Der Utilitarismus

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Der Utilitarismus: Eine theoriegeschichtliche Darstellung von der griechischen Antike bis zur Gegenwart Inauguraldissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln 1996 vorgelegt von Dipl. Regional wissenschaftlerin Bettina Düppen aus Köln

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Eine theoriegeschichtliche Darstellung von dergriechischen Antike bis zur GegenwartBettina Düppen

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Der Utilitarismus:Eine theoriegeschichtliche Darstellung von der

griechischen Antike bis zur Gegenwart

Inauguraldissertationzur

Erlangung des Doktorgrades der

Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultätder

Universität zu Köln

1996

vorgelegtvon

Dipl. Regional wissenschaftlerin Bettina Düppenaus Köln

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Referent: Prof. Dr. Ralph G. AndereggKorreferent: Prof. Dr. Gemot Gutmann

Tag der Promotion: 14. Februar 1997

„Es is t ... ein Mißverständnis, dem klassischen Liberalismus vorzuwerfen, daß er zu doktrinär gewesen sei. Sein Mangel war es nicht, daß er zu hartnäckig an Prinzipien festhielt, sondern vielmehr, daß es ihm an Prinzipien mangelte, die bestimmt gewesen wären, eine klare Leitung zu bieten.“

von Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Bd. 1, 1980, S. 90.

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Diese Arbeit verdankt ihre Entstehung vor allem der Unterstützung durch Prof. Dr. G. Anderegg, ohne den die Arbeit in der vorliegenden Form unmöglich gewesen wäre.Bei ihm möchte ich mich für die zahlreichen Denkanstöße und Ermutigungen sowie für die intensive Betreuung bedanken.

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INHALTSVERZEICHNIS

I

EINLEITUNG

1. Zum Erkentr.nisziei der Arbeit.....................................................................................1

2. Zum Utilitarismusbegriff..............................................................................................23. Zum Erkenntnisgegenstand des Utilitarismus............................................................34. Zum Zusammenhang von Utilitarismus und Naturrechtsphilosophie.......................5

1. Kapitel:Gesellschaftstheorien in der Antike und deren Beziehung zum Utilitarismus

1.1 Platon: Der ideale Staat als Garant des Seelenheils im Jenseits............................ 71.1.1 Das Menschenbild Platons................................................................................91.1.2 Der Aufbau des idealen Staates......................................................................10

A) Die Organisation der Wirtschaft..............................................................10B) DieGesellschaftsordnung..........................................................................12

1.2 Aristoteles: Der Staat als Glücksgarant................................................................. 161.2.1 Das Menschenbild...........................................................................................181.2.2 Die Folgen für die Organisation der Wirtschaft.......................................... 21

1.3 Der Hedonismus in der römischen Antike............................................................. 251.3.1 Die Unlustfreiheit als höchstes Glück.......................................................... 271.3.2 Der Weg zum Glück......................................................................................281.3.3 Staat und Privatbereich................................................................................ 30

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2. Kapitel:Gesellschaftstheorie im Mittelalter - Thomas von Aquin

2.1 Der philosophische Hintergrund der Lehren Thomas von Aquins....................... 332.2 Die Organisation der Wirtschaft............................................................................. 37

3. Kapitel:Vorläufer des Utilitarismus in der Neuzeit

3.1 Die Entwicklung der Naturrechtsphilosophie....................................................... 423.2 Die Physiokraten.......................................................................................................43

3.2.1 Zum Hintergrund der Bewegung..................................................................433.2.2 Die Stellung zur Naturrechtsphilosophie.....................................................443.2.3 Die Utilitaristische Position...........................................................................49

4. Kapitel:Die Entwicklung des utilitaristischen Denkens in England: David Hume und Adam Smith

4.1 Die Entwicklung des Utilitarismus bei David Hume............................................574.1.1 Biographischer Hintergrund..........................................................................574.1.2 Die naturrechtsphilosophische Position.......................................................584.1.3 Die utilitaristische Position........................................................................... 634.1.4 Ordnung und Gerechtigkeit.......................................................................... 66

4.2 Die Entwicklung des Utilitarismus bei Adam Smith............................................ 69

4.2.1 Biographischer Hintergrund.......................................................................... 694.2.2 Die naturrechtsphilosophische Position....................................................... 724.2.3 Smith als Utilitarist.........................................................................................774.2.4 Ordnung und Gerechtigkeit........................................................................... 86

5. Kapitel:Die Begründung des klassischen Utilitarismus als Schule: Die Theorien von Jeremy Bentham, James Mill und David Ricardo

5 .1 Jeremy Bentham - Der Begründer........................................................................925.1.1 Biographische Daten......................................................................................925.1.2 Zum philosophischen Umfeld........................................................................955.1.3 Erkenntnistheoretische Grundlagen............................................................1025.1.4 Die naturrechtsphilosophische Position..................................................... 1045.1.5 Die utilitaristische Position.......................................................................... 1065.1.6 Ordnung und Gerechtigkeit......................................................................... 1145.1.7 Zur Funktion des Staates............................................................................. 118

5.2 James Mill - Die Integrationsfigur.....................................................................1225.2.1 Zum biographischen Hintergrund............................................................ 1225.2.2 Philosophische Einflüsse auf James Mill.................................................... 1265.2.3 Erkenntnistheoretische Grundlagen........................................................... 1295.2.4 Die utilitaristische Position..........................................................................1375.2.5 Ordnung und Gerechtigkeit......................................................................... 141

5.3 David Ricardo - Der Utilitarismus im ökonomischen System........................ 1445.3.1 Biographischer Hintergrund........................................................................1445.3.2 Zum philosophischen Umfeld Ricardos..................................................... 147

III

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5.3.3 Die naturrechtsphilosophische Position...................................................... 1515.3.4 Die utilitaristische Position...........................................................................1535.3.5 Ordnung und Gerechtigkeit......................................................................... 159

6. Kapitel:John Stuart Mill - Die Weiterentwicklung des Utilitarismus im 19. Jahrhundert

6.1 Biographische Daten...............................................................................................1636.2 Die naturrechtsphilosophische Position................................................................1696.3 Die utilitaristische Position.................................................................................... 1726.4 Zum Freiheitsbegriff............................................................................................... 1866.5 Der utilitaristische Staat......................................................................................... 1916.6 Ordnung und Gerechtigkeit................................................................................... 195

7. Kapitel:Der Utilitarismus im 20. Jahrhundert - Die Ordnungspolitik F.A. von Hayeks

7.1 Biographischer Hintergrund................................................................................. 2067.2 Die naturrechtsphilosophische Position...............................................................2087.3 Die utilitaristische Position................................................................................... 2217.4 Von Hayeks Vorschlag zur Verfassungsreform................................................. 2357.5 Ordnung und Gerechtigkeit.................................................................................. 242

Literaturverzeichnis. .250

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Einleitungi

1. Zum Erkenntnisziel der Arbeit

Ziel der Arbeit ist es zunächst, den Utilitarismus als zusammenhängende wirtschaftspolitische Schule der klassischen Nationalökonomie darzustellen und die einzelnen Denkrichtungen innerhalb des Utilitarismus herauszukristallisieren. Eine solche übergreifende Analyse der Wirtschaftspolitik der klassischen Nationalökonomie existiert in neuerer Zeit noch nicht. Letzte Versuche übergreifender Untersuchungen zum Utilitarismus finden sich zu Anfang des 20. Jahrhunderts bei L. Stephen und E. Halévy, hegen dort jedoch nur in englischer und französischer Sprache vor.1

Darüber hinaus stellt die vorhegende Arbeit einen Zusammenhang zwischen dem klassischen Utilitarismus des 19. Jahrhunderts und der evolutionären Ordnungstheorie von Hayeks her und verleiht diesem Aktualität für die Wirtschaftspolitik des 20. Jahrhunderts. Unter diesem Aspekt möchte die vorhegende Arbeit die Auffassung in Frage stellen, daß dem klassischen Utilitarismus des 19. Jahrhunderts lediglich die historische Bedeutung einer abgeschlossenen wirtschaftspolitischen Schule zukommt.

Grundsätzlich trägt der Utilitarismus einer verstärkten Durchsetzung von Individualisierungstendenzen innerhalb der Wirtschaft Rechnung, indem dieser eine Abkehr von wohlfahrtsökonomisch orientierten Ordnungen propagiert, eine Auffassung, die Vorteile angebotsökonomischer, informationsökonomischer und evolutorischer Ait mit sich bringt. Ein Überdenken der Möglichkeiten für spontane Ordnungen aus der Sicht der klassischen Nationalökonomie erscheint für die zeitgenössische Wirtschaftspolitik durchaus lohnenswert.

1 Vgl. Stephen, Leslie, The English Utilitarians, 1950; vgl. Halévy, Elie, La Formation du Radicalisme Philosophique, 1901-1903.

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2. Zum Utilitarismusbegriff

Da der Utilitarismusbegriff nicht nur auf die Wirtschaftspolitik der klassischen Nationalökonomie Anwendung findet, sondern bis weit ins 20. Jahrhundert als einflußreichste philosophische Position im anglo-amerikanischen Sprachraum gilt, ist zunächst eine Begriffsabgrenzung erforderlich.2

Im Gegensatz zu Amerika und England ist der Utilitarismus im deutschsprachigen Sprachraum keine dominierende Philosophierichtung. Der idealistisch und historistisch gestimmten deutschen Philosophie ist die empiristisch geprägte utilitaristische Ethik weitgehend fremdgeblieben. Dies läßt sich auf den "übermächtigen“ Einfluß Kants zurückfuhren, der genau die für den hedonistischen Utilitarismus konstitutiven Prinzipien, das hedonistische Prinzip und das Konsequenzenprinzip, widerlegt.3 Im Gegensatz zur kantianischen "Gesinnungsethik” ist der Utilitarismus eine "Erfolgsethik", der die Bewertung einer Handlung nicht von den Motiven des Handelnden abhängig macht, sondern sich lediglich an deren Folgen orientiert.

Die utiiitanstisctien lheonen sind äußerst vielfältig. Im Laute semer Entwicklung hat sich der Utilitarismus in eine beinahe verwirrende Zahl von Positionen und Unterpositionen ausdifferenziert. So kann man heute den negativen vom positiven, den subjektiven vom objektiven, den hedonistischen vom idealen und vor allem den Handlungs- vom Regelutilitarismus unterscheiden.4

Im Mittelpunkt der vorliegenden Arbeit steht der klassische Utilitarismus, so wie er von Jeremy Bentham mit seinem Werk "Eine Einführung in die Prinzipien der Moral und Gesetzgebung" (1789) begründet worden ist und von den Mitgliedern der

2 Vgl. Höffe, O., Utilitarismus, 1989, S. 574.3 Vgl. Köhler, W.R., Geschichte, 1979, S. 17.4 So bildeten sich z.B. mit dem Handlungs- und dem Regelutilitarismus zwei Varianten desklassischen Utilitarismus heraus. Der stärker an die traditionelle Form angelehnte Handlungsutilitarismus, der von J.J.C. Smart entwickelt worden ist, definiert solche Handlungen als moralisch richtig, deren Folgen zu einem Maximum an Wohlergehen fuhren. Der Regelutilitarismus (Vertreter ist z.B. Richard B. Brandt) versucht demgegenüber, optimale Handlungsfolgen durch die Prüfung der Nützlichkeit der handlungsanleitenden Regeln zu erzielen. Vgl. Höffe, O., Einleitung, 1992, S. 9.

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klassischen Schule der Nationalökonomie weiterentwickelt wurde. Den vorläufigen Endpunkt der Entwicklung stellt J. St. Mills Essay "Utilitarismus" (1861) dar. Utilitaristische Theorieansätze sind jedoch bereits lange vor der Begründung des klassischen Utilitarismus entstanden.5

Diesem Aspekt trägt die vorliegende Arbeit dadurch Rechnung, daß sie die Ansätze utilitaristischen Denkens bis in die Antike (Platon, Aristoteles, Epikur) und die Vorklassik (Thomas von Aquin, Vorläufer des englischen Utilitarismus, vor allem David Hume) zurückverfolgt. Am Ende eines jeden Kapitels befindet sich eine Zusammenfassung zum utilitaristischen Gedankengut der jeweiligen Autoren.

3. Zum Erkenntnisgegenstand des Utilitarismus

Im Zentrum aller utilitaristischen Theorien steht die Frage, wie das Wohl des einzelnen mit dem der Gemeinschaft zu vereinbaren ist. Zur Lösung dieser Fragestellung werden im Laufe der Entwicklung unterschiedliche Ansätze entwickelt.

In der Antike und im Mittelalter steht das Interesse der Gemeinschaft uooli deutlich über dem des Individuums. Der Bestand der Gemeinschaft wird dadurch gesichert, daß der Mensch seine Handlungen an bestimmten ethischen, politischen oder theologischen Idealen orientiert; die Befolgung dieser Ideale sichert gleichzeitig den Bestand der Gesellschaft. Als einzige Ausnahme eines antiken Philosophen, der das Eigeninteresse an die oberste Stelle setzt, gilt Epikur; für ihn ist die Gemeinschaft lediglich zweitrangig. Er begründet den Hedonismus der Antike als rein individualistische Gesellschaftstheorie; im Gegensatz zu allen übrigen Utilitaristen greift lediglich Bentham auf den Hedonismus der Antike zurück.

Erst in der Neuzeit kommt es zu einer Aufwertung der Individualität und demzufolge zu einer wirklichen Problematisierung des Verhältnisses zwischen Individuum und Gemeinschaft. Im Rahmen der modernen Tauschwirtschaft formuliert Adam Smith als

5 Diese waren lange vor Bentham, ja selbst vor Adam Smith schon von der merkantilistischen und physiokratischen Wirtschaftstheorie ausgearbeitet worden. Vgl. Brinkmann, C., Utilitarismus, 1959, S. 612.

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erster den Gedanken, daß eine konsequente Verfolgung des Eigeninteresses automatisch zu einer Gemeinwohlsteigerung fuhrt. Damit formuliert Adam Smith als erster das ökonomische Grundmodell des Utilitarismus: Eigennütziges Streben fuhrt automatisch zu einer Realisierung des Gemeinwohles.

Da diese These längerfristig den ökonomischen Realitäten, d.h. der Verarmung immer größerer Bevölkerungsteile, entgegenstand, erfuhr der klassische Utilitarismus eine Modifizierung dahingehend, daß auch der Staat für das Glück seiner Bürger verantwortlich gemacht wurde, eine Idee, die in Ansätzen bereits von Jeremy Bentham entwickelt worden war. Seine bedeutendste Weiterentwicklung erfährt der politische Aspekt des Utilitarismus durch die Theorien von James und John Stuart Mill. Ersterer macht die demokratische Regierungsform, letzterer eine Eliteregierung zur Grundvoraussetzung für die Durchsetzung des Gemeinwohles. Darüber hinaus gilt der Utilitarismus als bedeutende gesellschaftliche Reformbewegung des 18. Jahrhunderts, die sich aktiv für eine Reform des englischen Parlamentes einsetzt.

Gleichzeitig entwickelt der Utilitarismus auch eine starke verteilungspolitische Orientierung. Lieferte Jeremy Bentham mit seiner Aussage, daß der Staat für das Wohl seiner Bürger verantwortlich sei, die Grundlage einer aktiven Verteilungspolitik, so findet dieser Ansatz schließlich seine deutlichste Ausprägung bei John Stuart Mill. In seiner Weiterentwicklung des Utilitarismus kann John Stuart Mill Adam Smiths These, daß eine konsequente Verfolgung des Eigeninteresses automatisch zu einer Steigerung des Gemeinwohles fuhrt, nicht mehr aufrechterhalten. Um sein ethisches Anliegen durchzusetzen, nimmt er eine Trennung von Produktions- und Verteilungsbereich vor.

Während Bentham dem Individuum eine absolute Vorrangstellung einräumt und die Gesellschaft lediglich als Summe der Einzelindividuen definiert, beschäftigt sich J. St. Mill verstärkt mit den sozialen Aspekten der Gemeinwohlproblematik. Im Gegensatz zu den übrigen Utilitariern, die einen individualistischen Utilitarismus (d.h. Vorrang des Individuums vor der Gemeinschaft) vertreten, gilt J. St. Mill als Repräsentant eines elitaristischen und sozialphilosophischen Utilitarismus.

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Diesen Aspekten des klassischen Utilitarismus trägt auch die vorliegende Arbeit in ihrer Gliederung Rechnung. Da sich die utilitaristische Ausprägung der einzelnen Theorien und Ordnungssysteme nicht an einem einzigen Kriterium ablesen läßt, werden sie vielmehr im Hinblick auf ihre ökonomischen, politischen, verteilungspolitischen und erkenntnistheoretischen Aspekte untersucht.

4. Zum Zusammenhang von Utilitarismus und N aturrechtsphilosophie

Die vorliegende Arbeit untersucht die unterschiedlichen Theorien immer in Bezug auf ihren Zusammenhang mit der Naturrechtsphilosophie, denn der Utilitarismus hat sich aus der Naturrechtsphilosophie heraus entwickelt: Bereits die antiken und mittelalterlichen Theorien waren - trotz utilitaristischer Ansätze - stark naturrechtsphilosophisch geprägt: So stand bei Aristoteles der Unterschied zwischen natürlicher und positiver Ordnung im Zentrum, bei Thomas von Aquin die Divergenz zwischen göttlicher und positiver Ordnung.

Auch in seinem weiteren Verlauf ist der Utilitarismus fest, an die Naturrechtsphilosophie gekoppelt: Die Theorien David Humes, Adam Smiths und der Physiokraten haben durch ihren engen Bezug zum Deismus naturrechtsphilosophische Wurzeln. Insbesondere die Theorien David Humes und Adam Smiths vermischen dabei utilitaristische und naturrechtsphilosophische Ansätze; beide Denkweisen - die einer natürlichen und die einer positiven Ordnung - bestehen nebeneinander.

Erst bei Jeremy Bentham kommt es zu einer Offenlegung des Gegensatzes zwischen Naturrechtsphilosophie und Utilitarismus. Bei ihm wird der Utilitarismus zu einer politischen und philosophischen Schule, die einen entscheidenden Einfluß auf die zeitgenössische Politik und Wirtschaftspolitik hat. Mit Jeremy Bentham verliert der Utilitarismus seinen Glauben an eine der Gesellschaft und Wirtschaft unterhegende „natürliche“ Ordnung. Da die „natürliche Ordnung“ sich nicht von selbst einstellt, wird diese Rolle im wesenthchen dem Staat zugewiesen. Das natürliche Rechtsverständnis wird durch eine positive Rechtsaulfassung abgelöst, eine

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Auffassung, die auch in der utilitaristischen Theorie John Stuart Mills vorherrschend ist.

Im 20. Jahrhundert stellt erst Friedrich August von Hayek wieder einen Einklang zwischen Utilitarismus und Naturrechtsphilosophie her. Indem er im Rahmen seiner Erkenntnistheorie den Begriff des impliziten Wissens einfflut, plädiert er fur spontane Ordnungen im Bereich von Wirtschaft und Gesellschaft; das von Friedrich August von Hayek entwickelte Wirtschafts- und Gesellschaftssystem gilt als bedeutendste Weiterentwicklung des klassischen Utilitarismus im 20. Jahrhundert.

Von Hayek rekurriert auf den Freiheitsbegriff des klassischen Utilitarismus und macht diesen zur Grundvoraussetzung seines evolutorischen Ordnungssystems. Damit nimmt von Hayek eine entscheidende Modifizierung des individualistischen Utilitarismus der Klassiker vor und adaptiert ihn fiir unsere Zeit. Die Entfaltung des Eigeninteresses dient bei von Hayek nicht mehr nur der Erreichung des „größten Glücks der größten Zahl“ innerhalb der Wirtschaft, sondern wird zur Grundbedingung des Systems selbst. Von Hayek kommt das Verdienst zu, den Utilitarismus als wirtschaftspolitische Schule wiederbelebt zu haben, ohne in den typisch utilitaristischen Theorien zu argumentieren.

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1. Kapitel: Gesellschaftstheorien in der Antike und deren Beziehung zum Utilitarismus

Im Hellenismus steht lange Zeit die Polis als Einheit von Staat und Individuum, von Politik und Wirtschaft, im Mittelpunkt des Denkens. In der Polis als Stadtstaat ist der einzelne als politischer Mensch, als Bürger, ein- und untergeordnet. Seine Wertschätzung erfolgt nach den Leistungen, die er für Staat und Gemeinschaft vollbringt, nicht aber nach seinen materiellen Gütern, nach seinem Reichtum. Für diese Vorstellungen ist der später entwickelte Begriff das homo oeconomicus noch nicht denkbar. Grundsätzlich wirkt die Polis autoritär in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens. Ihr Ziel besteht darin, die Tätigkeit des einzelnen mit dem Wohl des Ganzen in Einklang zu bringen und diese politische Gemeinschaft nach dem Prinzip der Gerechtigkeit zu verwirklichen und zu erhalten; der Wirtschaft wird lediglich eine für den materiellen Unterhalt unumgängliche Aufgabe beigemessen.

Im Rahmen der Polis entwickeln Platon und Aristoteles ethisch-politische Lehren, in denen sie zu den politischen und wirtschaftlichen Verhältnissen Stellung nehmen. Grundsätzlich steht bei beiden das

"in der politischen Gemeinschaft realisierbare edle Leben... weit über der unedlen und wenig tugendhaften ökonomischen Betätigung, durch die sogar die Gemeinschaft in Gefahr zu geraten droht."6

1.1 Platon: Der ideale Staat als Garant des Seelenheils im Jenseits

Platon (427 v.Chr.- 348 v.Chr.), athenischer Aristokrat und Schüler von Sokrates, gilt als erster Philosoph, bei dem wirtschaftliches Denken einen nicht unwesentlichen Platz

6 Schachtschabel, HG., Geschichte, 1971, S. 14.

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einnimmt.7 Jedoch gelangt lediglich die politisch-philosophische Wirtschaftslehre tatsächlich zur Ausbildung.8 Die Platonische WirtschaftsaufFassung findet ihren Niederschlag im zweiten Buch der Politeia (Staat), sowie in Platons Spätschrift, den Nomoi (Gesetze).9

Platon betrachtet die Gerechtigkeit als vorrangige Aufgabe des einzelnen und des Staates: Der Befreiung seiner Seele wegen soll der Mensch ein gutes Leben fuhren. Als gut bezeichnet er ein Leben, das der "Gerechtigkeit" genügt. Bei dem Versuch, den Gerechtigkeitsbegriff zu klären und eine der Forderung nach Gerechtigkeit gemäße Lebensführung zu veranschaulichen, kommt Platon im "Staat" auf die zweckmäßigste Ordnung der Gesellschaft und der Wirtschaft zu sprechen.

Der Organisation von Wirtschaft und Gesellschaft kommt dabei kein Selbstzweck zu: Da das Erdenleben für den Menschen eine Aufgabe ist und der Vorbereitung auf das ewige Leben dient, kommt es darauf an, die Gesellschaft nach Prinzipien zu organisieren, die der Läuterung der Seele am dienlichsten sind. Zu diesem Zweck entwirft Platon die ideale Polis als Gemeinwesen, in dem vollkommene Gerechtigkeit herrscht. In diesem Sinne ist das Wesen seiner wirtschaftlichen Probleme "nicht im 'rein Wirtschaftlichen', sondern im Metaökonomischen der Gerechtigkeit gegeben."10

Die Betrachtungen über die Gerechtigkeit in der Seele und in der Politik stehen im Mittelpunkt der gesamten Philosophie Platons: Die eigentliche Aufgabe des Philosophen ist die Ermittlung der Gesetze, durch die ein Staat der Forderung nach Gerechtigkeit entspricht und dem Seelenheil seiner Bürger dient.

7 Die platonische Wirtschaftsauffassung kann jedoch ihrem Sinn nach nicht als Wirtschaftslehre betrachtet werden, sondern gilt als Staats- und Menschenlehre. Nach Auffassung Salins gelangt lediglich die politisch-philosophische Wirtschaftslehre tatsächlich zur Ausbildung. Vgl. Salin, E., Politische Ökonomie, 1967, S. 5.8 Vgl. Salin, E., Politische Ökonomie, 1967, S. 5.9 Vgl. Schefold, B., Platon und Aristoteles, 1989, S. 23f.10 Tautscher, A., Geschichte, 1950, S. 8.

1.1.1 Das Menschenbild Platons

Für Platon existiert eine ewige übergeschichtliche Ideenwelt, an der die menschliche Seele zumindest zum Teil partizipieren kann. Das Ziel des Menschen besteht darin, sich durch Erhebung in die übersinnliche Welt in den Besitz des 'höchsten Gutes' zu bringen, das Platon als Endzweck der Welt bezeichnet. Als Tugend bezeichnet Platon denjenigen Zustand der Seele, in dem sie diesem Ziel sehr nahe kommt. Platon geht in der Tugendlehre über Sokrates hinaus, indem er den Tugendbegriff in vier Kardinaltugenden zerlegt. Die Gerechtigkeit umfaßt alle anderen Tugenden, sie bestellt in dem ausgewogenen Verhältnis der drei Seelenteile und ihrer Tugenden.11

Grundsätzlich geht Platon davon aus, daß die menschliche Seele reinkamierbar ist und sich nach dem körperlichen Tod für alles von ihre begangene Unrecht verantworten müsse. Aufgrund dieser Erkenntnis gelangte Platon zu der Auffassung, daß man die menschliche Existenz so einrichten müsse, daß die Seele im Jenseits nichts zu befürchten habe.

Wesentliche Voraussetzung für die Verwirklichung der Gerechtigkeit ist, daß der Staat mir dann gerecht sein kann, wenn der Burger gerecht ist. Zweifelsohne ist in Platons Denken die Erfüllung der Forderung nach Gerechtigkeit in der Gesellschaft die Voraussetzung dafür, daß Gerechtigkeit auch in den Seelen herrscht, wird doch beim Einzelnen der Grund zum Guten vom Staate und beim Staate vom Einzelnen gelegt.12

Die Gerechtigkeit tritt genau dann zutage, wenn jeder das semer Anlage entsprechende für die Gesellschaft leistet.13 Da aber Gerechtigkeit immer schon den sozialen Kontext voraussetzt, muß das Unterfangen der irdischenExistenzbewältigung auf übelindividueller Basis in Angriff genommen werden.14

11 Zu den Kardinaltugenden zählt er Weisheit, Besonnenheit, Gerechtigkeit und Tapferkeit. Vgl. Störig, H.J., Weltgeschichte, 1989, S. 165.12 Vgl. Denis, H., Geschichte, 1985, S. 20.13 Vgl. Tautscher, A. Geschichte, 1950, S. 9.14 Vgl. Graeser, A., Die Philosophie der Antike, Bd. 2, 1993, S. 176.

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So ist das von Platon in der "Politeia" entwickelte Staatsmodell mit all seinen institutionellen Vorkehrungen nichts anderes als das bestmögliche Instrumentarium zur Realisierung der Gerechtigkeit. Der Aufbau des Staates entspricht dem Aufbau der menschlichen Seele: Beide sind gerecht, wenn sie jedem Teil den ihm zustehenden Platz zuweisen.15

1.1.2 Der Aufbau des idealen Staates

Da der Mensch im Interesse seiner Existenz gut daran tut, sein irdisches Leben nach gültigen Moralprinzipien auszurichten, stellt sich die Frage, aufgrund welcher Vorkehrungen institutioneller Art für alle Menschen eine Lebensform garantiert werden kann, die den Prinzipien der Gerechtigkeit entspricht.

Die These, daß nicht jeder für alles taugt, und daß das Wohlergehen der Gesellschaft am besten dadurch gefordert würde, daß jedes Mitglied des staatlichen Verbandes genau die Funktion wahmimmt, zu der es taugt, bedeutet nicht nur eine horizontale, auf der Tauschwirtschaft beruhende Spezialisierung unter gleichberechtigten Bürgern, sondern sie beinhaltet auch eine vertikale Gliederung, eine Dreiteilung der Bevölkerung in drei unterschiedlich starke Schichten und Klassen.

A) Die Organisation der Wirtschaft

Platon stellt die Polis zunächst als einen Zusammenschluß von Menschen dar, die ihren Vorteil darin finden, ein Gemeinwesen zu bilden, denn "ein Staat entsteht doch, weil jeder einzelne sich selbst nicht genug ist, sondern vieler bedarf."16 Dabei weist Platon insbesondere auf die Rolle der Arbeitsteilung hin. Durch den Zusammenschluß der Menschen innerhalb der Gemeinschaft erhalten sie die Möglichkeit, Aufgaben

15 Vgl. Denis, H., Geschichte, 1985, S. 20.16 Platon, Politeia, 1971, 368e.

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untereinander aufzuteilen und sich mehr und mehr in der Ausübung einer Tätigkeit zu spezialisieren.17 Mit den Worten Platons:

"Denn niemand kann sich selbst alles schaffen; jeder von uns hat viele Bedürfnisse ... Es läßt sich viel mehr, leichter und qualitativ besser produzieren, wenn jeder nur das tut, was ihm besonders hegt, und wenn er dies zur rechten Zeit tut."18

Platon begreift die Teilung der Arbeit als Folge der verschiedenen natürlichen Fähigkeiten des Menschen, "daß zuerst jeder einzelne dem anderen nicht sehr ähnlich geartet ist, sondern von Natur verschieden und jeder zu einem anderen Geschäft geeignet."19 Als Folge der Arbeitsteilung entstehen der "Markt und die Münze als bestimmtes Zeichen zum Behuf des Tausches."20

Auf diese Art und Weise entwickeln sich schließlich das Handwerk sowie der Binnen- und der Außenhandel, die in den Seelen eine Neigung, ständig sein Wort zu brechen und unehrlich zu sein, erzeugen. Mit den Worten Platons:

"Der Reichtum verdirbt die Seele des Menschen durch Genußsucht, die Armut wird durch ihren Jammer in das schamlose Gebaren selbst hineingetrieben."21

Platons Einstellung gegenüber dem Handel ist grundsätzlich negativ: Während er im "Staat" noch die Berechtigung des Außenhandels anerkennt, leimt er in den "Gesetzen" jeglichen Handel ab. Vor allem richtet sich Platon gegen diejenigen, die ohne Arbeit in dem von ihm vertretenen Sinn, d.h. Bebauung des Bodens, Gewinne zu erzielen versuchen. 22

17 Vgl. Denis, H., Geschichte, 1985, S. 20.18 Platon, Politeia, 1971, 369c/370a.19 Platon, Politeia, 1971, 369b.20 Platon, Politeia, 1971, 371b, c.21 Platon, Nomoi, 1971, 919c.22 Platon entwirft in diesem Zusammenhang eine Systematik der Erwerbskünste. Die Erwerbskunst steht im Gegensatz zur hervorbringenden Kunst und teilt sich in die erbeutende (z.B. die Jagd) und die austauschende Erwerbskunst. Die letztere wiederum teilt sich in den Eigenverkauf der Selbsterzeuger und den die Werke anderer umsetzenden Zwischenhandel. Den griechischen Bürgern war es verboten, sich im Handel oder im Handwerk zu betätigen.

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Eine Ordnung der Güter nach ihrem Nutzen für das wirtschaftliche Subjekt kommt nach Platon nicht in Frage; wo sich wirtschaftliches Tun verselbständigt, kommen nur Gier und Übervorteilung heraus. Der Bürger soll seinen Erwerb auf sinnvolle Feldarbeit beschränken.23

Auch die Ungerechtigkeit beim Tausch kann zur Zerstörung der Gemeinschaft führen, denn durch das Gewinnstreben werden eigennützige Interessen verfolgt, die sich gegen die Gemeinschaft richten. Dieses Streben muß durch das Gesetz eingedämmt werden.

Leidenschaftlich hat sich Platon um eine Lösung des Problems bemüht, daß der Handel eine Quelle des Reichtums für die griechische Welt darstellt. Als Schüler des Sokrates vertritt Platon den Standpunkt des Moralisten: Er erachtet es für notwendig, von der Gesellschaft jede Gelegenheit zu Handlungen femzuhalten, die die Seele des Einzelnen verderben könnten. Dabei richtet er sich vor allem gegen kommerzielle Betätigungen. Platon möchte den alten Zustand der Welt wiederherstellen. Sein Vorbild ist Sparta, das seine Tradition weit besser als Athen bewahrt hat.24

B) Die Gesellschaftsordnung

Grundsätzlich unterscheidet Platon in dem von ihm konzipierten Gemeinwesen drei Gesellschaftsklassen, die dem psychischen Bereich des Individuums entsprechen, denn auch die menschliche Seele ist dreiteilig: Von Gerechtigkeit als Tugend des Staates kann in Platos Augen genau dann die Rede sein, wenn die durch die Tugend der Weisheit, Tapferkeit und Besonnenheit bzw. Mäßigung je spezifisch definierten Stände eine harmonische, und das heißt: im Sinne der natürlichen Unter- bzw. Überordnung charakterisierte Beziehung aufweisen.25

Diese Bereiche sollten vielmehr den Metöken und ihren Sklaven Vorbehalten bleiben. Vgl. Platon, Nomoi, 1971, 743d.; vgl. Schefold, B., Platon und Aristoteles, 1989, S. 31.23 Platon, Nomoi, 1971, 743d.24 Vgl. Denis, H., Geschichte, 1985, S. 27.25 Vgl. Graeser, A., Die Philosophie der Antike 2, 1993, S. 186.

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Darüber hinaus muß jedes Individuum dem seiner natürlichen Veranlagung entsprechenden Stand zugeordnet sein und seinerseits eine 'gerechte Seelenverfassung' aufweisen. Eine in diesem Sinne harmonische Seelenverfassung liegt dann vor, wenn die Seelenteile, die ja als Träger der Tugenden Weisheit, Tapferkeit und Mäßigung vorgestellt werden, ihrerseits im Verhältnis natürlicher Über- und Unterordung stehen. Wie im Einzelmenschen die Gerechtigkeit darin liegt, daß diese drei in das richtigen Verhältnis kommen, so bestehen im staatlichen Leben von Natur aus drei verschiedene Aufgaben: Ernährung und Erwerb als Grundlage, Verteidigung nach außen und Leitung durch Vernunft.26 Dieser Aufgabenteilung entsprechen die drei natürlichen Stände: die Gewerbetreibenden, die Wächter und die Herrschenden.

Den Kriegern, bzw. Wächtern obhegt die Verteidigung und die Aufrechterhaltung der inneren Ordnung, während die Händler für das materielle Wohlergehen innerhalb der Gesellschaft sorgen. Die Klasse der Führer leitet das Gemeinwesen insgesamt. In Platons idealem Staat herrschen die Philosophen, denn

"wenn nicht... die Philosophen Könige werden in den Staaten oder die ietzt sogenannten Könige und Gewalthaber wahrhaft und gründlich philosophieren und also dieses beides zusammenfällt, die Staatsgewalt und die Philosophie ..., eher gibt es keine Erholung von dem Übel für die Staaten ... und ... auch nicht für das menschliche Geschlecht."27

Im Rahmen der Erziehung werden die besten Mitglieder des Gemeinwesens ausgesucht, die der Klasse der Wächter zugeteilt werden. Die zukünftigen Führer werden dann unter ihnen ausgewählt: Die Auslese der künftigen Führer wird durch moralische Prüfungen getroffen, damit ersichtlich wird, wer sich über das eigeneInteresse hinwegzusetzen und den Verlockungen des Vergnügens zu widerstehen

28vermag.

26 Vgl, Störig, HJ., Weltgeschichte, 1989, S. 168.27 Platon, Politeia, 1971, 473c, d.28 Vor allem der Beruf des Soldaten setzt Eigenschaften voraus, die nicht jeder aufweist, nämlich die Verbindung der physischen Kraft mit der „philosophischen Anlage“, die es ihm

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Erhält jeder innerhalb der Gesellschaft die Position, die seinen Fälligkeiten entspricht, so ist die Gerechtigkeit verwirklicht. Von den modernen Vorstellungen weicht Platons Auffassung insofern ab, als sie die Güterverteilung unter den einzelnen unberücksichtigt läßt. Dem Einzelnen räumt Platon keinerlei Anspruch auf das Sozialprodukt ein. Vielmehr will er ihn zu einer Lebensführung verpflichten, die der gesellschaftlichen Aufgabe entsprechen soll, auf welche er aufgrund seiner Fähigkeiten ein Anrecht hat.

Aus diesem Grunde ist es nach Platons Auffassung unerläßlich, daß die Soldaten und Wächter von anderweitiger Inanspruchnahme befreit werden und ihre Seelen vor der verunreinigenden Berührung mit Geldgeschäften und gewerblichen Angelegenheiten bewahren. Platon, der während der Blütezeit der athenischen Kultur im vierten vorchristlichen Jahrhundert lebte, vertrat die aristokratische Tradition: Er sah geringschätzig auf körperliche Arbeit und auf die Jagd nach Reichtum herab und pries dafür den Krieger, Staatsmann und Landwirt; die Gewinnsucht des Handels verabscheute er.29

Platon möchte den Wächtern und Soldaten jegliche Beschäftigung untersagen, die dem Erwerb von Gütern dient. Sie sollen ihren Unterhalt von der unteren Klasse beziehen und wie Soldaten im Feld in Gemeinschaft leben, ohne persönliches Eigentum und ohne Erfahrung im Umgang mit Geld. Darüber hinaus spricht sich Platon im zweiten Stand für Kinder- und Frauengemeinschaft aus: Nach Erreichung eines bestimmten Alters sollen Männer und Frauen Kinder in solcher Weise zeugen, daß die Vaterschaft unter keinen Umständen ermittelt werden kann. Alle Rinder sollen zueinander wie Brüder und Schwestern stehen; sie sollen mit Vater und Mutter alle Bürger anreden, die sie gezeugt haben könnten. Dennoch kann Platons Staatsauffassung nicht als Kommunismus verstanden werden: Der strengeKollektivismus gilt nur für den Stand der Wächter und Soldaten.

ermöglicht, rücksichtslos gegen den Feind zu kämpfen und gegenüber den Mitmenschen Milde walten zu lassen. Vgl. Denis, H., Geschichte, 1985, S. 18.29 Vgl. Soule, G., Ideen, 1955, S. 17.

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In den Gesetzen (Nomoi), die Platon wahrscheinlich in höherem Alter geschrieben hat, räumt er jedoch ein, daß der Kommunismus des Idealstaats, in dem "die Frauen gemeinsam sind, die Kinder gemeinsam und gemeinsam aller Geldbesitz'', eine Utopie ist, die sich zu seiner Zeit nicht verwirklichen läßt.30 Im Staat der "Gesetze" wird auch auf die Abschaffung des Privateigentums explizit verzichtet, "da eine solche Forderung etwas Größeres ist, als es dem jetzigen Geschlechte, der jetzigen Erziehung und Ausbildung entspricht."31

Der zweite Stand der Wächter und Soldaten verkörpert gleichsam das Ideal eines antiken Vollbürgertums, das von den niederen Bereichen losgelöst ist. Die von Platon entworfene Lebensweise der Wächter muß daher verstanden werden als "die Forderung eines Idealmenschentums, das nur den philosophisch nächsten menschlichen Aufgaben - der Idee des homo politicus im weitesten Sinne - lebt."32

Insbesondere Denis weist in diesem Zusammenhang darauf hin, daß Platon lediglich ein einziges Mal auf die Beziehungen des einzelnen zur Gesellschaft eingeht, indem er hinterfragt, ob die Wächter und Soldaten durch die Strenge ihrer Lebensführung nicht um ihr individuelles Glück gebracht werden. Letztlich gelangt er jedoch zu der Einsicht, daß man sich in erster Linie um das Glück der Gesamtheit kümmern soll: Ist der Staat glücklich, so haben diese am Glück teil, zu dessen Sicherung sie beitragen.33 Zu Platons idealem Staat gehört gleichsam die soziale Kohäsion; zu große soziale Gegensätze sollen vermieden werden. Anders als Aristoteles geht es Platon nicht um Tauschgerechtigkeit, sondern um soziale Gerechtigkeit. Zur wirtschaftlichen Situation der Wächter und Soldaten äußert Platon:

"Besäßen sie aber selbst eigenes Land und Wohnungen, so würden sie dann Hauswirte und Landwirte sein statt Wächter ... und würden so, hassend und gehaßt, belauernd und selbst belauert, ihr ganzes Leben hinbringen, weit mehr die Feinde drinnen als die draußen, und ganz nahe an ihrem Verderben hinlaufend, sie selbst und die ganze Stadt."34

30 Platon, Nomoi, 1971,739c.31 Platon, Nomoi, 1971, 740a.32 Schefold, B , Platon und Aristoteles, 1989, S. 28.33 Vgl. Denis, H., Geschichte, 1985, S. 20.34 Platon, Politeia, 1971, 417a.

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Indem Platon das Glück des Menschen innerhalb des Staates in den Mittelpunkt seiner Überlegungen stellt, kommt seiner Gesellschaftstheorie durchaus Vorläuferfimktion in bezug auf den Utilitarismus zu. Die Gerechtigkeit steht im Zentrum seiner Überlegungen; das Wohlergehen des gesamten Gemeinwesens ist fiir ihn von eminenter Wichtigkeit.

Da der Mensch selbst nach Gerechtigkeit strebt, ist jedoch noch nicht der im modernen Utilitarismus vorherrschende Widerspruch zwischen Eigeninteresse und Gemeinwohl gegeben; als fundamentaler Unterschied zum modernen Utilitarismus muß insbesondere Platons energisches Eintreten gegen das Gewinnstreben des Menschen gewertet werden. Im Gegensatz dazu vertritt Platon ein transzendentales Menschenbild, das den Menschen vor allem dazu anhält, eine Vervollkommnung der menschlichen Seele anzustreben. Rein egoistische Bestrebungen bewirken die Auflösung dieses Ideals.

In Platons Untersuchungen finden sich vor allem Anklänge an den klassischen Utilitarismus von Bentham und John Stuart Mill, denn bereits Platon versucht, einen Staat zu konstruieren, der die Bedürfnisse seiner Bürger optimal befriedigt.35 Insbesondere John Stuart Mill greift in seinem Utilitarismus den von Platon vertretenen Elitarismus innerhalb des Staates auf: Nur wer geistig hoch entwickelt ist, ist dazu geeignet, ein staatliches Amt zu übernehmen.

1.2 Aristoteles: Der Staat als Glücksgarant

Aristoteles (384-322 v.Chr.) gilt als der griechische Denker, der auf das Abendland die größte Wirkung ausgeübt hat. Unter wirtschaftstheoretischen Gesichtspunkten sind vor allem zwei seiner Werke von Bedeutung, die "Politik" und die "Nikomachische Ethik". In ihnen behandelt er wirtschaftliche Fragen unter ethischen Gesichtspunkten. Mit 18 Jahren trat Aristoteles in die Akademie des Platon ein, der er

35 Auch im Hinblick auf seine politischen Ideen weist Platon Affinitäten zum Utilitarismus, insbesondere im Hinblick auf den von John Stuart Mill vertretenen Elitegedanken auf.

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19 Jahre lang bis zum Tod seines Lehrers angehörte. Sein Hauptinteresse galt den Naturwissenschaften, was beweist, das er geistig anders ausgerichtet war als Platon.36 Den „ K o m m u n is m u s “ platonischer Prägung wie auch das Streben nach der von Platon in den "Gesetzen" geforderten Gleichheit lehnt Aristoteles ab. So kommentiert er:

"Im allgemeinen indessen ist das Zusammenleben und die Gemeinschaftlichkeit wie in allen anderen Beziehungen des menschlichen Daseins etwas Schwieriges, so ganz besonders in diesen Dingen ... Denn wir sehen ja, daß gerade Leute, welche etwas gemeinschaftlich besitzen und benutzen, weit leichter über dasselbe miteinander in Streit geraten als andere über ihr Privateigentum.1,37

Trotzdem muß man erkennen, daß Aristoteles keineswegs ein schrankenloses Profitstreben im Sinne des modernen Liberalismus gutheißt. Wie schon Platon, so lehrt auch er, daß die Sucht nach Reichtum ein Laster sei, daß den wahren Zielen und damit dem Glück des Menschen im Wege stehe.

Im Gegensatz zu Platon, der den Menschen an zwei Welten - einer sichtbaren und einer unsichtbaren - teilhaben läßt, ist für Aristoteles der Mensch gänzlich in den Naturkosmos eingebettet.38 Dementsprechend lehnt Aristoteles es ab. die Wissenschaft vom Menschen auf eine Dialektik zu gründen, durch die eine Art ideale Gerechtigkeit begründet werden soll. Auch bei Aristoteles ist der Mensch in eine teleologische Bestimmtheit eingebunden. Er soll sittlich leben, da nur in der Vernunft die spezifisch menschliche Anlage zu ihrer Ausbildung gelangt; nur in der vollen Ausbildung seines Wesens und seiner natürlichen Anlagen erfüllt der Mensch seinen von der Natur bestimmten Zweck. Diesen realisiert der Mensch jedoch keineswegs immer. Die Vollkommenheit ist auch beim Menschen ein Spezialfall des Weltgeschehens.39 Mit den Worten von Aristoteles:

36 Vgl. Denis, H., Geschichte, 1985, S. 30.37 Aristoteles, Politik, 1879, Buch 2, Kapitel 5, 1263a, Zeile 15; 1263b, Zeile 23, 24.38 Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auf die Tatsache, daß sich der von Aristoteles verwendete Ideenbegriff wesentlich vom platonischen unterscheidet. Aristoteles setzt den Anschauungen Platons keine materialistische Philosophie entgegen; in seiner Konzeption führt die Materie keine unabhängige Existenz; die Lehren Platons von der übernatürlichen' Bestimmung der Seele weist er entschieden zurück. Vgl. Denis, H., Geschichte, 1985, S. 34.39 Vgl. Jodl, F., G e s c h i c h t e , f M ÿ,c ;< y p,

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"... Setzen wir als Aufgabe und Leistung des Menschen eine bestimmte Lebensform und als deren Inhalt ein Tätigsein und Wirken der Seele ..., so gewinnen wir schließlich als Ergebnis: Das oberste dem Menschen erreichbare Gut stellt sich dar als ein Tätigsein der Seele im Sinne der ihr wesenhaften Tätigkeit."40

Indem Aristoteles im Rahmen seiner "Nikomachischen Ethik" bereits eine Unterscheidung zwischen natürlicher und gesetzhoher Ordnung trifft, kommt ihm eine Vorläuferfimktion zu der sich später herausbildenden Naturrechtsphilosophie zu. Ziel des Staates hegt bei Aristoteles darin, der im Menschen selbst angelegten natürlichen Ordnung Ausdruck zu verleihen. Das Naturrecht liefert die Grundlage fur menschliches Recht, das dazu dient, die Wechselfälle des sozialen Lebens den von der Vernunft erlassenen Geboten anzupassen.

1.2.1 Das Menschenbild

Den Ursprung der Gesellschaft sucht Aristoteles in den natürlichen gesellschaftlichen Trieben des Menschen. Der Mensch ist für Aristoteles vor allem "politisches" Sinueuwesen (zoon poutikon):

"Nun hat aber der Mensch die Sprache allein im Unterschiede von allen Tieren, und während demgemäß die bloße Stimme nur die Empfindung des Angenehmen und Unangenehmen auszudrücken mag und daher auch den Tieren zukommt ... so ist dagegen die Sprache dazu bestimmt, das Nützliche und Schädhche deutlich kundzutun ..., denn das ist eben dem Menschen eigentümlich im Gegensatz zu den Tieren, daß er allein von Gut und Böse, von Recht und Unrecht und Allem, was dahingehört, Empfindung hat. Die Gemeinschaft unter so gearteten Wesen ruft aber eben die Familie und den Staat ins Leben."41

Daraus leitet Aristoteles ab, daß sich die Wissenschaft vom Menschen mit dem einzelnen, der Familie und dem Staat zugleich beschäftigen muß: Als Ethik hat sie das

40 Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1956, 1097b-1098a.41 Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1956, 1097b-1098a.

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Verhalten des einzelnen, als Ökonomie das Leben in der Hausgemeinschaft und als Politik das Leben im Staat zum Gegenstand. Der Politik weist Aristoteles den höchsten Rang zu. Dabei betont er besonders, daß die persönliche Freiheit und Initiative des Menschen nicht durch eine übertriebene Unterordnung des einzelnen unter den Staat eingeschränkt werden darf.

Dennoch erfährt der Mensch nur innerhalb des Staates seine Existenzberechtigung. Alle Lebensäußerungen des Individuums können daher vom Staat kontrolliert werden. Andererseits hegt es gerade im Interesse des Staates, daß dem Individuum ein individueller Freiheitsspielraum gewährt wird. Zur Privatsphäre des Individuums gehören ein nach eigenem Ermessen eingerichtetes Familienleben, der Eigenbesitz an wirtschaftlichen Gütern und die freie Berufswahl.42

Grundsätzlich unterscheidet Aristoteles drei Arten, nach denen der Mensch Glück erlangen kann. Zu diesen zählt er die Lust, die Ehre und die geistige Tätigkeit. Wer sein Glück in der Lust sucht, unterscheidet sich durch nichts vom Sklaven und wählt ein gänzlich tierhaftes Leben, und nach Ehrungen strebt der Mensch nur, um sich seinen eigenen Wert bestätigen zu lassen. Das wahre Glück ist folglich nur in der geistigen Tätigkeit zu finden. Gerade der Gedanke, daß sich das wahre Glück im irdischen Leben des Einzelnen verwirklichen soll, unterscheidet Aristoteles dabei wesentlich von Platon.

Selbst in der geistigen und politischen Tätigkeit kann der Mensch nur ein relativ hohes Glück finden. Der Mensch gehört nicht der götthchen Welt des Unveränderlichen an, ja nicht einmal der Welt der Fixsterne', die mit ihrer ständig gleichförmigen Kreisbewegung in gewisser Weise ein Spiegelbild der Unveränderlichkeit des Götthchen sind. Die Welt des Menschen ist die 'sublunare' Welt, die unentrinnbar dem Zufall unterworfen ist.

Auch bei Aristoteles liegt die Selbstvollendung im wohlgestalteten Leben. Den Kern der Tugend, die er in praktische und theoretische teilte, erblickte Aristoteles in der Herrschaft der Vernunft über die Begierden. Die Vernunft allein kann den Menschen

42 Vgl. Amonn, A., Nationalökonomie, 1961, S. 45.

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zu seinem Glück fuhren. Dagegen maß er den äußeren, körperlichen Gütern nur sehr untergeordnete Bedeutung bei, würdigte sie aber immerhin.43 Das Glück des Menschen umfaßt auch die Güterwelt, wobei jede Güterstufe ihren vom Ganzen gesetzten Zweck erfüllt. Die wirtschaftlichen Güter stehen dabei an letzter Stelle.'44 Der Mensch kann nach Auffassung von Aristoteles nicht vollkommen glücklich sein, wenn er von Natur aus benachteiligt ist. Außerdem setzt Glück materielle Güter voraus:

"Indes gehören zum Glück doch auch die äußeren Güter, wie wir gesagt haben. Denn es ist unmöglich, zum mindesten nicht leicht, durch edle Taten zu glänzen, wenn man über keine Hilfsmittel verfügt."45

Von den für das Glück notwendigen Gütern braucht der Mensch um so weniger, je besser er selber ist.46 Die Gütererzeugung, die zu den niedrigeren Tätigkeiten zählt, obliegt den Sklaven. Dazu kommentiert Aristoteles:

"Alle diejenigen, die, welche soweit von anderen abstehen wie der Leib von der Seele und das Tier vom Menschen - in diesem Falle befinden sich aber ahe die,

welche ihre Aufgabe im Gebrauch ihrer Körperkräfte finden und bei denen dies ihre höchste Leistung ist - diese, sage ich, sind Sklaven von Natur, für die es besser ist, wenn sie auch tatsächlich als solche regiert werden."47

Auch die Sklaverei im ersten Buch der Politik wird von Aristoteles teleologisch begründet: Die Natur selbst möchte, daß die Barbaren von den Hellenen als ihr Sacheigentum beherrscht und behandelt werden. Dazu kommentiert Aristoteles:

"Deijenige Mensch, welcher von Natur nicht sich selber, sondern einem anderen angehört, der ist Sklave von Natur."48

43 Vgl. Surânyi-Unger, T., Wirtschaftsphilosophie, 1967, S. 21.44 Vgl. Tautscher, A. Geschichte, 1950, S. 13.45 Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1956, 1099a-b.46 Dazu kommentiert Aristoteles: „Denn um glückselig zu leben, bedarf es stets äußerer Hilfsmittel, jedoch für die besser Gearteten in geringerem und für die Schlechteren in höherem Grade.“ Aristoteles, Politik, 1879, Buch 2, Kapitel 5, 1332a, Zeile 1.47 Aristoteles, Politik, 1879, ebenda, 1280b, Zeile 34.48 Aristoteles, Politik, 1879, Buch 1, Kap. 4, 1254a, Zeile 14f.

