Jahren, so erzählte esFrau Bush einigen Journalisten,habe sie angemerkt, dass eine Redenicht so toll gewesen sei, undprompt sei ihr George mit dem Autogegen die Garagenwand gedonnert.

Luke Blackall, 30, Kolumnist bei derbritischen Tageszeitung „Indepen-dent“, hat ein Faible für deutscheLehnwörter, so wie die Deutschenfür englische Ausdrücke. Nachdemjetzt das Wort „Shitstorm“ vom„Duden“ in seine neueste Ausgabeaufgenommen worden ist („Sturmder Entrüstung in einem Kommuni-kationsmedium des Internets, derzum Teil mit beleidigenden Äußerun -gen einhergeht“), wünscht sich Journalist Blackall, dass seine Lands-leute das Wort rückübersetzt be -nutzen: „Scheißesturm“. Fluchen inFremdsprachen mache „einfachmehr Spaß“. Sollte sich der teuto -nische Begriff im Sprachgebrauchder Briten durchsetzen, stünde er ineiner Reihe mit „Kindergarten“,„Waldsterben“, „Weltschmerz“ odergar „German Angst“.

Personalien

Gequält geschmeichelt

Der britische Premierminister David Cameron,46, bekam Anfang vergangener Woche un -willkommenen Zuspruch. Am letzten Tag sei-ner Zentralasienreise traf er in KasachstanPräsident Nursultan Nasarbajew, 73, um einHandelsabkommen mit dem autoritären Herr-scher zu unterzeichnen. Während der Presse-konferenz, bei der die Politiker eine „strate -gische Partnerschaft“ der beiden Länder ver-kündeten, brachte Nasarbajew seinen Gastmit Schmeicheleien in Verlegenheit. Er habeCameron beobachtet, sagte der Autokrat, undbewundere den Engländer für „die Art, wieer die Interessen der britischen Bürger in allerWelt“ vertrete. „Ich würde ihn wählen“, fügteder kasachische Politiker hinzu, dessen Sicher-heitskräfte immer wieder der Verletzung vonMenschenrechten beschuldigt werden. Came-ron lächelte gequält und sagte: „Das wäreeine Stimme, dann brauche ich nur noch wei-tere 20 Millionen, und ich bin im Geschäft.“

Begehrter Mann

Kaum hat er seine Scheidung angekün-digt, avanciert der russische PräsidentWladimir Putin, 61, zum „begehrtestenMann des Landes“. So verkündet es

die zur Hamburger Bauer Media Groupgehörende Zeitschrift „Tainy Swjosd“(„Geheimnisse der Stars“) auf ihrem Titel-blatt, das von einem halbnackten Putindominiert wird. Zum Beleg dieser Thesezitiert das Moskauer Blatt die Schlager-

sängerin Kristina Orbakaite:„Jede würde Putin heiraten.“Eine Woche zuvor hatte dasBlatt Putins Noch-Ehefrau Ljud-mila, 55, auf dem Cover („Waswird aus ihr?“). Direkt dane-ben war die Ex-Olympiasiege-rin und ParlamentsabgeordneteAlina Kabajewa abgebildet(„Ich bin glücklich und will ei-nen Mann und Kinderchen“).Über Kabajewa wird schon länger spekuliert, sie sei dieGeliebte Putins.

Selbst ist der Rap

Die Rapperszene gilt als homophob und alsfrauenfeindlich sowieso. Der Rapper Lil B,23, hat keine Lust, diesen Klischees zu ent-sprechen. 2011 nannte er ein Album „I’mGay“ („Ich bin schwul“) und erhielt dafürMorddrohungen. In der Online-Ausgabedes „Rolling Stone“ äußerte er sich ableh-nend zu der von den Republikanern ge -forderten Verschärfung des Abtreibungs-rechts in Texas. Der Musiker plädiert fürdie Selbstbestimmung der Frau, gibt seinerÜberzeugung Ausdruck, dass viele gesell-schaftliche Probleme gelöst werden könn-ten, wenn mehr Frauen etwas zu sagen hätten, und prophezeit: „Wir werden einePräsidentin bekommen.“ M