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Auf diese Art und Weise können Barbaren rechtens von den Griechen als Werkzeuge benutzt werden. Wenn Aristoteles die Prämisse vertritt, daß Gleichen gleiche Rechte gebühren, so geschieht dies mit der Prämisse der natürlichen Ungleichheit der Menschen. Barbaren sind aufgrund der von ihnen ausgeübten Tätigkeiten ungleich. Wer seinen Lebensunterhalt erarbeiten muß, ist nicht Teil der Bürgerschaft und unterliegt damit nicht der Gleichheitsmaxime. Mit dieser Begründung hat Aristoteles bereits ein Stück eigener Naturrechtslehre geschaffen.

Wahre Tugend gibt es nach Aristoteles nur in der politischen Gemeinschaft. Die Aufgabe des Staates besteht dementsprechend darin, das Glück des Menschen zu befördern. Ausgangspunkt ist der Gedanke, daß der Staat kein Zweckverband zur Befriedigung materieller Bedürfnisse ist, sondern eine Gemeinschaft von Menschen, die das Glück des Einzelnen durch die Ausübung der Tugend und durch die Entwicklung des geistigen Lebens ermöglichen soh. So beschreibt Aristoteles den Staat als eine Gemeinschaft "zum Zweck eines vollendeten und sich selbst genügenden Lebens."49 Auch bei Aristoteles ist der Staat somit eine geistig geprägte Wirklichkeit.

1.2.2 Die Folgen für die Organisation der Wirtschaft

Aus dieser Standortbestimmung wird auch die Wirtschaftslehre abgeleitet. Wenn der Zweck des Staates in der Verwirklichung des schönen und guten Lebens hegt, so kann daneben ein selbständiger, auf die Hervorbringung von Reichtum gerichteter Wirtschaftszweck nicht gelten. Der Wirtschaftszweck ist vielmehr in der Mittelbeschafïung fur die von der Gemeinschaft zu entfaltenden Zwecke gegeben.

Es gibt keinen rein wirtschaftlichen Zweck des Reichtums, sondern lediglich einen gesellschaftlichen Zweck, der dem verfügbaren Güterfonds die Grenzen setzt. Soweit der Bedarf an Gütern für das wohlständige Leben in Haus und Staat reicht, so weit sind dem diesem Zweck dienenden Reichtum die Grenzen gesteckt, aber nicht weiter.

45 Aristoteles, Politik, 1879, ebenda, 1280b, Zeile 34.

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Während die Ökonomik lehrt, die Güter ihrem natürlichen Zweck gemäß zu gebrauchen, ist der Gegenstand der Chrematistik die naturwidrige grenzenlose Erwerbssucht.

Grundsätzlich unterscheidet Aristoteles zwischen künstlichem und natürlichem Gütererwerb: Zu den natürlichen Formen des Gütererwerbs zählt er den Ackerbau, die Viehzucht, den Fischfang und die Jagd. Bei all diesen Tätigkeiten bringt der Mensch lebende Wesen in seinen Besitz, und "wenn die Natur nichts zwecklos und vergebens tut, so ist hiernach notwendig anzunehmen, daß sie selber dies Alles der Menschen wegen gemacht hat."50

Im Gegensatz dazu ist der Handel eine Form des Gütererwerbs, der nicht der Natur entspricht und folglich verurteilt werden muß. An sich entwickelt sich der Handel natürlich als eine Folge unterschiedlicher Bedürfnisse. Mit dem Aufkommen von Geld als Tauschmittel entfällt jedoch die natürliche Beschränkung des Handels. Im Handel mißachtet der Einzelne jedes Maß, das auf das Gute ausgerichtete Leben des Menschen wird nicht mehr angestrebt. Aristoteles richtet sich damit gegen ein Eindringen des Händlergeistes in den Staat.

Aristoteles sieht jedoch, daß die Erwerbskunst durch den Tausch notwendig sein kann und in der Polis nützlich ist. Das Streben, Reichtum zu sammeln, entspricht der menschlichen Natur; die Übertreibung wird von Aristoteles jedoch verurteilt. Erwerb durch Tausch wird also nur positiv bewertet, solange dies der Bedarfsdeckung dient. Handel als Mittel zur individuellen Gewinnerzielung wird dagegen abgelehnt.51

Die Grundlage für den Tausch ist die Gerechtigkeit: Aus dem Begriff der Gerechtigkeit versucht Aristoteles abzuleiten, was im Tauschverkehr der Polis gerechtfertigt erscheint. 'Gerecht' ist im Wirtschaftsleben das, was das Glück der Staatsgemeinschafi schafft und erhält. Aristoteles unterscheidet zwei Arten der Gerechtigkeit: Verteilende (distributive) Gerechtigkeit und austeilende (kommutative) Gerechtigkeit, eine Unterscheidung, die später von Thomas von Aquin aufgegriffen

50 Aristoteles, Politik, 1879, ebenda, 156b, Zeile 22.51 Vgl. Schinzinger, F., Vorläufer, 1984, S. 19.

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wird.52 Aus der kommutativen Gerechtigkeit werden die Begriffe Gewinn und Verlust abgeleitet. Das 'Gerechte' befindet sich in der Mitte von Gewinn und Verlust. Durch gerechten' Tausch wird das Wohl aller Bewohner der Pohs verbessert. Dazu sagt

Aristoteles:

"In jedem auf Gegenseitigkeit beruhenden Verkehr gibt es eine Wiedervergeltung nach Maßgabe der Proportionalität, nicht nach Maßgabe der Gleichheit... Der Baumeister muß vom Schuster dessen Arbeit bekommen und selbst ihm die seinige dafür geben."53

Die Kunst des Haushaltens findet in zwei Bereichen ihren Niederschlag, zum einen in der Verwaltung des antiken Großhaushaltes, zum anderen in der Kunst des Erwerbs. Die Erwerbskunst wird nicht innerhalb des Haushaltes ausgeübt, sondern versorgt den Haushalt mit Gütern von außen. Grundsätzlich unterteilt Aristoteles die Erwerbskunst ("Chrematistik") in zwei unterschiedliche Formen: Der Erwerb von Gütern zur Befriedigung von Bedürfnissen ist natürlich, und Aristoteles ordnet diese Tätigkeit dem Bereich der Hauswirtschaft zu. Von dieser grenzt er die Handelstätigkeit oder Erwerbskunst ab, die er verurteilt:

"Die Anwendung der einen (Erwerbskunst) spielt in die der anderen hinüber, weil beides Anwendungen derselben Sache sind. Es sind nämlich Anwendungen einer und derselben Gattung von Besitz, aber seitens der einen Erwerbskunst zu einem Zweck und seitens der anderen bloß zu seiner Vermehrung. Daher glauben manche, das sei die Aufgabe der Hausverwaltungskunst... . Die Ursache solcher Denkweise aber hegt darin, daß sich die meisten Menschen nur um das Leben und nicht um das vollkommene Leben sorgen, und da nun die Lust am Leben ins Endlose geht, so trachten sie auch, die Mittel zum Leben ins Endlose anzuhäufen."54

52 Die austeilende Gerechtigkeit gilt für alle Verteilungen der öffentlichen Hand; dem einzelnen wird das zugeteilt, wessen er würdig ist. Die ausgleichende Gerechtigkeit betrifft Vertragsschluß, Güteraustausch und Rechtshandel zwischen einzelnen. Hier werden die Personen als gleich betrachtet. Der Verkehr muß darauf zielen, daß Leistung und Gegenleistung äquivalent sind. Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1956, 1129a-l 134b.53 Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1956,1132b.54 Anstoteles, Politik, 1879, ebenda, 1257b, Zeile 36 bis 1258a, Zeile 14. Aristoteles kennt drei Formen der verwerflichen Erwerbskunst. Zu diesen zählt er den Außenhandel, den

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Degenige, der den Handel zum Beruf macht, schließt sich aus dem Kreis der wahren Menschen aus, für ihn gibt es im Staat keinen Platz mehr. Selbstverständlich ist der Handel mit entfernteren Gebieten nützlich und für den Staat unentbehrlich, der Handel sollte jedoch nach Möglichkeit den Fremden überlassen werden.55 Für den Menschen ergibt sich letztlich folgendes Ergebnis:

"(Es) ergibt sich denn, daß in dem aufs schönste verwalteten Staat, dessen Bürger gerechte Männer schlechthin sind, dieselben weder das Leben eines Handwerkers noch das eines Kaufmannes fuhren dürfen, denn ein solches ist unedel und der Tugend zuwider ,.."56

Indem Aristoteles den Unterschied zwischen einer natürlichen und einer positiven Ordnung in den Mittelpunkt seiner Überlegungen stellt, schafft er gewissermaßen die Grundvoraussetzungen für das Aufkommen des späteren Utilitarismus. Dieser beinhaltet die Entwicklung von einer natürlichen hin zu einer nur vom Menschen geschaffenen Ordnung als zentrales Thema.

In seinem Glücksbegriff nimmt Aristoteles bereits die Gedanken von John Stuart Mill vorweg. Wahrhaft glücklich ist nur deijenige, der sich mit rein „geistigen“ Tätigkeiten befaßt. Die Selbstvollendung des Menschen liegt in der Realisierung eines tugendhaften Lebens; dem Staat obliegt es, die Grundlagen für das Glück des Menschen zu schaffen. Im Einklang mit den Ansichten Platons lehnt auch Aristoteles jeglichen wirtschaftlichen Zweck des Reichtums ab.

Abschließend läßt sich festhalten, daß Aristoteles ebenso wie Platon ein Idealbild der Polis gegen das wirtschaftsorientierte Denken seiner Zeit geltend macht. Auch die wirtschaftspolitischen Empfehlungen des Aristoteles entsprechen seinem ausschließlichen Interesse am Kunstwerk der Polis. Im nachfolgenden hellenistischen

Geldverleih gegen Zinsen und die „Lohnarbeit“. So äußert Aristoteles: „So ist mit dem größten Recht das Wuchergeschäft verhaßt, weil dieses unmittelbar aus dem Gelde selber den Erwerb zieht und nicht aus dem, wofür das Geld doch allein erfunden worden ist.“ Aristoteles, Politik, 1879,1258b, Zeile 1-8.55 Vgl. Aristoteles, Politik, 1879, 1327a, Zeile 26.56 Aristoteles, Politik, 1879, 1328b, Z. 39 bis 1329a, Z. 1.

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Zeitalter wurde die östlich-mittelmeerische Welt zunehmend 'ökonomischer' und 'privater'. Das philosophische Denken aber stagnierte und wandte sich Fragen eines weitabgewandten Seelenheils zu.57

1.3 Der Hedonismus in der römischen Antike

Erste Ansätze hedonistischen Denkens, das einen Hauptbestandteil des Utilitarismus im 19. Jahrhundert ausmacht, finden sich bei Aristippos von Kyrene und bei Epikur. Nach allgemeiner Auffassung ist jedoch Epikur derjenige, der "die Lust konsequent zum obersten Prinzip seiner Ethik gemacht hat und auf dieser Grundlage ein eigenständiges System des Hedonismus bietet."58

Der Philosoph Epikur, zwar attischer Herkunft, aber in Samos geboren und um 300 v. Chr. vor allem in Athen lehrend, gehört der geistigen Bewegung des Hellenismus an. In eben dem Maße, in dem griechisches Wesen dabei auf die Lebensbedingungen und -anschauungen der nicht-griechischen Völker des Orients einwirkte, wurde es selbst im Verlaufe dieses Prozesses von orientalischen Elementen durchdrungen und umgeformt. Die griechische Kultur streifte damit ihren nationalgriechischeii Charakter weitgehend ab und wurde zu einer kosmopolitischen Menschheitskultur.

Epikur teilt in Abkehr von Platon und Aristoteles mit den anderen hellenistischen Philosophien die Hinwendung zum Subjektiven. Ziel ist das Glück (Eudaimonie) des einzelnen. Im Gegensatz zu den Grundanschauungen des Platon und des Aristoteles lehrt Epikur, daß man auch ohne Hilfe des Staates als einzelner einen Weg zur Weisheit finden könne. Der von ihm entwickelte Hedonismus ist dementsprechend eine rein individualistische Doktrin. Mit dieser Ansicht fand Epikur einen überaus starken, für das Verblassen des früheren politischen Ideals der Griechen kennzeichnenden Widerhall.

57 Vgl. Surânyi-Unger, T., Wirtschaftsphilosophie, 1967, S. 22.58 Erler, M., Epikur, 1994, S. 155.

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Entsprechend dem Charakter des Hedonismus als rein individualistische Doktrin mißt Epikur auch der Freiheit des Individuums innerhalb seiner Ethik einen herausragenden Platz zu: Hier klafft ein Widerspruch zwischen der prinzipiell deterministischen Physik Epikurs und einer indeterministischen Ethik, die auf dem Verlangen nach individueller Freiheit beruht.59

Das Interesse Epikurs richtet sich fast ausschließlich auf die praktische Philosophie, da es ihm um die Glückseligkeit des Menschen geht, die aber nicht wie bei Platon, Aristoteles und den Stoikern durch Tugend als deren Folge sich einstellt, sondern unmittelbar durch einen heiteren Lebensgenuß erzeugt werden soll.60 Der Ursinn des Wortes 'gut' besagt nach den Epikureern nicht den Einklang mit irgendeiner Ordnung idealer oder realer Art, sondern drückt im Grunde eine Beziehung zum Begehrungsvermögen des Menschen aus.

Grundsätzlich versteht sich Epikurs Philosophie als Therapie der Seele. Sie soll die Furcht vor den Göttern, vor dem Tod und ganz allgemein vor dem Ungewissen beseitigen helfen und den Menschen auf diese Art und Weise zur Seelenruhe führen. Epikur verstand sich somit als Seelenarzt; von ihm lernte man, Begierden zu kontrollieren, unnötige Bedürfnisse za reduzieren und somit innerlich unabhängig zu werden, denn nach Auffassung der Epikureer ist die Hauptsache der Glückseligkeit die innere Einstellung, über die der Mensch selbst Herr ist.61

Epikurs Ethik, vor allem seine These, daß das Ziel allen Handelns die Lust ist, ist immer wieder angegriffen worden. Die Polemik um diese Haltung läßt sich bis in die heidnische und christliche Antike zurückverfolgen und reicht über das Mittelalter und die Renaissance bis in die Neuzeit. Epikur selbst nimmt im "Brief an Menoceus" Stellung zu derartigen Fehlinterpretationen. Krassen körperlichen Genuß lehnt er gerade ab, propagiert als oberstes Ziel die Freiheit von körperlichem Schmerz und seelischer Unruhe und zieht ausdrücklich nüchternen Verstand prunkvollen Tischgelagen vor.

59 Vgl. Praechter, K., Die Philosophie des Altertums, 1957, S. 453.60 Vgl. Ziegenfuss, W., Philosophenlexikon, 1949, S. 289.61 Vgl. Erler, M., Epikur, 1994, S. 126.

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1.3.1 Die Unlustfreiheit als höchstes Glück

Nach Epikur hat die Natur dem Menschen die Empfindungen der Freude und des Schmerzes als einzige Orientierungsmittel für seine Handlungsentscheidungen mit auf den Weg gegeben. Epikur betrachtet die Glückseligkeit als alleiniges Ziel des Menschen und bezeichnet diese sehr einfach als Gewinnung von Lust und Vermeidung von Unlust. Für diese Grundthese führt Epikur keinen Beweis an. Er verweist vielmehr auf allgemeine Beobachtung, wonach die Menschen von Natur aus nach Lust streben, weil sie ein Gut ist und Unlust vermeiden, weil sie ein Übel ist. Die Lust ist nach Epikur "Anfang und Ende des seligen Lebens11.62

Indem Epikur der Lust, d.h. einer individuellen Befindlichkeit, den Rang eines höchsten Gutes, dem Schmerz den des größten Übels zuspricht, vollzieht er den letzten Schritt eines Wandels von der auf die Tugend bezogenen älteren Güterethik über die von der richtigen Verfassung der Seele handelnden Ethik Platons und Aristoteles hin zu einem Eudaimoniebegriff, dem die subjektive Empfindung als Leitfaden dient. Bei Epikur hegt alles Gut und Übel letztlich in der Empfindung. Die ambivalente Auffassung Platons und Aristoteles, die der Lust positive und negative Aspekte abgewiimen, lehnt Epikur ab und betrachtet die Lust als etwas grundsätzlich Positives.

Im Rahmen seiner hedonistischen Grundeinstellung kann Epikur auf einige Vorgänger zurückblicken: Dazu zählen zum einen Demokrit und Nausiphanes, der Lehrer Epikurs, zum anderen die von Aristipp begründete kyrenaische Schule.“ Insbesondere Aristipp vertritt einen Hedonismus, der in erster Linie auf körperlicher Lustempfindung beruht.64

Demgegenüber vertritt Epikur eine Lustkonzeption, die Schmerzlosigkeit und Unlustfreiheit propagiert. So bezeichnet er als Unlustfreiheit "die Gesundheit des Körpers und die Ataraxie (Gleichmut) der Seele", "denn deswegen tun wir alles, damit

62 Epikur, Menoceusbrief, in: Arighetti, G. (Hrsg.), Epicuro, Opere, S. 128, 131.63 Vgl. Hirschberger, J., Geschichte, 1965, S. 71.64 Aristipp hatte ein Lustempfinden im Auge, das in erster Linie heftiges Erleben war; erwollte die „Lust der Bewegung“. Vgl. Hirschberger, J., Geschichte, 1965, S. 285.

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wir weder Schmerzen noch Aufregung haben."65 An anderer Stelle nimmt er eine Gleichsetzung von Unlustfreiheit und Lust vor:

"Wenn wir nun sagen, die Lust sei höchstes Gut, dann meinen wir nicht die Lüste der Prasser und des Genießens,... sondern das Freisein von körperlichem Schmerz und seelischer Aufregung.1'66

Für Epikur liegt die Glückseligkeit letztlich in der Ataraxie, der "Seelenruhe". Damit befindet sich Epikur im Gegensatz zu dem, was man normalerweise als Hedonismus bezeichnet. Obwohl Epikur von Lust und Schmerz sehr oft in Bezug auf den Körper spricht, betont er auch die Bedeutung der Vernunft und des Zustandes der Seele für ein lustvolles Leben. Nicht Ausschweifung und Luxus

"schaffen das lustvolle Leben, sondern nüchternes Rechnen der Vernunft, das die Gründe alles Wählens und Meidens erforscht und das die Wahnvorstellungen vertreibt, dessentwegen größte Aufregung die Seelen ergreift."67

Während die Seelenruhe durch das Erinnerungsvermögen an Gegenwärtiges, Zukünftiges und Vergangenes bestimmt wird, ist das körperliche Wohlbefinden allein durch Gegenwärtiges betroffen. Die geistige Lust kann entsprechend Epikurs Materialismus nicht der Körperlichkeit entbehren, keine der beiden Seiten darf verselbständigt werden.

1.3.2 Der Weg zum Glück

Da Epikur der Ansicht ist, daß der Mensch selbst durch seine innere Einstellung für sein Glück verantwortlich ist, muß er in sich selbst alle Ursachen der Unlust beseitigen. Es ist insbesondere Aufgabe der Philosophie, beim Menschen diejenigen Mängel' aufzuspüren, die zu Unlust fuhren können.68

65 Epikur, Menoceusbrief, 1960, 1973, S. 128/131.66 Epikur, Menoceusbrief, ebenda.67 Hossenfelder, M., Die Philosophie der Antike, Bd. 3, 1993, S. 110.

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Voraussetzung fur das Erreichen der Eudämonie und damit völliger Freiheit von Unlust ist die Beseitigung der Ursachen der Unlust, zu denen Epikur die Erfüllung der Begierden, die Stillung des Schmerzes und die Vertreibung der Furcht zählt. Da Epikur Unlust als "unerfülltes Bedürfnis" definiert, darf es folglich keine "unerfüllten Bedürfnisse" geben, die aus den Quellen Begierde, Furcht und Schmerz entstehen.

Um körperliche Gesundheit und Seelenruhe zu gewinnen, muß man aus mehreren Klassen von Begierden alleine die notwendigen und natürlichen Begierden befriedigen. Epikur bietet deshalb eine Analyse der Begierden: Von ihnen sind

"die einen natürlich, die anderen leer, und von den natürlichen die einen notwendig, die anderen nur natürlich; von den notwendigen wiederum sind die einen zur

Glückseligkeit notwendig, die anderen zur Störungsfieiheit des Körpers, die dritten zum bloßen Leben.1,69

Nach Epikurs Ansicht geht nur die Nichterfüllung der notwendigen und natürlichen Begierden mit der Entstehung von Unlust einher; die Erfüllung der notwendigen Begierden ist jedoch leicht, da die Natur die Erfüllung der notwendigen Begierden leicht gemacht hat. Als weitere Quelle unerfüllbarer Bedürfnisse erkennt Epikur die Furcht, denn Furcht erzeugt den Wunsch, einem drohenden Übel zu entgehen, was aber unmöglich ist, wenn es sich auf den Tod oder auf die göttliche Strafe bezieht, da der Mensch gegenüber beidem machtlos ist. Epikur entkräftet nun die Todesfurcht mit dem Hinweis darauf, daß der Tod kein Übel darstellt, da "alles Gut und Übel in der Empfindung" liegt und mit dem Tod selbst jegliche Empfindungsmöglichkeit schwindet.70

68 Der epikuräische Lustbegriff steht in engem Zusammenhang mit der Strömung des Hellenismus. Als hellenistisch kann insbesondere die Tatsache interpretiert werden, daß Epikur das Heil des Menschen in der Beherrschung seines eigenen Inneren sucht. Entscheidend für die Sicherung der Lust ist nicht die Anhäufung äußerer Güter, über die der Mensch nie mit Sicherheit verfugt, sondern die richtige innere Einstellung zur Lust. Diese hängt ganz vom Menschen selbst ab, weil diese auf der Einsicht der Vernunft des Menschen in das wahre Wesen der Lust beruht. Vgl. Hossenfelder, M., Philosophie, 1993, S. 118.69 Epikur, Menoceusbrief, 1960, 1973, S. 127.70 Epikur, Menoceusbrief, 1960, 1973, S. 124ff.

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Infolgedessen "geht der Tod uns nichts an; denn solange wir sind, ist der Tod nicht da; wenn aber der Tod da ist, dann sind wir nicht mehr. Er geht also weder die Lebenden noch die Toten an, denn bei den einen ist er nicht, und die anderen sind nicht mehr."71 Voraussetzung der epikureischen Haltung zum Tod ist, daß die Seele sterblich ist, dies nachzuweisen ist Aufgabe der Physik.

Am schwierigsten war für Epikur die Bewältigung des körperlichen Schmerzes. An dieser Stelle führte Epikur bereits das später von Bentham entwickelte hedonistische Kalkül ein: Im Rahmen des hedonistischen Kalküls nimmt der Epikureer Schmerzen in Kauf, wenn er sich dadurch größere Lust verschaffen kann, und er verzichtet auf Genüsse, wenn sie größere Unlust nach sich ziehen. Auf diese Art und Weise gelingt es Epikur, dem Schmerz insofern einen positiven Wert zu verleihen, als er Mittel zur Steigerung der Lust ist.

1.3.3 Staat und Privatbereich

Grundsätzlich wird Epikur vorgeworfen, die Existenz der menschlichen Gesellschaft zu leugnen und das Eigeninteresse an die Stelle des Gesamtinteresses zu setzen.11 In der Tat handelt es sich beim Epikureismus um einen scharf ausgeprägten Typus individualistischer Ethik, die sich von allem Sozialen und Transzendenten gleichermaßen abwendet. Sittlichkeit im Sinne Epikurs stammt weder aus der Gesellschaft noch von den Göttern; wir selbst, wenn wir glücklich sein wollen, müssen uns zu ihr erziehen.

So hatte Epikur auch mit seinem berühmten Wahlspmch "Lebe verborgen!" deutlich zum Ausdruck gebracht, daß er Staat und Politik geringschätzte, und dem Leben im privaten Kreis den Vorzug gab. Für Epikur erscheint die Sicherheit des Menschen am besten gewährleistet, wenn er ein zurückgezogenes, unauffälliges Leben fuhrt.

71 Epikur, Menoceusbrief, 1960, 1973, S. 124ff.72 Vgl. Hossenfelder, M., Epikur, 1993, S. 163.

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Dennoch kommt Staat und Gesellschaft eine wichtige Bedeutung beim Streben nach individueller Eudärnonie zu. Die Sittlichkeit ist ein konstitutiver Zustand des Gemüts, der nicht von außen kommen kann. Aber die Glückseligkeit, auf welche sie abzielt, kann von außen wenigstens stark beeinträchtigt werden. Und die wichtigste Schutzwehr gegen solche Störungen unserer Seelenruhe, gegen solche Leiden, die von unseren Mitmenschen ausgehen, ist das Recht.73 So betrachtet Epikur das Recht als soziale Voraussetzung der Philosophie.

Die natürliche Grundlage des vereinbarten Rechts hegt in der utilitaristischen Tendenz des Menschen. Diese Naturanlage des Menschen fuhrt zur Notwendigkeit von Strategien zur Konfliktvermeidung.

"Das natürliche Recht ist ein Ausdruck des Nutzens, sich gegenseitig nicht zu schaden noch Schaden zu leiden."74

Im Gegensatz zu Aristoteles wird dem Recht eine eigene Daseinsberechtigung verweigert, der Staat wird zu einem rein negativ definierten Zweckverband. Indem Epikur den individuellen Nutzen zum Handlungsmotiv des Menschen macht, negiert er jeglichen Zusammenhang zwischen Naturlauf, menschlichem Handeln und den Göttern. Mit den Worten Epikurs:

"Wo bei neu entstehenden Umständen das bestehende Recht keinen Nutzen mehr bringt, ... da ist es nicht mehr Recht, weil es nicht mehr nutzt."73

Nach Epikur ist politische Betätigung mit einem Blick auf das Sicherheitsstreben durchaus zu billigen, da dieses zusätzlich auch der Lustbeschaffung dient. Der Weise beschäftigt sich jedoch mit Politik nur insoweit, als dies zu seiner eigenen Sicherheit

73 Vgl. Jodl, F., Geschichte der Ethik, 1920, S. 27.74 Epikur, Sent. 31, zitiert nach Brandt, R., Naturrecht in der Antike, 1984, S. 568.75 Epikur, Sent. 38, zitiert nach Brandt, R., Naturrecht in der Antike, 1984, S. 568. Nach neuester Auffassung wird Epikur als Rechtspositivist bezeichnet, sofern er sich mit derGeltung des Rechts beschäftigt; dagegen ist er Naturrechtler, was den Inhalt des Rechtes betrifft. Vgl. Erler, M., Epikur, 1994, S. 122, Eine solche Auffassung war in der Antike indessen noch nicht möglich. Für sie war das Charakteristikum des Naturrechts dieAllgemeinverbmdlichkeit und Unveränderlichkeit. Alles auf Vertrag basierende Recht war indessen kein Naturrecht, da es diese Eigenschaften nicht besaß.

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notwendig erscheint. Für Epikur sind Recht und Gerechtigkeit nicht Werte an sich, sondern nur im Hinblick auf ihren Nutzen für die Sicherheit und damit für das Glück des einzelnen.76 Dabei wird gerechtes Verhalten auf die Maxime zurückgeführt, man solle sich gegenseitig keinen Schaden zufugen.

Im Privatbereich wird insbesondere die Freundschaft als für die Eudaimonie unentbehrlich betrachtet: In dieser kommt die starke Betonung der persönlichen und individuellen Bindung zum Ausdruck. Mit den Worten Epikurs:

"Jede Freundschaft ist um ihrer selbst willen erstrebenswert, ihren Ursprung aberhat sie im Nutzen.1,77

Auch die Freundschaft bietet ein Potential äußerer Sicherheit, dessen der Epikureer für seine innere Ruhe nicht ganz entraten kann. Letztlich stellt die Philosophie Epikurs jedoch einen konsequenten Individualismus dar. Der Mensch will an sich nur seine eigene Lust, alle Rücksicht auf andere ist letztlich nur Mittel zu diesem Zweck. Indem Epikur versucht, alle Lebensregeln aus dem Streben nach Lust abzuleiten und dem Staat dabei lediglich eine negative Funktion zukommt, räumt er der individuellen Freiheit innerhalb seiner Staatsauffassung einen äußerst großen Raum ein und weist damit bereits auf die Rolle der Freiheit im Utilitarismus hin.

Epikur formuliert den später von Jeremy Bentham übernommenen Hedonismus vor; auch der bereits von ihm angesprochene Sicherheitsgedanke erlangt in der utilitaristischen Theorie Benthams eine entscheidende Bedeutung. Gleichermaßen entwickelt er bereits den utilitaristischen Rechtsbegriff: Es gibt keinerlei natürliches Recht; positives Recht wird nur insoweit geschaffen, als es einen allgemeinen Nutzen erbringt.

76 Vgl. Hossenfelder, M., Epikur, 1993, S. 164.77 Zitiert nach Epicurea, hrsg. von H. Usener, Leipzig 1887, S. 539ff.

2. Kapitel: Gesellschaftstheorie im Mittelalter - Thomas von Aquin

Im Gegensatz zu den individualistisch-liberalen wirtschaftlichen Auffassungen des antiken Roms, zu denen auch der Epikureismus zählt, ist das Mittelalter durch eine ethisch-religiöse Grundhaltung geprägt, in der die theologisch geprägte Weltordnung als geistige Einheit begriffen wird. Von ihr wird sowohl die Gesellschafts- als auch die Wirtschaftslehre maßgeblich bestimmt. Der geeinte Weltstaat wird als irdisches Bild des Gottesstaates aufgefaßt; Kirche und Staat formen die mittelalterliche Einheitskultur.78

Gleichzeitig findet auch eine völlige Veränderung des Menschenbildes statt. Die Askese löst das hedonistische Prinzip, das im Epikureismus im Vordergrund stand, ab: Nach einheitlicher Meinung ist nicht deijenige reich, der sich die meisten Genüsse mit der geringsten Mühe verschafft, sondern jener, der die geringsten Bedürfnisse hat und dennoch Arbeit verrichtet. Dem'Prinzip der innerweltlichen Askese entsprechend gilt das 'Postulat der Askese', das dem hedonistischen Prinzip entgegensteht.79

2.1 Der philosophische Hintergrund der Lehren Thomas von Aquins

Die klassische Scholastik wird von Thomas von Aquin (1193-1280), einem Theologen, begründet, der vor allem auf die Lehren des Aristoteles und die christliche Lehre zurückgreift, insbesondere auf die Bibel, die Ansichten der Kirchenväter sowie das kanonische Recht; bei ihm verschmelzen am stärksten die antike heidnische Philosophie und die christlichen Anschauungen zu einer Einheit.80

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78 Vgl. Surànyi-Unger, T., Wirtschaftsphilosophie, 1967, S. 25.79 Vgl. Schachtschabel, HG., Geschichte, 1971, S. 17.*° Vgl. Schachtschabel, H.G., Geschichte, 1971, S. 18.

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Vom 12, Jahrhundert an wurde vor allem durch jüdische und arabische Vermittlung das gesamte Werk des Aristoteles in Europa bekannt. Das Ansehen des Aristoteles stieg auch in den Augen der Kirche so hoch an, daß man ihn als Vorgänger Christi in weltlichen Dingen betrachtete. Thomas von Aquin knüpft an das vom Islam bewahrte antike Gedankengut an. In Anlehnung an seinen Lehrer Albertus Magnus nimmt Thomas von Aquin eine methodische Aristotelisierung von Philosophie und Theologie vor.81 Die Hinwendung der mittelalterlichen Schulen zum Aristotelismus nach der Mitte des 13. Jahrhunderts bis ins 16. Jahrhundert hinein ist im wesentlichen das Verdienst der beiden Dominikaner Albertus und Thomas.

hi Anlehnung an Aristoteles vertritt Thomas von Aquin die Auflassung, daß der Mensch seiner Natur entsprechend handeln solle: Im Privatleben soll er die natürlichen Tugenden ausüben, die ihm die Vernunft enthüllt; da auch die Gesellschaft von Natur aus gegeben ist, soll er sich ebenfalls zu ihren Gunsten betätigen.

Dennoch stellt die Philosophie Thomas von Aquins keine wirkliche Rückkehr zur Position des Aristoteles dar, denn nach Thomas steht über der Natur das Übernatürliche. Durch die Sakramente der Kirche und durch geduldiges Eitragen der Übel des gegenwärtigen Lebens erwirbt der Einzelne die Gnade und erwirbt er sich Verdienste.82 Die Beachtung des Naturgesetzes ist für Thomas von Aquin eine rein negative Bedingung des Heils. Da Gott der Urheber der Welt ist, darf nichts gegen seinen Willen geschehen.

Grundsätzlich trifft Thomas von Aquin eine Unterscheidung zwischen dem göttlichen Gesetz, dem Naturgesetz und der Gesetzgebung der Staaten. In dieser Ordnung besteht eine Hierarchie zugunsten des göttlichen Gesetzes. Dabei haben alle Geschöpfe im System der Welt den ihnen von Gott zugeordneten Platz und Auftrag.

81 In den Wirren der Völkerwanderungszeit hatte insbesondere Byzanz die antike Wirtschaftstradition bewahrt und weiterentwickelt. Während vom 7. bis zum 10. Jahrhundert im Abendland die Feudalherrschaft eingeführt wurde, geriet der Mittelmeerhandel unter die Kontrolle der islamischen Staaten. Erst im 11. Jahrhundert brachte das Vordringen der Türken nach Kleinasien die Entfaltung der islamischen Kultur zum Stillstand. Vgl. Geyer, B., Die patristische und scholastische Philosophie, 1956, S. 419.82 Vgl. Denis, H., Geschichte, 1985, S. 66.

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Das ewige Gesetz ist die Regel der göttlichen Weisheit bei der Lenkung und Regierung der Schöpfung. Die Geschöpfe haben an ihm ihren Anteil, indem sie durch ihre natürlichen Neigungen auf bestimmte Ziele hingelenkt werden. Handelt das Individuum nach Maßgabe seiner natürlichen Vernunft, so strebt es zur vollsten Ausbildung seiner individuellen Anlagen.

Da die Prinzipien des Naturrechts sehr allgemein sind, müssen sie in Einzelfällen im Rahmen des positiven Rechts näher spezifiziert werden. Dabei gelangt Hiomas von Aquin zu der Auffassung, daß ein allgemeiner Konsens beim Völkerrecht die Regel ist, während im Rahmen des bürgerlichen Rechtes die Verschiedenheit der örtlichen Bedürfnisse sehr groß ist.

Als letzter Ursprung der Gerechtigkeit, menschlicher Einsicht und Erkenntnis freilich unzugänglich, galt die göttliche Vernunft. Daher lieferte die Offenbarung als Geschenk göttlicher Gnade sicheres Wissen von den absolut bindenden Geboten götthchen Rechts. Als Quelle von nicht minder zwingenden Geboten galt das Naturrecht, dessen Regeln sich einfach aus nicht zwingenden Schlüssen ergeben sollten. So konnte die Vernunft unter dem Beistand der Offenbarung verläßlich lehren, was als gut zu billigen und als böse zu meiden sei. Umfang und Inhalt des Naturrechts wurden von Thomas von Aquin jedoch nicht umfassend bestimmt, so daß es für abweichende Deutungen offenblieb. Nur in Ausnahmefällen ließen sich die ökonomischen Gebote, die von den aristotelischen Scholastikern gelehrt und interpretiert wurden, aus der Offenbarung ableiten. Von den wichtigsten Nonnen des kanonischen Rechts nahm man an, sie seien vom Naturrecht vorgeschrieben, da ein geordnetes gesellschaftliches Leben ohne Achtung vor der Gerechtigkeit unmöglich sei.

Das scholastische Weltbild läßt sich somit dahingehend beschreiben, daß das ganze Universum mit allen seinen Teilen auf Gott hmgeordnet ist und die göttliche Güte repräsentiert. Dies gilt insbesondere für die vernünftigen Kreaturen, also die Menschen, die dieses Ziel anstreben sollen durch Arbeiten, Erkennen und Lieben.83 In dieser Teleologie soll zur Ehre Gottes und zur Vollendung der Schöpfung gearbeitet

s3 Vgl. Beutter, F., Thomas von Aquin, 1989, S. 68.

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werden. Die Arbeit soll vor allem das Mittel sein, um die Vernunft zur Herrschaft zu bringen und dadurch die materiellen Dinge und die Gestaltung der Welt mit geordnetem Geist zu durchdringen.

Somit ist gleich der Antike auch die Wirtscliaftsvorstellung Thomas von Aquins in metaökonomische Zusammenhänge eingeordnet. Das gesamte menschliche Leben, und in diesem auch die Wirtschaft, wurde in den Kosmos der göttlichen Weltordnung und, von diesem deduziert, auch in die entsprechende Stufe der Anschauungsweisen eingeordnet. Verschieden waren jedoch in beiden Kulturen die der Wirtschaft übergeordneten Bereiche, Während in der Antike philosophisch-ethische Prinzipien wie das der Gerechtigkeit und der gerechten Zielstrebigkeit die sowohl logische als auch tatsächliche Gebundenheit und des wirtschaftlichen Verhaltens brachten, stufte die mittelalterliche Anschauung die Wirtschaft in die theologisch-teleologische Weltordnung ein.84

Dementsprechend versucht Thomas von Aquin nicht, rein ökonomische Zusammenhänge zu erkennen: Für ihn ist das Wirtschaften eingebettet in seine Grundkonzeption, daß alles von Gott ausgeht (Schöpfung) und zu ihm als dem letzten Ziel zurückkehrt. Das unvollkommene Zwischenziel des Wirtschaftens hat die Aufgabe, der Bedürfnisbefriedigung für die leiblich-geistigen-seelischen Notwendigkeiten zu dienen.85 Die Wirtschaft hat innerhalb der Gesellschaft lediglich eine abgeleitete Funktion, die Güterproduktion muß der Gesellschaft und den Menschen dienstbar sein. Letztlich dient die Wirtschaft nie dem Zweck, das Glück des Menschen auf der Erde zu realisieren.86

Die Wirtschaftslehre Thomas von Aquins bestand in einem Korpus von Definitionen und Geboten, die dazu dienten, in den Bereichen Distribution und Güteraustausch, Produktion und Konsum christliches Verhalten vorzuscltreiben. Den Ausgangspunkt aller Überlegungen stellte das individuelle Verhalten und seine Rechtmäßigkeit dar, da

84 Vgl. Tautscher, A., Geschichte, 1950, S. 18.85 Vgl. Beutter, F., Thomas von Aquin, 1989, S. 64.86 Dazu sagt Tautscher: „Es steht wohl fest, daß alles Irdische geringer ist als der Geist desMenschen, die Glückseligkeit aber ist die Vollkommenheit des Menschen und dasvollkommene Gut, zu dem alles gelangen will. Daher kann es kein irdisches Gut sein, daß denMenschen glücklich zu machen imstande ist.“ Tautscher, A., Geschichte, 1959, S. 21.

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das Leben jedes menschlichen Wesens in erster Linie als Vorbereitung auf sein Seelenheil betrachtet wurde.87

Thomas von Aquin beantwortet dementsprechend nicht die Frage nach der inneren Ordnung der Wirtschaft, sondern fragt vielmehr nach der Vereinbarkeit bestimmter wirklicher Tatbestände mit der Bibel. Es ging ihm um die Frage nach der Vereinbarkeit des tatsächlichen ökonomischen Verhaltens mit der christlichen Ethik; er suchte nicht nach ökonomischen Gesetzmäßigkeiten, sondern nach Verhaltensnormen für das Wirtschaftsleben, die mit der christlichen Lehre in Übereinstimmung standen.

2.2 Die Organisation der Wirtschaft

Da der Mensch sich selbst nur im Rahmen der Gesellschaft entfalten kann, bedarf er hierzu der Gemeinschaft. Orchmngselemente der Gemeinschaft sind die Berufsstände, in denen der Mensch die durch Berufung erhaltenen Aufgaben und Funktionen ausübt. Die Scheidung der Bevölkerung nach Beruf und Besitz wurde dabei der göttlichen Vorsehung zugeschrieben, die fur alles Lebensnotwendige gesorgt hatte.88

Der soziale Friede innerhalb der Gemeinschaft wird nach Aquin durch die Mannigfalt der Berufe und Stände gewährt, und dieser ist um so stärker, desto mehr Menschen an der gesellschaftlichen Mitarbeit teilhaben. Dieser Friede geht aber dort verloren, wo die einzelnen nur ihren eigenen Vorteil suchen. Die Beziehungen der Menschen zueinander fußen auf dem Gerechtigkeitsgedanken:

"Der Akt der Gerechtigkeit besteht darin, jedem das seine zu geben.1,89

87 Vgl. Pribam, K., Geschichte, 1992, S. 26 ff.88 Vgl. Pribam, K., Geschichte, 1992, S. 31.89 Thomas von Aquin, Ausgewählte Schnften zur Staats- und Wirtschaftslehre des Thomas von Aquino, 1923, S. 208.

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Der Wirtschaft kommt eine Mittelstellung zwischen Einzelperson und Gesamtgesellschaft zu. Letztes Ziel des Wirtschaften ist deshalb das Wohlergehen im Gemeinwesen. Dazu äußert sich Thomas von Aquin:

"Das Wohl der Gesamtheit aber wiegt schwerer als das Wohl des einzelnen; deshalb nimmt man bisweilen hin, daß es einem Einzelnen schlecht geht, wenn dadurch dem Wohl der Gesamtheit gedient ist.1,90

Grundlage fur die Wirtschaftsauffassimg Thomas von Aquins ist die Gerechtigkeit, nach der sich der gesamte wirtschaftliche Verkehr und das gesamte wirtschaftliche Verhalten zu richten haben. Dem Wirtschaften obliegt grundsätzlich nicht die Aufgabe, Reichtiimer und Gewinn zu vermehren, sondern dafür zu sorgen, daß alle das zum Leben Angemessene und Notwendige erhalten.

Grundsätzlich gliedert sich das Gemeinwesen in Stände, deren jeder mit besonderen Aufgaben, Rechten und Pflichten versehen war. Die soziale Stellung des einzelnen hing davon ab, in welchen Stand er geboren wurde. Entscheidend ist für die Lohnhöhe die Qualifikation der betreffenden Person, d.h. ihr Stand in der Gesellschaft. Jedem Stand steht ein bestimmtes Einkommen zu; der Lohn ist dann gerecht, wenn er dem standesgemäßen Einkommen entspricht. Thomas stellt die ständische Ordnung nicht in Frage; diese ist fur ihn vielmehr ein Teil der göttlichen Ordnung.91 In diesem Sinne ist auch sein Konzept der distributiven Gerechtigkeit zu verstehen:92

"Deshalb wird in der distributiven Gerechtigkeit um so mehr von den Gemeinschaftsgiitem einem zugeteilt, je mehr er in der Gemeinschaft vorne steht. Diese Vorrangstellung wird in der Adelsherrschaft nach der Macht bestimmt, in der Herrschaft der Vornehmen nach dem Reichtum, in der Volkswirtschaft nach der

90 Thomas von Aquin, De regimine principum, 1954, S. 268.91 Vgl. Schinzinger, F., Vorläufer, 1984, S. 25.92 Thomas von Aquin greift auf die „Nikomachische Ethik“ des Aristoteles zurück und unterscheidet zwischen einer distributiven und einer kommutativen Gerechtigkeit. Die distributive Gerechtigkeit betrifft den Regierenden, dem es obliegt, die Güter unter seine Untergebenen zu verteilen; die kommutative Gerechtigkeit bezieht sich auf die Tauschgeschäfte, mit denen sich der einzelne abgibt. Vgl. Thomas von Aquin, Summa Theologica, 1953, 11-0, 61. Frage: Über die Teile der Gerechtigkeit, 18. Band, S. 95.

Freiheit und in anderen Systemen wieder anders."93

Anzumerken ist an dieser Stelle, daß sich Thomas von Aquin grundsätzlich für eine Verteidigung des Privateigentums ausspricht: Zum einem, weil ein jeder mehr Sorge auf die Verwaltung dessen verwendet, was ihm allein gehört; zum anderen, weil der Friede unter den Menschen besser gewahrt bleibt, wenn jeder Zufriedenheit darin findet, etwas als seine eigene Sache ansehen zu dürfen.94 Einschränkend merkt er jedoch an:

"Der Mensch darf die äußeren Dinge nicht als sein ausschließliches Eigentums betrachten, sondern als das Eigentum aller, damit er sich bereit findet, sie mit den Bedürftigen zu teilen.1,95

Dies läßt sich dahingehend interpretieren, daß Gegenstände hinsichtlich des Gebrauchs allen Menschen zur Verfügung stehen. Hier besteht für jeden Eigentümer die soziale Verpflichtung, anderen von seinem Eigentum abzugeben, wenn sie in Not sind. Insbesondere Lütge weist in diesem Zusammenhang daraufhin, daß Thomas von Aquin an dieser Stelle die Idee der Nächstenliebe und der Barmherzigkeit als neue "christliche" Faktoren einführt.96

Die Notwendigkeit des Handels erkennt Thomas von Aquin grundsätzlich an. Dabei vertritt er die Ansicht, daß der Handel durchaus positive Auswirkungen auf den zivilisatorischen Fortschritt hat. Nach seiner Auffassung ist dieser jedoch nur dann zulässig, wenn er das sittlich wertvollen Ziel hat, den Lebensunterhalt der Familie zu verdienen oder die Mittel zur Ausübung von Mildtätigkeit zu besorgen:

„Der Gewinn jedoch, der Ziel des Handels ist, schließt in seinem Begriff, wenn er auch nichts enthält, was ehrenhaft und notwendig wäre, so doch auch nichts ein, was lasterhaft oder der Tugend entgegen wäre. Deshalb steht nichts im Wege, daß man den Gewinn ausrichtet auf ein notwendiges oder ehrenhaftes Ziel."97

13 Thomas von Aquin, Summa Theologica, 1953, Bd. 18, S. 95f.94 Vgl. Thomas von Aquin, Summa Theologica, 1953, Bd. 18, S. 197ff.95 Thomas von Aquin, Summa Theologica, 1953, Bd. 18, S. 97.96 Vgl. Lütge, F., Geschichte, 1963, S. 9.17 Thomas von Aquin, Summa Theologica, 1953, Ebenda, 79. Frage, Artikel 4, S. 360f.

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Damit verurteilt Thomas von Aquin den Handel nur insoweit, als er die Allgemeinheit oder den Schwächeren schädigt. Er sieht ebenso wie Aristoteles den Nutzen der Kaufleute, die Mangel und Überfluß an verschiedenen Orten ausgleichen. Warenaustausch zum Zwecke der Bedarfsdeckung ist also eine notwendige Aufgabe; aber reines Gewinnstreben wird abgelehnt. In diesem Zusammenhang entwickelt Thomas von Aquin auch seine Lehre vom gerechten' Preis. Der Verkauf einer Sache über ihren 'gerechten' Preis ist eine Sünde, da sie den Nächsten zu dessen Schaden betrüge. Dazu kommentiert er:

"Teurer verkaufen oder billiger verkaufen, als die Sache wert ist, ist also an sich ungerecht und unerlaubt."98

Thomas von Aquin räumt jedoch ein, daß eine Sache über ihren Wert veräußert werden darf, wenn zum einen der Verkäufer einen Nachteil dadurch hat, daß er die Sache abgibt, und zum anderen der Käufer eine Sache besonders dringend benötigt.

Grundsätzlich muß jedoch beim Austausch der Güter die Gleichheit des Preises gewahrt werden. Die Wiedervergeltung von Leistung und Gegenleistung muß nach dem Äquivalenzprinzip erfolgen. Dieses Ziel wird im wesentlichen dadurch erreicht, daß entsprechend dem Primat der distributiven Gerechtigkeit vor der kommutativen Gerechtigkeit die Stellung der Person in der Gesellschaft den Wert des von ihr produzierten Gutes bestimmt. Insofern ergibt sich aus der funktioneilen Bedeutung des Standes innerhalb der Gesellschaft der Wert des Produktes.99

In Anlehnung an Aristoteles lehnt Thomas von Aquin den Zins als widernatürlich ab. Entscheidend ist dabei seine Auffassung vom Wesen des Geldes als Verbrauchsgut. Das Geld dient dazu, eine Tauschhandlung zu ermöglichen; sein Gebrauch ist damit zugleich sein Verbrauch.

Dennoch macht Thomas von Aquin Konzessionen an die wirtschaftlichen Verhältnisse seiner Zeit. Durch die Entwicklung des Handelsverkehrs und die Wiedergeburt des

98 Thomas von Aquin, Summa Theologica, 1953, Ebenda, 77. Frage, Artikel 1, S. 346.99 Vgl. Schachtschabel, HG., Geschichte, 1971, S. 19.

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Staates hatte das Kreditgeschäft eine wachsende Bedeutung erlangt. Selbst die Kirche, die einen großen Kapitalbedarf hatte, nahm oft die Dienste von Geldverleihem in Anspruch, die ihren Schutz genossen.100 Mit der Änderung der Wirtschaftskultur und dem Vordringen der Geldgeschäfte beschäftigt sich Thomas von Aquin auch mit den Gründen, aus denen das Zinsnehmen erlaubt sein könne.101

Abschließend muß darauf hingewiesen werden, daß Thomas von Aquin die von Aristoteles eingefiihrte Unterscheidung in natürliche und positive Ordnung noch vertieft, indem er diesen die von Gott geschaffene Ordnung hinzufugt, die insbesondere im frühen Utilitarismus von David Hume und Adam Smith eine entscheidende Rolle spielt.

Betrachtet man das Menschenbild Thomas von Aquins, so bleibt festzuhalten, daß es demjenigen des Utilitarismus entgegensteht: Jegliches Genuß- und Gewinnstreben wird abgelehnt, der wirtschaftliche Zweck wird nur mit Blick auf eine Sicherstellung der Versorgung gebilligt. Als utilitaristischer Aspekt innerhalb von Thomas von Aquins theologischer Theorie muß jedoch insbesondere sein Eintreten für das Wohl der Gemeinschaft gewertet werden; ähnlich wie Platon und Aristoteles stellt er dies in den Vordergrund seiner Überlegungen. Auch bei ihm existiert bereits ein Konzept der distributiven Gerechtigkeit, denn jeder erhält das, was ihm entsprechend seines Standes zusteht. Auch Hiomas von Aquin nimmt Elemente der später von John Stuart Mill vertretenen Gesellschaftsauffassung vorweg, rein wirtschaftliche Zwecke haben lediglich eine untergeordnete Funktion.

100 Vgl. Denis, H., Geschichte, 1985, S. 72.101 Ausführliche Darstellung bei Schinzinger, F., Vorläufer, 1984, S. 24. Gegenüber seinem allgemeinen Grundsatz macht Thomas von Aquin schließlich in den Fällen Ausnahmen, in denen das Geld gar nicht den Besitzer wechselt, sondern nur für eine gewisse Zeit zurückbehalten wird. Später erweitert er diese Theorie und gestattet Zinszahlungen für dem Verleiher entgangene Gewinnmöglichkeiten (lucrum cessans), für den positiven Schaden (damnum emergens), für das Verlustrisiko, weil das verliehene Geld vielleicht nicht zurückgezahlt werden könne, und für säumige Rückzahlung. Mit den Worten Aquins: „ Gesetzt den Fall, es habe jemand dringend Bedarf an einer Sache und der andere habeSchaden, wenn er sie entbehren soll. In diesem Fall wird sich der gerechte Preis daraus ergeben, daß nicht nur auf die Sache, die verkauft wird, sondern auch auf den Schaden, den sich der Verkäufer zuzieht, Bedacht genommen wird. Und so wird es in erlaubter Weise möglich sein, eine Sache teurer, als sie an sich wert ist, zu verkaufen.“ Ausführliches Zitat bei Braeuer, W., Urahnen, 1981, S. 169f.

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3. Kapitel: Vorläufer des Utilitarismus in der Neuzeit

3.1 Die Entwicklung der Naturrechtsphilosophie

Grundlage für das Herausbilden der Volkswirtschaftslehre als einer selbständigen Wissenschaft ist vor allem die Entwicklung der individualistischen Naturrechtslehre. In ihrer politischen Ausprägung beruht sie auf der Vorstellung, daß der Staat auf einem freiwillig eingegangenen Vertrag beruht; in ihrer philosophisch-soziologischen Ausprägung wird sie von der Entwicklung des Utilitarismus unterstützt. Im Zeitalter des Absolutismus gelangt die Naturrechtsphilosophie, die bereits in der Antike (Aristoteles) uud Scholastik (Thomas von Aquin) tragende Bedeutung erlangt hatte, zu einer Blüte. Zu ihren wichtigsten Vertretern zählen Hugo Grotius und Samuel von Pufendorf

Unter dem Naturrecht versteht man im Gegensatz zum positiven Recht jenes Recht, das dem Menschen kraft der ihm eigenen Natur zukommt, das von ihm als vernünftig eingesehen werden und daher universelle Geltung beanspruchen kann. Bereits Aristoteles hatte in der “Nikomacbischen Jbtüik" das gesetzliche Recht, das an bestimmte Vereinbarungen gebunden ist, von dem natürlichen Recht, das immer und überall gilt, unterschieden.102

Der neuzeitliche Begriff des Naturrechts weicht von der Tradition der Scholastik und der Antike grundlegend ab. Erst in der Neuzeit befreit sich die Naturrechtslehre allmählich aus ihrer Einbindung in einen teleologischen (Aristoteles) oder theologischen (Thomas von Aquin) Weltentwurf Dieser Fortschritt wurde erst möglich, als sich die Naturwissenschaft aus einem überkommenen teleologischen Naturverständnis gelöst hatte und zu einem Naturverständnis gelangte, das nur äußerliche, mechanische Ursachen anerkannte.