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Geben und nehmen

Er spricht mit Pflanzen, liebt biolo-gisch aufgezogenes Gemüse und Architektur, die dem Schönheitsidealdes späten 19. Jahrhunderts verpflich-tet ist. Prinz Charles, 64, Thronfolgermit der weltweit längsten Verweildauerin dieser Position, scheint nur auf denersten Blick ein weltfremder Kauz zusein. Seinen Grundbesitz jedenfallslässt er mit kapitalistischer Entschie-denheit verwalten. Mieter seiner zahl-reichen Immobilien, so kam jetzt her -aus, sollen zum Teil das Doppelte des-sen zahlen, wassie bei öffentli-chen Wohnungs-baugesellschaf-ten aufbringenmüssten. Insge-samt hat sich dasEinkommen desPrinzen inner-halb eines Jahresum mehr als700000 Pfund er-höht. Die Hälfteseiner Einnah-men von 19 Mil-lionen Pfundspendet der briti-sche Royal aller-dings wohl -tätigen Einrich-tungen. G

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Bunte Liebe

Um ihre Solidarität mit russischen Homosexuellen zu signalisieren, ließsich die britische Schauspielerin TildaSwinton, 52, mit einer Regenbogen-flagge am Kreml fotografieren. DerRegenbogen gilt seit den siebziger Jah-ren als Symbol für Lesben und Schwu-le in aller Welt. Swinton möchte, dassdas Foto mit der Botschaft „From Russia with Love“ über soziale Netz-werke verbreitet wird. Moskaus obers-tes Gericht hat bereits 2012 verfügt,dass in den nächsten 100 Jahren keineGay-Pride-Parade in der russischenHauptstadt abgehalten werden darf.

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Hinter den Kulissen

Vor acht Jahren gab es in New Yorkeine große Fotoausstellung, die Werkeso unterschiedlicher Künstler wie Hiroshi Sugimoto und Jürgen Tellerzeigte. Thema der Ausstellung: IsabelleHuppert, heute 60, französische Schau-spielerin. Die Galerie Thaddaeus Ropacfühlte sich dadurch inspiriert, denSpieß einmal umzudrehen – und enga-gierte Huppert jetzt als Kuratorin füreine Ausstellung des Fotografen RobertMapplethorpe (1946 bis 1989), der durchseine explizit homosexuellen Bilder bekannt wurde. Die von Huppert aus-

gewählten Fotografien werden anläss-lich des 30-jährigen Bestehens des öster-reichischen Kunsthauses ab dem 29. Au-gust in Salzburg gezeigt. Monatelangsichtete die Französin Bilder, sie wählteWerke aus, die unter der Obhut vonMapplethorpes Nachlassverwalter inNew York stehen oder aus dem Besitzetwa des Guggenheim Museum stam-men. Bei ihren Entscheidungen hattesie „Carte blanche“, wie ein Vertreterder Galerie versichert. Ein großes Ge-schäft kann Ropac bei dieser Jubiläums-veranstaltung nicht machen: Nur20 Prozent der Ausstellungsstücke ste-hen zum Verkauf.

Aus den „Stolberger Nachrichten“: „Jä-ger in Nordrhein-Westfalen müssen baldbleifrei schießen. NRW-UmweltministerJohannes Remmel (Grüne) will ,so schnellwie möglich‘ ein landesweites Verbot blei-freier Munition in einem verschärftenJagdgesetz verankern.“

Aus dem „Hamburger Abendblatt“: „DieWirtschaft will nicht anspringen, die Kaufkraft sinkt – eine Abwärtsspiralenach unten.“