102 Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1956, 5. Buch, 7 (1134b). Insbesondere Samuel von Pufendorf kommt das Verdienst zu, als erster zwischen der physischen und moralischen Welt unterschieden zu haben. Während die „entia physica“ von Gott geschaffen sind, sind die „entia moralia“ für ihn gesetzt, d.h. aus dem freien Willen der Menschen hervorgegangen.

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Der Unterschied zur aristotelischen Auffassung liegt vor allem in der Tatsache, daß der Staat nicht die höchste und umfassendste Gemeinschaft ist, sondern daß es eine Gemeinschaft der Menschen gibt, die darüber hinausgeht; außerdem existieren andere Gemeinschaften selbständiger Natur, denen der Mensch neben dem Staat angehört.

Im Rahmen des Absolutismus kommt es schließlich zu einer simultanen Ausprägung vom ökonomischen und politischen Liberalismus: Der schon für die Entstehung des Staates entscheidende Selbsterhaltungstrieb des Individuums wird Kriterium seines gesamten sittlichen Handelns und damit Grundlage einer 'naturalistisch­individualistischen Ethik utilitaristischer Prägung.'103

3.2 Die Physiokraten

3.2.1 Zum Hintergrund der Bewegung

Insbesondere die Physiokraten können als Vertreter eines frühen Utilitarismus gelten. Die französische Physiokratie kann als ein Erzeugnis des Rationalismus, des Individualismus und des Natunechts des 17. und 18. Jahrhunderts betrachtet werden. Ihre Eigenart beruht auf dem Versuch, innerhalb eines breiten sozialwissenschaftlichen Rahmens, im engen Anschluß an die Biologie, eine in sich geschlossene Volkswirtschaftslehre zu entwickeln.104 Den Physiokraten kommt das Verdienst zu, ein großes sozialwissenschaftliches System entworfen zu haben, in dem die Ökonomie neben der Politik, der Sozialethik und der Sozialphilosophie ihren Platz erhielt. Die physiokratische Lehre trägt noch stark naturrechtsphilosophische Züge, argumentiert aber in Ansätzen auch schon utilitaristisch.

Die Physiokraten stellen die erste organisierte Schule der Nationalökonomie dar, die jedoch zu ihren Lebzeiten auch als Sekte verspottet wurde. In organisatorischer

103 Vgl. Schachtschabel, H.G., Geschichte, 1971, S. 34f.104 Daß die Bedeutung der Physiokraten lange Zeit hindurch etwas unterschätzt worden ist, hat vor allem Adam Smith verschuldet. Er überging die wesentlichen Leistungen der Physiokratie, indem er sie als eine einseitige, nur den Interessen der Landwirte dienende Lehre schilderte. Erst seit Mitte des 19. Jahrhunderts sucht die Wirtschaftstheorie wieder engeren Anschluß an physiokratische Ideen. Vgl. Mann, F.K., Physiokratie, 1964, S. 296.

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Hinsicht ähnelte die Schule sogar einer politischen Partei. Der Begründer der Schule war François Quesnay, Leiharzt des Königs Ludwigs XV. von Frankreich, der nach der Veröffentlichung des "Tableau Economique" im Jahre 1758 zu ihrem Anführer wurde.105 Zu seinen wichtigsten Schülern gehörten Mirabeau, Turgot und Dupont de Nemours.

Die Hauptemmgenschaft der Physiokraten stellt das von Quesnay entwickelte "Tableau Economique" dar, das erstmalig wirtschaftliche Zusammenhänge in Form eines Kreislaufmodells darstellt. Das "Tableau Economique" zeigt nicht nur, wie Reichtum entsteht, und wie er wachsen kann, sondern wie sich die Güter auf einzelne Gruppen der Bevölkerung verteilen.106 Quesnay behandelt darin, seiner Intuition entsprechend, den idealen, d.h. den von der Naturordnung vorgesehenen allgemeinen Wirtschaftsverlauf. Die Volkswirtschaft ist für ihn eine echte organische Einheit.107

3.2.2 Die Stellung zur Naturrechtsphilosophie

François Quesnay vertritt in Anlehnung an die Ansichten Thomas von Aquins die philosophische Auffassung, daß es eine von Gun gesetzte natürliche Ordnung gibt, die nicht nur in der äußeren Natur gilt, sondern auch in den Bereichen der Wirtschaft und Gesellschaft. Diese Naturordnung weist nach Quesnay den Weg zur höchsten Wohlfahrt der Menschheit.108 Die Herrschaft der Natur kann als Quintessenz von Quesnays Lehre betrachtet werden: Das gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben folgt ewigen Naturgesetzen, imd diese Naturgesetze verwirklichen eine prästabilisierte

105 Vgl. Denis, H., Geschichte, 1985, S. 134.106 Vgl, Schachtschabel, HG., Geschichte, 1971, S. 37107 Diese für einen Mediziner naheliegende Ansicht hatte Quesnay zu der Erkenntnis geführt, daß es nicht allein im menschlichen und animalischen Körper, sondern auch in der Volkswirtschaft einen Kreislauf gebe. Dazu äußert Quesnay: „In Konsum und erneuter Produktion besteht der Kreislauf, der die Gesellschaft zusammenhält und fortdauem läßt. Daher regen die Ausgaben die Produktion an, welche wiederum die Ausgaben ausgleicht. Diese Bewegung folgt, wie jede andere, genau festgelegten Regeln, welche Ebbe und Flut bestimmen und verhindern, daß die Kanäle überlaufen oder sich leeren.“ Quesnay, F., Philosophie Rurale, 1763, S. 36.108 Die Konzeption Quesnays stammt aus dem Naturrecht. Von dort übernimmt er das Prinzipder natürlichen Ordnung des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens, das Prinzip desnatürlichen Rechts des Individuums sowie der individuellen Selbstentfaltung und derUtilitarität. Vgl. Schachtschabel, H.G., Geschichte, 1971, S. 36.

Harmonie. Als Stoiker und Naturwissenschaftler hielt Quesnay es für erwiesen, daß die sozialen Naturgesetze lediglich eine Spielart der physischen Naturgesetze sind.

Dabei ist die Naturordnung der Physiokraten keinesfalls mit ihrem klassischen Gegenstück zu verwechseln: Für sie ist die Naturordnung keine dem Wirtschaftsleben immanente Tendenz, sondern ein fernes Ideal, dem die Menschheit zustreben sollte.1(19

Grundsätzlich ist die natürliche Ordnung anhand der von Gott in den Menschen hineingelegten Trieben, Bedürfnissen und Neigungen erkennbar. An erster Stelle steht der Selbsterhaltungstrieb des Menschen, mit dem auch einige Rechte verbunden sind. So wie der einzelne von den anderen die Respektierung seiner Rechte verlangen kann, so muß er auch die Rechte der anderen respektieren, da sonst die Ordnung gestört wird.110

Zur natürlichen Ordnung Quesnays gehört eine Reihe von natürlichen Rechten, deren wichtigste das Recht auf persönliche Freiheit, Freiheit der wirtschaftlichen Betätigung, freie Berufswahl, Freiheit der Verwendung der eigenen Arbeitskraft und Eigentum an den beweglichen und unbeweglichen Sachen sind. Das Eigentum an beweglichen Sachen ist die Ausdehnung des "Eigentums an seiner eigenen Person" auf alles das, was man durch eigene Arbeit erlangen kann.111 Als ursprünglichstes Recht des Menschen definiert Quesnay das Recht auf diejenigen Dinge, die er sich durch seine Arbeitskraft aneignet; das ursprünglichste Recht des Menschen ist also das Recht auf Unterhalt oder das Recht auf Besitz in dem Maße, daß der Unterhalt gesichert ist. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit der Institution des Eigentums in dem Maße, als es zur- Lebensfristung notwendig ist. Mit den Worten Quesnays:

"Alle Menschen haben, jeder für sich, naturgegeben und unterschiedslos, das Recht auf alles; die Ordnung verlangt aber, daß niemand sich dieses allgemeine und unbestimmte Recht selbst nimmt, denn es ist tatsächlich durch die Natur auf die Menge der Güter bestimmt, die zur Erhaltung notwendig sind... Entweder also müssen die Menschen wie die Tiere leben und jeder muß sich täglich des Anteils

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109 Vgl. Mann, F.K., Physiokratie, 1964, S. 296.110 Vgl. Lütge, F., Geschichte, 1963, S. 34.111 Vgl. Amonn, A., Nationalökonomie, 1961, S. 83.

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bemächtigen, dessen er bedarf, oder sie bilden untereinander eine Teilhaberschaft, die jedem den Teil zusichert, den er haben son.""2

Um überhaupt existieren zu können, muß der Mensch Eigentum und Leben seiner Mitmenschen achten.113 Die natürliche Ordnung wird durch die harmonische Naturgesetzhchkeit des Egoismus bedingt. Damit wurde nicht nur erneut die schon im Merkantilismus vorgenommene Ausschaltung des Sittlichen aus der Wirtschaftslehre betont; der Eigennutz wurde zu einem naturrechtlichen Postulat der Volkswirtschaft; gleichzeitig kommt auch schon der utilitaristische Aspekt zum tragen.114 So heißt es bei Quesnay:

"Solche Ursachen aber unterliegen nicht der moralischen Ordnung, sondern sie gehören zu einem sehr viel umfassenderen System. Ihr Wirken zielt auf die Erhaltung eines Ganzen ab, ihre Wirksamkeit richtet sich nach den Zwecken und Absichten der höchsten Vernunft, die das Universum erschaffen hat. ... Die Menschen sind keineswegs verpflichtet, einander ihre jeweiligen Verluste auszugleichen, am wenigsten die Verluste, die uns aus dem schlechten Gebrauch unserer Freiheit entstehen.“115

Bereits Quesnay formuliert somit das utilitaristische Grunddogma im ökonomischen Bereich aus. In dem der einzelne nach seinem eigenen Nutzen handelt, betätigt er sich gleichzeitig auch zum Vorteil der Gesamtgesellschaft. Gleichzeitig vertritt Quesnay die Auffassung, daß die Ungleichheit der Menschen selbst ein Naturgesetz ist.116 Quesnay bejaht im Namen der natürlichen Ordnung die unterschiedliche Verteilung der Güter ohne Vorbehalt, denn

112 Quesnay, F., Oeuvres, 1888, S. 755.113 Dazu kommentiert Quesnay: „Ich verstehe unter Naturrechten diejenigen Rechte, die die Natur selbst uns zugewiesen hat; ein solches Recht ist zum Beispiel das Recht auf Licht, das allen Menschen zusteht, denen die Natur Augen gegeben hat.“ Quesnay, F., Oeuvres, 1888, S. 754.114 Vgl. Kruse, A., Geschichte, 1953, S. 31.115 Quesnay, F., Oeuvres, 1888, S. 754.116 Dazu äußert sich Quesnay: „Da die Menschen die Pläne des höchsten Wesens beim Aufbaudes Universums nicht erfassen können, dürfen sie sich nicht anmaßen, jene unveränderlichenGesetze bestimmen zu wollen, die es zur Bildung und Erhaltung seines Werkes geschaffenhat.“ Vgl. Quesnay, F., Oeuvres, 1888, S. 368.

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„die Obrigkeit... kann den Ungleichmäßigkeiten, die ständig bei der Güterverteilung auftreten, nicht abhelfen, ohne die gesellschaftliche Ordnung zu stören...“ 117

Der methodische Grundgedanke von Quesnays philosophischem System ist die Vorstellung, daß es eine natürliche und dauerhafte Ordnung des gesellschaftlichen Zusammenlebens der Menschen gibt, deren Erkenntnis das letzte Ziel der Gesellschaftswissenschaft ist. Diese Ordnung gilt für alle Menschen und ist für alle Zeiten unveränderlich die gleiche. Allgemeine Bildung und insbesondere die Förderung der Vernunft vermag den Menschen in der Erkenntnis des göttlichen Willens zu stärken.118 Da die natürliche Ordnung der Vernunft entstammt, läßt sie sich wissenschaftlich aus der Vernunft ableiten. Aufgabe von Politik und Regierung ist es daher, diese natürliche Ordnung in der positiven Rechts- und Staatsordnung zu realisieren, um so einen glücklichen Zustand in der Gesellschaft herbeizufuhren.

Diese Auffassung Quesnays läßt sich aufgrund der von ihm vertretenen Erkenntnistheorie rechtfertigen, die sich deutlich auf die von Nicolas de Malebranche, einem Schüler von Descartes, vertretenen Lehren bezieht.119

Haben die Sinne die Funktion, dem Menschen nur das unmittelbar Angenehme zu zeigen, bedarf es erst der Vernunft, um dem Menschen das auf die Dauer Wünschenswerte und Wertvolle vor Augen zu fuhren. Zu den sinnlichen Motiven müssen die vernünftigen Motive hinzutreten, wenn der Mensch seine Zwecke in möglichst vollkommener Weise erreichen soll.120

Quesnay, F., Oeuvres, 1888, S. 757f.118 Vgl. Lütge, F., Geschichte, 1963, S. 33.119 Nach der Erkenntnistheorie von Nicolas de Malebranche läßt sich wahres Wissen einzig und allein aus der Erkenntnis der Ideen ableiten, die real im Geiste des Schöpfers existieren; in der wirklichen Welt hat sich der göttliche Gedanke eines idealen Universums materialisiert, wenngleich in unvollkommener Form; Malebranche sprach dem menschlichen Geist das Vermögen zu, diese ideale Vorstellung durch eine Art Intuition zu erfassen. Vgl. Pribam, K., Geschichte, 1992, S. 205.120 In dem Artikel „Evidenz“, den er 1751 zur Enzyklopädie beitrug, äußerte Quesnay in Anlehnung an Malebranche den festen Glauben an die Fähigkeit der Vernunft, mit der Hilfe eines aktiven psychologischen Faktors, den er Aufmerksamkeit nannte, die Wahrheit zu entdecken. Vgl. Pribam, K., Geschichte, 1992, S. 205.

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Nach Auffassung von Quesnay wird das, was uns durch natürliche Ursachen bewirkt scheint, in Wahrheit durch Gott verursacht, welcher sich in der Erfahrungswelt sichtbar werdender Anlässe bedient, um seine Allmacht kundzutun.121 Gott wirkt dabei stets auf dem einfachsten Weg. Die gesamte Natur ist der Lehre Malebranches zufolge ein von Gott gewolltes mathematisches Gefüge, das dank seines Ordnungscharakters unveränderbar, dank seines mathematischen Charakters erkennbar ist.

Im Rahmen der von den Physiokraten vertretenen Naturrechtstheorie findet somit ein gewisser Wandel im Hinblick auf die von Thomas von Aquin vertretene theologische Position statt. Das theologische Dogma, welches die Auffassung vertrat, daß alle Bewegungen des Weltalls von göttlicher Weisheit und Güte geleitet würden, hatten die Metaphysiker in den Begriff eines Naturrechts verwandelt, welches den menschlichen Einrichtungen vorhergehe und diesen das Vorbild liefere.122 Die natürliche Ordnung wird dementsprechend zum Ausdruck der götthchen Ordnung.

Der Unterschied zwischen der 'natürlichen' (ordre naturel) und der 'positiven' Ordnung (ordre positif) läßt sich dahingehend beschreiben, daß erstere die vemunftsgemäße Ordnung darstellt, die das wohlverstandene dauernde Interesse der Menschen berücksichtigt; letztere ist die wirkliche Ordnung, die mit der 'natürlichen' mehr oder weniger übereinstimmen kann. Die positive Ordnung ist die tatsächlich gegebene bürgerliche Ordnung, die von Zeitbedingtheiten abhängt.121 Die Naturgesetze dienen daher als Fundament der positiven Gesetze, die lediglich der Sicherung der naturrechtlichen Prinzipien zu dienen haben. Mißstände im sozialen Bereich entstehen allein durch die Übertretung und Verletzung der natürlichen Gesetze. Insofern kann die natürliche Ordnung nur dann erreicht und die ihr entgegenstehende positive Ordnung nur dann überwunden werden, wenn die Gesellschaft den natürlichen sozialen Gesetzen folgt. Dies gilt auch für den wirtschaftlichen Bereich.

121 Vgl. Denis, H., Geschichte, 1985, S. 135.122 Vgl. Ingram, J.K., Geschichte, 1905, S. 77.123 Den unmittelbaren Anstoß zu Quesnays dualistischer Gesellschaftsauffassung hatte daszeitgenössische Naturrecht gegeben. Bereits Hugo Grotius hatte eine Unterscheidung zwischen'ius divinum' und 'ius humanum' getroffen. Vgl. Amonn, A., Nationalökonomie, S. 6Iff.

3.2.3 Die utilitaristische Position

Aus dem Naturrecht leitet Quesnay auch den Grundgedanken der natürlichen Ordnung innerhalb der Wirtschaft ab. Der gesamte Mechanismus der Volkswirtschaft wird gleich den Gesetzen der Natur durch unabänderliche Naturgesetze beherrscht.124 Ihre Behinderung würde gleichzeitig zu einem Wohlfahrtsverlust fuhren. Quesnay geht es in erster Linie um eine möglichst weitgehende Übereinstimmung der positiven Ordnung mit der natürlichen; die positiven Gesetze dürfen den natürlichen nicht widersprechen, sie müssen sie bestätigen und ergänzen. Die Übereinstimmung der natürlichen Ordnung mit der positiven bedeutet ein "Gouvernement économique11 und sichert dauernde Wohlfahrt, während der Gegensatz notwendigerweise zum Untergang fuhrt.

Die natürliche Ordnung innerhalb der Wirtschaft realisiert sich zunächst in den von Gott in den Menschen hineingelegten Trieben, an deren erster Stelle der Selbsterhaltungstrieb steht, der in eugem Zusammenhang mit dem Recht auf Eigentum als wesentliches Grundrecht zu verstehen ist. Verfolgt der Mensch den Eigennutz, so kann sich das von Gott begründete Naturgesetz entfalten. Das Recht auf Erhaltung und Eigentum darf auch der Staat dem einzelnen nicht nehmen, sondern muß es garantieren, und wo der Mensch aus irgendeinem Grunde unfähig ist, für seine Erhaltung zu sorgen, muß der Staat ihm wenigstens die nackte Existenz garantieren.

Die Grundvoraussetzung für das Funktionieren der natürlichen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung liegt für Quesnay darin, dem Individuum seine natürlichen Rechte zuzugestehen und es nicht zu bevormunden, damit es seinen wirtschaftlichen Eigennutz ungehindert verfolgen kann und seine Verhältnisse selbst optimal zu gestalten vermag: Dem Interesse der Gesamtheit wird am besten gedient, wenn die Menschen ihre Kräfte dem Selbsterhaltungstrieb entsprechend frei einsetzen, da der einzelne nur Glied in einem Organismus ist.125 Grundlage des gesellschaftlichen Zusammenlebens innerhalb der natürlichen Ordnung ist die absolute Freiheit des einzelnen. Diese wird von den Physiokraten nicht als Prinzip der Zweckmäßigkeit

124 Vgl. Stavenhagen, G., 1964, S. 42.125 Vgl. Lütge, F., Geschichte, 1963, S. 34.■

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gefordert, sondern als ein Prinzip, das von der Natur gelehrt und vom logischen Denken bewiesen werde.126

Das Recht zum Wirtschaften steht jedem Individuum zu, jedoch läßt sich dieses Ziel im Ackerbau am besten verwirklichen, denn der Boden ist die einzige Quelle allen Reichtums. Ausgangspunkt des "Tableau Economique" ist somit die zeitbedingte Auffassung, daß nur der Boden die Grundlage und der Ackerbau die alleinige Quelle des Volksreichtums sind. Lediglich der Boden erzeugt Reichtum, indem dieser einen Überschuß über die aufgewandten Kosten abwirft, den sog. Reinertrag. Nach Auffassung der Physiokraten liefert nur der Boden den Unterhalt für die gesamte Bevölkerung. Die anderen Wirtschaftszweige sind lediglich stoflumwandelnd und ortsverändemd, sie selbst sind nicht produktiv.127

Im Wirtschaftsleben bildet die Freiheit nach Auffassung der Physiokraten den primären Regulator. Das sich in den Schranken des Rechts haltende Selbstinteresse, in seiner Auswirkung auch praktisch in Schranken gehalten durch die freie Konkurrenz, bildet bei Quesnay den Hauptregulator des Wirtschaftslebens. Im allgemeinen wirkt diese Kraft im Sinne der Herstellung der natürlichen Ordnung.128 Freie Konkurrenz bildet somit die Regel, Staatsintervention die Ausnahme. Die freie Konkurrenz fühlt in der Regel von selbst dazu, die natürliche Ordnung innerhalb des Wirtschaftslebens herzustellen.

Dazu bedarf es jedoch der Freiheit sowohl in der Ausübung eines Gewerbes sowie in der Konsumtion der Güter. Lediglich das Interesse des Mitmenschen darf nicht verletzt werden, eine Tatsache, die normalerweise im Rahmen der Rechtsordnung

126 Hinzuweisen ist auf die Tatsache, daß Quesnay den Begriff der natürlichen Freiheit innerhalb der Wirtschaft und die Maxime des Laissez-Faire in der Wirtschaftspolitik begründet hat. Damit wurde Quesnay zum Begründer des wirtschaftlichen Liberalismus, dem in der öffentlichen Meinung allerdings erst Adam Smith die Balm gebrochen hat. Nach Schumpeters Auffassung läßt sich praktisch die gesamte liberale Argumentation des 19. Jahrhunderts auf Quesnays Vorstellung vom Wirtschaftsablauf und auf die von ihm vertretene Wirtschaftspolitik zurückführen. Vgl. Schumpeter, J.A., Geschichte, 1965, S. 299.127 Dazu kommentiert Quesnay: „Die landwirtschaftliche Arbeit vergütet die Kosten, entlohnt die zur Feldbestellung nötigen Arbeitskräfte, verschafft dem Bauern Gewinne und bringt für die Liegenschaften eine Rendite ein. Wer Erzeugnisse der Industrie kauft, bezahlt die Kosten, die Arbeiter und den Gewinn der Händler. Darüber hinaus bringt die Herstellung keinerlei Rendite ein.“ Quesnay, F., Oeuvres, 1888, S. 233.128 Vgl. Amonn, A., Nationalökonomie, 1961, S. 99.

garantiert wird. Dabei verfolgt der Gesellschaftsvertrag vor allem das Ziel, die natürliche Freiheit des einzelnen insoweit zu beschränken, als sie mit den Rechten der Mitmenschen unverträglich ist.129 Letztlich sollte das Individuum nach eigenem Ermessen und nach seinem eigenen Nutzen handeln, sich seine Beschäftigung selbst wählen, Reichtum erwerben und diesen nach Belieben verwenden dürfen. Insbesondere Lütge bezeichnet diesen Zusammenhang als ethisches Gesetz: Dieses sei dazu angetan, das allgemeine Wohl zu fördern, da es als Naturgesetz zwangsläufig nur gute Auswirkungen haben könnte.130

Konsequenterweise muß sich der Staat jeglicher Wirtschaftspolitik enthalten und dem Wirtschaftsleben freien Lauf lassen. Ihm obliegt es lediglich, die Freiheit im gesamten wirtschaftlichen Bereich durchzusetzen und zu sichern, insbesondere die Rechte des einzelnen, dessen Sicherheit und Eigentum zu schützen und ihm zur vollen Entfaltung seiner Persönlichkeit zu verhelfen. Damit nimmt das Postulat der Freiheit innerhalb der physiokratischen Schule das Postulat eines Dogmas an.131

Letztlich haben die Physiokraten den Grundsatz des Laissez-Faire dogmatisch ausgelegt und auf das Gesamtbild der Wirtschaft ausgedehnt: "Laissez faire et laissez passer - le monde va de lui-même“, das wurde durch Mirabeau zum Kemsatz des physiokratischen Katechismus, durch Turgot zur Richtschnur der physiokratischen Politik.

Dennoch ist es unmöglich, die Physiokraten als Liberale im strengen Wortsinn zu bezeichnen: "Ihre Freiheit ist weniger eine Freiheit vom Staate als eine Enthaltsamkeit des Staates; ihr Individualismus, ihre schematische Vorstellung der Wirtschaft als eines vom Eigennutz, von der Absicht größten Nutzenüberschusses getriebenen Gebildes beansprucht noch nicht, das eigentümliche Wesen aller wirtschaftenden Menschen aufgedeckt zu haben.132

51

Vgl. Ingram, J.K., Geschichte, 1905, S. 78.130 Vgl. Lütge, F, Geschichte, 1963, S. 68.131 Begegnete Quesnay in seinen eigenen Schriften dem Postulat nach Handelsfreiheit noch mit einiger Zurückhaltung, so hatten seine Schüler keine derartigen Vorbehalte mehr gegen die Vorteile der Freiheit. So forderten sie z.B. die Abschaffung sämüicher lehnsherrschaftlicher Dienstbarkeiten, die den Bauern daran hinderten, nach eigenem Ermessen zu wirtschaften.Vgl. Denis, H., Geschichte, 1985, S. 148.132 Vgl. Salin, E., Politische Ökonomie, 1967, S. 66.

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In einer gesellschaftlichen Ordnung, die von selbstevidenten, mathematisch formulierten Regeln gelenkt wurde, blieb für individuelles Wollen und differenzierte Motivation kein Platz. Die psychologischen Erwägungen, die den individualistisch- utilitaristischen Aspekten des englischen Sensualismus des 18. Jahrhunderts zugrundelagen, wurden von den Physiokraten praktisch übergangen.133

133 Vgl. Pribam, K., Geschichte, 1992, S. 220.

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4. Kapitel: Die Entwicklung des utilitaristischen Denkens in England: David Hume und Adam Smith

Der Utilitarismus entwickelt sich im wesentlichen vor dem Hintergrund der Epoche der Aufklärung. Aus dem Wort "Aufklärung" selbst spricht der Wille, das zum Feindbild gesetzte Mittelalter und seinen in Kirche und Staat fortlebenden Geist zu überwinden und Theorie und Praxis auf das Prinzip der Rationalität zu gründen.13-4 Damit verwirft die Aufklärung radikal einen jeden Gültigkeitsanspruch, der auf rational nicht hinterftagbaren Voraussetzungen aufbaut. Sie muß daher grundsätzlich das metaphysische Erklärungsverfahren ablelmen, das in seinem innersten Kem darin besteht, Gegebenheiten aus Gründen, die das Erfahrungsvermögen übersteigen, zu deuten.

Negiert ist damit das mittelalterliche Wissenschaftsverständnis, das den Bereich legitimer Fragestellungen im wesentlichen auf die eine Zielsetzung beschränkte, die irdische Wirklichkeit mit der göttlichen Heilsordnung in einen Zusammenhang zu bringen. Verworfen wird damit gleichzeitig auch das theologische Legitimationsvettahren aer mitteiaiteriichen soziaiiehre, eine bestimmte Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft als gottgewollt hinzunehmen und auf diese Weise den Verpflichtungsgrund sozialer Einrichtungen und Regeht außerhalb der Reichweite rationaler Überprüfbarkeit anzusiedehi.

Der Vorzug von rational begründeten Normen wird vor allem darin gesehen, daß ihre Zustimmungsfähigkeit nicht von weltanschaulichen Vorbehalten eingeschränkt wird. Der rationalistischen, allein aus der Einsicht der Individuen abgeleiteten Begründung gesellschaftlicher Regeln gebührt schließlich gegenüber einer theologischen Begründung der Vorzug, nicht von einem bestimmten religiösen Glauben - oder von der Glaubensbereitschaft des Menschen überhaupt - abhängig zu sein. Neben der pragmatischen Überlegung, daß sich die Verbindlichkeit von Normen, die im aufgeklärten Selbstinteresse der Normunterworfenen hegt, leichter herstellen läßt, als wenn den Normadressaten ein ihrem Interesse widersprechendes Verhalten

134 Vgl. Waibl, E, Ökonomie und Ethik, Bd. 1, 1988, S. 71

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anempfohlen wird, ist es vor allem die Überzeugung, daß nur eine selb stauferlegte Freiheitsbeschränkung mit der Würde einer freien Person in Einklang zu bringen ist.

Nach der Philosophie des Mittelalters, die durch die Abwendung vom Sinnlichen und die Hinwendung zur jenseitigen Glückseligkeit charakterisiert ist, bringt erst die Neuzeit wieder einen materialistischen Zug in die Ethik. Die klassische materialistische Weltanschauung entwickelt sich dabei vor allem in England. Während die mittelalterlichen Lehren ganz unter dem Motto des Lebens in der jenseitigen Welt standen, verlagert sich das Schwergewicht menschlicher Bemühungen in der Aufklärung darauf, die Lebensbedingungen um ihrer selbst willen zu verbessern.135

Gleichermaßen kommt es zur Verflüchtigung der teleologischen Einstellung, die im Mittelalter und in der Antike auf Ethik, Politik oder Theologie gerichtet war, zugunsten einer kausaltheoretischen, zum "Verblassen der Frage nach dem Sein- Sollen zugunsten der Frage nach dem So-Sein."136 Auch der aufkommende Positivismus und Empirismus fuhren dazu, das Zweck-Mittel-Verhältnis aufzulösen und die Wirtschaft als autonomen Selbstzweck zu betrachten. Die rein ökonomische Ausrichtung des Menschen wird vom Staat selbst gefördert. Alle Energien des Volkes werden vornehmlich auf die Wirtschaft hingelenkt, und so ist es kein Wunder, daß nach und nach die Wirtschaft für sich eine höhere Rangordnung beansprucht.

Gleichzeitig entwickelt sich eine Reihe von Gesellschaftstheorien, die versuchen, das wirtschaftende Individuum in einen gesellschaftlichen Zusammenhang einzuordnen. Dazu kommentiert Windelband:

"Es geht durch die moralistische Literatur dieser Zeit in England ein breiter Strom psychologischer Gemeinschaft, und dieser besteht in einer Grundannahme, die später als Utilismus oder Utilitarismus bezeichnet worden ist. Das menschliche Wollen, so meinte man, kann nur Wohl und Wehe, Lust und Unlust, zu einem Gegenstände haben, indem es die eine begehrt und die andere verabscheut. ... Die Assoziationspsychologen ... führten diese ihren Prinzipien durchaus entsprechende Theorie besonders aus, und sie glaubten damit sogar, ein objektives Kriterium der

135 Vgl. Soule, G., Ideen, 1955, S. 59.136 Lütge, F., Geschichte, 1954, S. 27.

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Moral gefunden zu haben."137

Die Ursprünge utilitaristischen Denkens in England werden nach allgemeiner Auffassung bereits bei Hobbes, Locke und de Mandeville angesiedelt.138 Dabei geht die Entstehung des Utilitarismus mit der Entwicklung einer Moralphilosophie einher, die das Programm einer Ethik postuliert, die nicht länger auf einer theologischen Fundierung ihrer Prinzipien beharrt, sondern vielmehr die Befreiung der Moral aus den Fesseln der Religion intendiert. In diesem Sinne wird der Utilitarismus in einer Zeit wirksam, in der die Auskünfte von Religion und Metaphysik ihre generelle Anerkennung verlieren.139

Im Mittelpunkt aller zu dieser Zeit entwickelten Moralphilosophien steht zunächst die Betrachtung der menschlichen Natur, auf deren Grundlage dann sittliche Reflexionen angestellt werden. War diese Basis allen Theorien gemeinsam, so entwickelten sich jedoch durchaus unterschiedliche Vorstellungen über die sittliche Natur des Menschen. In diesem Sinne entstehen schließlich zwei einander entgegengesetzte philosophische Schulen, die bereits die Deckung von Gemeinwohl und Eigeninteresse aufgrund der von ihnen entwickelten Menschenbilder zum Gegenstand haben.140

Insbesondere Bernard de Mandeville kommt das Verdienst zu, den klassischen Utilitarismus bereits in seiner reinsten Form ausformuliert zu haben. De Mandeville, ein in Holland geborener Franzose, gehört seiner ganzen Bildung nach der

Windelband, W., Geschichte, 1919, S. 238.138 Vgl. Pribam, K., Geschichte, 1992, S. 235f., vgl. Höffe, 0., Einleitung, 1992, S. 13.135 Vgl. Höffe, 0., Einleitung, 1992, S. 14f.140 Unter dem Einfluß de Mandevilles entwickelt sich die empirisch-egoistische Schule des 18. Jahrhunderts, die bei Helvetius ihre Entfaltung findet; die zweite Schule stellt die englische Gefühlsethik, die empirisch-sentimentalistische Moralphilosophie dar. Zu den Hauptvertretem dieser egoistischen Schule gehören außer de Mandeville John Locke und Thomas Hobbes.Wie de Mandeville, so stellen auch John Locke und Thomas Hobbes den Trieb der Selbsterhaltimg in den Vordergrund ihrer Betrachtungen. Dieser einseitigen Hervorhebung des Selbsterhaltungstriebes und der Geltendmachung eines maßgeblichen Einflusses der Verstandeserkenntnis bezüglich des Nützlichen auf die sittliche Vorstellung treten vor allem Lord Shaftesbury, der Enkel des mit John Locke befreundeten Staatsmannes, und Francis Hutcheson, der Lehrer Adam Smiths, gegenüber. Im richtigen harmonischen Verhältnis zwischen den selbstischen und den wohlwollenden Affekten besteht für Shaftesbury die Tugend, mit welcher zugleich die Glückseligkeit des Einzelnen und das Wohl der Gattung verbunden ist. Vgl. Surânyi-Unger, T., Philosophie, 1923, S. 324.■

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Moralphilosophie und dem Deismus der Engländer an.141 Hatte Locke keine schlüssige Antwort auf das Dilemma gefunden, wie unerwünschte menschliche Züge - Habsucht, Geiz und dergleichen - mit den Interessen der Gemeinschaft zu versöhnen seien, so veranschaulicht Mandeville dieses Problem in der vielgelesenen Satire "Tlie Fable oftheBees", die er 1714 veröffentlicht.142

Das Pamphlet, das von Bischof Berkeley als das böseste Buch, das es je gab, verdammt wurde, ging von der traditionellen merkantilistischen Wirtschaftslehre aus, die das letzte Ziel aller Wirtschaftspolitik in der Steigerung der nationalen Macht sah und den ökonomischen Fortschritt unter anderem anhand der Handelsbilanz messen wollte.

Aus einer übertriebenen Darstellung der wirtschaftlichen Folgen des Selb stinteresses zog de Mandeville nun den Schluß, daß das allgemeine Wohl von der durchschlagenden Wirkung egoistischer Motive als einziger Triebfeder des individuellen ökonomischen Verhaltens abhängig sei. De Mandeville wollte auf diese Art und Weise demonstrieren, daß Handel und Rechtschaffenlieit miteinander unvereinbar seien. Würden die Regeln der Ehrlichkeit beachtet, so würde die Gesellschaft schließlich im Ruin enden. Im Kern von Bernard de Mandevilles Gedankengang stand dabei vor allem, daß die vorwiegend unmoralischen Motive des individuellen Verhaltens zwar der Absicht nach dem öffentlichen Interesse entgegenstünden, daß letzteres aber in Wirklichkeit von den Ergebnissen dieses Handelns befördert würde. Dieser Gedanke fand vor allem im Untertitel der Satire seinen Ausdruck: 'Private vices and public benefits".143

Mit dieser Auffassung richtete sich de Mandeville schließlich gegen die Tugendhaftigkeit des Menschen: Nicht ein Handeln im Einklang mit der Natur,

141 Vgl. Windelband, W., Geschichte, 1919, S. 285.142 Die „Bienenfabel“ erzählt die Geschichte eines Bienenstocks, dessen Wohlstand mit den unentbehrlichen Begleiterscheinungen des Ehrgeizes, der Erwerbsgier und des Luxus auf der einen, des Mangels und des Neides auf der anderen Seite blüht. Die Aufhebung dieser pnvaten Laster schädigt die Blüte des gesamten Bienenstocks. Nicht die moralische Belehrung und die Schönheit der Tugend, sondern die Begierde nach Verbesserung seines Loses und die Eitelkeit des Menschen erhalten den Fortschritt der Gesellschaft und schaffen die Mttel zur Bekämpfung gewisser Auswüchse.143 Vgl. Pribam, K., Geschichte, 1992, S. 236.

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sondern allein die Abtötung der menschlichen Natur durch Selbstverleugnung vermag nach de Mandeville die Tugendhaftigkeit des Menschen zu begründen.144

In den Theorien von David Hume und Adam Smith kommt es schließlich zu einer simultanen Entwicklung von Utilitarismus und Naturrecht: Die Theorien beider enthalten noch stark naturrechtsphilosopbische Komponenten und sind auch schon im Ansatz utilitaristisch.

4.1 Die Entwicklung des Utilitarismus bei David Hume

4.1.1 Biographischer Hintergrund

David Hume, 1711 in Edinburgh geboren, ist einer der Hauptvertreter des großen "Dreigestims der Aufklärangsphilosophie", zu dem außer ihm noch John Locke aus England, der Vater der modernen Erkenntniskritik, und George Berkeley aus Schottland zählen.145 In David Hume erreicht die englische Erfahrungsphilosophie der Aufklärungszeit ihren Höhepunkt. Gewöhnlich wird seine Philosophie als Empirismus bezeichnet; bei Hume handelt es sich um den Versuch, die experimentelle Methode des Forschens auch in den Wissenschaften vom Menschen zur Geltung zu bringen.146

Bereits im Alter von 26 Jahren verfaßte Hume während eines mehrjährigen Frankreichaufenthaltes sein bedeutendstes Werk, "Eine Abhandlung über die menschliche Natur". Im Privatdienst mehrerer britischer Staatsmänner bereist David Hume Europa; seine Bewerbungen um ein akademisches Lehramt bleiben jedoch vergeblich. Er nimmt schließlich eine Stellung als Bibiliothekar in Edinburgh an, weilt als Gesandtschaftssekretär in Paris und ist dann ein Jahr lang Unterstaatssekretär für Außenpolitik in der englischen Regierung.

144 Vgl. Schrader, W. H., Ethik des Moral Sense, 1992, S. 86f.145 Vgl. Störig, HJ., Weltgeschichte, 1989, S. 355.146 Vgl. Kulenkampff, Jens, David Hume, 1981, S. 434.

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Im Mittelpunkt von Humes Philosophie steht der Versuch, eine sichere Grundlage für das menschliche Wissen atifzuspüren. Zu diesem Zweck liefert er eine empirische Theorie des Menschen.147 Hume gilt die Lehre vom Menschen als Grundlage aller weiteren Wissenschaften, als einzige Methode gilt ihm die Erfahrung und die Beobachtung.148 Mit seiner Erkenntnis, daß die schöpferische Kraft des Denkens sich nicht weiter erstreckt als auf das Vermögen, denjenigen Stoff, den die Wahrnehmungen liefern, zu verbinden, kann als Vorläufer der Assoziationspsychologie gelten.

Humes Bedeutung ragt über das Gebiet einer einzelnen Wissenschaft hinaus. Er verfaßte nicht nur philosophische, sondern auch politische und ökonomische Schriften.149 Gleichzeitig gilt er als bedeutender Vertreter des frühen Utilitarismus.

4.1.2 Die naturrechtsphilosophische Position

David Humes Beschäftigung mit dem Naturrecht kann als zwiespältig bezeichnet werden: Zum einen setzt er sich mit der von Thomas Hobbes begründeten philosophischen Fiktion eines Naturzustandes auseinander und beschäftigt sich intensiv mit der Aufklärungsphilosophie des Deismus und gelangt in beiden Fällen zu einer ablehnenden Haltung.150 Auf der anderen Seite entwickelt er die Idee der

147 Vgl. Frischeisen-Köhler, M. u.a., Die Philosophie der Neuzeit, 1961, S. 399. Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auf die Tatsache, daß Hume die Erkenntnisanalyse von Locke und Berkeley weiter fortsetzt.

Insbesondere in England vollzog sich der Bruch mit der Scholastik dadurch, daß man die Form des alten Denkens bekämpfte und nach neuen Methoden der Erkenntnis suchte. Als erster stellte John Locke die Analyse der menschlichen Erkenntnisfähigkeit in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen. An seine Erkenntnisse, daß der gesamte Inhalt des Bewußtseins der äußeren und der inneren Erfahrung entstammt, knüpft David Hume in seinem „Traktat der menschlichen Natur“ an. Vgl. Aster, E., Geschichte, 1932, S.238ff.

In seinen moralischen und politischen Essays führt er die psychologische Zergliederung der sittlichen, wirtschaftlichen und psychologischen Erscheinungen weiter, indem er ihnen die Grundlagen für die Theorien von Adam Smith und den englischen Moralphilosophen verleiht. In seinen religionswissenschaftlichen Werken, die an den Deismus anknüpfen, liefert er eine Abrechnung mit der natürlichen Religion und wendet die psychologische und geschichtliche Betrachtung auf die Religion an. Als Historiker bahnt Hume die Blüte der englischen Geschichtsschreibung an. Vgl. Frischeisen-Köhler, M., Die Philosophie der Neuzeit 1961 S.399.150 Hume wendet sich gegen die staatsphilosophische Fiktion eines Naturzustandes, wie er von Hobbes vertreten wurde. Im Gegensatz dazu läßt Hume die geselligen Triebe des Menschen

59

Entstehung natürlicher Ordnungen weiter, wobei er jedoch nicht auf deistischem Hintergrund, sondern evolutionstheoretisch argumentiert.

Der Deismus als Religionsphilosophie der Aufklärung kann gewissermaßen als Gegenströmung zu dem von Hobbes vertretenen Naturalismus und "Atheismus" gelten.151 Für Hobbes trat die Frage nach der Wahrheit der Religion ganz in den Hintergrund. Religion ist eine Glaubenssache, der Glaube wird zuletzt nach seiner Zweckmäßigkeit, nicht nach seiner Wahrheit beurteilt. Dagegen fragen Herbert von Cherbury und der ganze Deismus nach ihm nach einer Vemunftsreligion, die - einleuchtend und beweisbar - die Krönung und den Abschluß des ganzen Gebäudes menschlicher Erkenntnis bildet. Daß ihnen die Vernunft als Quelle der religiösen Wahrheit erscheint, stellt die Deisten in Gegensatz zu den Vertretern einer reinen Oftenbarungsreligion.

Der historische Deismus, vor allem die Lehre von Autoren wie John Toland, Anthony Collins und Matthew Tindal, erklärt die Offenbarung vollständig zum Aberglauben, sofern sie nicht mit Positionen der natürlichen Religion identisch ist. Damit wird versucht, den konfessionellen Streitigkeiten, die sich aus unterschiedlichen Interpretationen der Offenbarung ergeben, dadurch zu entkommen, daß eine "natürliche Religion" konstruiert wird, die sich allein mit Hilfe der menschlichen Vernunft erschließen läßt.132 Da man vermutete, daß man mit rationalen Methoden zu einem Ergebnis kommen könne, das allen Menschen einsichtig zu machen sei, versprach der Deismus, eine Vemunflreligion begründen zu können, die jenseits aller theologischen Streitigkeiten Geltung erlangt.

Der Deismus geriet in eine Krise, als seine Forderung nach Religionsfreiheit zunehmend realisiert wurde. Auch Hume hat durch die Verbreitung seiner Ansichten zur Krise des Deismus beigetragen. Im 18. Jahrhundert hielt man vielfach eine Spielart der Physikotheologie für den Kern des Deismus: Gott sei als ein vollkommener

von Anfang an wirken; der Mensch wird zumindest in die Gemeinschaft der Familie hineingeboren und zur Geselligkeit erzogen. Hume entwickelt insbesondere dasSympathiepnnzip, um die altruistischen Tendenzen innerhalb der Gesellschaft zu erklären. Sieist ebenso wie der Egoismus des Menschen ein Grundprinzip innerhalb der menschlichenNatur. Vgl. Metz, R., David Hume, 1929, S. 272.151 Vgl. Aster, E, Geschichte, 1980, S. 225.152 Vgl. Sieferle, R P., Bevölkerungswachstum, 1990, S. 21.

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Konstrukteur zu denken, der in den Funktionsablauf der Webmaschine nicht mehr' einzugreifen brauche.153 Das Naturgeschehen sollte vollkommen als selbstregulierter Vorgang rekonstruiert werden können, wobei die Funktion Gottes zunehmend darauf reduziert wurde, als "prima causa" die Weltordnung geschaffen zu haben. Dieses selbstregulierte Gleichgewicht der Natur setzte nun allerdings voraus, daß der Natur Regularitäten innewohnten, die eine selbständige Erhaltung ermöglichten.154

Auch Hume richtet sich gegen die Fiktion einer Naturreligon, die den aufklärerischen Vemunftsglauben zum Inhalt gehabt hat. Die Brücke zwischen Religion und Wissenschaft wird abgebrochen, Religion ist nur als Glaube, nicht als Wissen möglich. Der rationale Gottesbegriff und die deistische Idee einer Naturreligion sind somit aufgehoben. Hume erkennt, daß die religiöse Entwicklung von der gesellschaftlichen bestimmt ist. Nicht Abfall von der ursprünglichen Normalreligion, sondern Animismus, Polytheismus und Monotheismus bezeichnen die wirklichen Etappen der Religionsgeschichte.155

Humes Untersuchung richtet sich vornehmlich darauf, festzustellen, ob die Beweise für die Annahme einer intelligenten Weltursache hinreichend sind und ob sie dem Menschen etwas von dem Wesen und der Natur Gottes zu erschließen gestatteten.156 Eine Ableitung von Ordnungszuständen aus einem ordnenden Subjekt lehnt Hume ab; das unlösbare Problem werde damit lediglich um einen Schritt verschoben.

Demgegenüber entwickelt Hume bereits Ansätze eines post-teleologischen Naturmodells. Grundsätzlich deutet Humes Einwand gegen das Standardargument der natürlichen Religion auf ein Konzept der Selbstorganisation komplexer Ordnungen in

153 Vgl. Gawlick, G., Deismus, 1972. S. 45.154 Vgl. Sieferle, R.P., Bevölkerungswachstum, 1990, S. 15.155 Innerhalb der Sekundärliteratur wird die Auffassung vertreten, daß vor allem Humes „Natural History of Religion“ (1757) das Ende des Deismus bezeichnet. Hume präsentiert jedoch vor allem in seinen „Dialogues concerning Natural Religion“, die bereits viel früher entstanden waren, zwei Argumente, die das physikotheologische Modell stark erschütterten. Vgl. Georg, K.; Buhr, M., Deismus, 1974, S. 255.156 Vgl. Frischeisen-Köhler, M., Die Philosophie der Neuzeit bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, 1961, S. 411.

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einem Prozeß von Versuch und Irrtum, d.h. auf eine evolutionstheoretische Erklärung von Ordnungszuständen innerhalb der Natur.157 So äußert er:

"Viele Welten sind entstanden, bevor dieses System erdacht worden ist: Viel verlorene Arbeit und viele fruchtlose Versuche. Und eine langsame kontinuierliche Verbesserung, die sich durch die Zeiten hindurch entwickelt hat."158

Für Hume war die Entstehung des Universums ein evolutionärer Prozeß. Hume lieferte bereits eine Beschreibung der biologischen Evolution, in die der Gedanke einfließt, daß die Erhaltung einer Art davon abhängt, ob sie sich an die Umwelt anpassen kann.159

Letztlich bleibt es auch Hume überlassen, mit der traditionellen Vorstellung eines ewigen, unabhängig vom menschlichen Willen bestehenden Naturrechts endgültig zu brechen. Welche Regeln die Naturrecbtslehrer auch aufstellen mögen, letzter Grund für jede Regel ist nach Hume "the convenience and necessity of mankind'1.160 Der psychologische Ursprung der Gesellschaft gründet sich nach Hume auf den Selbsterhaltungstrieb der Individuen und auf die Einsicht, daß dieser unlöslich mit den sozialen Interessen verknüpft ist. Mit den Worten Humes:

"Die Regeln der Gerechtigkeit und des Rechtssinnes hängen völlig von dem

157 Interessant ist in diesem Zusammenhang, daß auch eine Parallele zum epikureischen Atomismus hergestellt werden kann. Dieser Position zufolge existiert kein göttlicher Weltplan. Die zu beobachtenden Regularitäten und Ordnungen in der Natur sind vielmehr Ergebnis spontaner Selbstorganisation der materiellen Elemente der Welt - oder - wie es vielfach hieß, der zufälligen Kausalität von Atomen. Die Betonung des Zufalls zielt hier auch auf die Ablehnung jeglicher Kausalität. Vgl. Sieferle, RP., Bevölkerungswachstum, 1990, S. 22.158 Hume, David, Dialogues concerning Natural Religion, 1779/1976, S.191. Hume legte dem Skeptiker Philo diesen Einwand während eines Dialoges in den Mund. Daß Hume die klassische Darstellungsfonn des Dialogs wählt, um seine Position zu entwickeln, läßt sich dahingehend interpretieren, daß Hume selbst es nicht wagt, solche theologisch riskanten und wissenschaftlich spekulativen Vorstellungen als seine eigenen vorzutragen. Vgl. Sieferle, R P., Bevölkerungswachstum, 1990, S. 23.159 So äußert Cleanthes, der Held der „Dialoge über die natürliche Religion“ z.B. folgendes über die Schwierigkeiten einer biologischen Anpassungslehre: „Keine Form ... kann bestehen, ohne die Kräfte und Organe zu haben, die zur ihrer Erhaltung erforderlich sind: Eine neue Ordnung oder Ökonomie würde immer wieder aufhören, bis endlich eine Ordnung zustandekommt, die sich selbst aufrechterhalten kann.“ Hume, D., Dialoge über die natürliche Religion, 1968, S. 70.160 Vgl. Ruzicka, R., Naturrecht in der Neuzeit, 1984, S. 581.

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besonderen Zustande und den Bedingungen ab, uuter denen die Menschen leben, und sie verdanken ihren Ursprung und ihren Bestand jenem Nutzen, welcher der Öffentlichkeit aus ihrer strengen und regelmäßigen Beobachtung erwächst... .1,161

Damit verwirft Hume auch die naturrechtliche Vertragstheorie. Eine Ordnung der Gesellschaft entsteht durch eine Übereinkunft, die auf dem allgemeinen Bewußtsein des gemeinsamen Interesses beruht, aber nicht den Charakter eines Versprechens hat; die Vorstellungen von Eigentum, Recht und Verpflichtung ergeben sich erst in Folge dieser Übereinkunft. Hume erkennt damit keine natürlichen Regeln an, sondern nur konventionelle Gesetze, die die Menschen zu ihrem gemeinsamen Nutzen erfunden haben, eine Auffassung, die bereits Ähnlichkeit mit der von Bentham und James Mill entworfenen utilitaristischen Staatsauffassung aufweist.

Letztlich sind die Regierungen entstanden, da es sich vor deren Existenz als unmöglich erwiesen habe, daß die natürlichen Gesetze eingehalten werden. Die bürgerlichen Tugenden sind zugunsten der natürlichen erfunden worden; dennoch ist die Gehorsamspflicht gegenüber dem Staat nicht auf die natürlichen Gesetze, etwa daß Versprechen zu halten seien, zurückzufiihren. Sie entspringen vielmehr dem Interesse, die Gesellschaftsordnung aufrechtzuerhalten.162 Gleichzeitig wendet sich Hume gegen den naturrechtlichen Charakter des Eigentums, denn da die Rechtsordnung künstlichen Charakter hat, kann das Eigentum nicht von Natur aus bestehen:

"Unser Eigentum ist nichts anderes als jene Güter, deren konstanter Besitz durch die Gesetze der Gesellschaft festgesetzt ist, d.h. Rechtsnormen."163

Indem Hume weiterhin erkennt, daß es unabhängig von der staatlichen Rechtsordnung kein Eigentumsrecht geben könne, folgert er weiterhin, daß die Beziehung zwischen dem Objekt und dem Eigentümer eine moralische sein müsse. Den Nutzen einer Rechtsordnung und einer damit einhergehenden Festlegung der Eigentumsrechte

161 David Hume, Enquiry, 1874, S. 183.162 Vgl. David Hume, Treatise, 1960, S. 544.163 DavidHume, Philosophical Works, Bd. 2, 1874, S. 263.

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erklärt Hume aus der Tatsache heraus, daß die Unterwerfung unter das Recht auf lange Sicht die Chance erhöht, Besitz zu erwerben und diesen zu behalten.164

4.1.3 Die utilitaristische Position

David Hunie hat sich bereits in Ansätzen mit der Problematik des Utilitarismus auseinandergesetzt: Sein vorherrschendes ethisches Interesse ist auf das Leben der sozialen Gemeinschaft und auf die es bestimmenden Kräfte und Faktoren gerichtet.

Ilume bezeichnet den Nutzen als "Quelle des Lobes und der Billigung", dieser bildet die Grundlage des Hauptteiles der Moral, der eine "Beziehung zur Menschheit und den Mitmenschen hat."165 Dem sozialen Charakter von Humes Tugendlehre, insbesondere dem Prinzip der Sympathie, ist es in erster Linie zuzuschreiben, daß er den äußeren Erscheinungsweisen von Handlungen, d.h. deren Erfolg und Nutzen innerhalb der Gesellschaft, große Bedeutung beimißt.

Indem Hume sich innerhalb seiner Ethik am Nutzen der Gesellschaft orientiert, sind lür ihn alle natürlichen Triebe - die sozialen und die individuellen - als sittlich anzuerkennen, soweit sie der Gesamtheit zum Nutzen gereichen.166

Innerhalb seiner Gesellschaftsauffassung vertritt Hume die Ansicht, daß der Gemeinsinn des Menschen nicht ausreicht, um das Individuum dazu zu veranlassen, im Dienste der Allgemeinheit zu handeln. Es ist vielmehr notwendig, die Individuen durch andere Leidenschaften zu lenken und sie durch das Erwerbsstreben, Gewerbefleiß und Luxus anzuregen. Die Allgemeinheit und die Individuen werden in gleicher Weise Nutzen daraus ziehen.

Indem Hume den Luxus als nützlich deklariert, macht er diesen gleichzeitig zu einer sozialen Tugend. Der Verdienst der sozialen Tugenden beruht dabei in der

164 Vgl. Röd, W., Philosophie, 1993, S. 340.165 DavidHume, An Enquiry concerning Human Understanding, 1874, S. 216166 Vgl. Zeyss, R., Adam Smith, 1889, S. 37.

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Rücksichtnahme, welche das natürliche Gefühl des Wohlwollens den Interessen der Allgemeinheit uns zu nehmen veranlaßt.167 Was nützlich für die Allgemeinheit ist, ist in den Augen Humes auch sittlich gut. Das, was den Menschen zu einer solchen Handlung anregt, ist ein Gefühl für das Glück seiner Mitmenschen, ein Sympathiegefühl. Dieses tritt bei Hume als "extensive Sympathie" in Erscheinung.

Als grundlegende soziale Eigenschaften, die allgemeiner Billigung im Rahmen der Sympathie begegnen, da sie der Gesellschaft nützlich sind, unterscheidet Hume das Wohlwollen und die Gerechtigkeit. Im Gegensatz zum Wohlwollen existiert jedoch kein natürlicher Trieb im Menschen, der auf die Realisierung der Gerechtigkeit innerhalb der Gesellschaft abzielt.168

Aus diesem Grund spricht sich Hume für eine Institutionalisierung der Gerechtigkeitsvorstellung im Rahmen des Staates aus. Zur Realisierung der Gerechtigkeit droht der Staat Sanktionen durch positives Recht an, um so die Respektierung von Eigentumsrechten und vertraglichen Verpflichtungen zu gewährleisten. Eine bedeutende Rolle innerhalb von Humes Argumentation spielt insbesondere die Güterknappheit.

Nach Humes Auffassung entsteht die Rechtsordnung als Folge der Bemühungen, das Eigentum zu sichern. Sie ist folglich nicht das Ziel dieser Anstrengung, sondern entsteht vielmehr unbeabsichtigt. Die Rechtsordnung stellt folglich eine spontane Ordnung dar, ein System, das von seinen Verursachern nicht beabsichtigt ist. So äußert Hume:

"Dieses System, das das Interesse jedes Individuums umfaßt, ist natürlich dem allgemeinen Wohl günstig, so gewiß dies von den Erfindern nie beabsichtigt wurde.“169

Hume betrachtet die Gerechtigkeit als den großen Regulator des staatlichen Lebens, ohne den die Gesellschaft überhaupt nicht möglich wäre. Der Gerechtigkeit obliegt es,

167 Vgl. Amonn, A., Nationalökonomie, 1961, S. 74.168 Vgl. Zeyss, R., Adam Smith, 1889, S. 37.169 Hume, D., Traktat, 1973, S. 278.

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die gesellschaftsfeindlichen Interessen der Individuen in Schranken zu halten.170 Grundsätzlich begreift Hume die Gerechtigkeit nur als Bestandteil deijenigen Gesellschaft, die wir aus unserer geschichtlichen Erfahrung heraus keimen. Diese besteht darin, daß der Mensch ein aus selbstsüchtigen und wohlwollenden Neigungen gemischtes Wesen ist, daß von der Natur kärglich ausgestattet worden ist und nur durch harten Kampf seine notwendigen Lebensbedürfnisse zu befriedigen vermag.

Auch in ökonomischer Sicht sind Anklänge Humes an den Utilitarismus zu verzeichnen: Hume teilt den Glauben sämtlicher Zeitgenossen, daß der Handel der entscheidende Faktor sei, der die Produktion in Gang setze und die Industrie in Bewegung halte.171 Er war davon überzeugt, daß das Profitmotiv der Kaufleute, zusammen mit ihrer Sparsamkeit, das Hauptmotiv für die Ingangsetzung der Wirtschaft sei, da er im Kaufmann die Zentralfigur der bürgerlichen Gesellschaft sah. ln diesem Zusammenhang weist Hume nach, daß die vermögende Klasse der Kaufleute und Manufakturbesitzer Einkünfte in Anspruch nahm, mit welchen die Macht des Staates hätte gesteigert werden können.

Die Leidenschaften und Begierden des Menschen sind nach Humes Auffassung die Grundvoraussetzung, um eine Wohlstandssteigerung der Gesellschaft zu ermöglichen; die Arbeit gilt dem Menschen als Mittel, von der Natur allen Reichtum dar Erde zu kaufen:

"Ein Staat ist niemals mächtiger, als wenn alle verfügbaren Arbeitskräfte mit dem Dienst an der Allgemeinheit beschäftigt sind. Die Bequemlichkeit und der Vorteil von Privatpersonen fordern aber, daß diese Arbeitskräfte ihnen dienen. Der Allgemeinheit kann also nur auf Kosten der Privatinteressen genüge getan werden."172

Hume erkennt auch den engen Zusammenhang zwischen dem materiellen Wohlstand des Volkes und seinem gesamten geistigen, politischen, sozialen und kulturellen Leben und deckt die Verbindungslinien auf, die von einer gesellschaftlichen Blüte zu einem

Vgl. Metz, R., David Hume, 1929, S. 289. Vgl. Pribam, K., Geschichte, 1992, S. 168. Hume, D., Writings, 1955, S. 6f.

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unausweichlichen Aufschwung der gesellschaftlichen Kultur fuhren.173 Freier Handel soll somit auch deshalb gewährt werden, damit die unterentwickelten Völker zu einer volkswirtschaftlichen und gesellschaftlichen Blüte gelangen.174

Trotz eindeutig utilitaristischer Elemente innerhalb seiner Schriften ist Humes Zugehörigkeit zum Utilitarismus innerhalb der Sekundärliteratur umstritten. So kommentiert Metz: "Humes Lehre von der extensiven Sympathie enthält zwar Gedankenmotive in sich, die ihre Ausdeutung im Sinne der Formel Benthams sehr begünstigen, trotzdem steht sie jener nüchternen und rechnerischen Form des Utilitarismus fern, welcher die sittlichen Handlungen durch Maß und Zahl quantitativ zu bestimmen suchte..."175

Letztlich wird Hume vor allem dahingehend interpretiert, daß seine Gesellschaftstheorie mehrdeutig sei und sich "im Sinne einer Theorie der moralischen Empfindungen, einer Sympathielehre oder auch eines ausgesprochen utilitaristischen Ansatzes" verstehen lasse.176

4.1.4 Ordnung und Gerechtigkeit

Die Garantie der Gerechtigkeit im Rahmen der Rechtsordnung geht bei Hume immer mit der Garantie des Privateigentums einher. Jeder Mensch sollte - wenn möglich - die

173 Humes liberale Überzeugungen fanden ihren deutlichsten Ausdruck in seiner 1758 veröffentlichten Abhandlung über die Eifersucht im Handel. Dort bekannte er, daß er als britischer Untertan für eine gedeihliche Entwicklung des deutschen, italienischen und französischen Handels bete. In seinem Essay „On the Jealousy of Trade“ verkündet Hume weiterhin die Harmonie der ökonomischen Interessen der Völker; jedem Land komme infolge der internationalen Arbeitsteilung der Reichtum seiner Nachbarn zugute. Englands Handel würde schwer geschädigt, wenn seine Nachbarländer zu Annut und Bedürfnislosigkeit herabsinken würden. Auch die Einfuhr sei besonders wichtig, da sie eine gütermäßig erweiterte und billigere Versorgung mit Waren ermögliche. Vgl. Pribam, K., Geschichte,1992, S. 171.174 Hume unternimmt in diesem Zusammenhang erstmalig den Versuch, das Wachstum der kapitalistischen Wirtschaft zum Außenhandel in Beziehung zu setzen. Hume erkennt zunächst, daß der Außenhandel der industriellen Entwicklung den ersten Anstoß gibt, weil die wachsenden Profite und die steigende Zahl der Industriearbeiter die Nachfrage nach Waren erhöht. Vgl. Surânyi-Unger, T., Philosophie, 1923, S. 313.175 Metz, R., David Hume, 1929, S. 273.176 Vgl. Bonar, J., Philosophy and Political Economy, 1922, S. 21.

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Früchte seiner Arbeit in der vollen Versorgung mit all den Notwendigkeiten und vielen der Bequemlichkeiten des Lebens genießen können. Damit sieht Hume die (jrundlage des Eigentums in Anlehnung an Locke in der Arbeit.177

Nach Humes Auffassung stellt sich eine liberale, auf Privateigentum und Freiheit der wirtschaftlichen und persönlichen Entfaltung gestützte Gesellschaftsordnung als die relativ beste dar. So liefert er bereits eine äußerst treffende Beschreibung der auf Privateigentum beruhenden Wirtschaftsordnung, indem er auf Gleichheit zielende Maßnahmen innerhalb der Wirtschaft mit dem Argument ablehnt, sie müßten zu einer untragbaren Verminderung der Produktionsleistung fuhren, weil für den einzelnen der Anreiz entfallen würde.

"Man muß zugeben, daß wir, wenn wir vom Gleichheitsprinzip abweichen, mehr den Annen schaden als den Reichen nützen. Oft befriedigt ein einziger Mensch seine frivole Eitelkeit auf Kosten vieler Familien oder sogar ganzer Provinzen... Indes, wenn man Eigentum möglichst gleichmäßig verteilt, werden die unterschiedlichsten Eigenschaften, die man im Handwerk, der Wissenschaft und der Industrie antrifft, die Gleichheit sehr bald aushöhlen. Hält man diese Eigenschaften im Zaum, so wird man in Kürze die Gesellschaft in die bitterste Armut stürzen. Um einige Menschen vor dem Elend zu bewahren, wird man die ganze Gesellschaft preisgeben."178

Im Rahmen seiner Gerechtigkeitsauffassung läßt Hume verteilungspolitische Aspekte völlig außer acht; die ungleiche Verteilung des Eigentums innerhalb der Gesellschaft rechtfertigt Hume mit Hilfe des Nützlichkeitsprinzips: Auf Gleichheit zielende Maßnahmen lehnt er mit dem Argument ab, daß diese zu einer Verminderung der Produktionsleistung fuhren müßten, da sie eine Verminderung des Leistungsanreizes des Einzelnen mit sich bringen würden. Nach Hume besteht damit die Gleichheit der Menschen nur in bezug auf ihre allgemeine Natur; es ist die Gleichheit des

177 So kommentiert Hume: „Wenn ein Mensch unter Aufwand großer Mühe seine Arbeitskraft auf einen Gegenstand wendet, der zuvor niemandem gehörte ... setzen die Veränderungen, die er an dem Gegenstand bewirkt, eme Beziehung zwischen ihm und dem Gegenstand, wodurch uns natürlich nahegelegt wird, ihm den Gegenstand vermittels einer neuen Beziehung zuzusprechen, welche wir Eigentum nennen .“ L'oeuvre économique de David Hume, 1902, zit. nach Schatz, A., S. 116.178 L’oeuvre économique de David Hume, zit. nach Schatz, A., 1902, S. 116.

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Menschseins als eines besonderen geistigen und ethischen Wesens. In dieser Hinsicht und nur in dieser Hinsicht müßten alle Menschen als gleich betrachtet und gleich behandelt werden.179

Demgegenüber sind die Menschen verschieden im Hinblick auf ihre Anlagen, Fähigkeiten, Talente, geistigen und körperlichen Kräfte und Eigenschaften, und diese Verschiedenheit muß auch ihre Konsequenzen im Hinblick auf eine Verschiedenheit ihrer wirtschaftlichen Lage haben: Der Fleißige kann nicht gleich viel haben wie der Träge, der Verschwenderische nicht gleich viel wie der Sparsame. Die Herstellung einer solchen Gleichheit müßte Fleiß und Sparsamkeit untergraben und würde eine Prämie auf Trägheit und Verschwendung bedeuten. Insofern wäre die Herstellung einer solchen Gleichheit ungerecht und unpraktisch.

Hume räumt jedoch ein, daß dort, wo allzu große Unterschiede in der Güterverteilung bestehen, eine große Gefahr für das politische Gemeinwesen entsteht, denn auch die politische Gewalt werde bei einigen wenigen zusammenlaufen, die sich im Besitz des überwiegenden Teils des nationalen Reichtums befänden.180 Als Idealzustand strebt Hume eine zumindestens annähernd gleiche Vermögensverteilung an. Dann könne jeder frei zum materiellen Ertrag seiner Arbeit gelangen und durch die Hebung des allgemeinen Lebensniveaus, durch das Wachsen der Zahl der bemittelten Bürger werde auch das Wohl des gesamten Staates wesentlich besser gesichert erscheinen.

Abschließend ist festzuhalten, daß innerhalb von Humes Theorie utilitaristische und naturrechtsphilosophische Elemente nebeneinander bestehen. Spricht er auf der einen Seite von der spontanen Entstehung von Ordnungen, so erkennt er auf der anderen Seite einen utilitaristischen Staatszweck an.

179 Vgl. Amonn, A., Nationalökonomie, 1961, S. 77. IS0 Vgl. Surânyi-Unger, T., Philosophie, 1923, S. 313.

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4.2 Die Entwicklung des Utilitarismus bei Adam Smith

4.2.1 Biographischer Hintergrund

Adam Smith (1723-1790), mit David Hume Begründer der klassischen Nationalökonomie und von Schumpeter als berühmtester Wirtschaftswissenschaftler überhaupt bezeichnet, hat sich Zeit seines Lebens nicht nur mit ökonomischen, sondern auch mit moralphilosophischen Fragestellungen beschäftigt.181 Er studiert zunächst in Oxford, wo er seinen Eintritt in den geistigen Stand vorbereitete. Dank der Protektion eines gebildeten Aristokraten zunächst Professor fur Moralphilosophie, dann für Logik an den Universitäten Glasgow und Edinburgh, liest er über die Themengebiete Ethik, natürliche Theologie, Jurisprudenz sowie Ökonomie.182

Den größten Teil seines Lebens verbringt Smith zurückgezogen mit Lehren und Schreiben. Seiner Ausbildung nach war Smith eigentlich Philosoph. In diesem Sinne war auch Smiths erstes Werk, "Die Theorie der ethischen Gefühle", (1759) ein philosophisches, in dem er die Lehren der schottischen Moralphilosophen neu faßte.183

Adam Smith selbst hat sein moralphilosophisches Werk als sein wichtigstes erachtet und es kurz vor seinem Tod einer kompletten Überarbeitung mit zahlreichen Modifizierungen unterzogen.184 Dabei geht er davon aus, daß die Aufgabe der Moralphilosophie darin liegt, die Grundsätze des täglichen Lebens in systematischer Form zu ordnen und sie durch einige verbindende Prinzipien in Zusammenhang zu setzen. Dies soll seiner Ansicht nach in derselben Art und Weise geschehen, wie man versucht, Naturerscheinungen zu ordnen und untereinander in Verbindung zu bringen.185

1,1 Vgl. Schumpeter, J.A., Geschichte, 1965, S. 241. m Vgl. Pribam, K., Geschichte, 1992, S. 238.

Die Grundlagen seiner philosophischen Schulung erhielt Adam Smith von Francis Hutcheson, der den Lehrstuhl für Philosophie an der Universität von Glasgow innehatte. Vgl. Mann, F.K., Smith, 1953, S. 289. Innerhalb der schottischen Moralphilosophie bildet Smith eine Linie mit den Philosophen Hobbes, Locke, de Mandeville, Shaftesbury, Hutcheson und Hume. Vgl. Zeyss, R., Adam Smith, 1889, S. 34. m Vgl. Eckstein, W., Einleitung, 1977, S. XXffl.185 Vgl. Eckstein, W., Einleitung, 1977, S. XXVH

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Nach Vollendung seines ersten Werkes begleitet Smith einen jungen Adeligen, Sohn des Herzog von Buccleugh, mehrere Jahre lang auf seinen Reisen in die Schweiz und nach Frankreich. Während seines Frankreichaufenthaltes macht er die Bekanntschaft der Enzyklopädisten und der Physiokraten und vollzieht einen langsamen Übergang von der Philosophie zur Wirtschaftslehre.186

Adam Smith steht mit zahlreichen berühmten Männern seiner Zeit in Kontakt. Mit dem Maler Joshua Reynolds, dem Philosophen David Hume, dem Nationalökonomen Jacques Turgot, dem Naturwissenschaftler James Watt, dem Historiker Edward Gibbon, dem Schauspieler David Garrick, den Schriftstellern Walter Scott und Samuel Johnsohn und dem Politiker William Pitt ist er bekannt oder befreundet.187

Nach seiner Rückkehr aus Frankreich siedelt Smith sich schließlich in Kirkcaldy an und veröffentlicht 1776 sein ökonomisches Hauptwerk, "Den Wohlstand der Nationen11. Dort verknüpft Smith seine Gedanken mit dem gesamten ökonomischen Wissen seiner Zeit.188 Er läßt sich dann in London nieder und nimmt später die Stelle eines Zollkommissars in Edinburgh an, wo er 1790 stirbt.

Philosophisch ist Smith mehreren Strömungen zuzurechnen.189 Das Weltbild Smiths haben Aristoteles, Thomas von Aquin, das Naturrecht und die physiokratische Bewegung entscheidend geprägt.190 Zu den unmittelbar Smith beeinflussenden Persönlichkeiten und Gruppierungen zählt zunächst F. Hutcheson, von dem er nicht nur die Einteilung der Vorlesungen, sondern auch seinen optimistischen Deismus

186 Inwieweit Smitii seine ökonomischen Ideen direkt von den Physiokraten, insbesondere von Anne Robert Jacques Turgot übernommen hat, galt innerhalb der Nationalökonomie lange Zeit als strittig. Heute ist jedoch die Tatsache allgemein anerkannt, daß Smith sein Wirtschaftssystem bereits 1755 vor seinem Kontakt mit den Physiokraten entwickelt hat. Vgl. Zeyss, R., Adam Smith, 1889. S. 11 lf.187 Vgl. Recktenwald, H.C., Adam Smith, S. 138.188 Vgl. Pribam, K., Geschichte, 1992, S. 244.189 Auch Eckstein hält eine eindeutige Einordnung von Smiths Werk für unmöglich. Vgl. Eckstein, W., Einleitung, 1977, S. XXV.190 Vgl. Recktenwald, H.C., Klassik, 1984, S. 50.

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übernommen hat.191 Dabei bedeutet die Harmonie und die Finalität der "wunderbaren Maschine der Natur" für den Deismus den sichersten Gottesbeweis.192

Utilitaristische Anklänge sind bei Smith insbesondere im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit den Theorien von David Hume und Bernard de Mandeville zu verzeichnen. In seiner "Theorie der ethischen Gefühle" setzt sich Smith konkret mit de Mandeville und dessen Bienenfabel (1705), in der die Egoismusmoral aus der Formel "private vices, public benefits“ abgeleitet wird, auseinander.193 Eine Beeinflussung Smiths durch de Mandeville erfolgt derart, daß die Bedeutung des Egoismus für das Wirtschaftsleben speziell begründet wird.194

Von den utilitaristischen Theorien David Humes wird Adam Smith zumindest indirekt beeinflußt, obwohl die Begriffe Nützlichkeit und Utilitarismus in keinem seiner beiden Werke eine wichtige Rolle spielen; innerhalb der Sekundärliteratur ist Smiths Stellung zum Utilitarismus nicht abschließend untersucht worden.195 Smith selbst hat sich lediglich innerhalb der „Theorie der ethischen Gefühle“ eingehend mit dem Utilitarismus auseinandergesetzt; er tut dies ausdrücklich in seiner Kritik an Humes

191 Mit seinem Lehrer Hutcheson verbindet Smith zwar dessen optimistischer Deismus, jedoch lehnt er dessen ausschließlich auf Wohlwollen beruhende Tugendlehre ab. So war Hutcheson in seiner Moralphilosophie davon ausgegangen, daß lediglich Handlungen, die aus den optimistischen Neigungen des Menschen hervorgehen, moralisch gebilligt werden. Vgl. Smith, A., Theone, 1977, S. 501ff.192 So äußert Smith: „Die Vorstellung von jenem göttlichen Wesen, dessen Wohlwollen und Weisheit von der Ewigkeit diese unendliche Maschine des Universums so ersonnen und geleitet hat, daß sie das größtmögliche Maß an Glückseligkeit hervorbringe, ist sicherlich von allen Gegenständen menschlicher Betrachtung der weitaus erhabenste.“ Smith, A., Theorie, 1977, S. 400. In dieser Formel vom größtmöglichen Maß an Glückseligkeit werden bereits utilitaristische Anklänge innerhalb von Smiths Moralphilosophie gesehen. Vgl. dazu Suränyi- Unger, T., Philosophie, 1923, S. 346, vgl. Eckstein, W., Einleitung, 1977, S. XI.193 Vgl. Smith, A., Theorie, 1977, S. 513ff.194 Aus einer übertriebenen Darstellung der wirtschaftlichen Folgen des Selbstinteresses zog de Mandeville dort den Schluß, daß das allgemeine Wohl von der durchschlagenden Wirkung egoistischer Motive als einziger Triebfeder des individuellen ökonomischen Handelns abhängig sei. Diese Idee nimmt Smith im „Wohlstand der Nationen“ in abgeschwächter Form auf. Vgl. Schachtschabel, H.G., Geschichte, 1971, S. 45.195 So zählt Pribam Adam Smith zu den Utilitaristen. Vgl. Pribam, K., Geschichte, 1992, S. 243. Macfie dagegen ist entgegengesetzter Auffassung: Er hält den „Geist“ der gesamten Schule der schottischen Moralphilosophie mit dem Utilitarismus Benthams unvereinbar. Vgl. Macfie, A.L., The Individual in Society, 1967.

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Nutzentheorie; dort gelangt er zu dem Ergebnis, daß die Herleitung des Sittlichen aus dem Nützlichen grundsätzlich abzulehnen sei.196

Ohne Quesnay und dessen Vorarbeit wäre Smith nicht in der Lage gewesen, sein System in der bestehenden Form auszubauen.197 Gemeinsamer Ausgangspunkt beider Lehren ist das Naturrecht.198 Smith geht jedoch dadurch über das physiokratische Lehrgebäude hinaus, daß er als erster das Individuum in den Mittelpunkt des Wirtschaftslebens gestellt und so eine kausalpsychologische Welt des Eigennutzes aufgebaut hat; im Gegensatz zu den Physiokraten war die natürliche Ordnung im System von Smith eine inhärente Eigenschaft des gegenwärtigen wirtschaftlichen Lebens.199

4.2.2 Die naturrechtsphilosophische Position

Von allen Einflüssen, die Smiths Werk geprägt haben, ist seine gedankliche Verbindung zum Deismus und zum Naturrecht grundlegend.200 Vor allem Smiths Anhängerschaft an den Deismus zeugt von seinem naturrechtlichen Denken, denn innerhalb dieser Strömung läßt sich die Regularität der Naturgesetze auf eine ursprüngliche ordnende Intention zurückfuhren.201

196 Anlehnungen an seinen Freund David Hume sind bei Smith vor allem in seiner modifizierten Übernahme des Sympathieprinzips erkennbar. Im Gegensatz zu diesem begreift Smith das Sympathieprinzip jedoch rein formal. Die Billigung des richtigen Handelns wird bei ihm ausdrücklich vom Prinzip der Sympathie unterschieden, das keinen bestimmten Inhalt besitzt. So kommentiert Smith in seiner „Theorie der ethischen Gefühle“: „Es gibt noch ein anderes, von meinem verschiedenes System, das unsere sittlichen Gefühle aus der Sympathie heraus zu erklären versucht. Es ist dasjenige, das die Tugend in die Nützlichkeit setzt, und das Vergnügen, welches der Zuschauer bei der Überschauung der Nützlichkeit einer Eigenschaft empfindet, aus seinem Mtgefühle mit der Glückseligkeit derer, welche hiervon berührt werden, erklärt.“ Smith, A., Theorie, 1977, S. 357.Vgl. Macfie, A.L., Adam Smiths „Theorie der ethischen Gefühle“, 1985, S. 132.197 Vgl. Surânyi-Unger, T., Philosophie, 1923, S. 320f.198 Vgl. Schachtschabel, H.G., Geschichte, 1971, S. 45.199 Vgl. Mann, F.K. Smith, 1953, S. 290.200 Eine Verbindung Smiüis zum Naturrecht läßt sich zunächst aus der Tatsache ableiten, daß die Keime der theoretischen Nationalökonomie sich in einer fremden Wissenschaft, im Naturrecht, befinden. Anfänge der theoretischen Nationalökonomie befinden sich insbesondere im Werk des Naturrechtlers Grotius „Über das Recht des Krieges und des Friedens“, vgl. Hasbach, W., Untersuchungen, 1891, S. 139.201 Vgl. Sieferle, R.P., Bevölkerungswachstum, 1990, S. 20.

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Der Deismus geht von einem außerhalb der Welt stehenden Schöpfer aus, der die Regelmäßigkeiten der Natur geschaffen hat. In teleologischer Sicht führt dabei eine harmonische Entwicklung zu einem für den Menschen positiven Endziel. Ist die Welt einmal geschaffen, greift Gott nicht mehr ins Regelwerk der Natur ein, da er ohnehin alle Dinge so angelegt hat, daß sie den Zweck des Systems erfüllen.202 Smiths genaue Stellung zum Deismus gilt innerhalb der Sekundärliteratur aufgrund der mit diesem Punkt verbundenen schlechten Quellenlage als ungeklärt.203 Zum engeren Kreis der britischen Deisten kann Smith sicherlich nicht gezählt werden, denn dessen eigentliche Blütezeit war längst vorüber.204 Im Gegensatz zu Hume geht Smith aufgrund seiner deistischen Weltvorstellung nicht von einer autonomen Wirksamkeit natürlicher und gesellschaftlicher Vorgänge aus.

Eine Parallele des Deismus zu Smith ist vornehmlich aus der Tatsache heraus erkennbar, daß auch er annimmt, daß die Grundzüge einer Ordnung bereits in der menschlichen Natur angelegt sind. Diese Annahme einer natürlichen Disposition im Menschen, die Folge der göttlichen Schöpfung ist, zeigt deutlich Smiths Verwurzelung im Naturrechtsdenken. Für das Naturrecht ist eine Analyse der menschlichen Natur unerläßlich.205 Auf den deistischen Hintergrund von Smiths Werken weist insbesondere Schachtschabel hin:

"In beiden (Werken) ergibt sich aus dem individualbestimmten Verhalten der einzelnen die prästabilisierte Harmonie, die natürliche Harmonie oder die Harmonie der natürlichen Zweckmäßigkeiten, die als ein von Gott vorher­bestimmter Einklang aller begriffen wird. Teleologisch wird die Idee impliziert,

202 Vgl. Surânyi-Unger, T., Wirtschaftsphilosophie, 1967, S. 29.203 Dies läßt sich auch aus der Tatsache heraus begründen, daß Smith seiner deistisch- teleologischen Grundeinstellung lediglich in der „Theorie der ethischen Gefühle“ expliziten Ausdruck verleiht. Dort äußert Smith: „Die Glückseligkeit des Menschen scheint das ursprüngliche Ziel gewesen zu sein, das dem Schöpfer der Natur vorschwebte, als er diese Wesen ins Dasein rief.“ Smith, A., Theorie, 1977, S. 250f.204 Vgl. Sieferle, R.P., Bevölkerungswachstum, 1990, S. 26ff205 Mit dieser philosophischen Grundauffassung bildet Smith keine Ausnahme. Auch der Naturwissenschaftlicher Isaac Newton sowie die Physiokraten waren von deistischem Gedankengut geprägt. Insbesondere das Foitschreiten der Naturerkenntnis, in deren Folge immer mehr Regelmäßigkeiten innerhalb der Natur offengelegt wurden, legte diese Sichtweise nahe. Vgl. Sieferle, R.P. Bevölkerungswachstum, 1990, S. 7f.

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daß eine göttliche Vorsehung die gesamte Welt leitet und in allem eine planvolle Weltordnung zumAusdruck kommt, die alles zu einer vom Schöpfer beabsichtigten Harmonie kommen läßt."206

Der Ausgleich wird in der "Theorie der ethischen Gefühle1' durch die sympathischen Regungen des Menschen, im "Wohlstand der Nationen" durch einen klaren, vemunftbegründeten Egoismus bewirkt. So äußert Smith in der "Theorie der ethischen Gefühle":

"Indem wir den Diktaten unserer moralischen Fähigkeiten gehorchen, verfolgen wir das Gemeinwohl am nachhaltigsten. Wir kooperieren sozusagen mit Gott und verfolgen den Plan der Vorsehung."207

Die moralischen Instanzen im Menschen koordinieren seine natürlichen Affekte mit ihren sozialen Folgen und bilden dadurch gewissermaßen "vicegerents o f God" innerhalb des Individuums. Sie sorgen dafür, daß die Menschen letztlich so handeln, wie es den Absichten der Natur entspricht. Die Affekte und die Institutionen der Moral wirken auf die Verwirklichung einer gesellschaftlichen Ordnung hin, die nicht von den einzelnen Elementen selbst intendiert ist.

Damit wird deutlich, daß Smith zwar an dem Bild einer natürlichen, von Gott gegebenen Ordnung aus dem Naturrecht des Mittelalters festhält, deren Erfüllung jedoch in die Hände des autonomen Wirtschaftssubjekts legt. Der ökonomisch handelnde Mensch bei Smith untersteht nicht mehr dem Gebot einer höheren Ordnung, sondern er wirkt, dem Ordnungsverständnis der Neuzeit entsprechend, selbst ordnungsbildend.208 Nach Auffassung Smiths hat die Natur fiir die gesellschaftliche Wohlfahrt durch jenen Grundzug des menschlichen Wesens Sorge getragen, der jeden antreibt, seine Lage zu verbessern. Der Einzelne hat nur seinen eigenen Vorteil im Auge, aber hierbei wird er durch die unsichtbare Hand derart gelenkt, daß er - unbeabsichtigt - das allgemeine Beste fördert.

206 Schachtschabel, H.G., Geschichte, 1971, S. 46.207 Smith, A., Theory, 1976, S. 166.208 Vgl. Immler, H., 1985, S. 125f.

Stand noch im Mittelpunkt der physiokratischen Untersuchungen die Bestrebung, die natürliche Ordnung innerhalb der positiven so weit wie möglich zu realisieren, so kommt es bei Smith zu einer automatischen Realisierung der natürlichen Ordnung: Seine Moralphilosophie und seine Politische Ökonomie zielen darauf zu zeigen, daß aus der befreiten Interaktion individueller Elemente ein harmonischer Ordnungszusammenhang entsteht, ohne daß eine innerweltliche Instanz existiert, die diesen Zusammenhang bewußt anstrebt.209

I )as Smith sehe Prinzip einer providentiell abgesicherten Selbstordnung hegt so nah am Prinzip der Selbstorganisation, daß die Konstruktion idealer Zustände abgelehnt werden kann. Für Smith gibt es kein Naturrecht, mit dessen Hilfe ein idealer Gesellschaftszustand bestimmt werden könnte, sondern es gibt lediglich ein allgemeines Naturgesetz, welches ein Minimum elementarer Prinzipien im Menschen verankert hat. Obwohl es lediglich einen sich selbst ausbildenden Prozeß gesellschaftlicher Evolution gibt, ist das Ergebnis dieses Prozesses durch die Vorhersehung garantiert. Letztlich besitzt die natürliche Ordnung eine unerschütterliche Resistenz gegenüber Störungen, die durch den harmonischen, wohltätigen Ausgang des Naturprozesses garantiert wird.

Auch im ökonomischen Leben stellt sich die "natürliche Ordnung" durch die Anlage im Menschen selbst her.210 Das Selbstinteresse ist für Smith die wichtigste menschliche Eigenschaft für das wirtschaftliche Leben und führt automatisch zu einer Realisierung des Gemeinwohls. Auch die ökonomische Welt läuft nach einem natürlichen Gesetz ab und bringt, sofern sie ihrem freien Lauf überlassen wird, segensreiche Ergebnisse für die Menschheit hervor.211 Diesen Sachverhalt drückt Smith in einer Metapher aus:

209 Vgl. Sieferle, R P., Bevölkerungswachstum, 1990, S. 36.210 Indem Smith das Eigeninteresse zur Grundlage seines ökonomischen Systems macht, lichtet er sich deutlich gegen die Auffassungen Quesnays, der die Ansicht vertrat, „daß der Wunsch der Menschen nach besseren Lebensbedingungen erst dann wirksam werde, wenn die Regierung volle Freiheit gewähre.“ Vgl. Pribam, K., Geschichte, 1992, S. 257.211 Insbesondere auch der eng mit dem Selbstinteresse verbundene Tausch beruht nach Smith auf einer „natürlichen Neigung“, eine Ansicht, die bereits von den Naturrechtslehrem vertreten wurde. Auch Hutcheson, Pufendorf und Wolff gingen in ihren Systemen vom Tauschgedanken als Grundlage des ökonomischen Handelns aus. Vgl. Hasbach, W., Untersuchungen, 1891, S. 143ff., vgl. Viner, J., Adam Smith, 1985, S. 8Iff.

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"Von einer unsichtbaren Hand werden sie (die Reichen) dahin geführt, beinahe die gleiche Verteilung der zum Leben notwendigen Güter zu verwirklichen, die zustandegekommen wäre, wenn die Erde zu gleichen Teilen unter alle ihre Bewohner verteilt worden wäre; und so fördern sie, ohne es zu wissen und zu beabsichtigen, das Interesse der Gesellschaft und gewähren die Mittel zur Vermehrung der Gattung."212

Die unsichtbare Hand wirkt dabei als ein in das System eingebautes Regulativ. Es wirkt immer dann, wenn Fehlentwicklungen und Ungleichgewichte entstehen und ermöglicht so die Rückkehr zum natürlichen harmonischen Systemzustand.213

Obgleich in beiden Werken Smiths die Grundidee vorherrscht, daß eine innere Ordnung der Natur besteht, durch die der Mensch, indem er seinen eigenen Interessen folgt, gleichzeitig auch, ohne es zu beabsichtigen, den allgemeinen Zielen der Menschheit dient, kommt der Harmonieglaube in beiden Werken in unterschiedlichem Ausmaß zum Ausdruck.214

In seiner "Theorie der ethischen Gefühle" entwickelt Smith die Auffassung von einer natürlichen Ordnung, die sich in den Wirkungen der Kräfte der äußeren Natur sowie den natürlichen Neigungen, die den Menschen angeboren sind, äußert. Die ethischen Gefiihle und das Selbstinteresse, geleitet von natürlicher Gerechtigkeit und gemildert durch Sympathie und Wohlwollen, wirken in Verbindung mit den physischen Kräften der Natur, um die segensreichen Kräfte derselben durchzusetzen.215

Im "Wohlstand der Nationen” dagegen gesteht Smith durchaus ein, daß die natürlichen Abläufe, die im allgemeinen Nutzen stiften, sich in bestimmten Fällen zu

212 Smith, A., Wohlstand, 1978, S. 317.213 Deistische Elemente weisen ferner Smiths ,Essays über philosophische Themen“ auf. Dort weist Smith den Naturwissenschaften die Aufgabe zu, die Auffassung eines Universums als einer riesigen Maschine zu entwickeln, deren Teile so Zusammenwirken, als folgten sie dabei einem Plan. Vgl. Pribam, K., Geschichte, 1992, S. 256.214 Vgl. Viner, J., Adam Smith, 1985, S. 81ff.215 Vgl. Viner, J., Adam Smith, 1985, S. 76.

bestimmten Zeiten durchaus unvorteilhaft auswirken können, eine Tatsache, die Viner unter den Begriff "Mängel in der natürlichen Ordnung" subsumiert.216

Insgesamt kann festgehalten werden, daß Smith davon überzeugt war, daß die Natur in der "Theorie der ethischen Gefühle" durch die Sympathie wirke, die dazu beitrage, eine harmonische Gesellschaftsordnung zu verwirklichen. Um das beständige Wachstum des Volkswohlstandes zu erklären, herrscht im "Wohlstand der Nationen" dagegen die menschliche Natur in Form des Eigeninteresses vor.217 In beiden Fällen stellt somit die Wirksamkeit der Natur durch die menschlichen Gefühle im Vordergrund.

4.2.3 Smith als Utilitarist

(ierade Adam Smith kommt das Verdienst zu, das utilitaristische Grundmodell, das sich bereits in Ansätzen bei David Hume befindet, entwickelt zu haben: Diesem zufolge resultiert der größtmögliche Gemeinnutz innerhalb der Wirtschaft und der Gesellschaft aus einer konsequenten Verfolgung der Eigeninteressen. Dieses ist als Gefühl und Affekt dem Menschen angeboren. Es ist zwischen Instinkt und Vernunft, also, subrational, angesiedelt und von Raum und Zeit unabhängig."218

Das ökonomische System von Adam Smith kann sich ohne Appell an das Selbstinteresse des wirtschaftenden Individuums überhaupt nicht entfalten. Aus ihm heraus entstehen sämtliche ökonomischen Aktivitäten, wie der Tausch von Gütern und Leistungen, die Arbeitsteilung, die Entstehung von Märkten sowie letztendlich auch die Wohlstandssteigerung.219 Das Eigeninteresse stellt dabei nicht nur den Motor der wirtschaftlichen Entwicklung dar, sondern auch den der politischen und der

2lf’ Vgl. Viner, J., Adam Smith, 1985, S. 83f., S. 89f. Aus dem deistischen Hintergrund von Smiths Ordnungsvorstellungen heraus läßt sich letztlich auch dessen Verwendung des Naturbegriffs verstehen. Dieser ist bei Smith mit einer äußerst positiven Konnotation versehen. In Smiths Ordnungskonzept erscheint prinzipiell alles, was von der Natur geschaffen wurde, harmonisch, gut und vollkommen zu sein. Vgl. Sieferle, R.P., Bevölkerungswachstum, 1990, S. 15.217 Vgl. Pnbam, K., Geschichte, 1992, S. 256.218 Recktenwald, H.C, Klassik, 1984, S. 51.219 Vgl. Smith, A., Wohlstand, 1978, Kapitel 1,2,3,7.

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kulturellen. Überall, wo der Mensch handelt, kommt der selbstbezogenen Aktivität entscheidende Bedeutung zu. Damit geht Smith von einem durchaus realen Menschenbild aus. Im Mittelpunkt der natürlichen Ordnung steht das Verhalten der Menschen, wie sie wirklich sind, und nicht, wie sie ideologisch sein sollten:220

"Nicht vom Wohlwollen des Metzgers, Brauers und Bäckers erwarten wir das, was wir zum Essen brauchen, sondern davon, daß sie ihre eigenen Interessen wahmehmen.1,221

Innerhalb seines ökonomischen Systems stellt Smith einen direkten Zusammenhang zwischen dem Eigeninteresse und einer Wohlstandssteigerung her, die der gesamten Gesellschaft zugute kommt. Prinzipiell sieht Smith den gesellschaftlichen Interessenausgleich durch die Aktivität der Individuen am Markt garantiert und legitimiert damit das ausschließliche Engagement der Bürger für ihre eigenen Angelegenheiten.

Wenn Adam Smith auch die Bedeutung des Eigeninteresses als richtungsweisende Kraft der wirtschaftlichen Betätigung des einzelnen hervorhebt, so war er dennoch nicht der Ansicht, daß der Eigennutz die einzige, das menschliche Handeln bestimmende psychische Grundkraft sei. So finden sich in der menschlichen Natur auch durchaus wohlwollende Triebe:222

"Mag man den Menschen für noch so egoistisch halten, es hegen doch offenbar gewisse Prinzipien in seiner Natur, die ihn dazu bestimmen, am Schicksal anderer Anteil zu nehmen, und die ihm selbst die Glückseligkeit dieser anderen zum Bedürfnis machen, obgleich er keinen anderen Vorteil daraus zieht, als das

220 Vgl. Recktenwald, H.C., Klassik, 1984, S. 51.221 Smith, A., Wohlstand, 1978, S. 17.222 Gerade aus den unterschiedlichen Menschenbildern Smiths in seinen beiden Hauptwerken - der „Theorie“ und dem „Wohlstand“ - hat sich in der Sekundärliteratur eine Diskussion unter dem Namen „das Adam-Smith-Problem“ entwickelt. Unter besonderer Berücksichtigung der in beiden Werken entwickelten Menschenbilder Smiths, dem sympathischen der 'Theorie' und dem eigennützigen des Wohlstand' wurde auf eine Unvereinbarkeit beider Werke geschlossen. Der Streit wurde schließlich dahingehend aufgelöst, daß Smiths ökonomisches System auf einem wohlverstandenen Selbstinteresse aufbaut, das mit dem Menschenbild innerhalb der „Theorie der ethischen Gefühle“ durchaus vereinbar ist. Vgl. Surânyi-Unger, T., Wirtschaftsphilosophie, 1967, S. 33.

Vergnügen, Zeuge davon zu sein."223

Auch die im Menschen selbst angelegte Fähigkeit zum Mitempfinden - die sog. Sympathie - wirkt darauf hin, daß der Mensch die Interessen seiner Mitmenschen berücksichtigt.224 Indem der Mensch sich in einen anderen hineinversetzt, kann er das Handeln des anderen damit vergleichen, wie er selbst oder ein unparteiischer Beobachter in der entsprechenden Situation gehandelt hätte. Dadurch erlangt er die Fähigkeit, das Handeln seiner Mitmenschen zu beurteilen.

liine Billigung des jeweiligen Handelns findet nur dann statt, wenn eine Korrespondenz der Gefühle zwischen dem Handelnden und dem Beobachter besteht. Die Wirkung der Sympathie liegt vor allem darin, die Leidenschaften auf ein Maß zu senken, das die eigenen Gefühle für die Umwelt nachvollziehbar macht.223 Der Mensch wird sich dementsprechend vor allem deshalb an einer Mäßigung seiner Gefühle orientieren, weil das Bewußtsein einer Übereinstimmung seiner Empfindungen mit denen seiner Mitmenschen eine Art innerer Befriedigung für ihn ist. Mit den Worten Smiths:

"Als die Natur den Menschen für die Gesellschaft bildete, da gab sie ihm zur Aussteuer ein ursprüngliches Verlangen mit, seinen Brüdern zu gefallen, und eine ebenso ursprüngliche Abneigung, ihnen wehe zu tun.1,226

Eine Verknüpfung von Eigennutz und Gemeinschaftsdenken ist nach Smith auch schon deshalb gegeben, weil der Mensch ein von Grund auf soziales Wesen ist. In dieser Hinsicht unterscheidet sich der Mensch entscheidend vom Tier.221 Das einzelne

221 Smith, A., Theorie, 1977, S. 1.211 Definitionsmäßig stellt die Sympathie für Smith keine inhaltliche Tugend dar, sondernberuht lediglich auf der mentalen Fälligkeit des Menschen, sich in andere hineinzu versetzen.Vgl. Trapp, M., Adam Smith, 1987, S. 66.225 Vgl. Smith, A., Theorie, 1977, S. 17f., S. 166f.220 Smith, A., Theorie, 1977, S. 176.227 So äußert Smith: „Fast jedes Tier ist völlig unabhängig und selbständig... Dagegen ist der Mensch fast immer auf Hilfe angewiesen, wobei jedoch kaum erwartet werden kann, daß er sie allein durch das Wohlwollen der Mitmenschen erhalten wird.“ Smith, A., Wohlstand, 1978, S. 17.

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Tier muß völlig auf sich gestellt leben und kann keinerlei Vorteil aus der Vielfalt der Talente ziehen, mit der die Natur den Menschen ausgestattet hat.228

Die Vorsehung bindet die allgemeine Wohlfahrt des Gemeinwesens an die Freiheit der Individuen, d.h. an die Freiheit ihrer Triebe und Impulse.229 Soll sich die im Menschen selbst angelegte natürliche Ordnung durchsetzen, so muß dem Individuum Handlungsfreiheit garantiert werden, damit es seine natürlichen Triebe ungehindert entfalten kann. Damit formuliert Smith das utilitaristische Theorem bereits vor deistischem Hintergrund aus. Übertragen auf das Wirtschaftsleben bedeutet dies, daß dieses nur dann vollkommen sein kann, wenn die Wirtschaftssubjekte ihren Eigennutz ungehindert verfolgen. Da für Smith die selbstregulierte Wirtschaft einen Teil der natürlichen Ordnung bildete, bezeichnete er sie als das System der natürlichen Freiheit'.

Mit seinem ' System der natürlichen Freiheit' setzte sich Smith in Gegensatz zur herkömmlichen Lehre imd Erfahrung. Er protestierte vor allem gegen die im Merkantilismus von Staat und Verwaltung dominierte Wirtschaft. Staat und Kirche bauten umfangreiche Sicherungen ein gegen den explosiven Charakter der Selbstinteressen und der Konkurrenz. Noch in die Ära von Adam Smith ragt ein hochentwickeltes System solcher Vorsichts- und Sicherungsmaßnahmen hinein.230

Erst bei wirtschaftlicher Freiheit kann das Selbstinteresse verfolgt und ein freier ungehemmter Wettbewerb in seiner Bedeutung für den Markt verwirklicht werden. Nur in einer freien Wirtschaft sind das Rational-, das Erwerbs- und das Konkurrenzprinzip voll funktionsfähig.231 Adam Smith vertritt das Postulat der Freiheit lediglich aus Zweckmäßigkeitserwägungen. Nur durch die von allen politischen und rechtlichen Hindernissen und Hemmnissen freie wirtschaftliche Betätigung wird das Maximum an Wohlstand erreicht.232

228 Vgl. Smith, A., Wohlstand, 1978, S. 19.229 Vgl. Briefs, G., Nationalökonomie, 1959, S. 8.230 Vgl. Briefs, G., Nationalökonomie, 1959, S. 7.231 Vgl. Schachtschabel, H.G., Geschichte, 1971, S, 47.232 Vgl. Amonn, A., Nationalökonomie, 1961, S. 100.

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Da Smith sein gesamtes ökonomisches Konzept auf den Austausch von Waren abgestellt hat, steht im Mittelpunkt seiner ökonomischen Ordnung der Markt, wo der Marktpreismechanismus zu einer Koordination der Wirtschaftspläne unddementsprechend zu einer effizienten Ressourcenallokation führt.233 Die wichtigste Voraussetzung für das Funktionieren des Systems ist die Tatsache, daß dasIndividuum sich frei am Markt bewegen kann. Dazu kommentiert Smith:

"Gibt man ... alle Systeme der Begünstigung ... auf, so stellt sich ganz von selbst das einsichtige und einfache System der 'natürlichen Freiheit' her."234

Die Idee eines gesellschaftlichen Interessenausgleichs hat ihre Grundlage im Tausch, in der vermuteten Leistung und Gegenleistung am Markt. Alle vom Eigeninteresse geleiteten Partner müssen aus einem Tausch oder Kauf einen Nutzen ziehen, sonst käme überhaupt kein Austausch zustande. Der Tauschhandel ist nach Smith auch in der Natur des Menschen begründet.233

Adam Smith geht davon aus, daß das Individuum im wirtschaftlichen Verkehr in der Regel nicht das Interesse seines Partners im Auge hat, sondern sein eigenes. DiesesEigeninteresse kann die Interessen anderer durchaus mit einschließen. Allein dasInteresse des Geschäftspartners, der wiederum vom Eigeninteresse geleitet wird, ist davon ausgenommen.236

Durch den Tausch entsteht schließlich eine elementare wirtschaftliche Verbindung, die auf der Wahrung der jeweiligen Eigeninteressen beruht; im Tausch hegt die Herstellung von Reziprozität auf der Basis von Äquivalenz. Es kann so ein elementare wirtschaftliche Verbindung entstehen, die sich durch Wahrung und Verfolgung der jeweiligen Eigeninteressen aufbaut. Jeder eiwartet, das gleiche abstrakte Quantum aufgewendeter Mühe zurückzuerhalten, welches er gegeben hat.237 Zur Begründung

233 Vgl. Smith, A., Wohlstand, 1078, S. 16.234 Smith, A., Wohlstand, 1978, S. 582.

So äußert Smith: „Jene menschliche Neigung zum Tausch prägt nicht nur die Vielfalt der Talente, die unter Menschen verschiedener Berufe so auffällt, sie macht diese Unterschiede auch nützlich und sinnvoll.“ Smith, A., Wohlstand, 1978, S. 18.236 Vgl. Amonn, A., Nationalökonomie, 1961, S. 105f.217 Vgl. Sieferle, R.P., Bevölkerungswachstum, 1990, S. 41.

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seiner Theorie, daß der Eigennutz gerade auf wirtschaftlichem Gebiet der Gemeinschaft insgesamt zugute kommt, fiihrt Smith folgendes an:

"Die Interessen des Bienenhändlers und die der breiten Masse der Bevölkerung sind, so entgegengesetzt sie auf den ersten Blick sein mögen, selbst in Zeiten größter Knappheit und Mangels identisch."238

Damit verleiht Smith seiner These Ausdruck, daß eine Verfolgung der eigenen Interessen am Markt automatisch eine Wohlstandssteigerung fur die gesamte Gesellschaft mit sich bringt: Der einzelne bemühe sich ständig darum, die vorteilhafteste Verwendung seines Kapitals herauszufinden. Er würde sparen, um seine eigene Stellung zu verbessern, und dadurch würde den Ressourcen der Nation mehl' Kapital hinzugefugt werden. Er würde das Kapital in der gewinnträchtigsten Weise nutzen und dadurch die Dinge produzieren, die andere am meisten fordern. Bei all diesen Aktivitäten hat der einzelne keineswegs das Allgemeininteresse im Auge, sondern nur sein eigenes, das als mächtigstes Prinzip für ein Wirtschaftswachstum gilt. Das Selbstinteresse des Einzelnen ist sogar so stark, daß es auch in der Lage ist, zahlreiche Hindernisse zu überwinden.239

Letztlich trägt der Mensch durch die effizienteste Verwendung des Kapitals nicht nur seiner eigenen, sondern auch gleichzeitig der für die Gesellschaft effizientesten Verwendung Rechnung. Eine Förderung des Gemeinwohls wird nach Stnitli dabei um so nachhaltiger bewirkt, desto weniger das Individuum beabsichtige, zu einer solchen beizutragen. Insbesondere die göttliche Vorsehung wirkt daraufhin, daß die Neigung des Individuums, seinen eigenen Vorteil zu suchen, auf die Förderung des gemeinsamen Nutzens hinausläuft.240 Dies drückt Smith mit Hilfe einer Metapher aus:

"Und er wird in diesem wie auch in vielen anderen Fällen von einer unsichtbaren Hand geleitet, um einen Zweck zu fördern, den er in keiner Weise zu erfüllen beabsichtigt hat. ... Ja, gerade dadurch, daß er das eigene Interesse verfolgt, fordert er häufig das der Gesellschaft nachhaltiger, als wenn er wirklich beabsichtigt, es zu

Smith, A., Wohlstand, 1978, S. 435.239 Vgl. Amonn, A., Nationalökonomie, 1961, S. 102.240 Vgl. Mann, F.K., Adam Smith, 1959, S. 291.

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Gerade das Postulat der unsichtbaren Hand' in Verbindung mit dem Glauben an den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt der Menschheit erklärt die optimistische Note des Smithschen Systems Es ist die Aufgabe der unsichtbaren Hand', individuelle Konflikte und "Exzesse des Wettbewerbs" zu kontrollieren und das öffentliche Wohl durch gesunde Konkurrenz zu sichern.242 Mit Hilfe der unsichtbaren Hand' postuliert Smith auch gleichzeitig die soziale Harmonie. Die Vorsehung hat alles so eingerichtet, daß individuelle und soziale Bestrebungen zusammenfallen. Die "unsichtbare Hand" führt auch dazu, daß das Individuum dabei hilft, den Reichtum besser zu verteilen und so die Gleichheit zu fordern.