Aus der „Neuen Osnabrücker Zeitung“:„Er stellte den Antrag, die drei Männervon dem Vorwurf des Mordes an VadimL. freizusprechen – wie später auch diedrei Verteidiger.“

Aus dem „Holsteinischen Courier“: „SARist die Abkürzung für ,search and rescue‘und heißt auf Englisch ,suchen und retten‘.“

Aus dem „SZ-Magazin“: „Die Startbahnin Maputo ist zu kurz, um vollgetanktnach Berlin zu starten.“

Aus der Online-Ausgabe der „AugsburgerAllgemeinen“: „Wenn Kate Middletonschwanger zur Geburt gefahren wird, wer-den sie und ihr Gefolge garantiert keineParkprobleme bekommen.“

Zitate

Die „Frankfurter Allgemeine“ zum SPIE-

GEL-Titel „Beugt euch nicht“ über den

Aufstand gegen den türkischen Minister-

präsidenten Erdogan (Nr. 26/2013):

In der vergangenen Woche, die Protestegegen die Regierung Erdogan waren dagerade etwas abgeflaut, hat der SPIEGELzum ersten Mal eine Titelgeschichte auchin türkischer Sprache herausgebracht: Aufzehn Seiten wurden die Proteste gegendie Zerstörung des Istanbuler Gezi-Parksund gegen die Regierung Erdogan be-leuchtet. Der Verlag begründete die Aus-gabe damit, ein Zeichen setzen zu wollen,dass das brutale Vorgehen des türkischenStaates gegen friedliche Demonstrantennicht nur Türken etwas angehe, sondernauch Deutsche, Europäer … Es war einePremiere, die für Aufregung gesorgt hat:Deutschtürken, von denen sich Hundert-tausende zu friedlichen Solidaritätskund-gebungen in verschiedenen deutschenStädten versammelt hatten, haben dieAktion weitgehend positiv aufgenom-men. Nämlich als Zeichen, dass die tür-kische Bevölkerung in Deutschland nichtnur in der politischen Kultur des Landes,sondern auch in der Kulturpolitik deut-scher Medien angekommen ist – so derTenor in einigen Internetforen. In derTürkei hingegen dominierte Ablehnungdie öffentlichen Reaktionen (Aktivistender Gezi-Park-Bewegung kamen aller-dings nicht zu Wort).

Die Illustrierte „Stern“ über SPD-Kanz-

lerkandidat Peer Steinbrück:

Freunde und Genossen hatten ihn ge-warnt, auch seine Frau. Im Frühjahr 2011erschien im SPIEGEL ein Porträt überSteinbrück. Der Reporter prophezeite,dass er als Kanzlerkandidat auf einigesverzichten müsse, die Regelverstöße, denAnarchismus. Als seine Frau Gertrud dasStück gelesen hatte, sagte sie zu ihremMann: „Der Junge hat dein Problem aufden Punkt gebracht.“ Der Kanzlerkandi-dat Steinbrück hat panische Angst davor,so zu wirken, als sei er eine Marionettegeworden – der Partei, des Vorsitzenden,des Apparats. Deswegen redet er so oftüber sich statt übers Land.

Die „Frankfurter Allgemeine Sonntags-

zeitung“ in ihrer Rubrik „Fragen Sie

Reich-Ranicki“:

FAS: „Wie geht es Ihnen?“Reich-Ranicki: „Es ging mir nicht gut,jetzt bin ich auf dem Weg der Besserung.“FAS: „Lesen Sie immer noch den SPIE-GEL so gerne?“Reich-Ranicki: „In der Regel ja. Nach wievor halte ich den SPIEGEL für das wich-tigste Nachrichten-Magazin.“

Hohlspiegel Rückspiegel

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Aus dem „Delmenhorster Kreisblatt“

Aus der „Thüringischen Landeszeitung“

Aus dem Südtiroler Tagblatt „Dolomiten“

Aus dem „Treffpunkt Bramsche“

Aus dem „Tagesspiegel“