Der Ort des gesellschaftlichen Interessenausgleiches ist nach Smiths Auffassung der Markt. In einer auf Geld beruhenden Wirtschaft entspricht jedoch der Marktpreis der Verbrauchsgüter nicht immer derem realen Wert: Manchmal ist der Bedarf nach einer Ware größer als Vorräte davon vorhanden sind: Der große Bedarf läßt die Preise steigen und bringt dem Produzenten höheren Gewinn. Die Gewinnaussichten auf diesem Marktsektor verfuhren jedoch andere Unternehmer dazu, ebenfalls in das Geschäft einzusteigen, wodurch Arbeitskräfte und Kapital aus anderen Krwerbszweigen abgezogen werden. Bald schlägt das Pendel dann zurück: die Preise sinken wieder, nun vielleicht sogar unter den Realwert. Die Wirtschaft wird jedoch immer die Tendenz entwickeln, den Preis einer Ware ungefähr um ihren Realwert pendeln zu lassen. Halten sich Angebot und Nachfrage die Waage, dann sind im allgemeinen die Preise natürlich.243

Das Gleichgewicht der Wirtschaft wird letztlich genau dann erreicht, wenn der Marktpreis und der "natürliche" Preis zusammenfallen. Der Preis informiert und zeigt automatisch die Knappheitsgrade an; im Gleichgewicht ist der Markt geräumt und am besten versorgt. Nach Smiths Auffassung wird das Gleichgewicht am besten im Rahmen der freien Konkurrenz erreicht, denn diese sorgt fur entsprechenden

241 Smith, A., Wohlstand, 1978, S. 371.242 Vgl. Macfie, A.L., Adam Smiths "Theorie der ethischen Gefühle”, 1977, S. 135.243 In der Literatur wird dieses Schema als „klassisches Modell der freien Preisbildung“ bezeichnet. Der natürliche Preis ist der langfristige, der Marktpreis der kurzfristige Gleichgewichtspreis. Vgl. Schachtschabel, H.G., Geschichte, 1971, S. 49.

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Ausgleich dort, wo das Gleichgewicht gestört ist.244 Folgerichtig sollte der Staat nicht in das freie Spiel der Kräfte eingreifen, damit er den Interessenausgleich der an einem Gut Interessierten nicht stört.

Adam Stnith vertritt damit für das Wirtschaftsleben bedingungslos das Prinzip der natürlichen Freiheit des Individuums. Nur wenn freie Konkurrenz besteht, d.h., wenn Durchlässigkeit und Zugang zum Markt einigermaßen gesichert sind, kann es in Smiths System zu einem 'evolutorischen Wettbewerb' kommen, der schließlich neuentdeckte Chancen für die Arbeitsteilung sowie die Entdeckung neuerer und besserer Märkte bewirkt.245

Aufgabe der Politik muß es daher sein, solche Einrichtungen zu schaffen, die dem Individuum in dem durch das Sittengesetz eingeschränkten Rahmen die vollste Freiheit geben. Diesen Spielraum bezeichnet Smith als die freie Konkurrenz in den Schranken der Gerechtigkeit.246

"Solange der einzelne nicht die Gesetze verletzt, läßt man ihm völlige Freiheit, damit er das eigene Interesse auf seine Weise verfolgen kann und seinen Erwerbsfleiß und sein Kapital im Wettbewerb mit jedem anderen oder einem anderen Stand entwickeln oder einsetzen kann."247

Auch für den Gesetzgeber ergeben sich aus dem Wirken des Smithschen 'Systems der natürlichen Freiheit' wesentliche Konsequenzen. Der Herrscher wird vollkommen entlastet von der Pflicht, die wirtschaftliche Tätigkeit der Privatleute zu beaufsichtigen und sie zu den dem Interesse der Gesellschaft am meisten dienenden Beschäftigungen hinzuwenden.248

Vgl. Lütge, F., Geschichte, 1963, S. 43.245 Vgl. Recktenwald, H.C., Klassik, 1984, S. 59.246 Vgl. Hasbach, W., Untersuchungen, 1891, S. 12.247 Smith, A., Wohlstand, 1978, S. 583.248 Gemäß dem System der natürlichen Freiheit hat der Herrscher nur die Aufgabe, denRahmen zu bilden, innerhalb dessen sich das freiheitliche Marktsystem bewegt. Um dieFreiheit des einzelnen Bürgers zu schützen, kümmert sich der Staat um die Sicherung derGerechtigkeit im Rahmen der Rechtsordnung und die Verteidigung des Landes nach außen.Die Rechtsordnung sollte sich darauf beschränken, die Rede- und Religionsfreiheit zugarantieren, das Eigentum zu schützen und die Prinzipien des repräsentativenRegierungssystems zu sichern. Vgl. Amonn, A., Nationalökonomie, 1961, S. 104.

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Der Staat ist damit innerhalb von Smiths natürlichem Ordnungssystem keineswegs überflüssig: Unter der Bedingung, daß 'natürliche Freiheit' in einem Land herrsche, der moralische Selbstschutz im Volk intakt sei und Wettbewerb wie Rechtsordnung das ökonomische Verhalten disziplinieren, würden in der Regel Staatseingriffe in den WirtschaftsablauÇ aber keineswegs der Staat selbst überflüssig, weil sonst der Wohlstand des Gemeinwesens abnehme.149

Indem die Individuen durch ihr Handeln ihre besonderen Zwecke verwirklichen, verwirklichen sie auch das Allgemeine, die ökonomischen Gesetze der Gesellschaft, die ihnen als etwas Sachliches, Fremdes gegenüberstehen.250 Der Mensch braucht sich nicht den Nutzen, die Wohlfahrt, die Glückseligkeit als Ziel seines Handelns zu setzen. Wenn er nur seinen eigenen Trieben folgt, dann werden sich auch sein eigener Nutzen sowie die Wohlfahrt der Gesellschaft im natürlichen Verlauf der Dinge einstellen.251 Somit wirkt das Reichtumsstreben des Menschen als List der Natur dahingehend, daß die Bedürfnisse des einzelnen dazu benutzt werden, einen Fortschritt der Menschheit herbeizuführen.

Smith hat mit seiner Idee von einer automatischen Förderung des Gemeinwohls erstmalig den Gedanken formuliert, daß das Erwerbsstreben in zweierlei Hinsicht positiv zu bewerten ist: Zum einen fordert es die individuelle Selbstentfaltung, zum anderen profitiert davon auch das gesamte Gemeinwesen. Somit gewinnt das Eigeninteresse gleichzeitig eine soziale Funktion.252

249 Vgl. Recktenwald, H.C., Klassik, 1984, S. 64 2,0 Vgl. Behrens, F., Grundriß, 1962, S. 186.251 Vgl. Hasbach. W., Untersuchungen, 1891, S. 9.232 Mit seiner Betonung der sozialen Funktion des Eigeninteresses hebt sich Smith von seinen Vorgängern Francis Hutcheson und Thomas Hobbes ab. Vgl. Recktenwald, H.C., Klassik, 1984, S. 53.

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4.2.4 Ordnung und Gerechtigkeit

Formuliert Smith seinen Utilitarismus dahingehend aus, daß eine Verfolgung des Eigeninteresses automatisch zu einer Realisierung des Gemeinwohles fuhrt, so gilt als Nebenbedingung gleichzeitig, daß das Erwerbsstreben in ausreichendem Maße durch die Gerechtigkeit diszipliniert werden muß. Die auf Sympathie beruhende Gesellschaft muß dabei als allgemeine Grundlage des Systems gewertet werden.253 Das Sympathieprinzip wirkt daraufhin, daß der Mensch die Gebote seiner moralischen Natur verwirklicht:

"(Der Mensch) will nicht nur Lob, sondern Lobenswürdigkeit, er wünscht so zu sein, daß er, wenn er auch von niemandem gelobt werden würde, dennoch der natürliche und schickliche Gegenstand des Lobes wäre."254

Aus der Sympathie heraus entstehen schließlich allgemeine Regeln der Moral, die Zusammenhänge so ausdrücken, wie die Sympathie normalerweise urteilt. Die Regeln der Moral stellen dabei allgemein Produkte der Erfahrung dar.255

Smith vertritt jedoch die Ansicht, daß der gesellschaftliche Zusammenhang nicht hinreichend durch Sanktionen öffentlicher Anerkennung und Mißbilligung, sowie sie aus Sympathie und Morahegeln entstehen, geregelt werden könne. Um Verstöße gegen die natürliche Gerechtigkeit' zu verhindern, ist daher ein System positiver Gesetze notwendig. Die Gerechtigkeit ist das Fundament der menschlichen Gesellschaft, ohne das diese nicht lebensfähig ist. Dazu äußert sich Smith:

"Da die Gesellschaft nicht bestehen kann, wenn die Gesetze der Gerechtigkeit nicht wenigstens in erträglichem Maße beobachtet werden, ist die Unentbehrlichkeit der Gerechtigkeit der Grund ..., weshalb wir es billigen, wenn die Beobachtung der Gesetze der Gerechtigkeit durch die Bestrafung deijenigen, die sie verletzten,

253 Vgl. Hofmann, W., Wert- und Preislehre, 1964, S. 44.254 Smith, A., Theorie, 1977, S. 172.255 Dazu kommentiert Smith: „Sie gründen sich letztlich auf die Erfahrung darüber, was unser natürliches Gefühl für Verdienst und sittliche Richtigkeit in bestimmten Einzelfällen billigt und mißbilligt." Smith, A., Theorie, 1977, S. 239.

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erzwungen werde."256

Generell sieht Smith innerhalb der Gesellschaft die Tendenz, ein hohes Maß an Wohlwollen, jedoch nur ein geringes Maß an Selbstinteresse zu billigen.257 Er vertritt die Auffassung, daß ein solches Verhalten nicht mehr gebilligt wild, das eine positive Schädigung der Mitmenschen bewirkt. Dies drückt Smith so aus:

"In dem Wettlauf nach Ehre, Reichtum und Avancement, da mag der Mensch rennen, so schnell er kann und jeden Nerv und Muskel anspannen, um alle seine Mitbewerber zu überholen. Sollte er aber einen von ihnen niederrennen oder zu Boden werfen, dann wäre es mit der Nachsicht der Zuschauer ganz und gar zu Ende."258

Die Grenze, die die Sympathie dem Eigeninteresse zieht, bezeichnet Smith als Gerechtigkeit. Deren Aufgabe Hegt darin, den nächsten vor Übergriffen in seine Rechtssphäre zu schützen. Allgemein subsumiert Smith unter die Gerechtigkeit den Schutz des Lebens, des Eigentums und die Garantie der persönlichen Rechte. Die Gerechtigkeit setzt Smith dabei vor allem mit den Naturrechten der Aufklärung gleich.259

"Die heiligsten Gesetze der Gerechtigkeit, ... sind deshalb die Gesetze, welche das Leben und die Person unseres Nächsten schützen; die nächstwichtigsten sind diejenigen, die sein Eigentum und seine Besitzungen schützen; und als letzte von allen kommen jene, die seine sogenannte persönlichen Rechte oder die Ansprüche, die ihm aus den Versprechungen anderer zustehen, in ihren Schutz nehmen."250

256 Smith, A., Theorie, 1977, S. 131.257 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, daß Smith auch seine Gerechtigkeitsvorstellung aus der menschlichen Natur heraus entwickelt. Diese sieht er grundsätzlich von eigennützigen und wohlwollenden Trieben bestimmt. Während er die wohlwollenden für relativ schwach ausgeprägt hält, sind die eigennützigen die vorherrschenden in der menschlichen Natur und müssen von Anfang an in engen Grenzen gehalten werden. Vgl. Smith, A., Theorie, 1977, S. 28; vgl. Zeyss, R., Adam Smith, 1889, S. 67.258 Smith, A.,.Theorie, 1977, S, 124.259 Vgl. Hasbach, W., Untersuchungen, 1891, S. 10.260 Smith, A., Theorie, 1977, S. 125.

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Die Gerechtigkeit läßt sich direkt aus den wohlwollenden Trieben des Menschen ableiten: Sie stellt die Realisierung des Wohlwollens nur insoweit dar, als dieser Trieb auf eine Anerkennung des Mitmenschen in seiner Sphäre hinausläuft.261 Das Wohlwollen, das darüber hinaus innerhalb der Gesellschaft besteht, bezeichnet Smith als Wohltätigkeit; diese hat jedoch lediglich dekorative Funktion. Damit erkennt Smith die wohlwollenden altruistischen Triebe bei der Schätzung derselben für das Gesellschaftsgebäude nicht als unersetzlich an: Für ihn reicht ein sich in sittlicher Hinsicht fair verhaltender Egoismus aus; der Egoismus darf sich letztlich keine Verstöße gegen die Gerechtigkeit zukormnen lassen, sonst wird er schädlich.262

Aus seinem Gerechtigkeitsbegriff leitet Smith allgemeingültige Prinzipien ab, welche die bestimmende Grundlage aller positiven Rechtsnonnen zu bilden haben.263 Zur Durchsetzung der Gerechtigkeit fordert Smith ein System positiver Gesetze sowie eine staatliche Ordnungsgewalt, die für die Einhaltung der Gerechtigkeit zuständig sind.

Entsprechend seiner GrundaufFassuug, daß eine Verfolgung des Eigeninteresses automatisch zum „größten Glück der größten Zahl“ fuhrt, leimt Smith auch verteilungspolitische Aspekte der Gerechtigkeit ab.264 Der Frage, wie zu verhindern sei, daß die Verfolgung individueller Interessen anderen schadet, trat er mit einem vage formulierten Maximieiimgsprinzip entgegen, das er auf die wechselseitigen Beziehungen der Teilnehmer einer Gesamtwirt Schaft anwendete. So behauptete er, daß die Bemühung eines jeden, sich den größtmöglichen Anteil an der beschränkten Menge verfügbarer Werte zu sichern, durch das gleiche Verhalten aller anderen beständig eingedämmt und aufgewogen werde. Damit wurde dem Gleichheitsprinzip das Verdienst zuerkannt, die Harmonie zwischen den ökonomischen Einzelinteressen zu sichern.265 Letztlich fuhrt das von Adam Smith propagierte Freiheitsideal des

261 Vgl. Zeyss, R., Adam Smith, 1889, S, 67,262 Vgl. Zeyss, R., Adam Smith, 1889, S. 69263 Vgl. Zeyss, R., Adam Smith, 1889, S. 74.264 Vgl. Zeyss, R„ Adam Smith, 1889, S. 69.265 Vgl. Pribam, K., Geschichte, 1992, S. 258.

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Menschen jedoch lediglich zu formaler juristischer Freiheit und Gleichheit, nicht aber zu sozialer Freiheit und Gleichheit.266

Adam Smith war sich jedoch durchaus des Gegensatzes zwischen sozialer Gerechtigkeit und jener Wirtschaftsordnung bewußt, die durch das mechanische Zusammenspiel individueller Interessen verwirklicht wird. Die soziale Ordnung innerhalb der Gesellschaft seiner Zeit hielt er keinesfalls für perfekt; sie beruhe vielmehr auf der Neigung, die Reichen und Mächtigen zu bewundern.261

Adam Smitli war somit weit davon entfernt zu behaupten, daß die soziale Gerechtigkeit keinesfalls ein Problem darstelle. Er vertrat jedoch eine liberale Haltung mit der Ansicht, daß einerseits freies Streben nach Wohlstand die Voraussetzung jeglichen Fortschrittes bilde, und andererseits, daß die Ungerechtigkeiten, welche die wirtschaftliche Freiheit mit sich bringe, nicht so unzumutbar seien, wie es auf den ersten Blick den Anschein habe.268 Da Smith die moralischen Güter höher bewertete als die materiellen, eine Tatsache, die ihn im wesentlichen als Stoiker charakterisiert, schrieb er zur Lage der wirtschaftlich Schwächeren:

"In dem, was die wahre Glückseligkeit des menschlichen Lebens ausmacht, siud sie in keiner Hinsicht denjenigen unterlegen, die so hoch über ihnen zu stehen scheinen. In der Behaglichkeit des Körpers und im Frieden des Gemüts stehen all die verschiedenen Rangstufen des Lebens nahezu auf einer Stufe.1,269

Letztlich fand Smiths optimistischer Glaube an die "natürliche Identität" der Einzelinteressen in Englands gebildeten Kreisen großen Anklang, demi er lieferte eine

211,1 Mit den Worten von Smith: „Aber gerade auf einem Rechtswesen, das alle gleich behandelt, bemht die Freiheit eines jeden, also der eigentliche Sinn der persönlichen Sicherheit.“ Smith, A., Wohlstand, 1978, S. 61 lf.267 Vgl. Smith, A., Theory, 1949, S. 77.21,8 Adam Smith relativiert das Problem der sozialen Gerechtigkeit, indem er behauptet, daß die Menschen - trotz der sozialen Unterschiede, die sich aus der Freiheit der Wirtschaft ergeben - in etwa die gleiche Befriedigung erlangen. Dazu Smith: „Die Aufnahmefähigkeit des Magens eines Reichen steht in keinem Verhältnis zur Unermeßliclikeit seiner Wünsche und wird nicht mehr aufhehmen. als der Magen des genngsten Bauern. Den Rest muß er unter denjenigen verteilen, die in der sorgfältigsten Weise das wenige zubereiten, was er selbst braucht “ Smith, A., Theory, 1949, S. 229.Vgl. Denis, H., Geschichte, 1985, S. 154.

269 Smith, A., Theory, 1949, S. 233.

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theoretische Rechtfertigung für die Tätigkeiten von Unternehmern und Industriellen, die am Beginn der "Industriellen Revolution" standen. Er bot eine willkommene Lösung für das quälende Problem, wie ungehindertes Gewinnstreben mit den Zielen der allgemeinen Wohlfahrt zu vereinbaren sei.270

270 Vgl. Pribam, K., Geschichte, 1992, S. 260.

9)

5. Kapitel: Die Begründung des klassischen Utilitarismus als Schule: Die Theorien von Jeremy Bentham, James Mill und David Ricardo

Bestanden schon Ansätze des utilitaristischen Denkens bei einer Reihe von Denkern des 18. Jahrhunderts, so wird der Utilitarismus als Schule erst bei Jeremy Bentham begründet und durch die ihn umgebende Gruppe der Philosophischen Radikalen verbreitet. Bentham, der als der eigentliche Begründer des klassischen Utilitarismus gilt, liefert die ethischen Voraussetzungen für das Wirken der Philosophischen Radikalen: Diese waren allgemein unter dem Namen “Benthamiten" bekannt, und die meisten von ihnen betrachteten Bentham als ihren Führer.271 Das gesamte England des beginnenden 19. Jahrhunderts trug Benthams Stempel; eine ganze Generation wurde in orthodox-bentbamschen Geiste erzogen.272

Die Utilitarier waren radikal in jeder Hinsicht, nur nicht im Hinblick auf das Eigentum. Man stellte sich ablehnend gegen die Kirche, und die Utilitaristen wurden daher im bürgerlichen Lager als Feinde der Religion betrachtet. Sie propagierten Reformen auf fast allen Gebieten: Sie kämpften für eine Humanisierung des Strafrechts, propagierten Reformen im Schulunterricht, stellten sich kritisch gegen den Kolonialimperialismus und setzten sich für Rüstungsbeschränkungen ein. Darüber hinaus waren die Forderungen der Utilitaristen nach Versammlungs- und Redefreiheit sowie größere staatsbürgerliche Rechte der Frauen durchaus radikal fur jene Zeit. Erst durch die Verbindung mit der Nationalökonomie konnte der Utilitarismus, der zunächst nur eine kleine Sekte repräsentiert und wegen seiner radikalen und gottlosen Ansichten allgemein unbeliebt war, allmählich einen bedeutenden Einfluß gewinnen.

271 Es ist jedoch äußerst zweifelhaft, daß Jeremy Bentham ohne die Vermittlung James Mills jemals zur dieser Stellung gelangt wäre. Vgl. Russell, B , Freiheit, 1948, S. 101.272 Vgl. Briefs, G., Untersuchungen, 1915, S. 220.

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5.1 Jeremy Bentham - Der Begründer

5.1.1 Biographische Daten

Da Bentham bereits 1748 geboren wurde, könnte man annehmen, daß sein Schaffen eigentlich einer viel früheren Periode zuzurechnen sei. Tatsache ist jedoch, daß sich Benthams langes Leben (er starb 1832) in drei Phasen gliederte, in deren dritte und bedeutendste er erst im hohen Alter eintrat; er war schon sechzig Jahre alt, als er zu den Grundsätzen der Demokratie bekehrt wurde.273

Jeremy Bentham stammte aus einer wohlhabenden englischen Familie und genoß eine Erziehung, die in gewisser Weise Vorbildcharakter für die Erziehung von James Mills Sohn John Stuart Mill hatte: Mit sieben Jahren wurde er auf die Westminster-Schule geschickt; mit zwölf Jahren kam er nach Oxford, und mit fünfzehn Jahren legte er dort sein erstes Examen ab, den Baccalaureus artium.

Seinem Vater zuliebe wurde Bentham als Rechtsanwalt an einem höheren Londoner Gericht zugelassen, jedoch schrieb er aus eigener Neigung über Justizreformen, anstatt sich der praktischen Justiz zu widmen. Dabei strebte er insbesondere eine Reform des Strafrechts an.274 Als Maßstab der kritisch bewertenden Rechtstheorie diente Bentham das Nützlichkeitsprinzip; er wollte die Beobachtung von Lust und Schmerz in die "moral and political science" einführen.273

Bei früh entwickelter Gegnerschaft gegen die Rechts- und Staatsordnung seiner Zeit versuchte er, durch zahlreiche Schriften über Rechts-, Staats-, Gesellschafts- uud Wirtschaftsprobleme, durch einen umfangreichen Briefwechsel, durch Einfluß auf europäische Staatsmänner und durch seine Schüler und Freunde für eine Staats- und

273 Vgl. Russell, B., Freiheit, 1948, S. 101.274 Vgl. Denis, H., Geschichte, 1985, S. 179.275 Als Vorbilder galten Bentham Hobbes und sein Programm der „political science“ sowie Bacon, dessen Appell zum Expenment er in einen Appell an die Beobachtung umwandelte. Vgl. Wolf, J.-C., Utilitaristische Ethik, 1992, S. 156.

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Gesellschaftsreform zu wirken.276 Benthams Reformbemühungen waren keineswegs erfolglos. Eine beeindruckende Fülle weitreichender Reformen auf den Gebieten des Verfassungsrechts, der zentralen, lokalen und kolonialen Verwaltung, der bürgerlichen Freiheiten, der Rechtspflege, Kriminologie und des öffentlichen Gesundheitswesens ging auf seine Anregung zurück.277 Auf ihn werden nicht nur der Geist und die Institutionen der Reformzeit der 1830er Jahre zurückgeführt, sondern geradezu eine "Revolution in der englischen Geisteswelt".278 Mit den Worten von Kraus:

"... Bildet seine liebste und erfolgreichste Domäne die Strafrechtsphilo sophie und -politik, so hat er doch auch die Lehre über die Grundsätze des Zivilrechtes mannigfaltig gefördert, war er doch richtunggebend in der Staatsphilosophie und der Verfassungspolitik, reformierend für die Gestaltung der civilprozessualen Prinzipien und hat auch für die Sozialpolitik ... lichtvolle Gesichtspunkte aufzufmden gewußt. 1,279

Sein "Fragment on Government" (1776), das anonym veröffentlicht wurde, als er erst achtundzwanzig war, war ein brillanter Angriff auf die traditionelle, dem Fortschritt entgegenstehende Gesetzesinterpretation der englischen Verfassung. Das Buch war eine Sensation, wurde jedoch schnell abgelehnt, als sich sein Autor als jungerEmporkömmling entpuppte und nicht als einer der führenden Verfassungsanwälte

-, •. 280 semer Zeit.

Desillusionieit begann Bentham sein großes philosophisches Werk "An Introduction to the Principles of Morals and Legislation", das 1780 privat gedruckt wurde, der Öffentlichkeit jedoch nicht vor 1789 zugänglich war. Grundsätzlich war Benthams "Einführung in die Prinzipien der Moral und Gesetzgebung" als Einführung zu einem großen rechtsphilosophischen Werk gedacht, das in zehn Teilen die Prinzipien aller Zweige der Gesetzgebung, des Finanzwesens und der politischen Ökonomie sowie den Plan eines der Form nach vollständigen Gesetzbuches enthalten sollte. Doch

276 Vgl. Wagner, F., Bentham, 1959, S. 756.277 Vgl. Pribam, K., Geschichte, 1992, S. 270.271 Vgl. Wagner, F., Bentham, 1959, S. 756.279 Kraus, O. Theone, 1901, S. 3.280 Vgl. Fusfeld, D.R., Geschichte und Aktualität, 1975, S. 73.

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während der Abfassung entwickelte sich die Abhandlung zu einer eigenen umfangreichen Schrift.

Benthams Hauptwerk war somit vollendet, bevor er vierzig Jahre alt war: Er schrieb danach kein einflußreiches Buch mehr, sondern verbrachte sein weiteres Leben mit Entwürfen komplizierter Pläne für eine Gefängnisreform, die Armenunterstützung, die Erziehung und Gesetzesreformen.281 Bentham wollte durch die Reform des gesamten Lebens vom Strafverfahren bis zur Wirtschaftsverfassung ein irdisches Paradies schaffen, das in einem einheitlichen Gesetzbuch für alle freien Völker, dem „Constitutional Code“, gipfeln sollte.282 Das bekannteste Beispiel für Benthams Bemühungen stellt das von ihm entworfene Gefängnis, das Panoptikon, dar, in dem strikte Überwachung der Erziehung von Strafgefangenen zur Arbeitsdisziplin diente.283 Zu Benthams Bedauern scheiterte sein Projekt jedoch an dem Widerstand von Georg IH.284

Erst 1788 erlangte Bentham nach seiner Bekanntschaft mit dem Verleger Etienne Dumont aus Genf eine gewisse Popularität: Dieser stellte seine Manuskripte sicher, übersetzte sie ins Französische und sorgte für ihre Verbreitung auf dem Kontinent. Da Bentham in England nur wenig Anklang fand, richtete er sich mit seinen Kodifizierungsversuchen in erster Linie an das Ausland.285

Bereits 1808 war Bentham durch seine Zusammenarbeit mit James Mill, dem Anführer der Philosophischen Radikalen, in die wichtigste Phase seines Lebens getreten.286 James Mill gilt als Benthams überzeugtester Anhänger.287 Seit ihrer

Vgl. Fusfeld, D.R., Geschichte und Aktualität, 1975, S. 73.282 Vgl. Wagner, F., Bentham, 1959, S. 756.283 Vgl. Wolf, J.-C., Utilitaristische Ethik, 1992, S. 156.281 Jahrelang galt Benthams Hauptbeschäftigung dem Panoptikon, und er gab sich die größte Mühe, die britische Regierung zum Bau eines Gefängnisses nach seinen Plänen zu bewegen: Er erhielt eine halbe Zusage, kaufte Land zu diesem Zweck, mußte aber feststellen, daß die Regierung ihre Meinung geändert hatte. Schließlich gewährte ihm die Regierung einen Ausgleich von 20.000 Pfund. Vgl. Russell, B., Freiheit, 1948, S. 108.285 Das französische Repräsentantenhaus machte Bentham zum französischen Bürger; in Spanien und Südamerika wurde er verehrt. Bentham trug sich sogar mit der Absicht, ein Strafgesetzbuch für Venezuela zu entwerfen. Vgl. Russell, B., Freiheit, 1948, S. 107.286 Entgegen allgemeiner Auffassung war das Verhältnis Benthams zur Reformbewegung derPhilosophischen Radikalen äußerst distanziert. Dies läßt sich auf die Tatsache zurückfuhren,daß Bentham bereits 80 Jahre alt war, bevor die Gruppe der Radikalen überhaupt Gestaltannahm. Vgl. Stephen, L., Utilitarians, Bd. 2, 1950, S. 7f.

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Bekanntschaft im Jahre 1808 stehen beide jahrelang in engem Kontakt. Bentham starb schließlich 1832, kurz vor der Durchsetzung des Reformparlaments, das die von den Philosophischen Radikalen geforderte - wenn auch geringfügige Wahlrechtsreform - mit sich brachte.

Im Gegensatz zu Adam Smith hat J. Bentham kein zusammenhängendes System der Nationalökonomie entwickelt; zwar ist der „Manual of Political Economy“ aus seinem Nachlaß veröffentlicht worden, jedoch kann dieser nicht als wirtschaftliches System gelten, es handelt sich vielmehr um Betrachtungen über wirtschaftspolitische Regeln.288

5.1.2 Zum philosophischen Umfeld

Bentham wird allgemein als erster systematischer Exponent des Utilitarismus betrachtet.289 Im Gegensatz zu Adam Smith findet bei ihm bereits eine Auflösung der Metaphysik zugunsten des Empirismus statt: Bentham suchte für das gesellschaftliche Zusammenleben ein ähnliches Prinzip, wie Newton es für die Physik aufgewiesen hatte; er glaubte, es im Nutzenprinzip gefunden zu haben. Diesem Prinzip zufolge richtet sich das menschliche Handeln in rationalem Kalkül auf einen Überschuß an Lust und auf die Vermeidung von Unlust. Bentham verwarf die metaphysischen Grundlagen des Smithschen Systems und versuchte, die wirtschaftlichen Erscheinungen auf das Nutzenprinzip zu bringen, das ihm als die einzig sichere und zureichende Grundlage seines Systems galt.290 Grundsätzlich befindet sich Bentham noch auf dem Boden der Smithschen Thesen wie Selbstinteresse, freie Konkurrenz,

287 Leslie Stephen bezeichnet James Mil als „Benthams Lieutenant“. Vgl. Stephen, L., Utilitarians, Bd. 2, 1950, S. 7f.288 Die Politik erscheint Bentham als Reformer naturgemäß wichtiger als die Theorie. Mit dieser Auffassung richtet sich J. Bentham gegen Adam Smith, dem er vorwirft, er widme sich ausschließlich der „science“ und streife nur die „art“. So äußert er sich: „Der Wert der Wissenschaft liegt vor allem darin, inwieweit sie der Kunst dient.“ Bentham, J., Manual, 1839, S. 33.2!i> Zwar existierten früher schon einzelne Gedanken des Utilitarismus, eine geschlossene utilitaristische Theorie liefert jedoch erst Jeremy Benthams „Einführung in die Prinzipien der Moral und Gesetzgebung“. Vgl. Höffe, O, Einführung, 1992, S. 13.290 Vgl. Briefs, G., Nationalökonomie, 1959, S. 10.

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Freihandel, Eigentum, Nichtintervention, aber der n aturrech tlich- deistisch e Hintergrund von Smiths Lehren ist bei Bentham völlig zusammengebrochen.291

Mit dieser Auffassung trifft Bentham den Nerv seiner Zeit; er kann als Interpret der geistigen ethischen und politischen Verfassung des Englands jener Tage gelten. Erst bei Bentham kommt es zur völligen mechanistischen Auflösung des Ethischen. Mit dieser Grundauffassung richtet sich Bentham gleichzeitig gegen alle zeitgenössischen Moralsysteme, unter anderem auch gegen das von Adam Smith vertretene Sympathieprinzip.

Eine Ethik, die sich auf Äußerungen des Gewissens, des gemeinen Menschenverstandes oder des moralischen Gefühls verläßt, erklärt subjektive und schwankende Gefühlsäußerungen zu einer unfehlbaren Legitirnationsinstanz; sie erhebt auch die Prinzipienlosigkeit zum Prinzip, so daß eine Argumentation, die intersubjektive Gültigkeit beabsichtigt, von vornherein unmöglich ist.292 Mit den Worten Benthams:

"Unter dem Prinzip von Sympathie und Antipathie verstehe ich das Prinzip, das bestimmte Handlungen weder entsprechend der ihnen innewohnenden Tendenz, das Glück zu vermehren, noch entsprechend der ihnen innewohnenden Tendenz, das Glück der Gruppe zu vermindern, deren Interesse in Frage steht, billigt oder mißbilligt, sondern es deshalb tut, weil sich jemand geneigt fühlt, sie zu billigen oder zu mißbilligen und damit von dieser Billigung und Mißbilligung behauptet, sie sei ein zureichender Grund für sich selbst, und die Notwendigkeit bestreitet, sich

291 Vgl. Briefs, G., Untersuchungen, 1915, S. 226292 Im gleichen Atemzug richtet sich Bentham auch gegen den Asketismus: Dieser beurteile - wie der Utilitarismus - menschliche Handlungen nach ihrer glücksmehrenden und glücksmindemden Tendenz, jedoch geschehe dies vom entgegengesetzten Standpunkt aus, indem er nämlich jede glücksmindemde Handlung billige und jede glücksvermehrende Handlung mißbillige. Dazu äußert sich Bentham: „Unter dem Prinzip der Askese verstehe ich das Prinzip, das ebenso wie das Prinzip der Nützlichkeit eine Handlung billigt oder mißbilligt gemäß der ihr anscheinend innewohnenden Tendenz, das Glück der Gruppe zu vermehren oder zu vermindern, deren Interesse in Frage steht; dies allerdings auf eine entgegengesetzte Weise: Handlungen werden insoweit gebilligt, als sie dazu neigen, das Glück zu vermindern; sie werden insoweit mißbilligt, als sie dazu neigen, das Glück zu vennehren.“ Bentham, J., Einführung, 1992, S. 62.

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nach einem äußeren Grund umsehen zu müssen."293

Die Polemik gegen absolute Wahrheiten führt Bentham auch von seinem gesellschaftskritischen Interesse aus: Ein Denken, das sich auf intuitiv plausible Instanzen beruft, kann als Vorwand für Gewalt- und Herrschaftsverhältnisse mißbraucht werden; der Rückgriff auf Instanzen, die jeder Kritik entzogen sind, ist in offener und versteckter Form ein willfähriges Instrument der Unterdrückung.294

Bentham richtet sich mit seiner Auffassung gegen alle diejenigen Moralsysteme, die versuchen, einen äußeren Maßstab als Mittel, die inneren Regungen der B il l ig u n g und Mißbilligung zu rechtfertigen und zu leiten, entbehrlich machen. Der Nutzen einer Tat oder einer Sache muß, wenn anders überhaupt ein Vergleich oder eine Wertung aufgestellt werden soll, kühl-vernünftig, objektiv abschätzbar sein. Gerade der empirische Charakter des Nutzenprinzips bewirkt nach Bentham seine Überlegenheit über die anderen Moralsysteme, die sämtlich aus unendlich vielen Kunstgriffen bestehen, "um die Verpflichtung zu umgehen, sich auf einen äußeren Maßstab zu beziehen..."295

Bentham versucht nun, die experimentelle und quantifizierende Methode der zeitgenössischen Physik auf die Moralwissenschaft zu übertragen296; eine Messung der ausschließlich quantitativ begriffenen Lust- und Schmerzregungen hielt er dabei für möglich, eine Tatsache, die vor allem in seinem hedonistischen Kalkül zum Ausdruck kommt.297

Das System der mathematischen Moral sollte es Moralphilosophen und Gesetzgebern letztlich erleichtern, Begierden zu vergleichen und zu beeinflussen.298 Dies läßt sich vor allem aus der Tatsache heraus begründen, daß der Utilitarismus bei Bentham

2.3 Bentham, J., Einführung, 1992, S. 67. Damit einher geht Benthams Ablehnung sämtlicher Doktrinen, die Begriffe wie Naturrecht, Naturgesetz, Gewissen, moralischer Sinn und sittlicheVerbindlichkeit zulassen. Zu diesen zählt insbesondere der Asketismus und das theologischePrinzip.2.4 Vgl. Höffe, 0., Einführung, 1992, S. 19.295 Bentham, J , Einführung, 1992, S. 68.2,6 Vor Bentham hatte insbesondere Francis Hutcheson mathematische Begriffe beim Ausbau seines Systems der Moralphilosophie verwendet. Vgl. Pribam, K., Geschichte, 1992, S. 238.297 Vgl. Wagner, F., Bentham, 1959, S. 756.298 Vgl. Pribam, K., Geschichte, 1992, S. 272.

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weniger eine Ethik als eine GeseUschaftstkeorie in praktischer Absicht gewesen ist. Dadurch, daß nicht nur ein Moralprinzip (das Prinzip des Nutzens) aufgestellt wird, sondern auch noch eine Methode seiner Anwendung von Bentham gegeben wird, wird die Ethik als Wissenschaft gedacht, d.h. aber zugleich, daß die Ethik im engeren Sinne aufgehoben und zu einer allgemeinen normativen Handlungstheorie erweitert wird, in der Moral und Politik prinzipiell nicht getrennt werden.299 Dazu kommentiert Bentham:

"Freuden und das Vermeiden von Leiden sind also die Ziele, die der Gesetzgeber im Auge hat; ihm obliegt es somit, ihren Wert zu erkennen. Freuden und Leiden sind die Instrumente, mit denen er umzugehen hat; es obliegt ihm somit, ihre Macht zu erkennen..."300

Dem Gesetzgeber obhegt es, im Rahmen des hedonistischen Kalküls alle erdenklichen Empfindungen von Freude und Leid gegeneinander aufzurechnen, um eine Gesamtbilanz des menschlichen Glücks zu erstellen. Jedoch ist das hedonistische Kalkül auch auf das einzelne Individuum anwendbar. Steht ein Individuum vor einer Handlungsentscheidung, so können bei der auszuführenden Handlung sowohl Lust (Freude) als auch Unlust (Leid) anfallen. Aufgabe des Individuums ist es nun nach Benthams Auffassung, das mit der Handlung einhergehende Maß an Lust, vermindert um das Ausmaß an Unlust, zu ermitteln. Das Ergebnis dieses Verfahrens bezeichnet Bentham in diesem Zusammenhang als "Gratifikationswert".301 Freude und Leid lassen sich an mehreren Kriterien ablesen.

"Wenn man einen Menschen für sich betrachtet, so ist für ihn der Wert einer Freude oder eines Leids - wenn man ihn für sich betrachtet - gemäß den vier folgenden Umständen größer oder geringer, nämlich gemäß ... der Intensität, der Dauer, der Gewißheit oder Ungewißheit, der Nähe oder Feme einer Freude oder eines Leids."3 2

299 Vgl. Köhler, W .R, Geschichte, 1979, S. 13.300 Bentham, J., Einführung, 1992, S. 79.301 Vgl. Bentham, J., Einführung, 1992, S. 79ff.302 Bentham, J., Einführung, 1992, S. 79. Als weitere Kriterien zur Ermittlung desGratifikationswertes führt Bentham zum einen die Folgenträchtigkeit einer Freude oder einesLeids an, d.h. die Wahrscheinlichkeit, daß auf sie Empfindungen von derselben Ait folgen; zum anderen macht er darauf aufmerksam, daß auch die Reinheit einer Freude oder eines

99

Die Intensität von Vergnügen und Unbehagen wird an der kleinsten unterscheidbaren Empfindungseinheit gemessen, die Dauer an einer bestimmten Zeitspanne. Dauer und Intensität sind in ganzen Zahleneinheiten meßbar; Sicherheit und Erreichbarkeit werden in Brüchen dargestellt, unmittelbares Vergnügen oder Leiden in ganzen Zahlen. Das Vergnügen oder Leid, das eine Handlung bereitet, wird dadurch errechnet, daß man die Werte der Dauer, Sicherheit und Erreichbarkeit miteinander multipliziert.

"Man addiere die Werte aller Freuden auf der einen und die aller Leiden auf der anderen Seite. Wenn die Seite der Freude überwiegt, ist die Tendenz der Handlung im Hinblick auf die Interessen der einzelnen Person insgesamt gut; überwiegt die Seite des Leids, ist ihre Tendenz insgesamt schlecht.”30'3

Darüber hinaus muß man alle Vergnügen oder Leiden entsprechend berücksichtigen, welche anderen Personen durch die Handlung zugefugt werden. Addiert man die individuellen Gratifikationswerte für jeden der Betroffenen, so erhält man nach Bentham den kollektiven Gratifikationswert, den Gesamtnutzen, den eine Handlung für alle Betroffenen hat. Gesucht ist somit das Maximum der Gratifikationswerte alle Betroffenen:304

"Man bestimme die Anzahl der Personen, deren Interessen anscheinend betroffen

Leids von Bedeutung ist, worunter er die Wahrscheinlichkeit versteht, daß auf sie nicht Empfindungen von entgegengesetzter Art folgen.303 Der Fruchtbarkeit des Vergnügens wird dadurch Rechnung getragen, daß man die Werte der aus ihm entstehenden weiteren Vergnügen zum Wert des ursprünglichen Vergnügens addiert. Um der Reinheit Rechnung zu tragen, zieht man den Wert der Leiden ab, die das Vergnügen verursachen könnte. Bentham, Einführung, 1992, S. 81.304 Diese Angaben deuten bereits daraufhin, wie komplex die Berechnung des Nutzens ist, jedoch wird das Problem noch komplizierter, da Vergnügen und Leid zumeist aus mehreren Elementen bestehen. Es gibt vierzehn einfache Vergnügen, welche die Sinne, Wohlhabenheit, Geschicklichkeit, Freundschaft, Ruhm, Macht, Mitgefühl, Wohlwollen, Böswilligkeit, Erinnerungsvermögen, Einbildungskraft, Erwartung und Ruhe sowie diejenigen Vergnügen bereiten, die aus der Verbindung zweier Vergnügen ergeben. Dagegen stehen zwölf einfache Leiden, welche Entbehrung, die Sinne, Ungeschicklichkeit, Feindseligkeit, schlechter Ruf, Unbeliebtheit, Frömmigkeit, Wohlwollen, Böswilligkeit, Erinnerungsvermögen, Einbildungskraft, Erwartung sowie diejenigen Leiden verursachen, die sich aus der Verbindung zweier Leiden ergeben. Durch Kombination solcher Vergnügen oder Leiden entstehen weitere komplexe Vergnügen und Leiden, die arithmetisch errechenbar sind. Vgl. Bentham, J., Einführung, 1992, S. 82.

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sind, und wiederhole das oben genannte Verfahren im Hinblick auf jede von ihnen. Man addiere die Zahlen, die den Grad der guten Tendenz ausdrücken, die die Handlung hat - und zwar in Bezug auf jedes Individuum, für das die Tendenz insgesamt gut ist; das gleiche tut man in bezug auf jedes Individuum, für das die Tendenz insgesamt schlecht ist. Man ziehe die Bilanz; befindet sich das Übergewicht auf der Seite der Freude, so ergibt sich daraus für die betroffene Gesamtzahl oder Gemeinschaft von Individuen eine allgemein gute Tendenz der Handlung; befindet es sich auf der Seite des Leids, ergibt sich daraus für die gleiche Gemeinschaft eine allgemein schlechte Tendenz."305

Mit Hilfe seines Glückskalküls hat Bentham ein Instrumentarium geschaffen, mit dessen Hilfe jedes Individuum den Nutzen einer Handlung anhand des mit der Handlung einhergehenden Schmerzes oder Glückes abwägen kann. Nicht mehr das Gewissen des Menschen entscheidet über den Wert einer Handlung, sondern eine instrumentelle Vernunft, die jede Handlung einer empirisch überprüfbaren Analyse unterzieht.306 Letztlich wollte Bentham den Nutzen an die Stelle des Guten setzen; die Wissenschaft vom Nutzen sollte Moral und Religion ablösen. Bentham hielt den Nutzen darüber hinaus für meßbar, so daß es seiner Auffassung nach auch möglich sein mußte, objektiv darüber zu entscheiden, was der Mensch zu tun oder zu lassen habe.307 Die Orientierung am Nutzen einer Handlung bedingt darüber hinaus gleichzeitig, daß Handlungen nicht anhand eines vorgegebenen moralischen Rasters, sondern anhand der mit der Handlung einhergehenden Folgen beurteilt werden. Maßstab für die Beurteilung der Folgen ist immer ihr Nutzen für die Gesellschaft.308

Die Meßbarkeit des Nutzens stellt den entscheidenden Punkt in Benthams Theorie dar. Lust und Unlust sollten die große Mehrzahl der Empfindungen begleiten und das Material für eine unbegrenzte Anzahl von Urteilen abgeben. Und diese Lust- und

305 Bentham, Einführung, 1992, S. 81.306 Vgl. Guyau, J.M., Die englische Ethik, 1914, S. 41. Auch John Stuart Mill wirft Bentham in diesem Zusammenhang die Vernachlässigung des Gewissens vor. Vgl. näher zur Problematik: Wolf, J.C., Utilitaristische Ethik, 1992, S. 158f.307 Vgl. Denis, H., Geschichte, 1992, S. 180,308 Der Nutzen für die Gesellschaft ist keineswegs nur materiell zu verstehen, der materielleAspekt steht jedoch im Vordergrund des Interesses. Vgl. Starbatty, Klassiker, 1985, S. 86.Übertragen auf den wirtschaftlichen Bereich bedeutet dies, daß sich Lust und Unlust inmeßbaren Geldgrößen niederschlagen, in pekuniärem Gewinn oder Verlust. Vgl. Pribam, K., Geschichte, 1992, S. 271.

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Unlustempfindungen wiederum sollten, abgestuft nach Intensität, Dauer, Gleichförmigkeit und so weiter, eine verläßliche Grundlage für die Messung von Abneigungen und Wünschen liefern.309 Während Bentham einräumte, daß diese Lust- und Unlustbeträge nicht wirklich beobachtbar seien, bestand er darauf daß man abschätzen könne, in welchem Grade solche Quantitäten unter wechselnden Bedingungen variieren.

Die Zurückfuhrung aller Lustempfindungen auf meßbare Größen erübrigte die Suche nach qualitativen Unterschieden und bahnte den Weg zur Anbahnung des Prinzips von der Beliebigkeit der Bedürfnisse.

Die utilitaristische Philosophie Benthams enthält stark revolutionäre Elemente. Zunächst ist sie vor allem darin radikal, daß sie ausdrücklich und bewußt arm und reich für das gesellschaftliche Lustkalkül gleichstellt. Entwickelt wird das hedonistische Kalkül im spätfeudalen und frühkapitalistischen England. Angesichts der damals bestehenden Konzentration von Macht und Reichtum in den Händen einer dünnen Schicht Privilegierter enthält die in das Kalkül übersetzte Maxime, jeden ohne Unterschied gleich zu berücksichtigen, Benthams Diktum "jeder zählt für einen, und niemand für mehr als einen" eine geradezu revolutionäre Gesellschaftskritik.310 Der nur allzu berechtigte gesellschaftskritische Impuls verbindet sich im Kalkül allerdings mit der naiven Vorstellung, soziale und politische Reformen nach Maßgabe des Kalküls genau quantifizieren zu können.311

Vgl. Pribam, K., Geschichte, 1992, S. 271.310 Vgl. Höffe, O, Einführung, 1992, S. 19. Sein radikales Gleichheitsprinzip hat der Utilitarismus von seiner Vorgängerin, der Aufklärungsphilosophie, übernommen. Zuvor war es durchaus nicht selbstverständlich, daß die Arbeiterklasse Subjekt für die gesellschaftliche Wohlfahrt war.311 Benthams hedonistisches Kalkül unterliegt weitgehender Kritik: Eine grundlegende Schwierigkeit besteht in dem stillschweigend angesetzten Postulat der Meßbarkeit und Vergleichbarkeit aller Gratifikationen. Das von Bentham vorgeschlagene Verfahren der Addition und Subtraktion von Gratifikationswerten setzt nämlich eine gemeinsame Maßeinheit von Freude und Schmerz voraus; ohne ihre Hilfe lassen sich Gratifikationswerte nicht numerisch angeben und ohne numerische Angabe überhaupt nicht addieren oder subtrahieren. Die Annahme einer solchen Maßeinheit muß aber selbst in dem einfachsten, dem wirtschaftlichen Bereich als hoffnungslos realitätsfremd gelten. Weiterhin erübrigt gerade die Zurückführung aller Lustempfindungen auf meßbare Größen die Suche nach qualitativen Unterschieden. In diesem Sinne ist auch das berühmte Zitat Benthams zu werten: „Bei gleicher Menge Lust ist Flohhüpfen so gut wie Poesie.“ Dieses Zitat befindet sich bei John Stuart MU, der selbst keineFundstelle in Benthams Werk angibt. Vgl. Mill, J.St., Utilitarianism, 1962, S. 123.

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Letztlich kommt Bentham das Verdienst zu, auf der Basis seines hedonistischen Kalküls einen kardinal meßbaren und intersubjektiv vergleichbaren NutzenbegrifF geschaffen und damit die Grundlage fur die subjektive Werttheorie geschaffen zu haben. In Anlehnung an Bentham fassen die Begründer der Grenznutzenschule, Menger, Walras und Jevons, den Nutzen einzelner Güter als subjektive und kardinal meßbare Größen auf.312

5.1.3 Erkenntnistheoretische Grundlagen

Indem Bentham den Nutzen zum zentralen Postulat seines Utilitarismus macht, lehnt er auch im Rahmen seiner Erkenntnistheorie jegliche Metaphysik ab. Nüchterne, rein diesseitig orientierte Erfahrungssätze sind die Grundorientierung des Benthamschen Denkens; experimentell will seine Methode sein; so geht er aus vom Empfindungsleben des Individuums.313

Benthams Erkenntnistheorie läßt sich als Sensualismus charakterisieren, denn sie basiert auf den Empfindungen des Menschen. Das Kriterium der Wahrheit ist theoretisch die Wahrnehmung; praktisch ist es das Gefühl der Lust bzw. Unlust; denn die unbeeinflußte Natur läßt den Menschen das immittelbare Vergnügen aufsuchen, läßt ihn den unmittelbaren Schmerz fliehen.314 Mit den Worten Benthams:

"Die Natur hat die Menschheit unter die Herrschaft zweier souveräner Gebieter - Leid und Freude - gestellt. Es ist an ihnen allein aufzuzeigen, was wir tun sollen, wie auch zu bestimmen, was wir tun werden. Sowohl der Maßstab für Richtig und Falsch als auch die Kette Ursachen und Wirkungen sind an ihrem Thron festgemacht. Sie beherrschen uns in allem, was wir sagen, was wir denken: jegliche Anstrengung, die wir auf uns nehmen können, um unser Joch von uns zu schütteln, whd lediglich dazu dienen, es zu beweisen und zu bestätigen."315

312 Vgl. Schumann, J., Nutzen, Grenznutzen, 1984, S. 1009.313 Vgl. Briefs, G., Untersuchungen, 1915, S. 221.314 Vgl. Hoffmann, F., Jeremy Bentham, 1910, S. 221.315 Bentham, J„ Einführung, 1992, S. 55.

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Als empirischen Ausgangspunkt seiner Erkenntnistheorie wählt Bentham somit die Herrschaft des Lust- und des Unlustgefijhles. Ausschließlich auf jenen psychischen Regungen baut sich jedes Kausalitätsverhältnis im menschlichen Handeln auf und sie ausschließlich bilden den Standard für Recht und Unrecht. Im Rahmen dieser Vorgehensweise knüpft Bentham insbesondere an das Nutzendenken von Claude- Adrien Helvétius (1715-1771) an.316 Im Gegensatz zu Epikur und Helvétius versucht Bentham jedoch nicht mehr, sein Grundprinzip zu beweisen. Seiner Meinung nach genügt es, es ins rechte Licht zu rücken und zu erklären; ein Beweis desselben erscheint ihm unmöglich317

Indem Bentham Lust und Unlust zur anthropologischen Grundkonstante erhebt, zieht er gleichzeitig einen naturalistischen Fehlschluß. Der Mensch steht nach Bentham unter dem Diktat von Freude und Schmerz, die ihn sowohl dazu bestimmen, wie er handeln soll, als auch, wie er handeln wird. Hier wird der Hedonismus in methodisch doppelter Funktion eingefuhrt: Als normatives Element, als Teilkriterium des moralisch Richtigen, sowie als deskriptives Element, als Grundstruktur der menschlichen Motivation.318

316 Helvétius kommt das Verdienst zu, das matenalistische Grundmotiv systematisiert zu haben. Der Egoismus ist das einzige praktische Motiv, das das Tun des Menschen leitet; der persönliche Nutzen des einzelnen dominiert in der Welt; der einzelne strebt nach Lust und vermeidet Leid. So äußert er sich: „Ein Lebensprinzip beseelt den Menschen: Die physische Empfindungsfähigkeit. Dies ist das Prinzip, das in ihm das Gefühl der Liebe zum Vergnügen und des Hasses gegenüber dem Schmerz hervorbringt.“ Helvétius, C.A, Vom Menschen, seinen geistigen Fähigkeiten und seiner Erziehung, 1972, S. 247f. Zum ethischen Ideal erklärt Helvétius die Formel „Le plus grand avantage public, c'est à dire, le plus grand plaisir et le plus grand bonheur du plus grand nombre des citoyens“. Das Gesetz des „größten Glücks der größten Zahl“ ist nach Helvétius das einzige der Natur des Menschen angemessene Gesetz. Hier setzt die moralische Aufgabe der Erziehung und der Gesetze ein; diese müssen die Tugend und das Glück der Menschen sichern, indem sie deren Selbstliebe und Liebe zur Macht positiv nutzen.317 Vgl. Guyau, J.M., Die englische Ethik, 1914, S. 9.318 Vgl. Höffe, 0„ Einführung, 1992, S. 16,

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5.1.4 Die naturrechtsphilosophische Position

Aus Benthams utilitaristischer Grundhaltung resultiert gleichzeitig auch seine Gegnerschaft zu Begriffen wie Naturgesetz und Naturrecht; demgegenüber erkennt er nur einen dem Utilitarismus angemessenen positiven Rechtsbegriff an. Mit den Worten Benthams:

"... Die ursprüngliche Auffassung des Wortes Gesetz ist die volkstümliche, nämlich als Wille des Gesetzgebers. Naturgesetz ist ein bildlicher Ausdruck. Man stellt sich die Natur als ein Wesen vor, man legt ihr diese oder jene Absicht unter, die man dann bildlich Gesetze nennt. In diesem Sinne werden alle allgemein menschlichen Neigungen, die anscheinend unabhängig von den menschlichen Gesellschaften und schon vor der Aufstellung politischer und bürgerlicher Gesetze bestanden, Naturgesetze genannt. Das ist der wahre Sinn des Wortes."319

Bedauerlicherweise wird der Begriff "Naturrecht" jedoch völlig falsch verwendet. Bentham kritisiert dabei vor allem das Naturrecht, wie er es bei Blackstone in Anlehnung an Justinian vertreten sieht.320

"Die Schriftsteller gebrauchen das Wort, als hätte es eine eigene Bedeutung, als bestände ein Kodex von natürlichen Gesetzen. Sie berufen sich auf diese Gesetze, zitieren sie, stellen sie buchstäblich den Gesetzen der Gesetzgeber gegenüber... Was im Menschen natürlich sind, das sind die Lust- und Unlustgefühle, die Neigungen. Diese Gefühle und diese Neigungen jedoch Gesetze zu nennen, das heißt eine falsche und gefährliche Idee hineinbringen..."321

319 Dumont de Genève, Traité de législation I, S. 143, zitiert nach Guyau, J.M., Die englische Ethik, 1914, S. 51.320 Danach läßt sich das Naturrecht auf drei Vorschriften reduzieren: We should live honestly, hurt nobody, render to everbody his due. Darin liegt eine äußerst krude Auffassung des Naturrechts; Vgl. Höffe, O , Politische Gerechtigkeit, 1987, Kap. 4.321 Dumont de Genève, Traité de législation I, S. 143, zitiert nach Guyau, J.M., Die englische Ethik, 1914, S.51.

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Hume folgend unterscheidet Bentham im sozialen Leben die "Realitäten" von den "Fiktionen". Er bekämpft die Tendenz, Fiktionen fur Realitäten gelten zu lassen. Zu diesen Fiktionen rechnet er "obligations, rights and similar words". Diese bezeichnen nach Bentham ausschließlich begriffliche Metaphern.

Erst bei Bentham wird sich der Utilitarismus seines Gegensatzes zur Naturrechtsphilosophie bewußt. So bekämpft Bentham energisch die beiden Deklarationen über die Menschenrechte, die "Declaration of Independence" von 1776 und die "Déclaration des droits de l'homme" von 1789. Beide Deklarationen sind seiner Ansicht nach von einer Metaphysik getragen: Ihre sämtlichen Punkte lassen sich nach Benthams Auffassung unter drei Kategorien ordnen: Das Unbegreifliche, das offenbar Verkehrte und das zugleich Unbegreifliche und Verkehrte.322

Im Rahmen seiner Rechtsauffassung bedient sich Bentham der Methode der Substitution unklarer durch klare Ausdrücke. Klarheit gewinnen Begriffe durch ihre Nähe zur Erfahrung, insbesondere zu den Empfindungen Lust und Unlust.323 Die Substitutionsmethode ist ihrem Anspruch nach streng reduktionistisch, denn sie führt Sätze über Rechte auf Sätze über Pflichten, und diese auf Sätze über Befehle mit Sanktionsandrohungen zurück. Sanktionsandrohungen stellen Schmerz in Aussicht.

Statt des Naturgesetzes stellt Bentham ein "künstliches", vom Menschen geschaffenes Gesetz auf Der Gesetzgeber verteilt unter die Mitglieder der Gesellschaft Rechte und Pflichten; die Rechte sind Wohltaten für den, der sie genießt, die Pflichten sind drückende Lasten. Beide Begriffe stehen in einer Wechselbeziehung zueinander: Der Ursprung eines jeden Rechts liegt in einer Pflicht oder Verbindlichkeit, der Ursprung einer jeden Verbindlichkeit oder Pflicht in einem Recht. 324

322 Vgl. Myrdal, G., Element, 1976, S. 20.323 Vgl. Wolf, C.A., Utilitaristische Ethik, 1992, S. 155.324 Mit den Worten Benthams: „Es sind die Begriffe Recht und Verpflichtung gewesen, die dichte, das Licht verhüllende Nebel emporzogen. Ihr Ursprung war nicht bekannt, man verlor sich in den Wolken; man stritt über diese Worte, als wären sie ewige Wesen, die nicht aus dem Gesetz hervorgegangen sind, sondern umgekehrt das Gesetz erzeugt haben. Sie wurden nicht etwa als Produkte aus dem Willen des Gesetzgebers, sondern als Produkte eines phantastischen Rechts betrachtet.“ Dumont de Genève, Préface des Principes du Code Civile Bd.l, S. 156, zitiert nach Guyau, J.M., Die englische Ethik, 1914, S. 53.

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Dennoch gleicht der Utilitarismus der naturrechtlichen Spekulation zunächst darin, daß dieser eine Unterlage abgibt fur die Bildung objektiver politischer Nonnen, d.h. moralischer Rechte und Pflichten, von denen aus sich politische Idealzustände konstruieren und die bestehenden Gesellschaftsordnungen wissenschaftlich kritisieren lassen. Die naturrechthche und die utilitaristische Gesellschaftsphilosophie streben gleichermaßen danach, auf theoretischem Wege praktische Verhaltensnormen zu gewinnen, und ein beiden gemeinsames Charakteristikum ist daher ein starker Mangel an Verständnis für die historische Relativität.323

Die Ursache dafür ist vor allem in den logischen Schwierigkeiten zu suchen, die sich einstellen, sobald man in der Praxis vor dem Problem steht, ein gesellschaftliches Nutzenkalkül wirklich durchzuführen. Man verfiel dabei entweder in altes Naturrecht oder in reine Willkür; denn wenn Rechte und Pflichten Fiktionen sind, so sind es das allgemeine Interesse' und die allgemeine Wohlfahrt' nicht weniger.326

5.1.5 Die utilitaristische Position

Keiner der beiden Sätze, aus denen Benthams Lehre besteht, weder der hedonistische Grundsatz, eigene Lust und Freiheit von Schmerz sei das einzige Gute noch das greatest happiness principle, wonach die höchste erreichbare Glückseligkeit der größtmöglichen Zahl das Ziel der Ethik ist, stammt von Bentham selbst.327 Wie bereits dargesteüt, existierte der Hedonismus seit Aristipp, Eudoxos und Epikur in der Philosophie, das "greatest happiness principle" war bereits Hutcheson bekannt; auch Thomas von Aquin hatte bereits in Ansätzen den Utilitarismus gelehrt. Während jedoch Hutcheson und Aquin ohne Einfluß gebheben sind, steht Bentham ganz im Lager Lockes, durch den der Hedonismus zu Zeiten Benthams wieder an Einfluß gewonnen hatte.

325 Vgl. Myrdal, G., Element, 1976, S. 21.326 Vgl. Myrdal, G., Element, 1976, S. 21.327 Vgl. Kraus, 0., Theorie, 1901, S. 6.

Auch Bentham fuhrt die Maxime des größten Glücks der größten Zahl an verschiedenen Stellen seines Werkes auf Locke zurück. An anderer Stelle bezeichnet er Priestley und Beccaria als Begründer des Prinzips:328

"Priestley war der erste (wenn es nicht Beccaria war), der meine Lippen lehrte, diese heilige Wahrheit auszusprechen: daß das größte Glück der größten Zahl die Begründung von Moral und Gesetzgebung ist."329

Bentham war von all diesen Philosophen jedoch nur teilweise beeinflußt. Es ist kaum nötig zu bemerken, daß das Nützlichkeitsprinzip keine originelle Erfindung Benthams ist, daß dasselbe vielmehr bereits in der griechischen Philosophie als Grundlehre der materialistischen Richtungen vorkommt, und daß Bentham es bei Helvétius und Hume antreffen konnte. Eigentümlich ist bei Bentham lediglich die Ausschließlichkeit, mit welcher er dieses Prinzip an die Spitze seines philosophischen Systems stellt.330

Keiner von Benthams Vorgängern hat das Nützlichkeitsprinzip dementsprechend mit der gleichen Vehemenz vertreten, wie dies bei Bentham der Fall war und gleichzeitig versucht, ein ganzes politisches System auf das Nützlichkeitsprinzip zu gründen. In seiner "Einführung in die Prinzipien der Moral und Gesetzgebung" definiert Bentham das Nützlichkeitsprinzip folgendermaßen:

"Unter dem Prinzip der Nützlichkeit ist jenes Prinzip zu verstehen, das schlechthin jede Handlung in dem Maße billigt oder mißbilligt, wie ihr die Tendenz innewohnen zu scheint, das Glück der Gruppe, deren Interesse in Frage steht, zu vermehren oder zu vermindern, oder - das gleiche mit anderen Worten gesagt -

Auch Helvétius und Hartley werden bei Bentham als Begründer des Prinzips bezeichnet; grundsätzlich haben alle genannten Autoren das Nützlichkeitsprinzip bereits vor Bentham formuliert. Die utilitaristischen Ursprünge in der englischen Philosophie lassai sich bis zu Locke und de Mandeville zurückverfolgen; darüber hinaus erschien das Konsequenzen- und Utilitatsprinzip in einer hochentwickelten Form bereits bei Th. Hobbes. Zu den frühen Utilitariern zählen weiterhin der Hobbes-Kritiker Bischof Cumberland, die theologisch beeinflußte Ethik von Gay sowie A. Tucker. Letztlich finden sich utilitaristische Gedanken bereits in der scholastischen Diskussion, insbesondere bei Bemardo Davanzati, F. Galiani und Etienne Bonmot de Condillac. Vgl. Pnbam, K., Geschichte, 1992, S. 235f.329 Bentham, J., Works, 1837, Bd. X, S. 561.330 Vgl. Held, A., Zwei Bücher, 1881, S. 254.

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dieses Glück zu befördern oder zu verhindern."331

Der Nützlichkeitsbegriff ist somit untrennbar von den Begriffen der Lust und der Glückseligkeit. Sogar die Freude an Greueln aller Art betrachtet Bentham als Gut ansich.

Mit Hilfe des Nützlichkeitsprinzips schlägt Bentham für die Moral eine Bestimmung vor, die ohne Rückgriff auf die Autoritäten auskommt und zugleich mit einem allgemeinen Grundzug des Menschen übereinstimmt: mit dem Streben nach Glück.332 Daß das Glück nun hedonistisch definiert wird, reflektiert den säkularen Charakter der Moderne. Zumindestens der Teil der Moral, auf deren Anerkennung alle Mitmenschen verpflichtet sein sollen, kann nicht mehr von einem Jenseits, sondern von den diesseitigen Bedürfnissen und Interessen bestimmt werden.

Mit seiner These, daß der Wert eines Gutes oder einer Handlung am Nutzen zu bemessen sei, knüpft Bentham gleichermaßen an die aristotelische Tradition an. Wie Aristoteles, so betrachtet auch Bentham das Glück als das letzte und höchste Ziel menschlichen Strebens. Das Spezifische und Neue der Benthamschen Nutzenkonzeption tritt dementsprechend am klarsten hervor, wenn sein Nutzenbegriff mit der antiken Nutzenkonzeption verglichen wird. Es kommt zu zwei Bedeutungsverschiebungen, die sich wie folgt charakterisieren lassen:

A) Die Differenzierung des Nutzenbegriffs wird aufgegeben. Bentham entwickelt die Formel von der Gleichgültigkeit des Nutzens, der Lust, des Glücks und des Guten, denn im Rahmen einer ethischen Konzeption läßt er nicht den geringsten Zweifel daran, daß das Gute gleich dem Glück und dieses wiederum gleich der Lust, und diese gleich dem Nutzen zu verstehen ist.333

B) Bentham löst den relationalen Charakters des Nutzenbegriffs auf: Die aus der aristotelischen Unterscheidung abgeleitete Gütertafel der mittelalterlichen Philosophie, die das bonum honestum, das bonum utile und das bonum delectabile unterschied,

331 Bentham, Einführung, 1992, S. 56.332 Vgl. Höffe, O., Einführung, 1992, S. 15.333 Vgl. Biervert, B , Wieland, J., Der ethische Gehalt, 1987, S. 29.

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erfahrt durch Bentham eine radikale Umgestaltung. Er subsumiert nämlich das bonum honestum und das bonum utile unter das bonum delectabile und verwirft damit den bis dato geltenden relationalen Charakter des Nutzenbegriffs. Nützlich ist nicht etwas in bezug auf ein Gut oder die Lust, sondern der Nutzen wird um seiner selbst willen angestrebt.334 Diese Umstürzung der Gütertafel und die Sprengung des relationalen Charakters des Nutzens hatten weitreichende Konsequenzen für die Formung des neuzeitlichen Nutzenbegriffs, so kannte Aristoteles den Nutzen allein als komplementär zur Arbeit.335 Insbesondere Benthams Formulierung, daß Nützlichkeit eine Eigenschaft am Objekt sei, schließt den Gedanken aus, daß Nützlichkeit sich erst als Produkt des richtigen Gebrauchs einer Sache durch einen Vernunft geleiteten Menschen etabliert.

Innerhalb seines Utilitarismus geht es Bentham nicht um die individuelle Glückseligkeit, sondern um das "größte Glück der größten Zahl" innerhalb der Gemeinschaft, die er als die Addition der einzelnen Personen begreift.

"Das Interesse der Gemeinschaft ist einer der allgemeinsten Ausdrücke, die in den Redeweisen der Moral Vorkommen können ... Wenn er einen Sinn hat, dann diesen: Die Gemeinschaft ist ein fiktiver Körper, der sich aus den Einzelpersonen, von denen man annimmt, daß sie sozusagen seine Glieder bilden. Was also ist das Interesse der Gemeinschaft ? - Die Summe der Interessen der verschiedenen Glieder, aus denen sie sich zusammensetzt."336

In Anlehnung an Adam Smith geht auch Bentham von einem im Menschen selbst angelegten Naturgesetz aus. So äußert sich Bentham:

"Das oberste Naturgesetz ist das Streben nach eigenem Glück. Klugheit und Wohlwollen gemahnen dringend: Suche Dein Glück im Glück anderer. Wenn jeder Mensch bewußt interessiert handelt und dadurch die größtmögliche Glückssumme erlangt, so erreicht dadurch auch zugleich die Menschheit die größtmögliche Glückseligkeit; und damit ist das Ziel aller Moral, die universelle Glückseligkeit

334 Vgl. Biervert, B.; Wieland, J., Der ethische Gehalt, 1987, S. 30.335 Vgl. Aristoteles, Politik, 1879, 1333 b, 30.336 Bentham, J., Einführung, 1992, S. 57.

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Gerade die soziale Einbettung des Menschen zwingt ihn zur Rücksichtnahme auf das allgemeine Interesse: Es ist das egoistische Kalkül des einzelnen, sich nicht in kurzsichtiger Weise brutal-egoistisch durchzusetzen, sondern sein Handeln so einzurichten, daß es die Sanktion und die Sympathie der anderen findet, denn damit erreicht er die Steigerung des eigenen Glückes, mit der zeitgleich auch eine Steigerung des Gesamtglückes einhergeht.

Daraus läßt sich ableiten, daß auch Bentham in Anlehnung an Adam Smith die These von der Identität von Individual- und Gemeininteresse vertritt. Dennoch bestehen entscheidende Unterschiede zwischen den Aulfassungen Smiths und Benthams. Die Smithschen Sozialbarmonien seien keine Summe, sondern eine organische Einheit, gewonnen aufgrund einer prästabilisierten Koinzidenz zwischen individuellen Selbstinteressen und Sozialinteressen; die Benthamsche Harmonie sei eine rein arithmetische Größe. Nicht wie bei Smith bestehe bei Bentham eine organische Beziehung beider Interessensphären, sondern eine rein arithmetisch additive; nicht allgemeines wie bei Smith jeden umfassendes Sozialglück, sondern ein Glückskomplex mindestens einer Majorität.338

Während bei Smith das Individuum somit noch in sozialer Einbettung erscheint, hat Bentham kein weiteres Konstruktionselement bei der Hand als das auf seine Lustbilanz bedachte Individuum. Darum wird ihm die Gesellschaft ein "fictitious body", ein bloßer Summenbegriff.

Das Interesse des Individuums wird nur dann gefordert, wenn eine Handlung dazu beiträgt, zur Gesamtsumme seiner Freuden beizutragen. Übertragen auf die Gemeinschaft bedeutet dies folgendes:

erreicht."337

337 Bentham, J., Deontologie, 1834, 1, S. 17f.; vgl. Guyau, J.M., Die englische Ethik, 1914, S. 3 lf. Wie eng die Verbindung von Utilitarismus imd Naturrecht ist, tritt vor allem in der stark deistischen Prägung des frühen Utilitarismus zutage, so wie er außer von Adam Smith auch noch von den theologischen Utilitaristen Priestley, Paley und Tucker geprägt wurde. Die utilitaristischen Motivationen sind für sie „natürlich“, zumindest in dem Sinne, daß sie ein Teil jener weisen und guten Absichten sind, die die göttliche Vorsehung mit dem Menschengeschlecht hat.338 Vgl. Briefs, G., Untersuchungen, 1915, S. 222.

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"Man kann also von einer Handlung sagen, sie entspreche dem Prinzip der Nützlichkeit..., wenn die ihr innewohnende Tendenz, das Glück der Gemeinschaft zu vermehren, größer ist als irgendeine andere ihr innewohnende Tendenz, es zu vermindern.1,339

Bentham geht jedoch davon aus, daß jeder Mensch entsprechend seinen egoistischen Interessen handle. Durch zu häufige Aufopferung wird der Bestand des sozialen Lebens nach Bentham sogar bedroht.

"... Es ist gewiß, daß jeder Mensch zur Beförderung seines Eigeninteresses handelt, wenn auch nicht immer vollkommen so, wie er sollte. Jeder Mensch ist sich selbst der Nächste, sich selbst teurer als irgendeinem anderen, und er muß notwendig selbst seine erste Sorge sein."340

Dennoch erkennt Bentham durchaus sympathische Regungen im Menschen an. Auch bei Bentham ist die Sympathie eine soziale Tugend, die den Menschen dazu veranlaßt, Vergnügen an dem Vergnügen eines anderen zu empfinden. So allgemein das soziale Mitgefühl jedoch auch ist, so darf seine Wirkung jedoch nicht überschätzt werden. Das Gute, d.h. die Quantität an Lustgefühl, die es schafft, ist verschwindend gering gegenüber der Summe, die die persönlichen Motive hervorbringen. Es überwiegen somit die egoistischen Triebe im Menschen.341

Das Bindeglied zwischen Einzel- und Gesamtinteresse ist Benthams individualistische Soziallehre. Die Gesamtheit ist gleich der Summe aller Einzelwesen und nichts darüber hinaus. Jede Vermehrung einer einzelnen Glücksquantitität vermehrt somit auch das Glück der Gesamtheit.

An einen Konflikt zwischen dem Interesse der Gesellschaft und dem des Individuums will Bentham nicht glauben. Das Nutzenprinzip erzeugt seines Erachtens, richtig verstanden, lediglich Handlungen, die im Interesse der Allgemeinheit liegen. Da jeder

339 Bentham, J., Einführung, 1992, S. 57.340 Bentham, J., Deontologie, 1834, 1, S. 9.341 Vgl. Guyau, J.M., Die englische Ethik, 1914, S. 24 f f

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Mensch als ein vernünftig handelndes Wesen verstanden wird, weiß er, daß die Lösung seiner Verpflichtungen in seinem eigenen Interesse liegt. Er wird dazu angehalten durch ein doppeltes Selbstinteresse niederer wie höherer Art. Bindet ihn nicht der besondere Vorteil einer besonderen Verpflichtung, so greift das höhere Selbstinteresse ein, daß im allgemeinen Nutzen der Erfüllung aller Verpflichtungen besteht.342 In diesem Sinne weist Bentham auch für den ökonomischen Bereich nach, daß ein rein egoistisches Handeln unkaufmännisch und eine kurzfristige Spekulation sei. Der Einzelne dämpft seinen Egoismus, spekuliert aber gerade aufgrund dieser Tatsache auf Wohlwollensäußerungen seines Mitmenschen und damit einhergehend auf eine gleichzeitige Förderung seines Glücks- und Nutzenstrebens.343

Auf diese Art und Weise schlug Bentham die Brücke vom Einzel- zum Gesamtwohl mit der Forderung, daß der einzelne in Wahrung seines Selbstinteresses die Interessen von anderen einkalkulieren und berücksichtigen müßte. Die Selbstinteressen strahlen in immer weiteren Radien aus und maximieren die Lustsumme für die größte Zahl, eine Scheinlösung, die das Problem, wie sich einander widersprechende Interessen verknüpfen sollen, verdeckt.344

Letztlich wird ein weiter Abstand zwischen Bentham und Smith sichtbar, der sich mit der Verwerfung der Smithschen Metaphysik bei Bentham offenbart. Bei Bentham hat der Mensch die Naivität des Selbstinteresses verloren, die er bei Smith noch hatte. Es genügt nicht mehr, daß er weiß, was sein eigenes Selbstinteresse sei; er muß es fortwährend in der Verkopplung mit allen möglichen fremden Interessen sehen und danach seine eigene Lust- und Unlustbilanz aufmachen. Sofern er richtig kalkuliert, leistet er einen Beitrag zur Gesamtsumme des Glücks.

Obwohl Bentham grundsätzlich davon ausgeht, daß Einzel- und Gesamtinteresse in ständiger Übereinstimmung stehen, fuhrt er dennoch die staatliche Intervention als zusätzliche Garantie der Lustmaximierung ein:

"Nach dem Nützlichkeitsprinzip ist in jedem Zweig der Kunst der Gesetzgebung

342 Vgl. Hoffmann, F., Jeremy Bentham, 1910, S. 43.343 Vgl. Briefs, G., Untersuchungen, 1915, S. 230.344 Vgl. Briefs, G., Nationalökonomie, 1959, S. 10.

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das Objekt oder das angestrebte Ziel die Erzeugung des maximalen Glücks in der fraglichen Gemeinschaft im Lauf der gegebenen Zeit."345

Schon weil nicht jeder stets aus einem aufgeklärten Selbstinteresse heraus handelt und seine kurzfristigen Interessen den langfristigen opfert, darf man sich nicht auf die naturwüchsige Entwicklung der Gesellschaft verlassen. Es bedarf vielmehr eines wirksamen Systems von religiösen, sozialen und/oder rechtlichen, gesetzgeberischen und administrativen Sanktionen, die die Konflikte zwischen kurz- und langfristigem Wohlergehen lösen und die langfristige Interessenharmonie auch kurz- und mittelfristig sicherstellen.34’ Sowohl moralische und gesetzliche Sanktion wirken auf den einzelnen so ein, daß er im Einklang mit dem öffentlichen Interesse handelt. Letztlich ist es Bentham somit nicht gelungen, die individualistische Konzeption des Nutzenprinzips, nach der das Ziel des sittlichen Handelns das Glück des einzelnen ist, und dessen soziale Konzeption, nach der das Ziel des Handelns die Förderung des Gesamtwohles ist, reinlich zu scheiden oder gar auszugleichen:

"Die Frage, wie der Mensch, den Bentham als selbstsüchtig definierte, im größten Glück aller das Ziel semes Handelns erblicken könne, wenn jeder von Natur aus sein eigenes Glück verfolgt, wie sich der egoistische Hedonismus zum sozialen Wohlfahrtsgedanken, die psychologische zur objektiven Moraltheorie verhalten solle, hat Bentham philosophisch nicht zu lösen vermocht.1,347

Er mußte letztlich zugeben, daß eine der Hauptfunktionen der Regierung darin besteht, ein System von Strafen und Belohnungen einzurichten, und hielt Regierungen eher dafür geeignet, Hindernisse fur Glück aus dem Weg zu räumen, als Glück durch positives Handeln zu fördern. Mit Hilfe des hedonistischen Kalküls will er das Instrumentarium bereitstellen, das der Politik die rationale Bestimmung des erforderlichen Sanktionensystems ermöglicht.

345 Bentham, J , Economic Writings, 1954, Bd. 3, S. 318.346 Vgl. Höffe, 0., Einführung, 1992, S. 17.347 Wagner, F., Bentham, 1959, S. 756.

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5.1.6 Ordnung und Gerechtigkeit

Der Utilitarismus hat von der Naturrechtsphilosophie eine stark Sozialrevolutionäre Note geerbt. Bentham hatte geradezu die Erwünschtheit einer gleichmäßigen Einkommensverteilung utilitaristisch bewiesen. Trotzdem war er in Fragen des Eigentums ausgesprochen konservativ. Gleich wie das ganze englische Bürgertum war er durch die Entwicklung der Französischen Revolution eingeschüchtert worden. Somit setzte Bentham den Beweis der gleichmäßigen Einkommensverteilung durch den Hinweis auf den Vorteil stabiler Besitzverhältnisse außer Kraft.348 In seinen Schriften zum Zivilrecht vertritt Bentham zwei Unterprinzipien zum Prinzip des "größten Glücks": Das Prinzip zur Erhaltung von Sicherheit und jenes zur Verhütung von Enttäuschungen. Letzteres wird auch als Modifikation des Sicherheitsprinzip bezeichnet, bezieht es sich doch auf die Sicherheit bei Umverteilungen und Änderungen von Eigentumsverhältnissen.349

Bentham war sich durchaus im klaren darüber, daß die Erhaltung von bestehenden Erwartungen und die Herstellung von gerechteren Verhältnissen konkfliktträchtig sind. Das Prinzip der Verhütung von Enttäuschungen erfüllt hier eine Vermittlerrolle, schreibt es doch Strategien der Umverteilung vor, welche die Erschütterung des bestehenden Systems von Erwartungen möglichst gering halten. Die genannten Unterprinzipien bringen Benthams radikalen Reformismus als mittlere Position zwischen revolutionärem Anspruch und konservativem Beharren zum Ausdruck.

Das Prinzip der Sicherheit ist bei Bentham nicht nur der Hauptgegenstand der Gesetze; die Sicherheit ist sozusagen das Produkt der Gesetze. Das Verhältnis von Sicherheit und Gesetz ist ein wechselseitiges:

"... Die meisten Menschen haben weder Einsicht, noch Seelenstärke, noch sittliche

348 Im Gegensatz zu Adam Smith leugnet Bentham aber den naturrechtlichen Charakter des Eigentums. So kommentiert er: „Man wird erkennen, daß es kein natürliches Eigentum gibt, sondern daß dasselbe allein das Werk der Gesetze ist. Das Eigentum ist nichts anderes, als die Grundlage zu einer Erwartung; zur Erwartung, daß man gewisse Vorteile werde ziehen können von einer Sache, von welcher man sagt, daß man sie besitze, in Folge der Verhältnisse, in denen man schon jetzt zu ihnen steht.“ Bentham, J., Grundsätze der Zivil­und Kriminalgesetzgebung, 1924, S. 84.349 Vgl. Wolf, J.C., Utilitaristische Ethik, 1992, S. 157.

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Empfänglichkeit genug, daß ihre Rechtschaffenheit der Hilfe der Gesetze entbehren könnte. Der Gesetzgeber muß dieses schwache natürliche Interesse durch Beimischung eines kräftiger und beständiger wirkenden künstlichen Interesses verstärken."350

Das Prinzip der Sicherheit schreibt vor, daß die Ereignisse, soweit sie von den Gesetzen abhängen, den aus ihnen entsprungenen Eigenschaften entsprechen; jede Täuschung dieses Gefühls erzeugt ein besonderes Übel, die Enttäuschung.351

Da Bentham eine Wechselbeziehung zwischen Reichtum und Glück herstellt, führt er zunächst auch die Gleichheit als potentiellen Staatszweck an: Von zwei Individuen hat dabei grundsätzlich das reichere die größere Aussicht auf Glück. Jedoch wird der Glücksüberschuß des Reichen nicht so groß sein wie sein Überschuß an Reichtum. Je größer die Disproportion zwischen zwei Vermögen ist, um so weniger wahrscheinlich ist es, daß eine ebenso große Disproportion zwischen den entsprechenden Glücksmassen besteht; je näher das jeweilige Verhältnis der Gleichheit kommt, um so größer wird die totale Masse der Glückseligkeit sein.352 Um das "größte Glück der größten Zahl" zu realisieren, fordert Bentham die Gleichheit in der Verteilung:

"Je stärker sich die tatsächliche Verteilung der Gleichheit nähert, desto größer wird die totale Summe des Glückes sein."353

Je zahlreicher die Menschen sind, desto mehr Glück läßt sich realisieren. Der Bevölkerungszuwachs führt aber zu einer Aufteilung des Reichtums und vermindert indessen den Wohlstand. Bentham nimmt in diesem Zusammenhang an, daß hundert Menschen, die gemeinsam hundert Millionen besitzen, weniger Glück haben als zehn Menschen im Besitz der gleichen Summe. Bentham selbst hatte keine Lösung dafür, wie man die Beziehung zwischen Wohlstand und Bevölkerung regeln sollte.354

350 Bentham, J., Prinzipien, 1833, S. 89.351 Vgl. Guyau, J.M., Die englische Ethik, 1914, S. 74.352 Vgl. dazu Guyau, J.M., Die englische Ethik, 1914, S. 77.353 Bentham, J., Principles of the Civil Code, zitiert nach Robbins, L., Theory of Political Economy, 1952, S. 62.354 Vgl. Denis, H., Geschichte, 1985, S. 182.

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Durch Umverteilung des Reichtums kann die Gesamtwohlfahrt gesteigert werden, denn der Nutzenzuwachs der Ärmeren übersteigt den Nutzenentgang der Reichen. Die Umverteilung wirkt dementsprechend solange wohlfahrtssteigemd, wie Nutzenentgang und Nutzenzuwachs noch nicht ausgeglichen sind. Letztlich gilt die Maxime der Gleichverteilung für Bentham jedoch nur für den Fall, daß die Leistungsmotivation nicht blockiert wird.

"Wenn alles Eigentum gleich verteilt wäre, würde die sichere und unmittelbareKonsequenz sein, daß nichts mehr zu verteilen wäre"355

Bentham richtet sich somit gegen eine Nivellierung des Eigentums nach der Gleichheitsmaxime: Die Gleichheit laufe im Endergebnis lediglich darauf hinaus, daß alle nichts besitzen. Dort, wo Sicherheit und Gleichheit einander feindlich gegenüberstehen, ist die Sicherheit aufrechtzuerhalten, weil auf der Sicherung der Lebensverhältnisse das Glück des Einzelnen wie der Gesamtheit basiert. Alles, was sich erzielen läßt, ist die Minderung der Ungleichheit, die Herstellung der Gleichheit bezeichnet Bentham als Chimäre, denn diese würde die Sicherheit, die bei Bentham als primärer Staatszweck gilt, beeinträchtigen.356 Zwar vergrößere sich im Rahmen der Herstellung von Gleichheit die Summe des Glücks, gleichzeitig entstehe jedoch eine allgemeine Beunruhigung, die viel Leiden verursachen würde.357

Demgegenüber hat der Reichtum nach Bentham sogar eine soziale Funktion, da er der Existenzsicherung der Armen diene. Der Reiche ist der Bankier der Annen. Letzterer zieht erhebliche Vorteile aus der bestehenden sozialen Ordnung, was ein Vergleich zwischen dem Urzustand, in dem alle Menschen arm waren, und der Gegenwart, in

355 Bentham, Principles of the Civil Code, zitiert nach Robbins, L., Theory, 1952, S. 63.356 Das Eigentum stellt für Bentham einen Zweig der Sicherheit dar. Durch die Schaffung des Privateigentums hat der Wilde seine Scheu gegen die Arbeit überwinden gelernt und hat der Mensch sich die Erde erobert. Zum einen gewährt das Privateigentum dem Eigentümer das größte Glück, zum anderen ist es ertragreicher als das Gemeineigentum. Dazu kommentiert Bentham: „Das Eigentum und die Gesetze werden zugleich geboren und gehen zugleich unter. Vor den Gesetzen kein Eigentum; und nimmt man die Gesetze weg, so hört alles Eigentum auf. In Hinsicht des Eigentums besteht demzufolge die Sicherheit dann, daß man keine Erschütterung, keinen Anstoß, keine Zerstörung erfahre in der auf die Gesetze gegründeten Erwartung, dieses oder jenes Anteils an Gütern zu genießen.“ Bentham, J., Grundsätze der Zivil- und Kriminalgesetzgebung, 1924, S. 84.357 Vgl. Denis, H., Geschichte, 1985, S. 182.

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der das Gesetz den Reichtum schützt, zeigt. Auch der Urmensch hat nach Bentham nicht glücklicher gelebt als der Tagelöhner:

"... Die Armut aber ist nicht das Werk der Gesetze, sondern der ursprüngliche Zustand des menschlichen Geschlechts. Der Mensch der Natur, der Wilde, erhält sein Leben recht eigentlich nur von Tag zu Tag... Soll man ihn ...für glücklicher halten als unseren Landbebauer? Keineswegs. Die Arbeit dieser letzteren ist zwar einförmiger, aber auch ihre Belohnung sicherer, das Geschick der Frauen angenehmer, die Kindheit und das Alter haben mehr Hilfsquellen, das menschliche Geschlecht vermehrt sich in tausendfach größerem Verhältnisse: dies allein genügt zu zeigen, auf welcher Seite der Vorrang des Glückes ist. So sind die Gesetze, indem sie den Reichtum schufen, die Wohltäter selbst derjenigen, welche in ihrer ursprünglichen Armut bleiben."338

Da sich Glück und Reichtum nicht proportional vermehren, soll der Staat zum Ausgleich eingreifen. Als günstigsten Zeitpunkt zum Eingriff in die Besitzverteilung bezeichnet Bentham den Tod des Eigentümers. Weil hier von einer Belastung nicht gesprochen werden kann, schlägt Bentham vor, daß alle herrenlosen Erbschaften dem Staate verfallen sollen. Da der Staat keinen direkten Eingriff in die Besitzverteilung vomimmt, wird auch die Glückssumme der einzelnen nicht geschmälert.

Die Pflicht des Gesetzgebers ist es, auf eine gerechtere Verteilung des Vermögens hinzuwirken, sich hierbei aber stets die Gefahren einer radikalen Gleichmachererei klarzumachen: Im Rahmen der Erbschaftsgesetze hofft Bentham, ohne Verletzung der Sicherheit eine progressive Gleichheit zu erzielen. Wenn durch den Tod des Eigentümers Güter frei geworden sind, dann kann das Gesetz einschreiten und die Verteilung der Güter übernehmen, und zwar, indem es die Erbschaft zum Zwecke des Ausgleichs in Fällen benutzt, in denen der Verstorbene weder Verwandte noch direkte Nachkommen noch ein Testament hinterläßt.359

358 Bentham, J., Grundsätze der Zivil- und Kriminalgesetzgebung, 1924, S. 85.359 Wichtig ist jedoch vor allem auch die Existenzsicherung, die Vorrang gegenüber allen anderen Maßnahmen genießt. Vgl. Guyau, J.M., Die englische Ethik, 1914, S. 81.

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5.1.7 Zur Funktion des Staates

Der theoretische Kern des Utilitarismus sollte bei Bentham nicht nur auf die individuellen Handlungen des Privatmannes angewandt werden, sondern auch auf die Handlungen der Regierung und des Gesetzgebers.360 Dementsprechend beziehen sich auch Benthams Hauptwerke - mit Ausnahme der "Deontology" - auf das Werk des Gesetzgebers und der Regierung.

In politischer Hinsicht setzt sich Bentham fur die Einführung der reinen Demokratie in England ein; dabei übertrifft er sogar seinen Freund James Mill, indem er im Prinzip sogar das Frauenstimmrecht befürwortet. In all seinen politischen Schriften gelangt Bentham zu dem Ergebnis, daß die Mehrheit unbedingt die Herrschaft haben müsse, da es ja auf das Glück der Majorität ankomme und diese nur selbst bestimmen könne, was ihr nützlich sei.361 So äußert er:

"Wenn Demokratie nicht identisch ist mit Anarchie, sondern eine bessere Regierungsform als jede andere, besser als absolute Monarchie, absolute Aristokratie, oder eine, von der Aristokratie gerittene Monarchie - warum soll ich den Gegensatz nicht offen klarstellen? Wenn ein Peershaus als nutzlos erscheint, warum soll ich es nicht sagen? Wenn eine zweite Kammer oder eine souverän regierende Versammlung nutzlos ist, es sei denn, daß sie aus Mämiem bestehe, die das Volk im ganzen gewählt und beauftragt hat, - warum soll ich es nicht aussprechen?"362

Als wirksamste Maßnahme zur Einführung des "größten Glücks der größten Zahl" verlangt Bentham in Anlehnung an die Gruppe der "Philosophischen Radikalen" die radikale Parlamentsreform. Zu seinen Forderungen zählen die Ausdehnung des Wahlrechts, jährliche Parlamente und geheime Wahl.363

360 Vgl. Köhler, W.R., Geschichte, 1979, S. 14.361 Vgl. Held, A., Zwei Bücher, 1881, S. 269.362 Bentham, J., Werke, Bd. IV, 1843, S. 449.343 Mit den Worten Benthams: „Das Ganze (d.h. die demokratische Republik) ist sehr einfach, das Halbe (d.h. die konstitutionelle Monarchie) ist sehr kompliziert.“ Bentham, J., Werke, 1843, Bd. XI, S. 144,

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In gleicher Weise unterstehen Moral und Gesetzgebung bei Bentham der Maxime des "größten Glücks der größten Zahl". Moral und Gesetzgebung werden dabei definiert als die Lehre von der Kunst, die menschlichen Handlungen so zu regeln, daß sie die größtmögliche Summe an Glück hervorbringen. Der Umfang der Moral erstreckt sich jedoch weiter als der der Gesetzgebung, denn es gibt viele moralisch notwendige Handlungen, welche die Gesetzgebung nicht befehlen und viele moralisch verwerfliche Handlungen, welche die Gesetzgebung nicht verbieten darf.364 Die private Ethik lehrt dementsprechend den Privatmann, das größtmögliche Glück der größten Zahl zu erstreben; die Politik lehrt dies den Staatsmann.

"... Es gibt viel dem Gemeinwesen nützliche Handlungen, welche die Gesetzgebung nicht gebieten darf. Die Gesetzgebung ... hat zwar denselben Mittelpunkt der Moral, nicht aber denselben Umkreis."365

Die höchste erreichbare Steigerung der Lust und Verminderung der Schmerzgefühle der Regierten ist nach Bentham das Ideal des Politikers; diesem Ideal sollen alle staatlichen Einrichtungen dienen. Der Politiker muß somit vor allem darauf achten, daß er jene bevorzugt, die das größte Maß an Gütern und Werten schaffen. Die Voraussetzung eines solchen politischen Kalküls liegt vor allem in der Fähigkeit, Wertunterschiede zu erkennen.366 Gerade diese Wertunterschiede ermöglichen dem Gesetzgeber die moralische Arithmetik, d.h. die genaue Berechnung seiner Maßregeln. Die Gesetzgebung darf lediglich dort einschreiten, wo eine gegenseitige Schädigung der Interessen vorliegt.367

"Die allgemeine Regel ist: Laßt den Menschen den größtmöglichen Spielraum in allen Fällen, in denen sie nur sich selbst schaden können... Laßt die Macht der Gesetze nur dort einschreiten, um sie zu verhindern, sich untereinander zu

m Vgl. Österreich, T.K., Philosophie, 1928, S. 93.365 Bentham, J., Prinzipien, 1833, S. 83.366 Vgl, Kraus, O., Theorie, 1901, S. 23.367 Die allgemeinen Staatsaufgaben sind nach Bentham durchwegs negativer Natur. Der Staathat vor allem das Eigentum zu erhalten; er hat demgemäß für die Ruhe der Lebensverhältnissezu sorgen. Jede Störung des Status Quo hat für Bentham eine Verminderung derGesamtglückssumme zur Folge. Der Angriff auf das Privateigentum hat nach BenthamsAuffassung eine Vernichtung des Industriegeistes zur Folge. Vgl. Hoffmann, F., Jeremy Bentham, 1910, S. 60.

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Die Erfüllung des Nutzenprinzips ist in diesem Zusammenhang schon deshalb problematisch, weil die unmittelbare Folge der Strafe eine Vergrößerung des bestehenden Übels darstellt, denn nach Bentham ist die Existenz einer gesellschaftlichen Institution nur genau dann gerechtfertigt, wenn sie den gesellschaftlichen Nutzen vermehrt.369 Größeren Schaden verhindern als durch sie selbst angerichtet wird, kann die Strafe dementsprechend nur dann, wenn sie die Ausführung bestimmter schädlicher Handlungen verhindert, d.h. wenn sie präventiv wirkt. Mit den Worten Benthams:

"Jede Strafe ist an sich ein Übel. Was das Nutzenprinzip betrifft, so sollte Strafe nurdann angewandt werden, wenn sie verspricht, größere Übel zu verhindern."370

Weder Recht noch Moral können ohne Sanktionen bestehen, denn ohne Einschränkungen und Opfer gibt es kein Zusammenleben. Sanktionen sind künstliche negative Anreize. So wie es keine Regierung ohne Zwang gibt, so gibt es keine Gesellschaft ohne Sanktionen. Bentham nimmt eine Klassifikation der Sanktionen in physische, moralische, politische und religiöse vor. Als natürliche Sanktion bezeichnet Bentham unangenehme Folgen von Naturereignissen - es handelt sich dabei um Sanktionen ohne Sanktionsabsicht.371 Religiösen Sanktionen als solchen spricht Bentham die Wirksamkeit ab; sie sind nur in Verbindung mit irdischen Sanktionen wirksam. Bentham verspricht sich die größte Wirkung davon, alle vier Sanktionen vereint anzuwenden.

schaden."368

368 Bentham, J , Prinzipien, 1833, S. 88.369 Dieses Argument wendet Bentham auch auf die Wirtschaftspolitik an. Zum einen ist das Volksvermögen nichts anderes als die Summe der privaten Vermögen; zum anderen ist jedes Eingreifen der Regierung mit Zwangsmaßnahmen verbunden, die dem Einzelnen Ungemach bereiten. Jeder Zwang ist dementsprechend ein Übel und mindert mithin die Gesamtglückssumme. Vgl. Denis, H., Geschichte, 1992, S. 182.370 Bentham, J., Principles, 1948, S. 170.371 Zu den natürlichen Sanktionen zählt Bentham auch die Sicherung des Lebensunterhaltes; die Sorge um den Lebensunterhalt besteht schon deshalb, weil der Mensch Angst hat, Hunger zu erleiden: „Die natürliche Sanktion ist die einzige, die immerfort wirkt und durch sich selbst ... Sie ist es, die alle anderen unvermerkt auf sich zurückführt.“ Bentham, J., Prinzipien, 1822, S. 40.

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"Sie sind wie Magneten, deren Kraft aufgehoben wird, wenn man die zwei konträren Pole einander nähert, und verzehnfacht wird, wenn die beiden gleichen Pole vereinigt werden."372

Sanktionen vergrößern zunächst das Übel innerhalb der Gesellschaft. Größeren Schaden verhindern als durch sie selbst angerichtet wird kann die Strafe aber nur, wenn sie die Ausführung bestimmter schädlicher Handlungen verhindert, d.h. präventiv wirkt. Prinzipiell müssen die Sanktionen des Gesetzgebers daher immer so angelegt sein, daß sie vermittels des kleinstmöglichen Übels das größtmögliche Gut schaffen.

"Jedes Gesetz ist ein Übel, denn jedes Gesetz beschränkt die Freiheit373... (Der Gesetzgeber) muß sich zweier Dinge versichern: 1. daß in jedem Falle die Ereignisse, die er zu verhindern sucht, wirklich Übel sind; 2. daß diese Übel größer sind als diejenigen, die er anwendet, um sie zu verhindern.1,374

Letztlich liegt der einzige Strafzweck in der Prävention durch Abschreckung Dritter und in der Besserung der Straftäter, denn Strafe als solche ist an sich kein Akt der Gerechtigkeit, sondern ein Übel, das sie in direktem Zusammenhang mit der Verursachung von Leiden steht. Das Übel kann nur durch den Nettovorteil aller Betroffenen aufgewogen werden.375

372 Dumont de Genève, Traité de législation, I, S. 54. Zitiert nach Guyau, Die englische Ethik, 1914, S. 67.373 Bentham macht die Freiheit zum primären Faktor seines Systems. Freiheit bedeutet für Bentham Macht. Je mehr der Mensch vermag, desto freier ist er; jede der Macht gesetzte Schranke ist eine Behinderung der Freiheit. Allerdings tritt die Freiheit bei Bentham gegen die Sicherheit zurück, die bei ihm primärer Staatszweck ist. Mit den Worten Benthams: „Die Freiheit, die ein Teil der Sicherheit ist, tritt zurück gegen die allgemeine Sicherheit, denn Gesetze können nur auf Kosten der Freiheit aufgestellt werden.“ Dumont de Genève, Traité de législation, I, S. 172f., zitiert nach Guyau, J.M., Die englische Ethik, 1914, S. 70.374 Bentham, J., Prinzipien, 1833, S. 67.375 Vgl. Wolf, J.C., Utilitaristische Ethik, 1992, S. 156.

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5.2 James Mill - Die Integrationsfigur

5.2.1 Zum biographischen Hintergrund

James Mill - der eigentliche Verbreiter des klassischen Utilitarismus - wurde 1773 in Schottland geboren. Aufgrund seiner außergewöhnlichen Begabung besuchte er eine der bekanntesten Schulen im Schottland seiner Zeit, die “Montrose Academy". Ein von Lord Fettercaim eingerichteter Studienfonds ermöglichte es James Mill schließlich, die Universität zu besuchen.376 In dankbarer Erinnerung an den Lord Fettercaim taufte James Mill seinen ältesten Sohn nach dessen Namen "John Stuart".

Auf der Universität von Edinburgh widmete sich Mill zunächst dem Studium der lateinischen und der griechischen Sprache, später der Philosophie und Theologie und erhielt 1798 die Lizenz zum Predigen; es gelang ihm jedoch nicht, eine Anstellung als Pfarrer zu erlangen. Aus diesem Grund entschloß er sich, nach London überzusiedeln, in erster Linie, um sich dort literarisch zu betätigen. Mill lieferte dort zunächst Beiträge zu verschiedenen Zeitungen, u.a. zur "Anti-Jacobin-Review", zum "Literary Journal" und zum "St. James's Chronicle".

1805 heiratete James Mill in London. Aus dieser Ehe stammten neun Kinder, von denen das älteste John Stuart war. Mills Einkünfte aus den Beiträgen für verschiedene Zeitungen waren äußerst bescheiden, so daß er sehr hart für die Versorgung seiner Familie kämpfen mußte. Erst durch die Eierausgabe seines größten Werkes, "History of British India", das er 1806 begann, jedoch erst 1818 vollendete, konnte er seine wirtschaftliche Lage verbessern.

Im Jahre 1807 veröffentlichte Mill seine volkswirtschaftliche Abhandlung "Commerce Defended"; bemerkenswerte Beiträge lieferte er auch in den Jahren 1808 bis 1813 der "Edinburgh Review". Aufgrund seiner "History of British India" wurde James Mill in das India House berufen, dessen oberste Leitung er im Jahre 1830 mit einem Jahresgehalt von 2000 Pfund erhielt.

376 Vgl, Seikritt, W., Stellung, 1936, S. 18.

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Im Jahre 1821 brachte Mill sein volkswirtschaftliches Hauptwerk "Elements of Political Economy" heraus. Mills "Elements" stützten sich im wesentlichen auf Ricardos "Principles", die er in systematisierter Form wiederzugeben suchte. Als Ökonom nimmt Mill gegenüber Ricardo eine epigonale Position ein. Manches, was innerhalb der Volkswirtschaft als „Ricardianismus“ geschätzt wird, ist dementsprechend der folgerichtigen Erläuterung Mills zuzuschreiben.377 Letztlich wird die "aprioristische Volkswirtschaftslehre" in Mills "Elements of Political Economy" auf ihren einfachsten Ausdruck zurückgeführt.378

Für das "Supplement" der Encyclopedia Britannica verfaßte Mill eine größere Anzahl von Abhandlungen, nämlich "Government", "Colony", "Economists", "Education" und "Jurisprudence”. Von Bedeutung sind darüber hinaus seine Beiträge zur "Westminster Review" und "London Review" sowie seine philosophischen Schriften "Fragment on Mackintosh" (1835) und "Analysis of the Human Mind" (1829). James Mill starb 1836 in Kensington.

Mit David Ricardo und mit Jeremy Bentham verband James Mill eine jahrelange Freundschaft. Es hegt somit auf der Hand, daß bei James Mill der Einfluß zweier so bedeutender Männer wie Bentham und Ricardo von nachhaltiger Wirkung auf seine Weltanschauung und besonders seine Einstellung zu den wirtschaftspolitischen Fragen der damaligen Zeit sein mußte.379 Bei dem um 25 Jahre älteren Bentham, in dem Mill gewissermaßen einen väterlichen Freund sah, mag dies auch überwiegend der Fall gewesen sein. In seinem Verhältnis zu Ricardo jedoch, der nur ein Jahr älter als Mill war, war der Einfluß ein durchaus wechselseitiger. Man muß sogar annehmen, daß in diesem Fall der größere Teil der Initiative bei James Mill lag.

Nach sechsjährigem Aufenthalt in London lernte James Mill im Jahre 1808 Jeremy Bentham keimen, mit dem er bis zu dessen Tod im Jahre 1832 in engstem Kontakt stand. Mill wurde bald der eifrigste Verfechter der von Bentham vertretenen Nützhchkeitslehre. Das Zusammenwohnen mit Bentham erbrachte Mill außer pekuniären Vorteilen auch noch engste geistige Verbundenheit mit Bentham, dessen

377 Vgl. von Wiese, L., James Mill, 1959, S. 343.378 Vgl. Ingram, J.K., Geschichte, 1905, S. 174.379 Vgl. Seikritt, W., Stellung, 1936, S. 23.

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Schriften er redigierte, und mit dem er in engstem Gedankenaustausch stand. War Bentham der Gelehrte, der seine Gedanken meist nur dem Papier anvertraute, so war Mill der Verbreiter und Verfechter dieser Lehre in der Öffentlichkeit. Er radikalisierte und popularisierte den Utilitarismus und machte ihn gleichzeitig zu einer politischen Bewegung.380

Lag in bezug auf die philosophischen Anschauungen die Führung in den Händen von Bentham, so Heß er sich andererseits in den Dogmen der Volkswirtschaft von seinen Anhängern und Schülern beeinflussen und leiten. Die Ökonomen waren Schüler Benthams, aber in ökonomischer Hinsicht war Bentham der Schüler von Malthus und des älteren Mill.381

Ricardo und Mill lernten sich im Jahre 1811 kennen, insbesondere John Stuart Mill rühmt die Freundschaft beider.382 Nach Johu Stuart Mill wären Ricardos "Principles of Political Economy" ohne den Einfluß seines Vaters überhaupt nicht verfaßt worden. Mill bewog Ricardo 1816 dazu, sein Werk zu veröffentlichen und ins Unterhaus einzutreten, wo Ricardo seinen und Mills Ansichten über staatswissenschaftliche und volkswirtschaftliche Probleme in ganz England Anerkennung verschaffte. Eine Schilderung von John Stuart Mill beleuchtet das Verhältnis beider in treffender Weise:

"Während dieser ersten Periode meines Lebens waren die häufigsten Besucher meines Vaters auf nur wenige Personen beschränkt. Viele von ihnen waren völlig unbekannt, aber ihr persönlicher Wert veranlaßte meinen Vater dazu, diese Freundschaften zu kultivieren. ... Ihren Unterhaltungen hörte ich mit großem Interesse zu. Da ich ein ständiger Gast im Arbeitszimmer meines Vaters war, lernte ich bald seinen Freund David Ricardo kennen, der wegen seiner zuvorkommenden Art äußerst anziehend auf junge Menschen wirkte. Nachdem ich zum Studenten der Politischen Ökonomie geworden war, lud mich Ricardo in sein Haus ein, um

verschiedene Probleme mit mir zu diskutieren."383

380 In diesem Sinne ist auch folgender Ausspruch Benthams zu bewerten: „Ich war der geistige Vater von James Mill, und Mill war der geistige Vater von Ricardo.“ Bentham, J., Werke, Bd. 5, S. 498.381 Vgl. Fay, C.R., Great Britain, 1928, S. 368.382 Vgl. Mill, J.St., Autobiographie, 1873, S. 27.383 Mil, J.St., Autobiographie, 1873, S. 53f. Zu Mils engerem Freundeskreis zähltenweiterhin einige Mtglieder des 1821 gegründeten „Political Economy Club“, dem neben

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Innerhalb des Utilitarismus kommt James Mill die Funktion einer Integrationsfigur zu. Zum einen vermittelt er den Utilitarismus aufgrund seines direkten Kontaktes mit Bentham an die nachfolgenden Ökonomengenerationen, d.h. an David Ricardo und John Stuart Mill, zum anderen begründet er die Reformbewegung der Philosophischen Radikalen, die sich für die Verwirklichung utilitaristischer Ziele in der englischen Politik einsetzt. Dazu kommentiert Russell:

"Für die Benthamsche Bewegung hat Mill doppelte Bedeutung. Erstens bildete er seinen Sohn John heran, wie Hamilcar Hannibal; John war dank seiner liebenswürdigen und freundlichen Veranlagung nicht für eine so strenge Doktrin wie die der Philosophischen Radikalen geschaffen; er milderte sie auch tatsächlich in späteren Jahren auf verschiedenen Gebieten ab... Zweitens schloß James Mill dank seiner hervorragenden Lehrbegabung die verschiedensten bedeutenden Männer zu einen Schule zusammen und verstärkte dadurch ungeheuer ihren Gesamteinfluß. ... James Mill vereinte Bentham mit Malthus und Ricardo und dem kleinbürgerlichen Radikalismus von Francis Place ... Die Doktrinen von Hartley und Helvétius und so viel von Hume, als in eine doktrinäre Orthodoxie hineinpaßte, verliehen dem Aufstand des Pöbels bei den Westminster-Wahlen die geistige Würde einer philosophischen Grundlage. Bei alledem wirkte James Mill wie der Mörtel, der die verschiedenen Steine zu einem Bau zusammenfugt.“384

Bentham wird erst durch James Mill und die von ihm begründete Reformbewegung zu einem praktischen Faktor in der englischen Politik.385 War Benthams vorrangiges Ziel noch die Gesetzesreform, so steht im Mittelpunkt der Reformbewegung eine Reform des englischen Parlamentes. Insbesondere Mills "Essay on Government" wird zur Bibel für die Philosophischen Radikalen und hat einen großen Einfluß auf die Reformpolitik.386

Ricardo und Bentham u.a. auch John Stuart Mil angehörte; den Kem des Clubs bildete darüber hinaus eine kleine Gruppe von Nationalökonomen, die einige Zeit lang in Ricardos Haus allabendliche Zusammenkünfte abgehalten hatten, um über volkswirtschaftliche Fragen zu diskutieren. Zum Hauptziel hatte sich der Club die Forderung der Freihandelsbewegung gesetzt.384 Russell, B., Freiheit, 1948, S. 122f.385 Vgl. Russell, B , Freiheit, 1948, S. 114.386 Vgl. Letwin, S., Pursuit, 1965, S. 200.

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Die Ziele der Philosophischen Radikalen lassen sich aus der politischen Situation des damaligen England ableiten; die Reformbewegung setzte sich zum Ziel, das Parlament zu einer wirklichen Volksvertretung zu machen.387 Die von Mill vertretenen Ansichten trugen zu einer grundlegenden Umwälzung in der Auffassung des Rechtsgedankens bei, und sein Einfluß war mitbestimmend fur den Wechsel in der öffentlichen Meinung Englands, die damals zum Teil mit den in der französischen Revolution gepredigten Theorien der allgemeinen Menschenrechte sympathisierte. Unter Mills Devise wurde der Kampf um die Reformbewegung geführt und gewonnen. Durch die Reformbill wurde der große Schritt getan, das Parlament zumindest in Ansätzen zu demokratisieren.388

Mill bahnte auch der erfolgreichen Arbeit seines großen Sohnes den Weg, der gewiß als Philosoph und Ethiker universeller und realistischer war.389 Im Rahmen seines Erziehungskonzeptes verleiht James Mill seinen Ansichten zur Assoziationspsychologie, so wie diese in seinen philosophischen Werken "Analysis of the Phenomena of the Human Mind" (1829) und "A Fragment on Mackintosh" (1835) dargestellt werden, praktischen Ausdruck. Als Erfahrungsphilosoph ist er der Auffassung, daß die Einflüsse der Erziehung auf den Menschen unbegrenzt sind. 390 Im Rahmen seiner Lehrmethode entwickelt sich John Stuart Mill schließlich zum frühreifen Wunderkind.

5.2.2 Philosophische Einflüsse auf James Mill

Philosophisch ist James Mill völlig von Benthams Utilitarismus belegt. So vereint er den unbedingten Glauben an die Lehren Benthams mit der äußersten Verachtung für

387 Die politische Situation Englands war dadurch gekennzeichnet, daß auf der einen Seite die im Parlament vertretenen Kreis standen, die lediglich die Oberschichten repräsentierten. Die Mehrheit der Bevölkerung verfügte jedoch nicht über einen Sitz im Parlament. England wurde somit von einer Oligarchie geleitet, die Regierung war lediglich Ausdruck von Sonderinteressen. Vgl. Seikritt, W., Stellung, 1936, S. 8.388 Vgl. Seikritt, W., Stellung, 1936, S. 97.389 Vgl. von Wiese, L., James Mill, 1959, S. 343.390 Vgl. Reßler, A., Die beiden Mills, 1929, S. 5.

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alle die Lehren, die von denen Benthams abweichen.391 James Mill war der einzige Engländer von Bedeutung, der die Lehren Benthams von Grund auf verstand und zu den seinigen machte. Mill fühlte sich besonders zu Bentham hingezogen durch

"die Übereinstimmung gemeinsamer Meinungen und durch die Achtung, die einem Manne zusteht, der mehr als sonst jemand dazu beigetragen hat, Lehrsätze zu erklären und anzuempfehlen, welche er besonders wichtig für das Glück der Menschheit hält."392

James Mill hat kein schriftliches Zeugnis von seiner utilitaristisch-philosophischen Einstellung abgelegt. Gleichwohl ist er von diesem Prinzip durchdrungen und läßt sich bei all seinen Handlungen von diesem leiten. So bezeichnet ihn Bain, sein Biograph, "von all den Philosophen, die sich Utilitaristen nennen, als den würdigsten."393 Ebenso deutlich geht Mills Utilitarismus aus seinen psychologischen, moralphilosophischen, sozialen, ökonomischen und politischen Aktivitäten hervor. "Dem Utilitätsprinzip zu folgen, es zur Richtschnur für alles Tun und Handeln zu machen, erschien ihm als der höchste, idealste Lebenszweck. Bim hatte er es aber auch zu verdanken, daß sich in seinem Charakter Einseitigkeiten herausbildeten..."394

Im Einklang mit Bentham lehnt Mill dementsprechend auch alle dem Utilitarismus entgegenstehenden Philosophien ab. Seine Kritik richtet sich dabei vor allem auf die schottische Common-Sense Philosophie, die er in dem kurz vor seinem Tod erschienen "Fragment on Mackintosh" kritisiert. Die Common-Sense-Philosophie beweist ihre Abkunft von der englischen Philosophie durch den psychologischen Charakter, den sie allen Untersuchungen aufprägt, tritt aber aus dem Hauptzug jener Entwicklung mit der Annahme aus, daß die menschliche Seele von vornherein eine Fülle ursprünglicher Erkenntnisse in sich birgt, die es nur herauszustellen gilt.395 Die

Vgl. Russell, B., Freiheit, 1948, S. 115.392 Bain, A., James Mil, 1882, S. 72.393 Bain, A., James Mil, 1882, S. 221.394 Reßler, A., Die beiden Mils, 1929, S. 17.395 Die Common Sense Philosophie hatte sich darauf beschränkt, den in der Moralphilosophie durch Shaftesbury angebahnten und von Hutcheson in prinzipieller Klarheit ausgesprochenen Standpunkt eines ursprünglichen BeurteilungsVermögens in einer breiten Anlage in die empirische Philosophie einzuführen Vgi. Windelband, W., Geschichte, 1919, S. 358.

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gesamte Common-Sense-Philosophie bekämpft die Annahme, daß die Seele eine "tabula rasa" sei, auf die erst die Erfahrung ihre Züge schreibt.396

Seit dem 17. Jahrhundert verlief die Entwicklung der englischen Philosophie weitgehend getrennt von der kontinentaleuropäischen. Die eigenständige Entwicklung der englischen Philosophie beginnt mit Francis Bacon (1521-1626). Er stellt der aristotelischen Logik sein "Novum Organum" (1620) entgegen. Dort stellt er das Verfahren der Induktion vor, das von der Betrachtung von Tatsachen ausgeht und schrittweise das Beobachtete verallgemeinert. Damit begründet er die empiristische Erkenntnistheorie. Die Erfahrung ist die einzige Grundlage der Wissenschaft.397 Der zweite große englische Empirist war der bereits dargestellte David Hume. Alle Erkenntnis stammt seiner Auffassung nach aus der Erfahrung, der sinnlichen Wahrnehmung. Der Verstand verhält sich rezeptiv, er ist eine Registraturmaschine für die Verhältnisse der Vorstellungen zueinander.398

Im Rahmen seiner Erkenntnistheorie weist James Mill direkt auf den englischen Empirismus des 18. Jahrhunderts zurück. Die Grundanschauung, die James Mill mit großer Schärfe des Denkens darlegte, ist diejenige des psychologischen Individualismus. Nach ihm beginnt die Erkenntnis mit einfachen isolierten Empfindungen; die komplizierten psychischen Gebilde entstehen durch die Fähigkeit der Elemente, sich zu assoziieren.399

396 Als Hauptvertreter der schottischen Common-Sense-Philosophiegilt außer MackintoshThomas Reid, der seine Lehre im wesentlichen in seinem Werk „Inquiry into the Human Mindand the Principles of Common Sense“ (1764) dargelegt hatte. Reid entwickelt die These, daßes Urteile im Menschen gibt, die mit der ganzen Mannigfaltigkeit ihres Inhalts ursprünglich in uns entstehen. Dies ist der einzig originelle Grundgedanke, auf den sich Reids Lehre gründet. Wenn es demnach denkbar erscheint, daß in der Seele ursprüngliche Urteile vorhanden sind, so glaubt Reid in der Tatsache des moralischen Gefühls, die er durch Hutcheson festgestellt erachtet, den Beweis für die Realität solcher Urteile gefunden zu haben. Nach Reids Auffassung findet man gleichermaßen keine sichere Erkenntnistheorie, wenn man nicht die ursprünglichen Urteile aufsucht, nach denen wir Wahres und Falsches in derselben Weise, wie auf anderen Gebieten, Gut und Böse, voneinander unterscheiden. Vgl. Windelband, W., Geschichte, 1919, S. 358.397 Vgl. Aster, E., Geschichte, 1954, S. 216.398 Vgl. Aster, E., Geschichte, 1954, S. 238 ff.399 Vgl. Österreich, T.K., Philosophie, 1928, S. 91.

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5.2.3. Erkenntnistheoretische Grundlagen

Im Gegensatz zur schottischen Cotnmon-Sense-Philosophie entwickelt James Mill eine Erkenntnistheorie, die im wesentlichen auf den empiristischen Anschauungen Humes, Hartleys und Helvétius basiert. Dabei kommt James Mill das Verdienst zu, die Assoziationspsychologie in seiner "Analysis of the Human Mind" weiterentwickelt zu haben.400 Eine ausschließlich auf der Sinneserfahrung und einigen wenigen, für jeden rational einsichtig zu machenden Prinzipien beruhende Philosophie sollte die vorherrschenden Begründungsweisen für Normen und Institutionen ablösen und ausgehend von dem nüchternen, illusionslosen Menschenbild der Assoziationspsychologie eine auf Erfahrung begründete, an den überprüfbaren Konsequenzen von Handlungen orientierte Ethik, Politik und Erziehung ermöglichen.401 Mit Hilfe der Assoziationspsychologie liefert Mill zum einen eine wissenschaftliche Untermauerung des von Bentham in den Utilitarismus eingefuhrten Strebens des Menschen nach Lust; zum anderen entspricht den erkenntnistheoretischen Bestrebungen Mills auf ethischem Gebiet der Versuch, im Rahmen seiner Erkenntnistheorie einen Übergang vom Egoismus zum Utilitarismus zu finden.402

Insbesondere das Fortschreiten der Naturforschung hatte dazu geführt, daß die ausnahmslose Geltung der mechanischen Kausalität für alle Erscheinungen der äußeren Natur zu einem Axiom der Naturforschung wurde, ein Axiom, das bald auch

400 Von allen philosophischen Strömungen Englands ist die Assoziationspsychologie letztlich am wenigsten durch fremde Anschauungen beeinflußt worden. Erste Anfänge lieferte bereits Peter Brown mit seinem Werk „The procedure extent and limit of human understanding“ (1729). Er übernimmt die von Locke entwickelte Erkenntnistheorie mit einer entschieden sensualistischen Wendung, indem er den Gedanken ausführt, daß alle und selbst die abstraktesten Erzeugnisse des menschlichen Denkens nur die durch die psychische Gesetzmäßigkeit herbeigeführten Umbildungen der ursprünglichen Sinnesempfindungen seien. Vgl. Österreich, T.K., Philosophie, 1928, S. 91.401 Bereits in Lockes „Essay on Human Understanding“ finden sich Abschnitte, die der Assoziation von Ideen gewidmet sind. Jedoch benutzt er die Ideenassoziation lediglich, um diejenigen Sympathien und Antipathien im Menschen zu begründen, die ihm nicht angeboren sind, sondern die er lediglich erworben hat. Die Assoziationen sind seiner Auffassung nach willkürlich; sie lassen sich auf Bewegungszüge zurückfuhren, die - einmal in Gang gebracht - dieselben Bahnen einschlagen. Lockes Analyse ist äußerst einseitig: Er berücksichtigt lediglich das rein Zufällige, und behandelt die Genese vergesellschafteter Vorstellungen nur äußerst mangelhaft. Vgl. Schoenlank, B., Hartley, 1882, S. 2.402 Vgl. Österreich, T.K., Philosophie, 1928, S .91.

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auf das Gebiet der psychischen Erscheinungen übertragen wurde. Bereits Bacon hatte in diesem Zusammenhang angedeutet, daß eine wissenschaftliche Psychologie nichts anderes sein dürfe als eine Mechanik der Vorstellungen und der Triebe.403 Die Parallele zur äußeren Naturwissenschaft erschien so schlagend, daß die Psychologie sich als die Naturwissenschaft des inneren Sinnes auf diesem Grunde aufzubauen begann.

Wie die Naturwissenschaften, so läßt sich auch die Assoziationspsychologie auf letzte Elemente, die Empfindungen, zurückführen. "Diese erklärende Psychologie ... geht ... ebenfalls auf "letzte Elemente" zurück, die also den Elektronen in der Physik, den Elementen in der Chemie, den Zellen in der Physiologie entsprechen, beobachtet deren Bewegungen und ordnet diese in Formeln, den sog. Gesetzen."404 Die Assoziationspsychologie erklärt das Seelenleben somit nach Analogie der übrigen Naturvorgänge aus einer Art mechanistischer Denkbewegung; aus diesem Grund wird sie auch als Physik der Seele bezeichnet.405

Bei der Assoziationspsychologie stellt sich das Seelenleben als ein mechanisches System von Assoziationen dar. Die Assoziation wird dabei als eine gleichsam den Elementen innewohnende Kraft betrachtet, die sich nicht weiter erklären läßt. Generell gilt Hartley als Begründer der Assoziationspsychologie, Priestley als dessen wirksamster Schüler.406 Beide versuchen, die Psychologie auf physiologischer Grundlage aufzubauen.

Hartley geht von einer physiologischen Parallele aus: Wahrnehmungen werden vom Gehirn mit Empfindungen und Vorstellungen verknüpft. Bei häufiger Wiederholung

403 Auf psychischem Gebiet konnte man in dieser Beziehung am besten an das baconische Programm und an die Erkenntnistheorie von Th. Hobbes anknüpfen. Vgl. Windelband, W., Geschichte, 1919, S. 311.404 Sombart, W., Nationalökonomien, 1950, S. 110.405 Die Assoziationspsychologie kann darüber hinaus als Ausdruck des psychologischen Individualismus gewertet werden. Die Erkenntnis geht auf die Empfindungen des einzelnen Individuums zurück. Die komplizierten psychischen Gebilde entstehen durch die Fähigkeit der Elemente, sich zu assoziieren. Wie in der Chemie das zusammengesetzte Produkt Eigenschaften besitzt, die den einzelnen Elementen nicht zukommen, so gilt dies auch für die psychischen Produkte der Assoziation. Vgl. Österreich, T.K., Philosophie, 1928, S. 91.406 Auch Hume hatte zwar seinen „Treatise on Human Nature“ bereits 1738 verfaßt, jedochbildet seine Assoziationstheorie lediglich einen Teil seiner weiteren Untersuchungen, währendHartley nur diese spezifische Frage erörtert hat.

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gleichartiger Eindrücke hinterlassen sie auf diese Art „Spuren“ in Form sehr schwacher Schwingungen im Gehirn. Hartleys psychologischer Mechanismus besagt, daß gleichartige Eindrücke die Tendenz haben, ineinander aufzugehen und psychologische Gebilde mit großer Festigkeit hervorzubringen. Auf diese Art und Weise werden einfache Vorstellungen zu komplexeren psychischen Gebilden. Die gesamte Sphäre von Bewegungen und Empfindungen belebter Organismen beruht auf der Überzeugung von Moleculararbeit der Nerven und des Rückenmarks.407 Dabei meinte Hartley, daß grundsätzlich jedem psychischen Vorgang eine leibliche Bewegung entspreche. Allerdings galt die von Hartley entwickelte Nervenphysiologie sehr schnell als überholt.

Als Empfindungen bezeichnet Hartley diejenigen inneren Zustände (internal feelings of mind), die durch äußere Eindrücke entstehen. Die Vorstellungen, welche Empfindungen entsprechen, sind Anschauungsvorstellungen (ideas of sensations), die anderen sind abstrakte. Lust- und Unlustempfindungen sind unter den Empfindungen und Vorstellungen gruppiert; alle seelischen Phänomene sind von einem Lust- und Unlustgefuhl begleitet.408

Das Prinzip der Assoziation, das bei Mill seine Anwendung findet, ist im wesentlichen das Hartleysche; nur sind dabei die physiologischen Hypothesen Hartleys beiseite geschoben. Die Aufgabe von Mills philosophischem Hauptwerk .Analysis of the Phenomena of the Human Mind“ besteht darin, psychische Erscheinungen in ihre einfachsten Elemente zur zerlegen und vermittels des synthetischen Prinzips der Assoziation zu zeigen, wie aus ihnen komplizierte Produkte entstehen.409 In diesem Sinne unterscheidet auch Mill zwischen „Sensations“ and „Ideas“; erstere sind eine Art Gefühle, letztere sind Abbilder, welche fortdauem, wenn die Empfindungen verschwunden sind; Empfindungen rufen im Gehirn gleichzeitig Ideen hervor.

407 Vgl. Schoenlank, B., Hartley, 1882, S. 16.408 Im Gegensatz zur Hartley bekennt sich Priestley vollends zum Materialismus, der auf die Abhängigkeit der psychischen Erscheinungen von den physischen zurückgeht. An die Stelle der Reflexion setzt er eine Physik des Nervensystems und erklärt die Psychologie zu einem Teil der Physiologie. Vgl. Windelband, W., Geschichte, 1919, S. 314ff.409 Vgl. Österreich, T.K., Philosophie, 1928, S. 92.

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Ideen können auf zweierlei Art entstehen. Zum einen können die Ideen direkt durch bestimmte Empfindungen hervorgerufen werden; zum anderen können sie indirekt durch die Assoziation mit anderen Ideen mittels Assoziationsgesetz hervorgerufen werden.

In Anlehnung an David Hartley erkennt Mill lediglich eine Grundform der Assoziation, die Assoziation durch Berührung (Kontiguität). Das einzige Kriterium fur die Bildung einer Assoziation besteht somit darin, daß ein vorhergehender Kontakt zwischen den sich assoziierenden Vorstellungen und Ideen bestanden hat. Die assoziierten Vorstellungen sind daher zu den sie hervorrufenden Ideen oder Empfindungen simultan oder unmittelbar sukzessiv.410 Mill bezeichnet diesen Vorgang als allgemeines Assoziationsgesetz:

"Unsere Ideen entstehen oder existieren in der gleichen Reihenfolge, in denen die Empfindungen existierten, deren Kopien sie sind. Dies ist das allgemeine Gesetz der Ideenassoziation, das nichts anderes ausdrückt als die Reihenfolge der Empfindungen und der damit einhergehenden Ideen.1,411

Die Stärke einer Assoziation wird nach Mill auch durch die Häufigkeit der Wiederholung einer Idee oder einer Empfindung bestimmt.412 Werden viele einfache Ideen häufig assoziiert, so findet schließlich ein Prozeß der Verschmelzung statt. Die Ideen fließen so ineinander zusammen, daß sich aus mehreren Ideen eine einzige Idee herausbildet. Diesen Prozeß bezeichnet James Mill als Gesetz der untrennbaren Verbindung.

Letztlich hängt die Stärke einer Assoziation auch von der Lebhaftigkeit der Eindrücke und vom intéressé der Menschen an den assoziierten Eindrücken ab. Auf diese Art und Weise entstehen die Vorstellungen des Menschen von äußeren Objekten. Werden

410 Vgl. Bower, G., Hartley, 1881, S. 26f.411 Mill, J., Analysis, Bd.l, 1869, S. 78.412 Mit den Worten James Mills: „Das fundamentale Assoziationsgesetz besteht dann, daß wenn zwei Dinge häufig zusammen gefunden worden sind, wir niemals an das eine ohne an das andere denken können.“ Mill, J., Analysis, Bd. 1, 1869, S. 362.

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die Ideen von bestimmten Tast-, Gesichts- und Muskelempfindungen in eine Idee verschmolzen, so nennt man das daraus entstehende Produkt ein Objekt.413

Die Empfindungen des Menschen bestimmen jedoch nicht nur das menschliche Bewußtsein, sie stellen darüber hinaus auch Handlungsanreize dar. Grundsätzlich stellen sowohl Empfindungen als auch Ideen das Antezedens einer Willenshandlung dar. In allen Fällen wird eine Handlung jedoch vor allem deshalb ausgeführt, weil sie ein Mittel zu einem Zweck ist, d.h. weil sie als Ursache mit einem Lustgefühl als Wirkung assoziiert wird.414 In diesem Zusammenhang bezeichnet Mill die Assoziationen daher als "active powers of the human mind".415

Grundsätzlich können Handlungen mit freudigen und schmerzlichen Empfindungen assoziiert werden. Zur Durchführung einer Handlung kommt es jedoch nach Mill nur dann, wenn eine Freude als Wirkung mit einer eigenen Handlung als Ursache assoziiert wird. Assoziiert der Mensch eine Freude mit einer eigenen Handlung als Ursache, so entsteht das Handlungsmotiv:

"... Wenn die Idee einer Freude mit einer eigenen Handlung als Ursache assoziiert wird, d.h. als Konsequenz unserer eigenen Handlung betrachtet wird, dann entsteht ein besonderer Bewußtseinszustand, den man ... angemessenerweise als Motiv bezeichnet."416

Das entscheidende Moment bei der Durchführung einer Handlung ist jedoch letztlich nicht das Handhmgsmotiv, sondern der menschliche Wille. Nach Auffassung Mills und der Assoziationspsychologie insgesamt ist der Wille keine besondere Fähigkeit, sondern ein "bestimmter Bewußtseinszustand'', nämlich derjenige, der der Durchführung einer Handlung direkt vorausgeht.417 Vom Willen gesteuerte

413 Darüber hinaus macht Mill auch den Versuch, Assoziationen durch Ähnlichkeit und Kontrast von der Grundform abzuleiten. So äußert er sich: „Es ist einfach zu erkennen, welches Prinzip die Klassifizierung betrifft... Dieses Prinzip ist die Ähnlichkeit.“ Mill, J , Analysis, 1869, Bd. 1, S. 270f.4,4 Vgl. Österreich, T.K., Philosophie, 1928, S. 92.415 Mill, James, Analysis, 1869, Bd. 1, S. 181f.416 Mill, James, Analysis, 1869, Bd. 1, S. 258.417 Von einer vom Willen gesteuerten Handlung grenzt Mill in diesem Zusammenhang Willkürhandlungen ab. Dort ist die vorhergehende Idee ein Wunsch, der so eng mit einer Art

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Handlungen werden nur deshalb ausgeführt, weil sie als Ursache bewußt mit einem Lustgefühl als Wirkung assoziiert werden:

"In allen Fällen, in denen die Handlung gewollt wird, wird sie als Mittel zu einem Zweck angestrebt; genauer gesagt wird sie als Ursache mit einer Freude als Wirkung assoziiert."418

Indem James Mill die Postulate der Assoziationspsychologie in den Utilitarismus einfuhrt, erweitert er den von Bentham entwickelten Utilitarismus in bezug auf dessen psychologische Grundlage, denn Benthams Philosophie war am schwächsten hinsichtlich der von ihm vertretenen Psychologie. Zwar assoziiert bereits Bentham alle Handlungen des Menschen mit Lust- und Unlustgefuhlen, jedoch ermangelt es bei ihm an jeglicher theoretischen Begründung. Das Streben des Menschen nach Lust und Vermeidung von Unlust wird von ihm einfach als Axiom vorausgesetzt.

Bereits Bentham hatte darüber hinaus eine Trennlinie zwischen Assoziationen, die nur bei bestimmten Individuen auftreten, und solchen, die für sich allgemeine Anerkennung reklamieren können, gezogen. Als Ethik galt ihm die Kunst, die Assoziationen zu bestimmen, die zu einer Versöhnung von Einzel- und Gesamtinteresse fuhren.419

Auch diesen Ansatz führt James Mill weiter, indem er die Assoziationspsychologie durch die Ethologie ergänzt, eine Wissenschaft, die die Charakterbildung zu erfassen hat. So stehen bei James Mill seine Auffassungen zur Assoziationspsychologie in enger Verbindung zu seinen Ansichten zur Erziehung. Die Hauptaufgabe des Erziehers hegt nach Mill darin, sicherzustellen, daß der Schüler von Anfang an die richtigen Assoziationen bildet; die Erziehung ist nach Mill völlig für die Charakterbildung eines Menschen verantwortlich.420 Wichtig in diesem Zusammenhang ist vor allem die Tatsache, daß Mill davon ausgeht, daß jeder Mensch

Muskelbewegung assoziiert ist, daß die Handlung als Reflex notwendigerweise darauffolgt. Mill, J„ Analysis, 1869, Bd. 2, S. 328.418 Mil, J., Analysis, 1869, Bd. 2, S. 378f.419 Vgl. Pribam, K., Geschichte, 1992, S. 272.420 Vgl. Monro, D.H., James Mil, 1967, S. 313.

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über das gleiche Potential an Fähigkeiten verfügt. Damit lehnt er es ab, naturgemäße Unterschiede zwischen den Menschen anzuerkennen.421

Als Gegner der Lehre von den angeborenen Talenten schreibt er der Wirkung äußerer Einflüsse einen unbegrenzten Einfluß auf den Charakter des Menschen zu. Nach Milk Auffassung ist der Mensch genau das, was die Umwelteinflüsse aus ihm machen. Damit greift er auf die Erkenntnisse des französischen Aufklärungsphilosophen Claude-Adrien Helvetius zurück; dieser macht das Glück des Menschen im wesentlichen davon abhängig, wie er erzogen worden ist.422 In Anlehnung an Helvétius geht auch Mill davon aus, daß die Erziehung das wirkungsvollste Mittel darstellt, den Egoismus des Individuums zum Wohle der Gesamtheit zu korrigieren.423 An der Tugend hat der einzelne kein Interesse, sie dient im wesentlichen dazu, den Egoismus des einzelnen zu Gunsten der Gesamtheit zu korrigieren. Als Mittel, die Tugend mit der Lust zu versöhnen, führt Helvétius die Erziehung auf der einen, die Gesetze auf der anderen Seite an. Die Erziehung muß in einer Art "moralischem Katechismus" schon den Kindern die Grundsätze der Gerechtigkeit einprägen.

Aufgabe der Erziehung soË es sein, den Menschen dazu zu veranlassen, in erster Linie das Glück seiner Mitmenschen zu erstreben, und erst in zweiter Linie sein eigenes Glück. Dazu soll der Mensch mit Hilfe des Prozesses der universellen Assoziation veranlaßt werden: Gemäß des Einflusses der Erziehung lernen wir, die egoistischen Ideen mit denjenigen zu assoziieren, die das Wohl der Gesamtheit herbeiführen. Auf diese Art und Weise gewöhnt sich der Mensch daran, mehr und mehr im Interesse des Gemeinwohls zu handeln.424

Vgl. Monro, D.H., James Mill, 1967, S. 313.422 In Anlehnung an David Hume geht auch Helvétius davon aus, daß der geistige Inhalt des Menschen nur den Impressionen und Ideen, welche die Kopien davon sind, entspricht, und daß deshalb die innere Gestalt des Menschen ursprünglich nur durch die zufälligen Eindrücke, die er von außen empfangt, bedingt ist. Sein Ziel ist es, die Menschen unter den Einfluß gerechter Gesetze zu stellen und ihnen die richtige Erziehung zukommen zu lassen. So äußert er: „Wenn ich nachweisen könnte, daß der Mensch wirklich nur das Produkt seiner Erziehung ist, dann habe ich den Völkern ohne Zweifel eine große Wahrheit entdeckt. Sie würden dann nämlich wissen, daß sie das Werkzeug für ihre Glückseligkeit und ihre Größe in eigenen Händen haben...“ Helvetius, C.A., Vom Menschen, 1972, S. 36. Vgl. Reßler, A., Die beiden Mills, 1929, S. 6.423 Vgl. Rubitschon, O , Materialistische Ethik, 1992, S. 114.4M Vgl. Bower, G., Hartley, 1881, S, 179.

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Mit der Zeit stellt sich somit eine Art Automatismus ein, der bewirkt, daß bestimmte Handlungen automatisch nicht mehr mit dem Eigeninteresse, sondern mit dem Gemeinwohl assoziiert werden. Im Rahmen des Erziehungsprozesses wird der Mensch schließlich aufgrund der damit einhergehenden Sanktionen, d.h. Aussicht auf Belohnung und Furcht vor Strafe, dazu veranlaßt, moralisch zu handeln.425

Der Mensch handelt nach Müls Auffassung nur dann moralisch, wenn er alle Konsequenzen seiner Handlung in Betracht zieht, bevor er die Handlung ausführt. Unterläßt er dies, kann seine Handlung sicherlich "eine sympathische, aber auf keinen Fall eine moralische Handlung sein."426 Ein Mensch ist lediglich dann von seinem Konsequenzenkalkül befreit, wenn bereits feste Regeln in der Gesellschaft bestehen, an denen er sich orientieren kann. Unterläßt der Mensch es, die Konsequenzen seiner Handlungen einzuplanen, dann tritt die Gesellschaft mit dem Sanktionsmittel der moralischen Billigung und Mißbilligung auf den Plan. Die Sanktion der Gesellschaft bezieht sich dabei jedoch nur auf diejenigen Handlungen, die unbedingt notwendig sind, "um den Bestand der Gesellschaft sicherzustellen."427

Ziel der Erziehung soll es nach Mill sein, daß der Mensch immer weitere Kreise seiner Mitmenschen in sein Wohlwollen einbezieht. Die Gewohnheit veranlaßt den Menschen jedoch dazu, sein Wohlwollen lediglich auf seine unmittelbare Umgebung zu beschränken. Dem möchte Mill entgegentreten:

"Der Mensch, den die Erziehung oder andere glückliche Umstände an die Idee des Wohls größerer Gemeinschaften gewöhnt haben ... ist der einzige Mensch, der die Erhabenheit wahrer Moral erreicht hat.1,428

Ein direktes Interesse des einzelnen, moralisch zu handeln, besteht nicht, obwohl alle anderen daran interessiert sind, daß er sich moralisch verhält.429 Daher kommt es darauf an, daß dem Einzelnen durch die Erziehung jene Einstellung mitgegeben wird, die Handlungen mit möglichst guten Konsequenzen erwarten läßt. Moralische

425 Vgl. Poggi, S./Röd, W., Philosophie, 1993, S. 42.426 Mill, J., Fragment, 1870, S. 236f.427 Mill, J,, Fragment, 1870, S. 368.428 Mill, J., Fragment, 1870, S. 64f.425 Vgl. Poggi, S./Röd, W., Philosophie, 1993, S. 41.

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Gefühle, die den Vorteil anderer positiv erscheinen lassen, sind nicht angeboren, sondern werden erworben, bevor der einzelne imstande ist, moralische Reflexionen anzu stellen.

Mit der Entwicklung seiner Assoziationspsychologie stellt sich James Mill gegen die Postulate des noch bei Adam Smith geltenden Naturrechts und vertieft dadurch den bereits bei Bentham anklingenden Bruch mit demselben.

Der Mensch handelt nicht mehr nach Maßgabe eines ihm vom Schöpfer eingepflanzten göttlichen Naturgesetzes, sondern alle menschlichen Handlungen beruhen auf der Sinneserfahrung. Nach Maßgabe der Assoziationspsychologie sind alle abstrakten Begriffe von Gut und Böse wiederum auflösbar in einzelne Assoziationen, die durch die Erfahrung von Glück und Leid zusammengehalten werden. Die Erfahrung von Glück und Schmerz wird also lediglich künstlich mit verschiedenen Objekten assoziiert; damit sind moralische Überzeugungen auch prinzipiell irrtumsanfallig. Ein Studium der empirischen Wirklichkeit kann nie zu einem "höchsten Gut" fuhren, das objektiv wahr ist.430

5.2.4 Die utilitaristische Position

Sofern Lust und Unlust aus zwischenmenschlichen Beziehungen entspringen, spielen sie auch in der Politik eine Rolle. Der Regienmg kommt dabei die Aufgabe zu, das Glück der Menschen nach Möglichkeit zu fördern. Grundsätzlich hält Mill es für erwiesen, daß es im "Urzustand” unmöglich ist, das "größte Glück der größten Zahl" zu erlangen und plädiert aus diesem Grund für die Einführung eines Gesellschaftsvertrages.

Der Gedanke der gesellschaftlichen Nutzenmaximierung wird von James Mill mit dem Arbeitswertprinzip verknüpft. Auf der einen Seite soll das Ziel für die Staatsleitung sein, eine solche Verteilung der knappen Mittel der Bedürfnisbefriedigung zu erwirken, daß die größtmögliche Lustsumme der Gesellschaftsmitglieder zusammen

430 Vgl. Myrdal, G., Element, 1976, S. 20,

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erwirkt wird, zum anderen soll jeder genau so viel bekommen, wie seinem Arbeitseinsatz entspricht. Beide Prinzipien sollen sieh decken; somit versucht Mill, die utilitaristische Lustmaxime mit dem naturrechtlichen Eigentumsprinzip zu identifizieren.

Prinzipiell läßt sich das Glück des Menschen dahingehend definieren, daß ihm die größtmögliche Menge an Gütern als Eigentum garantiert wird. Zur Erklärung seines Glückskonzeptes fuhrt Mill die menschliche Arbeit ein. Die Mittel, die das Glück des Individuums bewirken, sind nicht frei verfügbar, sondern müssen zunächst durch Arbeit erworben werden. Die meisten Menschen arbeiten nicht um der Arbeit selber willen, sondern vielmehr, um deren Früchte zu genießen.431 Da Produktivitätssteigerungen den Zwang zur Arbeit innerhalb der Volkswirtschaft reduzieren, sind sie eines der Hauptziele einer Volkswirtschaft; rein materiell gehen Produktivitätssteigerungen immer mit Lohnerhöhungen einher.

Da die Arbeit das Mittel darstellt, daß das Glück des Menschen garantiert, ist es nach Mill äußerst wichtig, daß jedem Menschen die Früchte seiner eigenen Arbeit zugesprochen werden: Falls einem Menschen weniger Früchte seiner Arbeit zugesprochen werden als ihm eigentlich zustehen, erleidet er einen zu großen Schmerz im Vergleich zu dem Vergnügen, das er für die aufgewendete Arbeit erhält. Der angemessene Glücksanteil wird dem Menschen nur dann garantiert, wenn er die Früchte seiner eigenen Arbeit oder ein dieser entsprechendes Äquivalent erhält. Das größte Glück innerhalb der Gesellschaft wird nach Auffassung Mills dadurch erreicht, daß jedem Menschen die größtmögliche Quantität seines Arbeitsproduktes gesichert wird.432

Problematisch ist die Situation für Mill nun vor der Gründung des Staates: Die Starken werden immer versuchen, einen Güteranteil zu erlangen, der ihren eigentlichen Arbeitsanteil übersteigt; daher werden sie den Schwächeren die Früchte ihrer Arbeit wegnehmen. Die Starken versuchen somit, ihre eigene Glückssumme ohne einhergehenden Schmerz, d.h. Arbeit zu erhöhen. Aus diesem Grund spricht sich Mill für die Begründung eines Staates aus, der eine Schutzfunktion übernimmt.

431 Vgl. Plamenatz, J., Man, 1963, Bd. 2, S. 27.432 Vgl. Plamenatz, J., Man, 1963, S. 27.

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"Das von der Regierung zu erreichende Ziel liegt darin, diejenige Verteilung der knappen Güter vorzunehmen, die zum größten Glück der Gesamtheit beiträgt. Jeder einzelne muß daran gehindert werden, gegen diese Verteilung zu verstoßen. Niemand darf über weniger als den ihm zustehenden Anteil verfugen."433

Die Ausgangsbasis für den Staat bildet somit die Anerkennung und der Schutz des Eigentums sowie die Erkenntnis, daß alle Güter als Früchte der Arbeit zu betrachten sind. Hauptzweck des Staates hegt somit in der Garantie der Eigentumsrechte:

"Um das Ziel der sozialen Vereinigung zu erreichen, mit anderen Worten, damit die Schwachen nicht ihres Anteils beraubt werden, ist es nötig, das festzulegen, was jedem gehört... Dies ist der Ursprung des Rechts."434

Damit besteht der Staat nach Mills Auffassung in erster Linie zum Rechts- und Eigentumsschutz des Individuums, der Sicherheitsgedanke steht bei ihm in Anlehnung an Bentham im Vordergrund. Jedoch ist nach Mills Auffassung die Situation auch nach der Einrichtung des Staates problematisch: Einer bestimmten Gruppe von Menschen, der Regierung, wird im Zuge der Einrichtung des Staates mehr Macht verliehen als dem Rest der Bevölkerung. Dies ermöglicht es den Regierenden, diejenigen Menschen auszubeuten, für deren Schutz sie eigentlich verantwortlich sind.415 Dies führt Mill auf die Tatsache zurück, daß auch die Regierenden selbst dem Eigennutzprinzip unterhegen.

"Ein Mensch, der stärker als ein anderer ist, nimmt diesem immer das weg, was der andere besitzt, und was er selbst wünscht."436

Auch die Mitglieder der Regierung sind somit so angelegt, daß sie sich andere Personen und deren Eigentum dienstbar machen, um ihre eigene Freude zu erhöhen. Machtmißbrauch ist nach Mill jedoch nur dort möglich, wo keine Vorkehrungen

433 Mill, J., Government, 1824, S. 491.434 So äußert sich Mil im Artikel „Jurisprudence“: „Es scheint, daß die Regierung um des Eigentums willen besteht.“ Mill, J., Jurisprudence, 1824, S. 144.435 Vgl. Plamenatz, J., Man, 1963, S. 28.436 Mill, J., Government, 1824, S. 493.

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gegen ihn getroffen werden. Mill sieht die Lösung des Problems darin, die Regierenden für ihre eigenen Handlungen verantwortlich zu machen. Wenn einmal die Leitung des Staates nicht mehr in den Händen einer einzigen Klasse, sondern in denjenigen der Vertretung des gesamten Volkes liegt, wird sich eine liberale Regierung aufrichten lassen, der das gesamte Volk absolut vertraut, und die dann die Interessen der Gesamtheit in äußerst wirkungsvoller Weise vertritt.437

Mill lehnt jegliches monarchische oder aristokratische Regime ab, da beide unfähig sind, die Interessen der Gesamtheit zu vertreten. Demgegenüber tritt Mill fur ein parlamentarisches Regierungssystem auf der Grundlage eines rein demokratischen Wahlsystems ein. Nur innerhalb einer Demokratie sind die Regierenden dem Volk als ganzes verantwortlich und unterliegen seiner Kontrolle. Eine Wahlbeteiligung der Frauen lehnt Mill grundsätzlich mit dem Argument ab, daß die Interessen der Frauen automatisch in denen ihrer Ehemänner und Väter enthalten seien.438

Tm Rahmen der Demokratie weist Mill wiederum der Erziehung eine bedeutende Rolle zu. Durch Belehrung und Unterricht wird sich die Vernunft immer weiter durchsetzen, so daß, wenn das Volk eine ausreichende Bildung erhalte, es reif genug sei, diejenigen Männer zu seinen Führern zu wählen, die den Staat nach den Richtlinien des Allgemeinwohles leiten.439

"Eine andere unbedingt notwendige Operation besteht darin, fur eine sorgfältige und effiziente Erziehung des gesamten Volkes - bis hin zum niedrigsten Individuum - zu sorgen."440

Das jeder ökonomischen Zwangsbindung und staatlichen Bevormundung entrückte Wesen soll nun nach Mill rein ideell für den materiellen Kampf gerüstet werden. Dies hofft James Mill durch eine staatliche Volkserziehung zu erreichen, die ohne polizeilichen Zwang überzeugend auf den Charakter der Menschen wirken sollte.441 Insbesondere der Mittelschicht räumt Mill darüber hinaus eine Art Vorbildsftmktion

437 Vgl. Seikritt, W., Stellung, 1936, S. 22.438 Vgl. Reßler, A., Die beiden Mills, 1929, S. 57f.439 Vgl. Mill, J., Government, 1824, S. 504.440 Mill, J., Beggar, 1824, S. 246.441 Vgl. Reßler, A., Die beiden Mills, 1829, S. 55.

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für die Arbeiterklasse ein; Mill bezeichnet sie daher auch als "weisesten und tugendhaftesten Teil der Gemeinschaft"442 Letztlich besteht der Staat für Mil] lediglich zum Rechts- und Eigentumsschutz des Individuums, wobei ihm als Ideal des Staates eine Art Mittelklassenvertretung vorschwebte, da nur sie grundsätzlich eine wirksame Bürgschaft für eine gute Gesetzgebung bietet.

5.2.5 Ordnung und Gerechtigkeit

Im Rahmen des von ihm vertretenen Utilitarismus macht Mill bereits entscheidende Konzessionen an ein neuartiges Gerechtigkeitsverständnis. Im Gegensatz zu den Harmonietheoretikem zeigt James Mill keinerlei Neigung, die Interessenkonflikte innerhalb der Gesellschaft zu leugnen. Mills Schilderung sozialer Aspekte muß vor dem Hintergrund seiner Zeit betrachtet werden, als weder Sozial- noch Gewerkschaftsbewegung wesentliche Ergebnisse hervorgebracht hatten. Vor diesem Hintergrund zeigt sich James Mill durchaus empfänglich für die allgemeine Neigung zu mehr Sozialrevolutionären Überzeugungen.443

Letztlich nimmt James Mill zur Frage der sozialen Gleichheit aber keine andere Position ein als bereits Bentham vor ihm. Dieser hatte bereits die Parole für den Kampf gegen Sozialismus ausgegeben und die Frage, ob Sicherheit des Besitzes und Gleichheit der Verteilung miteinander vereinbar sind, verneint. Mill wirft die Frage der Gleichheit u.a. in seiner Schrift "Commerce Defended" auf. Auch fur ihn ist die Gleichheit undurchführbar, wenn sich die menschliche Gesellschaft weiterentwickeln soll.

"Wenn wir dem Fleißigen das von ihm bearbeitete Land wegnehmen, dann würde dies bedeuten, den Faulen für seine Faulheit zu belohnen. Darüber hinaus ändert sich die Bevölkerungszahl ständig. Um jedem den gleichen Anteil zukommen zu

442 Wie viele seiner Zeitgenossen, so argumentiert auch Mil so, als ob keine Interessenunterschiede zwischen beiden Klassen bestehen. Dies läßt sich aus der Tatsache heraus erklären, daß die Interessenunterschiede zwischen Arbeiter- und Mittelklasse erst nach dem Reformparlament von 1832 zutage traten. Vgl. Hamburger, J., John Stuart Mill, 1955, S. 49.443 Vgl. Myrdal, G., Element, 1976, S. 120.

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lassen, müßte die Verteilung dementsprechend permanent verändert werden..."444

Insbesondere hinsichtlich der Rente führte Mill jedoch Überlegungen an, wie dieses unverdiente Einkommen der Allgemeinheit zuzuführen sei. So schlug er vor, die Rente zu konfiszieren, d.h. sie durch die Steuer zu sozialisieren, um fur die Regienmg dadurch eine Einnahmequelle zu schaffen.445 Als besonderen Vorteil stellt Mill dabei heraus, daß durch diese Maßnahme die Betriebsamkeit nicht im mindesten beengt, andererseits die Kosten der Regierung bestritten werden, ohne daß dem einzelnen daraus ein besonderer Nachteil entsteht. Gültigkeit hat sein Vorschlag nach Mill jedoch nur in einem Land, dessen Boden noch nicht Privateigentum geworden ist.

"Wo jedoch Land in Privateigentum übergegangen ist, ohne daß der Rente hinsichtlich der öffentlichen Ausgaben besondere Verpflichtungen auferlegt wurden; wo man unter solchen Umständen ge- und verkauft hat imd die Erwartungen der einzelnen sich auf diesen Zustand der Dinge eingestellt haben, kann die Grundrente ohne Ungerechtigkeit nicht ausschließlich zur Befriedigung der Bedürfnisse der Regierung genommen werden. Es wäre eine einseitige und ungleiche Besteuerung, indem die Staatslasten auf eine einzelne Personenklasse gelegt würden, der Rest befreit wäre."446

Aus diesem Grund ist nach Mill die gesamte Erörterung eine theoretische Fiktion, die sich in der Realität nur schwer durchsetzen ließe.

444 Mü, J , Commerce Defended, 1808, S. 58.445 So kommentiert James Mill: „Für den Kapitalisten ist es eine vollständig gleichgültige Angelegenheit, wem er den Überschuß in Form der Rente bezahlt, einem einzelnen Eigentümer, oder in Art einer Steuerabgabe an die öffentlichen Einnehmer.“ Mil, J., Elements, 1821, Kap. IV, Sect. V.Die von Ricardo entwickelte Rententheone stellte die Grundrente als ein arbeitsloses Einkommen des Grundeigentümers dar, das auf den ursprünglichen und unzerstörbaren Kräften des Bodens beruhte, aber nicht auf einem realen Arbeitsaufwand. Aus diesem Grund erschien Mill die Rente bereits als antisozial, eine Auffassung, aus der er im Rahmen seiner Gerechtigkeitsauffassung praktische Konsequenzen zu ziehen suchte. Vgl. Reßler, A., Die beiden Mills, 1929, S. 38. Jedoch müssen die von James Mill entwickelten Ansätze in sozialrevolutionärer Richtung nur als Hinweise auf gewisse theoretische Möglichkeiten interpretiert werden, die jedoch nicht zu konkret praktischen Vorschlägen fuhren. Die Ansätze dieser Entwicklung werden erst bei J.St. Mill weitergeführt.4,6 Mil, J., Elements, 1821, Kap. IV, Sect. V.

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Auch im Rahmen von Mills Staatsauffassung lassen sich Gerechtigkeitsaspekte ableiten. Die wenigen positiven Aufgaben, die dem Staat zufallen, befassen sich mit dem Schutz und der Sorge für diejenigen Individuen, die entweder rechtlich, oder zumindest sozial machtlos sind; sie haben ihren Ursprung demzufolge im Humanitätsideal des 18. Jahrhunderts.447 In diesem Sinne gehört es zur Aufgabe der Regierung, die Rechtsgleichheit aller Individuen herbeizuführen. Dazu gehört die menschenwürdige Stellung der Farbigen, die Befreiung der Sklaven und die tolerante Duldung jeder religiösen Überzeugung. Darüber hinaus setzt sich Mill auch besonders dafür ein, den Kindern der Armen eine angemessene Erziehung zukoramen zu lassen; für diese Kinder hat der Staat eine besondere Obhutspflicht.448

Mit Weitblick sucht Mill auch nach Wegen, um der Armut als Quelle des Niedergangs entgegenzutreten. Hier kommt es seiner Auffassung nach vor allem darauf an, vorbeugend zu wirken. Bereits Bentham hatte Vorschläge entwickelt, um die Armut effektiv zu bekämpfen. Danach sollten den Sparkassen sogenannte Frugality-Banks angeschlossen werden, in denen Fonds gesammelt werden sollten zur Unterstützung der Armen und der Invaliden. Eine ähnliche Einrichtung bestand bereits in der Form der "Benefit Societies". In diesen Vereinigungen hatten sich Leute zusammengetan, die, solange sie ihr Auskommen hatten, Zahlungen an eine gemeinsame Kasse leisteten und aus dieser entsprechend ihren Einlagen eine Unterstützung in Fällen von Krankheit, Invalidität, Verarmung oder im Alter bezogen.449 Der Anregung Benthams folgend, empfiehlt Mill daher, diese "Benefit Societies" weiter auszubauen. Der Idealzustand wird aber nach Mill erst dann erreicht, wenn es gelingt, diese Einrichtungen auf die gesamte Bevölkerung auszudehnen. Daher macht er folgenden Vorschlag:

„Von einem moralischen Standpunkt aus ist die Formierung des Volkes in kleinen Einheiten von größter Wichtigkeit. So konzentrieren sich die Augen aller auf dem einzelnen. Auf diese Art und Weise wird das moraüsche Verhalten des einzelnen für ihn selbst um so wertvoller, schlechtes Verhalten hingegen um so

447 Vgl. Reßler, A., Die beiden Mills, 1829, S. 55.448 So Mil: „Überlaßt keinem einzigem Bettler die Obhut über sein Kind... Nur so können die Rinder daran gehindert werden, auch zu Bettlern zu werden ...“ Mil, J., Beggar, 1824, Bd. 2, S. 246.449 Vgl. Seikritt, W., Stellung, 1936, S. 98.

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schändlicher."450

5.3 David Ricardo - Der Utilitarismus im ökonomischen System

Die Epoche Ricardos innerhalb der Politischen Ökonomie bezeichnet den Übergang vom hoffnungsvollen zum skeptischen Liberalismus: Nicht mehr die frohgemute Erwartung einer prästabilisierten Harmonie ist vorherrschend; die großen Gesetze der Tauschgesellschaft wandeln sich zum Bedingungsgefuge ihres Funktionierens.451 Das Wirtschaftsleben der Zeit steht vor äußeren Schwierigkeiten, wie die Napoleonischen Kriege und die Kontinentalsperre; hinzu treten aber gleichzeitig Probleme, die die Wirtschaftsordnung aus sich selbst heraus hervorbringt. Die zeitgenössische Agrarbewegung in England kann als Ausdruck der anhebenden "sozialen" Frage gelten.452 Diesen Faktoren trägt David Ricardo auch innerhalb des von ihm vertretenen Utilitarismus Rechnung.

5.3.1 Biographischer Hintergrund

David Ricardo wurde 1772 in London als Sohn eines bereits in seiner Jugend aus Holland nach England übergesiedelten Kaufmannes geboren. Von seinem Vater, der an der Londoner Börse ein großes Vermögen erworben hatte, ebenfalls zum

Mill, J , Benefit Societies, 1824, Bd. 2, S. 266.451 Vgl. Hofmann, W., Wert- und Preislehre, 1964, S. 54.452 Interessant ist in diesem Zusammenhang insbesondere das Urteil von Karl Marx überDavid Ricardo und dessen Fortschritt gegenüber Adam Smith: "Die Politische Ökonomie hattein Adam Smith sich zu einer gewissen Totalität entwickelt, gewissermaßen das Terrain, das sie umfaßt, abgeschlossen. Smith selbst bewegt sich mit großer Naivität in einem fortwährenden Widerspruch. Auf der einen Seite verfolgt er den inneren Zusammenhang derökonomischen Kategorien oder den verborgenen Bau des bürgerlichen ökonomischen Systems. Auf der anderen stellt er daneben den Zusammenhang, wie er scheinbar in den Erscheinungen der Konkurrenz gegeben ist... Diese beiden Auffassungsweisen ... laufen bei Smith nicht nur unbefangen nebeneinander, sondern durcheinander und widersprechen sich fortwährend. ... Ricardo aber tritt endlich dazwischen und ruft der Wissenschaft: Halt! zu.“ Marx, K., Theorien über den Mehrwert, Bd. 2, 1959, S. 156f.

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kaufmännischen Beruf bestimmt, wandte sich Ricardo mit 14 Jahren dem Börsengeschäft zu und erwarb bereits im Alter von fünfundzwanzig Jahren ein beträchtliches Vermögen.453 Zu Differenzen mit der Familie kam es, als Ricardo mit 21 Jahren eine Christin heiratete; aus diesem Grund begann Ricardo seine Karriere auch mit äußerst beschränkten Mitteln. Im Rahmen seiner Erziehung blieb Ricardo eine humanistische Bildung im eigentlichen Sinne versagt.454

Sein früh erworbenes Vermögen ermöglichte es Ricardo, seine Erwerbstätigkeit einzuschränken und mehr seinen wissenschaftlichen Neigungen nachzugehen: So wandte er sich zunächst dem Studium der Mathematik, Chemie und Mineralogie zu. Er war etwa fünfundzwanzig Jahre alt, als er sich ein Laboratorium einrichtete, eine Sammlung von Minerahen anlegte und eines der Gründungsmitglieder der "Geological Society" wurde; dennoch erwärmte er sich nicht sonderlich für diese Studien. Sein Interesse daran schwand gänzlich, als er sich intensiv der Untersuchung der Politischen Ökonomie zuwandte.455

Erst ab 1799 beschäftigte sich Ricardo nach seiner Lektüre von Adam Smiths "Wohlstand der Nationen" eingehend mit wirtschaftswissenschaftlichen Studien. Im Jahre 1809 veröffentlichte Ricardo seine erste nationalökonomische Abhandlung "Über den hohen Preis des Währungsmetalls als Beweis für die Entwertung der Banknoten". Diese Schrift erregte großes Aufsehen und führte zu einer lebhaften Diskussion des damals in England aktuellen Währungsproblems.

Im Rahmen dieser wissenschaftlichen Abhandlung zu Ansehen gelangt, machte Ricardo auch auf dem Gebiet der Gesellschaftswissenschaften die Bekanntschaft mit damals in England führenden Persönlichkeiten, vor allem mit Thomas R. Malthus, Jeremy Bentham und James Mill, durch die er auch in Kontakt mit der Gruppe der Philosophischen Radikalen trat. Vor allem der Einfluß James Mills kann als der Ricardo beherrschende gewertet werden. James Mill war es auch, der Ricardo zum Kauf eines Parlamentssitzes bewegte. Im Gegensatz zu James Mill ist Ricardo jedoch ausschließlich um seiner Lehren willen von Bedeutung für die Gruppe der

4,3 Vgl. Araonn, A., Ricardo, 1959, S. 13.434 Vgl. Schumpeter, J.A., Geschichte, 1965, S. 581.455 Vgl. Ricardo, M., Sraffa, P., Ricardo, 1971, S. 166.

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Philosophischen Radikalen, innerhalb derselben er keine führende Stellung einnimmt.456

Im Jahre 1814 zog sich Ricardo völlig aus dem Erwerbsleben zurück, um ganz seinen wissenschaftlichen Neigungen leben zu können. Nachdem er im folgenden Jahr eine kleine Schrift "Über den Einfluß eines niedrigen Getreidepreises auf den Kapitalprofit" veröffentlicht hatte, trat er 1817 mit seinem ökonomischen Hauptwerk "Grundsätze der politischen Ökonomie und Besteuerung" an die Öffentlichkeit. Im Jahre 1823 starb er nach einer ausgedehnten Reise auf den Kontinent.

Der Einfluß von Ricardos "Grundsätzen" wird fast gleichzeitig mit deren Erscheinen spürbar. Ricardianisches Denken beherrscht England in der Folge für mehl' als ein halbes Jahrhundert. Insbesondere solange die Komgesetze nicht außer Kraft gesetzt waren, verlieh die Frage des Freihandels Ricardos System praktische Bedeutung.457 Zwar hatte bereits Adam Smith die klassische Problemstellung sehr erfolgreich bearbeitet, aber nicht nur Ricardo war mit Smiths Antwort unzufrieden. Auch das industrielle Bürgertum erwartete präzisere, bessere und politisch richtungsweisendere ökonomische Interpretationen der gesellschaftlichen Entwicklung und ihrer Zusammenhänge. Auf hohem wissenschaftlichem Niveau traf Ricardo in bezug auf diese Erwartung ins Schwarze.

Sicherlich hatte Smith schon einiges geleistet: Er hatte die ökonomische Theorie voll and ganz auf die Erklärung des Werts bzw. des Tauschwerts gelenkt. Der Tauschwert ergab sich als natürlicher Preis aus der Addition von drei Wertbestandteilen, aus den Anteilen von Kapitalzins, Bodenrente und Lohn. Diese Addition ermöglichte zwar eine äußerst elegante Erklärung des gesamtökonomischen Gleichgewichts und seines bestmöglichen Entwicklungspfades, jetzt bedurfte es aber einer Erklärung dafür, warum der eine Wertbestandteil einen größeren, der andere einen kleineren Betrag repräsentierte. Smith hatte mit seinem Optimismus zwar eine ordnende Harmonie in

456 Vgl. Russell, B„ Freiheit, 1948 S. 124,457 Erst nach 1870 kehren die meisten Ökonomen der ricardianischen Wert- undVerteilungslehre den Rücken. Vgl. Blaug, M., Theoriegeschichte, 1971, Bd.l, S. 255.

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der Tauschgesellschaft behauptet, an den entscheidenden Nahtstellen seiner friedfertigen Klassengesellschaft waren ihm aber die Begründungen ausgegangen.458

Genau an diesen Stellen brachen aber die politisch-praktischen wie auch die ökonomisch-wissenschaftlichen Konflikte aus. Mit fortschreitender Industrialisierung in England wandelte sich das Bild von der möglichen Harmonie der gesellschaftlichen Klassen zu einem Schreckensbild des sozialen Klassenkampfes. Hier knüpft Ricardo an und versucht, die ökonomischen Gesetze, auf denen die industrielle Tauschgesellschaft beruht, neu und überzeugender als Adam Smith zu erklären.

5.3.2 Zum philosophischen Umfeld Ricardos

Im Gegensatz zu allen bisher analysierten Ökonomen verfaßt Ricardo lediglich ökonomische, jedoch keine sozialphilosophischen Schriften. Da Ricardo selbst über keinerlei geisteswissenschaftliche Ausbildung verfügte, sind keine philosophischen Anklänge innerhalb seines Werkes zu verzeichnen, eine Tatsache, die es erschwert, Ricardos utilitaristische Position zu fixieren. Dementsprechend gilt Ricardos Stellung zum Utilitarismus innerhalb der Forschung als äußerst strittig.

Insbesondere Schumpeter spricht sich gegen Ricardos Zugehörigkeit zum Utilitarismus mit dem Argument aus, Ricardo habe überhaupt keine Philosophie vertreten. So äußert er: "Ricardo wird üblicherweise als Utilitarist bezeichnet, was jedoch unzutreffend ist; allerdings nicht etwa deshalb, weil er einer anderen Philosophie zugetan war, sondern weil sein positiv und geschäftig eingestellter Geist überhaupt keine Philosophie hatte. Er verstand sich gut, in erster Linie durch Vermittlung von James Mill, mit den Philosophical Radicals. Vermutlich äußerte er sich oftmals zustimmend über die utilitaristische Lehre; und Historiker sind immer geneigt, die Bedeutung solcher Äußerungen zu überschätzen. In Wirklichkeit jedoch kommt ihnen keine allzu große Bedeutung zu."459

458 Vgl. Immler, H., Natur, 1985, Bd.l, S. 176.459 Schumpeter, J.A., Geschichte, 1965, S. 582,

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Die Mehrheit der Ökonomen sieht jedoch zumindest utilitaristische Aoklänge in Ricardos Ökonomie gegeben: Die Anlehnung Ricardos an Bentham ist in der Tat sehr eng; dafür zeugt Ricardos ganze Denkweise, sein Briefwechsel, seine Schüler und seine Freunde. Obgleich Ricardo kein Anhänger der utilitaristischen Philosophie im strengen Sinne des Wortes war, übernahm er die leitenden Grundsätze des Benthamschen Denkens, in denen sich die Methoden der Assoziationspsychologie niederschlugen.460

Mit David Ricardo tritt ein nicht-humanistisch gebildeter Geschäftsmann in den Vordergrund der Entwicklung der Klassik. Von seiner täglichen Erfahrung her begriff er das "System der natürlichen Freiheit“, ohne auf irgendwelche philosophische oder subtheologische Voraussetzungen zurückgreifen zu müssen. Während Smith sich in metaphysischen Spekulationen über den Hintergrund des wirtschaftlichen Liberalismus erging, läßt sich Ricardos Grundhaltung auch als "pragmatisch" bezeichnen. So läßt sich auch erklären, daß seine Grundhaltung eine ganz andere ist. Das ethische, aber auch das politische Element fehlt bei ihm; das rein marktmäßige Denken, der kaufmännische Interessen- und Nützlichkeitsstandpunkt ist die Basis, auf die er aufbaut.461

In diesem Sinne fehlt bei Ricardo auch jegliche Bezugnahme auf metaphysische Kräfte, die hinter den Schauplätzen der ökonomischen Welt stehen, wie etwa Adam Smiths "unsichtbare Hand". Ein Abgrund trennt das Smithsche "System der natürlichen Freiheit" vom Ricardianischen. Lediglich die liberalen Thesen bleiben identisch. Mit Ricardo nahm die britische Klassik Abschied von Humanismus des 18. Jahrhunderts.462

Ricardo wird aus diesem Grund als "reinster" Ökonom unter den Klassikern bezeichnet. Er verfügte über eine "Neigung zu abstraktem Denken, ... die ihn als ersten die wirtschaftlichen Probleme in nackter Rechenhaftigkeit erfassen ließ.1,463

4f0 Vgl. dazu: Pribam, K., Geschichte, 1992, S. 274f.; Schachtschabel, H.G., Geschichte, 1971, S. 51; Briefs, G., Untersuchungen, 1915, S. 232f.; Diehl, K., Erläuterungen, Bd., S. 46 lf.461 Vgl. Lütge, F., Geschichte, 1954, S. 51.462 Vgl. Briefs, G., Nationalökonomie, 1959, S. 11.463 Vgl. Salin, E., Politische Ökonomie, 1967, S. 81.

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Ricardo führt seine Untersuchung auf rein theoretischem Hintergrund durch, auf dem der ursprüngliche sozialpliilosophischc und naturrechtliche Hintergrund nicht mehr sichtbar ist.464

Durch Ricardo erhält die von Smith begründete Volkswirtschaft eine ausgesprochen theoretische Ausrichtung; im Gegensatz zu Adam Smith bewegt er sich in einer Welt von Abstraktionen.465 Seine Theorie ist der Absicht nach frei von allen sozialen und soziologischen Elementen, und arbeitet an einem mechanistisch-ökonomischen Erkenntnisobjekt.466 Sie kann dabei als Beispiel fur die Möglichkeit völliger Objektivität, völliger Trennung von Analyse und Politik dienen; er leistet das letzte in der Kausalauflösung der modernen Volkswirtschaft. 467 Dennoch stellt Ricardos Werk eine besondere Art der Umprägung des "Wohlstand der Nationen" dar. Ricardos bedeutendste Gedanken sind von Adam Smith hergeleitet oder als Korrektur zu dessen Ansichten gedacht. Dazu äußert Ricardo:

"Der Verfasser hat es, indem er überlieferte Meinungen bekämpfte, notwendig gefunden, auf jene Stellen in den Schriften Adam Smiths ganz besonders

464 Vgl. Stavenhagen, G., Geschichte, 1964, S. 62.465 Ricardo wendet die Methode der isolierenden Abstraktion an, wie bereits Turgot vor ihm. Aus der Vielzahl der möglichen Kausalfaktoren, die an der Gestaltung einer ökonomischen Erscheinung mitwirken, werden einzelne isoliert und genauer untersucht. Grundsätzlich stellt Ricardo die Dinge so dar, als seien sie aus bestimmten psychischen, d.h. dem Erwerbstrieb, und sozialen Prämissen (Konkurrenzwirtschaft und Eigentumsordnung) abgeleitet und gelangt so zu deduktiven Ergebnissen. Dabei untersucht Ricardo langfristige Entwicklungstendenzen; er ist nicht interessiert an Tatsachen, die sich nicht in die Grundgesetzmäßigkeiten einfügen; sie gehören für ihn zu „short-run“ Phänomenen, die sich schnell anpassen. Vgl. Kruse, A., Geschichte, 1954, S. 71. Insbesondere Schumpeter hat eine sehr negative Auffassung von Ricardos Methode. So charakterisiert er sie folgendennaßen. "(Ricardo) war an eindeutigen Ergebnissen interessiert, denen eine unmittelbare und praktische Bedeutung zukam. Um solche Resultate zu erzielen, zerlegte er das allgemeine System in einzelne Teile, die er in möglichst großen Komplexen zusammenfaßte und auf Eis legte - so daß möglichst viele Dinge eingefroren oder gegeben sein mußten. Sodann häufte er vereinfachende Annahmen aufeinander, bis alle Schwierigkeiten beseitigt waren, und schließlich verblieben ihm einige wenige variable Gesamtgrößen, zwischen denen er unter den gemachten Annahmen nicht umkehrbare Beziehungen aufstellte, so daß das gewünschte Ergebnis schließlich nahezu auf eine Tautologie herauskam. ... Die Methode, Resultate solcher Art zur Lösung praktischer Probleme heranzuziehen, werden wir künftig als Ricardianisches Übel bezeichnen.“ Schumpeter, J.A., Geschichte, 1965, S. 583.466 Salin, E., Politische Ökonomie, 1967, S. 82.467 Im Einklang mit seinem Bestreben, alle relevanten Größen innerhalb der Ökonomie auf einen gemeinsamen Nenner zurückzuführen, schreibt Ricardo der Tauschwerteinheit eine ähnliche Rolle zu wie das Newtonsche System dem Atom. Kriterium für den Tauschwert ist die in ihm enthaltene Arbeit. Vgl. Ricardo, D., Grundsätze, 1923, S. 12.

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einzugehen, von welchen er abzuweichen Grund sieht; doch hofft er deswegen nicht in den Verdacht zu geraten, daß er nicht, wie alle diejenigen, welche von der großen Bedeutung der Volkswirtschaftslehre durchdrungen sind, dem tiefangelegten Werke dieses berühmten Schriftstellers die so wohlverdiente Bewunderung zolle."468

Der Ausblick auf künftige wirtschaftliche Entwicklungen, den Ricardo aus seinen Theoremen gewann, bedeutete letztlich den vollendeten Triumph des deduktiven Denkens über die Ergebnisse von Beobachtung und Erfahrung. Inmitten industrieller Entwicklungen, in denen sich die Auswirkungen neuer Erfindungen, ständiger Verbesserungen der technischen und unternehmerischen Möglichkeiten sowie weitreichende Änderungen in der Bevölkerungsstruktur niederschlugen, stützte er seine Erwartungen einzig auf gewisse Schußfolgerungen, die er aus seinen leitenden Theoremen und Annahmen zog, insbesondere aus der positiven Beziehung, die er zwischen dem Anstieg der Lebensmittelpreise und der Lohnhöhe herstellte. Sein häufig zitierter Satz, daß der Kompreis der Regulator der Preise aller übrigen Dinge sei, brachte seine theoretischen Überzeugungen auf eine bündige Formel.

Im Gegensatz zu Adam Smith verlagert Ricardo auch den Untersuchungsgegenstand der Politischen Ökonomie. Er geht nicht mehr dem Wesen der Reichtumsbildung nach, sondern befaßt sich mit dem Gegenstand der Einkommensverteilung.469 Es ist nicht mehr die Nation, die den Ausgangspunkt bildet, es wird nicht mehr die Arbeit des Volkes, die Erzeugung in den Vordergrund gerückt, sondern am Beginn steht ein Allgemeinbegriff, das Produkt der Erde, und gesucht werden die Gesetze, die dessen Verteilung bestimmen.470 Das von Ricardo konzipierte Verteilungssystem kann als komparativ-statisch betrachtet werden. Boden- und Bevölkerungsgesetz geben die Rhythmen der volkswirtschaftlichen Entwicklung ab, die sog. dynamischen Episoden; zwischen diesen Rhythmen hegen statische Zustände jeweils veränderter Ausgangslage.471 Mit den Worten Ricardos:

468 Ricardo, D., Grundsätze, 1923, S. 8.469 Vgl. Stavenhagen, G., Geschichte, 1964, S. 62.470 Vgl. Salin, E., Politische Ökonomie, 1967, S. 83.471 Ricardo wollte ein Bild von der Entwicklung der Volkswirtschaft zeigen und mußte daherzunächst den Gleichgewichtszustand beschreiben und erklären. Er untersuchte hiervonausgehend die Wirkung der die Volkswirtschaft verändernden Faktoren, wie namentlich denEinfluß der Bevölkerungsbewegung auf den Volksreichtum bei relativ zunehmender Kargheit

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"Das Produkt der Erde, alles, was von ihrer Oberfläche durch die vereinte Anwendung von Arbeit, Maschinen und Kapital gewonnen wird, verteilt sich unter die drei Gesellschaftsklassen; nämlich die Eigentümer des Bodens, die Besitzer des Vermögens und des Kapitals, das zu seinem Anbau erforderlich ist, und die Arbeiter, durch deren fleißige Tätigkeit bebaut wird."472

Während Adam Smith noch in einer Zeit lebte, die ihr Gepräge wesentlich durch die kapitalistische Manufaktur erhielt und in der sich das Fabriksystem erst in seinen Anfängen zeigte, lebte Ricardo bereits in der Zeit eines entwickelten Fabriksystems.473 Erst zu Ricardos Zeiten entwickelten sich die für das Industriezeitalter typischen Gegensätze: Insbesondere Ricardos Rententheorie gibt ein klares Bild von dem Gegensatz zwischen der Mittelklasse und der Schicht der Grundbesitzer, der die englische Politik von 1815 bis 1846 beherrschte.

Letztlich bereitet Ricardo insbesondere der Unterschätzung der Produktionsvorgänge durch John Stuart Mill den Boden. Da Ricardo mit einer Anzahl klar bezeichneter abstrakter Prämissen arbeitete, war es für seine Nachfolger notwendig, zwischen zwei Zweigen der Nationalökonomie zu unterscheiden, zwischen "Science" und "Art", d.h. zwischen theoretischer und praktischer Nationalökonomie.

5.3.3 Die naturrechtsphilosophische Position

Nimmt Ricardo auch keine ausdrückliche Fixierung seiner naturrechtsphilosophischen Position vor, so klingt bei ihm - in Anlehnung an Adam Smith - der Glaube an eine der Gesellschaft zugrundehegende "natürliche Ordnung" an vielen Stellen seines Werkes durch. 474 Da die Vernunft nicht als verläßliche Grundlage dienen konnte, um eine

der Natur. Er analysierte langfristige Entwicklungstendenzen, er verglich verschiedene volkswirtschaftliche Gleichgewichtszustände. Vgl. Briefs, G., Untersuchungen, 1915, S. 234.472 Ricardo, D., Grundsätze, 1972, S. 34.473 Vgl. Behrens, F., Grundriß, 1962, S. 205.174 Im Gegensatz zu Adam Smith hat der Begriff des Naturgesetzes bei Ricardo jedoch eine stärker naturwissenschaftliche und weniger normativ-teleologische Bedeutung, Diese Schwerpunktverschiebung des Begriffes hatte schon bei den französischen Autoren

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befriedigende Ordnung der ökonomischen Beziehungen zu errichten und zu erhalten, mußte die tatsächliche Existenz einer solchen Ordnung dem Wirken von Kräften zugeschrieben werden, deren Wirkung darin liegt, unabhängig vom bewußten Tun der Menschen zahllose Willensäußerungen zu koordinieren.475 Dementsprechend hält auch Ricardo nach objektiven Gesetzen Ausschau, die in der Natur der Sache selbst begründet liegen und findet objektive Bestimmungsgrunde des Wertes, des Einkommens und der Preise.476 Im Mittelpunkt stehen dabei die "natürlichen" Gesetze, die die Verteilung regeln.

"Das Hauptproblem der Politischen Ökonomie besteht in dem Auffinden jener Gesetze, welche diese Verteilung bestimmen. So sehr die Wissenschaft auch durch die Schriften von Turgot, Stuart, Smith, Say und Sismondi bereichert wurde, so geben sie doch eine wenig befriedigende Erklärung der natürlichen Bewegung von Rente, Profit und Lohn."477

Den Verteilungsprozeß untersuchte Ricardo nach dem Muster eines Satzes der Mechanik: Er entwarf ein zeitloses Modell eines ökonomischen Systems, das "fast mit der Präzision und Unvermeidlichkeit einer physikalischen Maschine bestimmte Lohn-, Profit- und Rentensummen für die drei sozialen Klassen erzeugt."478 Der Objektivismus der klassischen Schule erlebt bei Ricardo seinen Höhepunkt: Da er keine andere Gesellschaft als die kapitalistische kannte, waren die Gesetze dieser Gesellschaft für ihn allgemeingültige und ewige Naturgesetze.479

Erst Ricardo kommt das Verdienst zu, aus dem Junktim des von Malthus aufgestellten Boden- und Bevölkerungsgesetzes eine gesamte Dogmatik der Verteilung abgeleitet

stattgefunden, insbesondere bei Gamier, Canard und J.B, Say. Es ist bekannt, daß Ricardo diese Autoren studiert und auch indirekt unter ihrem Einfluß gestanden hat, vor allem über seinen Lehrer James Mill, der über eine größere Literaturkenntnis verfügte, als dies bei Ricardo der Fall war. Vgl. Myrdal, G., Element, 1976, S. 5.475 Solche Kräfte konnten in den Gleichgewichtstendenzen der Wirtschaft gesucht werden, besonders in der Tendenz der Preise, unter den Bedingungen des freien Wettbewerbs Kostenunterschiede zu nivellieren; dabei galt die Newtonsche Konzeption einer Wechselbeziehung zwischen physikalischen Körpern als Vorbild. Vgl. Pribam, K., Geschichte, 1992, S. 275.476 Vgl. Briefs, G., Nationalökonomie, 1959, S. 6.477 Ricardo, D., Grundsätze, 1972, S. 33.478 Taylor, O.E., Economics and the Idea of Natural Law, 1930, S. 18.479 Vgl. Anikin, A.W., Ökonomen, 1971, S. 257.

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zu haben.480 Bei ihm sind die "natürlichen" Kategorien von Preisen und Einkommen letzten Endes von diesem Junktim bestimmt. Aber "natürlich" hat eine völlig andere Bedeutung als bei Smith. "Natürlich" ist fur Ricardo, was sich als Gleichgewicht unter dem Obwalten jenes Junktim einerseits, und von Selbstinteresse und Konkurrenz andererseits darstellt. Die Phasen des statischen Gleichgewichts, wie sie sich aus der Relation zwischen Bevölkerungszustand und Bodendifferenz ergeben, interessierten ihn ausschließlich.481 In diesem Sinne leitet Ricardo insbesondere seine Grundrenten- und seine Lohntheorie vom Wirken des Malthusianisclien Bevölkerungsprinzips ab.

5.3.4 Die utilitaristische Position

In allen Fragen der Weltanschauung war Ricardo von den Lehren Benthams abhängig, denen er bedingungslos folgte. In dieser Hinsicht besteht auch ein wesentlicher Unterschied zwischen Smith und Ricardo. Smith war zugleich Nationalökonom und Philosoph mit einer durchaus originellen Sozialphilosophie. Ganz anders verfiihr Ricardo, der eigene philosophische Studien kaum betrieben hatte und der Autorität Benthams folgte. Allerdings schloß sich Ricardo damit nur dem Beispiel seiner meisten Fachgenossen auf politischem und ökonomischem Gebiet an. Für das politische und staatsmämiische Denken in England zur Zeit des Beginns des 19. Jahrhunderts waren die Benthamschen Lehren ja die unbedingt ausschlaggebenden.482

In wirtschaftlicher Hinsicht wird Ricardo von den Utilitaristen als „Führer“ akzeptiert.483 Nach Benthams Auffassung konnte niemand besser nachweisen als

Im Jahre 1798 veröffentlichte Malthus seine Schrift „Versuch über das Bevölkerungsgesetz“. Dort stellt er das Gesetz der Bevölkerungsentwicklung den Bedingungen für die maximale Entwicklung der Nahrungsmittelproduktion gegenüber. Während sich die Bevölkerung geometrisch vermehrt, nimmt die Nahrungsmittelproduktion in arithmetischer Produktion zu. Diesen Sachverhalt begründet Malthus mit Hilfe des Gesetzes des abnehmenden Ertragszuwachses. Aufgrund der abnehmenden Bodenerträge verringert sich die Nahrungsmittelmenge pro Kopf, wenn mit ansteigender Bevölkerung nicht gleichzeitig eine Verbesserung der Bodenbearbeitung einhergeht. Hält die Bevölkerungsvermehrung an, so wird schließlich ein Punkt erreicht, an dem der Mensch mit seiner Arbeit weniger erzeugt als er verbraucht. Vgl. Malthus, T.R., Essay on the Principle of Population, 1817, Bd. 1, S. 12.481 Vgl. Briefs, G., Nationalökonomie, 1959, S. 11.482 Vgl. Diehl, K., Sozialwissenschaftliche Erläuterungen, Bd. 2, 1905, S. 461.483 So gelten Ricardos „Grundsätze“ als wirtschaftliche Bibel der Utilitarier. Vgl. Stephen, L., Utilitarians, 1902, Bd.2, S. 287.

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Ricardo, daß die gesellschaftlichen Vorgänge ebenso wie die physischen bestimmten Naturgesetzen unterworfen seien.484 Gerade Ricardos Annahme, die Wirtschaftsgesetze seien allgemeine Naturgesetze, hatte dabei daraufhingewirkt, daß er den materialistischen Standpunkt der utilitaristischen Philosophie vertrat. Grundsätzlich lehnte Ricardo jedoch die Auffassung der Utilitaristen ab, die eine Verbindung zwischen Lust und Unlust einerseits, und den Werten, die die Güter besitzen sollten, andererseits hergestellt hatte und blieb der objektiven Werttheorie der Klassik verhaftet.

Vor dem Hintergrund des Boden- und Bevölkerungsgesetzes nimmt Ricardo dem Utilitarismus seinen metaphysischen Hintergrund und entwickelt ihn auf der Grundlage des Empirismus weiter. Auch bei Ricardo ist das Eigeninteresse - wie bei Adam Smith - der Ausgangspunkt seines utilitaristischen Systems. Im Gegensatz zu Adam Smith versucht Ricardo jedoch nicht mehr, das Prinzip des Eigeninteresses zu beweisen. Die utilitaristische Philosophie ist bei Ricardo natürlich vorhanden, jedoch stellt Ricardo sie nicht eigens dar: Er stellt lediglich die Ergebnisse ihres Wirkens dar: Lohn, Profit und Rente.485 Dabei fand er als Börsenmakler die praktische Brauchbarkeit der Prinzipien vom Selbstinteresse vollauf bestätigt.

Innerhalb von Ricardos System sind jedoch die naturhaft empirischen Grenzen, in denen das Individuum nach utilitaristischen Gesichtspunkten agieren kann, sehr eng gesteckt: Das Boden- und Bevölkerungsprinzip geben den Rahmen ab, innerhalb dessen das Individuum utilitaristisch agieren kann.

"Es ist vorhanden, arbeitet rastlos, aber naturhafte Voraussetzungen zwingen dieses utilistische Streben auf eine feste Grenze, über die es nicht hinauskann; und an dieser Grenze kristallisiert, verdinglicht sich das psychologische Streben auf feste Formen, auf den "natürlichen" Lohn. Ähnlich bei der Rente..."486

Im Gegensatz zu Adam Smith, bei dem das frei entfaltete Selbstinteresse zur automatischen Verwirklichung der natürlichen Ordnung fuhrt, zwingen bei Ricardo

484 Vgl. Denis, H., Geschichte, 1992, S. 269.485 Vgl. Briefs, G., Untersuchungen, 1915, S. 235.486 Briefs, G., Untersuchungen, 1915, S. 235.

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naturhafte Voraussetzungen den Eigennutz auf eine feste Grenze, über die er nicht hinaus kann.487 Die Freiheit des Individuums findet somit ihre Grenze an den Naturgesetzen der Verteilung.

Ricardo erbringt in diesem Zusammenhang auch den Nachweis, daß ein Handeln, welches seine Vorteile nicht bis auf den letzten Punkt wahrt, vom Standpunkt des sozialen Ganzen aus völlig widersinnig ist. Würde der Grundbesitzer aus sozialen Motiven auf seine Rente verzichten, so hätte die Gesamtheit davon keinen Vorteil: lediglich der Pächter wäre dazu imstande, wie ein Lord zu leben.

In Anlehnung an Adam Smith fuhrt auch bei Ricardo die konsequente Verfolgung des Eigeninteresses grundsätzlich zu einer Gemeinwohlsteigerung. Daher tritt auch Ricardo fur die freie Konkurrenz am Markt ein:

"Unter einem System von vollständig freiem Handel widmet natürlicherweise jedes Land sein Kapital und seine Arbeit solchen Verwendungen, die fur es am vorteilhaftesten sind. Dieses Verfolgen des individuellen Nutzens ist wunderbar mit der allgemeinen Wohlfahrt der Gesamtheit verbunden..."488

Den Wettbewerbskräften muß vor allem deshalb freier Lauf gelassen werden, da sie "ungefähr die gleiche Rolle spielen wie die mechanischen Kräfte in der kosmischen Natur."48J Da die freie Wirksamkeit von Arbeit und Kapital alleine die fur das Gemeinwohl günstigste Gestaltung der Dinge herbeifiihren kann, ist jeder Staatseingriff ein Hemmnis für die Herbeiführung des Allgemeinwohls. Grundziel aller Gesetzgebung ist es, die Kapitalansammlung zu erleichtern, und der Weg dazu ist, unter keinen Umständen einzugreifen in das freie Spiel der gewerblichen Kräfte.490

Jedoch ist der Enthusiasmus, mit dem Smith seine "natürliche Ordnung" betrachtete, bei Ricardo endgültig verflogen. Lediglich in den Fragen, die er als produktionspolitisch betrachtet, neigt Ricardo zu einem gewissen Enthusiasmus: Wo

Vgl. Briefs, G., Untersuchungen, 1915, S. 234f.488 Ricardo, D., Grundsätze, 1972, S. 111.489 Pribam, K., Geschichte, 1992, S. 275.490 Vgl. Stephen, L., Utilitarians, 1950, Bd.2, S. 203.

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Smith die freie Konkurrenz preist, konstatiert Ricardo mit gelassener Kühle, daß ihre Vorteile eine klare Sache seien; wo Smith die Identität von privaten und sozialen Interessen bewundert, bemerkt Ricardo mit kalter Ruhe, daß bei freier Konkurrenz die Interessen des Einzelnen und der Gesellschaft fast nie im Widerspruch seien.491

Letztlich ist die Lehre von den sozialen Harmonien jedoch innerhalb von Ricardos Utilitarismus nicht mehr zu halten, eine Tatsache, die innerhalb seiner Verteilungslehre zum Ausdruck kommt. Indem die Verteilungsgesetze Interessengegensätze innerhalb der Gesellschaft nachweisen, zerstören sie gewissermaßen auch die Vorstellung, daß die Verfolgung des Eigeninteresses automatisch zu einer harmonischen "natürlichen Ordnung" in der Gesellschaft fuhrt. Wenn nämlich die Lehren Ricardos zutreffen, so scheint es, daß sich das Interesse des Grundbesitzers nicht nur im Gegensatz zu dem der anderen Klassen befindet, sondern auch, daß es im Widerspruch zu dem Allgemeininteresse der Gesellschaft steht.492 Hatte Bentham den Liberalismus auf eine Philosophie des individuellen Nutzens reduziert, so analysierte Ricardo lediglich die Folgen, die sich ergeben, wenn das Selbstinteresse auf verschiedene Positionsstärken wirtschaftlicher Gruppen trifft.

Endpunkt des von Ricardo vertretenen Utilitarismus stellt der „stationäre“ Zustand dar, indem das langfristige Gleichgewicht der Volkswirtschaft erreicht ist. Das Land ist dann maximal bevölkert, das Elend ist allgemein, den kapitalbesitzenden Mittelklassen geht es schlecht, allein die Grundeigentümer können sich einer gewaltigen Bodenrente erfreuen. Die Radikalität von Ricardos Utilitarismus besteht dabei vor allem darin, daß er die sozialen und ökonomischen Beziehungen anhand eines einfachen quantitativ-mechanischen Modells darstellt, das sich selbst weiter fortsetzt, und das - auf lange Sicht - in eine Sackgasse steuert, in die es von den natürlichen Rahmenbedingungen der Produktion gelenkt wird.493

491 Das Originalzitat Ricardos befindet sich in Ricardos Essay „The High Pnce of Bullion a Proof of the Depreciation of Bank-Notes“, 1811/1846, S. 265. Dort äußert Ricardo: „Wo freie Konkurrenz besteht, sind die Interessen der Gesamtheit und der Einzelnen me im Widerspruch.“492 Vgl. Gide, Ch.; Rist, Ch, Geschichte, 1921, S. 166.4,3 Der stationäre Zustand ist genau dann erreicht, wenn entweder so schlechte Böden bebaut werden müssen oder so viel Aufwand bei der Bestellung der besseren Böden betrieben werden muß, daß die Getreidepreise ihr Maximum und die Profitrate ihr Minimum erreicht haben. Vgl. Sieferle, R.P., Bevölkerungswachstum, 1990, S. 137ff.

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Insgesamt kann das Ricardianische Verteilungssystem als geschlossene Beweiskette für das Auseinanderfallen der Interessen der Grundbesitzerklasse mit dem aller übrigen Klassen gewertet werden; auf der Gegensätzlichkeit von Kapital- und Landinteressen ruht auch Ricardos gesamtes Freihandelssystem. Alles, was den Freihandel hemmt, hindert auch die Erzielung des höchstens Nutzens und gibt Einzelnen auf Kosten der Gesamtheit, denn

”... die Kapitalprofite fallen nur, weil Boden, der genauso gut zur Produktion von Nahrungsmitteln geeignet wäre, nicht beschafft werden kann; und der Grad, in dem die Profite sinken und die Renten steigen, hängt völlig von den steigenden Produktionskosten ab... Wenn daher einzelne Länder mit steigendem Wohlstand und wachsender Bevölkerung bei gleichzeitiger Aufstockung des Kapitals in den Genuß neuer Gebiete mit fruchtbarem Boden kommen könnten, würden weder die Profite fallen noch die Renten steigen.1,494

Die Erreichung des "größten Glücks der größten Zahl“ wird aufgrund der empirischen Voraussetzungen von Ricardos Verteilungstheorie unmöglich, denn mit wachsender Bevölkerung steigt der Grundrentenanteil am Sozialprodukt automatisch; bei Ricardo verkommt die These vom "größten Glück der größten Zahl" somit zur leeren Formel.495 Mit den Worten Ricardos:

"Das Interesse des Grundbesitzers (steht) immer dem Interesse jeder anderen Klasse innerhalb der Gesellschaft entgegen: Seine Situation ist niemals günstiger als dann, wenn die Nahrungsmittel knapp und teuer sind, wogegen alle anderen davon profitieren, wenn Nahrungsmittel billig eingekauft werden können."496

494 Ricardo, D., Essay on the Influence of Price of Com on the Profits of Stock, 1951/1973, S. 18.495 M t dem Wachsen der Bevölkerung steigt die Grundrente automatisch; damit werden die Subsistenzmittel verteuert und die Anteile der übrigen Gesellschaftsklassen am Sozialprodukt venmndeit. Aber auch die beiden anderen Gesellschaftsklassen haben widerstreitendeInteressen. Der Anteil des Profits am verbleibenden Sozialprodukt kann nicht steigen, ohne daß gleichzeitig der Anteil des Arbeitslohnes sinkt und umgekehrt. Dazu kommentiert Ricardo: „ ... Der Gesamtwert der Güter wird nur in zwei Teile zerlegt; der eine besteht aus dem Kapitalprofit, der andere aus dem Arbeitslohn “ Ricardo, D., Grundsätze, 1972, S. 111.495 Ricardo, D., Essay on the Influence of the Price of Com on the Profits of Stock,1951/1973, S. 21.

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Nur die freie Getreideeinfuhr kann das Ansteigen der Grundrente dauerhaft zum Stehen bringen. Existiert Freihandel, kommt es nicht zu einer Bebauung der schlechteren Bodenklassen, da ausländisches Kom importiert werden kann. Das Freihandelsprinzip dient somit in Ricardos Augen dazu, das Gemeinwohl am nachhaltigsten zu fordern:

"Indem es den Fleiß anregt, die Erfindungsgabe belohnt ... verteilt es die Arbeit am wirksamsten und wirtschaftlichsten, während es durch die Vermehrung der allgemeinen Klasse der Produktionen allgemeinen Nutzen verbreitet ...1,497

Dem stand die aktuelle Situation des zeitgenössischen Englands entgegen: Die Interessen der Bourgeoisie wurden von denen der Grundeigentümer bedroht. Denen nämlich brachten steigende Getreidepreise höhere Grundrenten ein, denn sie hatten nach dem Krieg vom Tory-Parlament die Annahme der Komgesetze erwirkt, die die Einfuhr ausländischen Getreides nach England stark einschränkten und so die hohen Getreidepreise stützten. Für die Fabrikanten war dies unvorteilhaft, weil sie höhere Löhne zahlen mußten, um ihre Arbeiter am Leben zu halten. In diesem Kampf stand den Grundeigentümern in gewissem Sinne das gemeinsame Interesse der Industriebourgeoisie und der Arbeiterklasse gegenüber.498

Zur Realisierung des Gemeinwohles verlangt Ricardo jedoch keine völlige und sofortige Aufhebung der Komgesetze, wie Cobden und Bright dies zwanzig Jahre später taten, sondern lediglich langsamen Abbau der Komzölle auf Getreide über einen Zeitraum von zehn Jahren. Ein allmählicher Abbau der Komgesetze hat für Ricardo dabei den Vorteil, die Desinvestition in der Landwirtschaft zu dämpfen. Nach Ricardo werden die Verluste der Landbesitzer durch die mit dem Freihandel verbundenen Wohlfahrtsgewinne anderer Klassen mehr als wettgemacht.

Im Gegensatz zu Malthus vertrat Ricardo mit dieser Auffassung nicht die Interessen der Grundeigentümer, sondern die von Gewerbe und Industrie, die einen niedrigeren Weizenpreis wünschten, um die Löhne entsprechend senken zu können. Indem er den

Ricardo, D., Grundsätze, 1972, S. 111498 Vgl. Anikin, A.W., Ökonomen, 1971, S. 250.

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Interessengegensatz zwischen Anlegern von Kapital und Grundeigentümern aufzeigte, wollte Ricardo in der Öffentlichkeit und im Parlament die Interessen der Kapitaleigner durchsetzen.499

5.3.5 Ordnung und Gerechtigkeit

Die klassische Politische Ökonomie von Ricardo war eine reine Status-Quo-Theorie, die behauptete, daß die Welt - mit allen ihren Mängeln und Spannungen - Ausdruck der Naturgesetze der Ökonomie sei.500 Diese Naturgesetze sollten demonstrieren, daß fundamentale Veränderungen nicht möglich waren: Die Ansprüche der utopischen Sozialisten, der Gesellschafts- und Bodenreformer, waren reine Chimären, die an den Sachzwängen der Wirklichkeit scheitern mußten.

In diesem Sinne stellt Ricardo die Gesellschaft und die Ökonomie als ein mechanisches Regelsystem dar, von inneren Gesetzen beherrscht: "eine entzauberte, rationalisierte und quasi naturwissenschaftlich formulierbare gesellschaftliche Struktur."501 Die Gesellschaft bildet eine zweite Natur, die ihren eigenen Gesetzen folgt.

Da Ricardo die Verteilungsgesetze als Naturgesetze auffaßt, hält er auch eine Modifizierung der Verteilung für unmöglich, eine Tatsache, die sich am deutlichsten anhand von Ricardos Kapitel über den Arbeitslohn verdeutlichen läßt: Ein höherer Arbeitslohn oder reichlichere Armenunterstützung oder irgendeine andere "künstliche" Einflußnahme des Staates auf die Verteilung im Sinne einer besseren Versorgung kann nur das Resultat haben, daß sich die Armen schneller fortpflanzen. Alle Versuche, den Arbeitern einen höheren Lebensstandard zu verschaffen, sind

499 Auch Malthus wollte mit Hilfe der Theorie der Differentialrente den hohen Weizenpreis erklären, den er jedoch als direkte Folge des Wohlstands betrachtete. Als effektivstes Mittel, um den Anstieg des Weizenpreises aufzuhalten, betrachtete er die Senkung derjenigen Steuern, die auf der Landwirtschaft lasteten. Ein wesentlicher Grund für den Erfolg von Malthus' Theorie war es demnach, daß er sich nachhaltig für die Belange der Grundeigentümer einsetzte. Vgl. Denis, H., Geschichte, 1985, S. 246.500 Vgl. Sieferle, R P., Bevölkerungswachstum, 1990, S. 139.501 Vgl. Sieferle, R.P., Bevölkerungswachstum, 1990, S. 140.

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bedeutungslos, und zwar aufgrund eines so offensichtlichen Naturgesetzes wie des Fortpflanzungstriebes.502 Im Einklang mit Malthus wendet sich Ricardo deshalb gegen eine Hilfstätigkeit für Bedürftige, um der übermäßigen Bevölkerungsvermehrung entgegenzutreten :503

"Es ist eine Wahrheit, welche nicht einen Zweifel zuläßt, daß die Annehmlichkeiten und das Wohlergehen der Armen auf die Dauer nicht gesichert werden können, ohne eine gewisse Rücksichtnahme ihrerseits oder einige Anstrengung von seiten der Gesetzgebung, das Anwachsen ihrer Zahl zu regulieren und frühe und unüberlegte Heiraten unter ihnen zu vermeiden.”504

Sicherlich betrachtete Ricardo die Lage der Arbeiter als betrüblich, aber die ganze Sache erschien ihm hoffnungslos: Der gesellschaftliche Nutzen, oder jedenfalls der beträchtlichste Teil desselben wurde also durch die Lebenswerte repräsentiert, die den besitzenden Klassen zufielen. Man konnte gewiß auf kurze Zeit den gesellschaftlichen Nutzen erhöhen, indem man den Wohlhabenden wegnahm und den Armen gab. Aber auf lange Sicht mußten die Armen wieder auf denselben Standard zurücksinken, und aufs Ganze gesehen hätte man die Situation nur verschlechtert, weil die Wohlhabenden nun etwas ärmer wären; langfristig sind die Folgen einer solchen Umverteilung verhängnisvoll. Letztlich macht es Ricardo sogar plausibel, daß es dem größten Glück der Armen dienen würde, wenn diese von den Armengesetzen befreit

502 Vgl. Myrdal, G., Element, 1976, S. 114f.503 Bereits Malthus war bei seiner Analyse des Bevölkerungsproblems zu der Ansicht gelangt, daß das Wachstum der Bevölkerung lediglich durch „moral restraint“ eingeschränkt werden könnte, d.h. durch den freiwilligen Verzicht einer gewissen Anzahl von Bürgern auf Heirat und Zeugung. Gleichzeitig räumte Malthus ein, daß ein solches Mittel nur in einer auf Vermögensungleichheit basierenden Gesellschaft möglich sei. In einer solchen Gesellschaft werden Malthus zufolge nur diejenigen heiraten, die die Mittel dazu haben, die von ihnen gezeugten Kinder auch zu unterhalten. Die anderen werden, je nach Vermögen, die Heirat hinausschieben oder ganz auf die Heirat verzichten. Dazu muß nach Malthus die Armenfürsorge abgeschafft werden. Malthus entwickelte ausführlich den an sich einfachen Gedanken, daß die „Armengesetze“ ihrem eigentlichen Zweck entgegenwirken würden. Statt das Elend zu mildem, würden sie es vermehren, indem sie auch denen, welche kein dafür ausreichendes Einkommen hätten, die Möglichkeit gäben, Kinder zu haben und wenigstens einige davon am Leben zu erhalten; diese würden dann ihrerseits Familien gründen, die einem ähnlichen Dasein fristen müßten. Vgl. Denis, H., Geschichte, 1985, S. 237ff.5MRicardo, D., Grundsätze, 1923, S. 95.

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würden; gerade die Rücksichtnahme auf das größte Glück der Armen habe ihn zur Forderung nach Beseitigung des Armengesetzes geführt.505 So kommentiert Ricardo:

"Die Armengesetze dienen nicht, wie es die Gesetzgebung in wohlwollender Weise beabsichtigte, dazu, die Lage der Armen zu heben, sondern die der Reichen wie der Armen zu verschlechtern."506

Daß Ricardo sich gegen jegliche Umverteilung ausspricht, kommt letztlich auch anhand seiner Definition der Staatstätigkeit zum Ausdruck, die er dahingehend begreift, daß die Wahrung der Eigentumsrechte eine wesentliche Aufgabe einer guten Regierung ist.507 Nach Auffassung Ricardos können nur die Ärmsten der Armen auf die Idee kommen, das Eigentum teilen zu wollen; wer nur ein wenig Vermögen besitzt, kann nicht wünschen, daß eine allgemeine Teilung Platz greifen soll, denn damit würde das Eigentum unsicher. Selbst wenn er durch die Teilung reicher würde, so hätte er doch in Wirklichkeit Nachteile, die Aussicht auf künftigen Gewinn wäre geringer, die Erwartung, von seinem Besitz, von seinen Fähigkeiten Nutzen zu ziehen, würde enttäuscht sein.508

Mit dem gleichen Argument richtet sich Ricardo auch dagegen, den Armen das Wahlrecht zuzugestehen, da sie seiner Ansicht nach nur wenig Verständnis für das Eigentumsrecht besitzen. Letztlich gesteht Ricardo nur denjenigen das Wahlrecht zu, die sich nicht für eine Umverteilung des Eigentums aussprechen, ein Argument, das im wesentlichen auch Benthams Plädoyer gegen das Wahlrecht der Annen entspricht.509

505 Vgl. Briefs, G., Untersuchungen, 1915, S. 239.506 Ricardo, D., Grundsätze, 1972, S. 90.507 Als Ziel jeder Staatstätigkeit definiert Ricardo im Einklang mit Jeremy Bentham das Glück des Volkes: „Bei einer Untersuchung der Mttel, zu einer guten Regierung zu gelangen, dürfen wir uns nicht auf die Frage beschränken, ob die parlamentarische Reform dem König, den Lords oder den Commons Gefahr bringen könnte oder nicht. Wir müssen unverwandt auf das Ziel aller Regierung blicken, welche das Glück des Volkes ist.“ Ricardo, D., Letters to Hutches Trower and others, 1899, S. 67.508Vgl. Briefs, G., Untersuchungen, 1915, S. 237.509Auch in seinen sonstigen politischen Auffassungen gilt D. Ricardo als enger Anhänger Benthams; auch er tritt für die Grundforderungen der Philosophischen Radikalen ein. SoRicardo: „Von allen Klassen der Gesellschaft ist das Volk allein daran interessiert, gut regiert zu werden... Wenn wir daher ein vom Volk gewähltes Unterhaus erhalten könnten, ... so könnten wir eine Volksvertretung haben, deren einziger Beruf und Aufgabe es wäre, eine gute Regierung aufrechtzuerhalten.“ Ricardo, D., Observations on Parliamentary Reform, 1846, S.554.

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Ricardo als Realpolitiker hält lediglich eine allmähliche Ausdehnung des Wahlrechts für realisierbar. Er war der Auffassung, daß die Besitzlosen zunächst größere politische Bildung haben müßten, um das Wahlrecht richtig anwenden zu können; er fürchtete, daß sie sonst demagogischen und utopistischen Bestrebungen anheim fallen könnten, die in ihren Folgen gerade den arbeitenden Klassen am schädlichsten wären.510 Daß ihm bei seinen Ideen über das Wahlrecht das Wohl der unteren Volksschichten am Herzen lag, geht auch daraus hervor, daß Ricardo für geheime Stimmabgabe eintrat, da sonst von den Arbeitgebern und Besitzern ein Druck auf die Arbeiter ausgeübt werden würde, und dadurch Sonderinteressen und nicht die Interessen der großen Masse des Volkes vertreten wären.511

510 Vgl. Diehl, K., Erläuterungen, 1905, S. 467.511 Insbesondere Bentham war erfreut darüber, daß Ricardo sich mehr und mehr seinen Ansichten zur Wahlrechtsreform anschloß, wenn er auch nicht für das allgemeine Wahlrecht eintrat. Bentham war es schließlich auch, der sich darum bemühte, Ricardo einen Parlamentssitz zu verschaffen. Vgl. Diehl, K., Erläuterungen, 1905, Bd.2, S. 468f.

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6. Kapitel: John Stuart Mill - Die Weiterentwicklung des Utilitarismus im 19. Jahrhundert

6.1 Biographische Daten

John Stuart Mill ( 1 806-1873) wurde im Jahre 1806 als Sohn des bereits dargestellten Nationalökonomen, Psychologen und Historikers James Mill geboren.512 Bis zur Erreichung des Erwachsenenalters stand er unter dem beherrschenden Einfluß seines Vaters und dessen Freundes Jeremy Bentham.

Nach Auffassung seines Sohnes John Stuart war James Mill ein einschüchtemder Mann von moralischer Integrität, Intelligenz und Willenskraft, aber trotz des in der Theorie vertretenen Hedonismus ohne eigentliches Verständnis fur die affektive Seite des Menschen. Im Gegensatz zu Benthams oberflächlichem Optimismus war er von der Allgegenwärtigkeit des Leidens und des Übels überzeugt.513 James Mill war für seinen Sohn John Stuart eine übermächtige Vaterfigur, auf die er sein Leben lang fixiert blieb. So brachte John Stuart es fast nie über sich, eine der vom Vater vertretenen Theorien zu verwerfen, auch wenn sie noch so sehr im Widerspruch mit den von ihm selbst vertretenen Theorien standen.

Für James Mill, den Assoziationspsychologen, der davon durchdrungen war, den Menschen gemäß Helvetius Satz "L'éducation peut tout" durch geeignete Konditionierungsprozesse in beliebiger Weise formen und verbessern zu können, bestand die praktische Umsetzung seiner Theorie in einem in der Geschichte einmaligen pädagogischen Experiment, dem er seinen ältesten Sohn unterwarf und

512 So leitet John Stuart Mill seine Autobiographie mit folgenden Worten ein: „Ich wurde am 20. Mai 1806 als ältester Sohn von James Mill, dem Verfasser der Geschichte von „British Indien“ geboren.“ Mil, J.St., Autobiographie, 1873, S. 26.513 So äußert J.St. Mill sich über seinen Vater:....Obwohl den Freuden des Lebens nichtunzugänglich, (war er) der Auffassung, daß nur sehr wenige von ihnen den Preis wert sind, der zumindest im gegenwärtigen Zustand der Gesellschaft dafür bezahlt werden muß. ... Für leidenschaftliche Gefühle aller Art und alles, was zu ihrer Verherrlichung gesagt und geschrieben worden ist, hatte er nur die allergrößte Verachtung übrig. Für ihn waren sie eine Form von Wahnsinn. „Intensiv“ war in seinem Munde ein Wort der verachtungsvollen Mißbillligung.“ Mil, J.St., Autobiographie, 1873, S. 54f.

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dessen Schilderung in der "Autobiographie" dieses Werk zu einem der berühmtesten Quellentexte in der Geschichte werden ließ.

Als Schotte war James Mill skeptisch gegen die englischen Schulen und Universitäten eingestellt und nahm daher die Erziehung seines Sohnes ganz seihst in die Hand, wobei er diesen dazu anhielt, seine neuerworbenen Kenntnisse als jugendlicher Lehrmeister an seine jüngeren Geschwister weiterzugeben. Den Lernerfolg seines Sohnes überprüfte er nicht an dem, was dieser selbst, sondern an dem, was seine Geschwister wußten.514

Wie Rousseaus Emile, wurde Mill von seinem Vater gegen alle äußeren und möglicherweise schädlichen Einflüsse abgeschirmt. Außer mit den Freunden des Vaters, die mit dem jungen Mill bald Fachgespräche wie mit einem Kollegen fuhren konnten, hatte Mill keine Kontakte. Bis zum Alter von siebzehn Jahren, in dem er in die East India Company eintrat, war Mill eine fest in den Bahnen Bentliams denkende "reasoning machine” geworden, die in der von Mill 1822 gegründeten "Utilitarian Society" und in zahlreichen Artikeln in dem Veröffentlichungsorgan der Philosophischen Radikalen, der von Bentham begründeten "Westminster Review", die utilitaristische Philosophie Benthams verfocht.

Der augenscheinliche Erfolg von James Mills Erziehungsexperiment wurde zu einem hohen Preis erkauft. So erlahmte Mills Begeisterung für utilitaristische Ideen, als er herausfand, wie wenig emotionale Befriedigung die Dinge, fur die er herangebildet war, boten. Die Bildung des Kopfes war der des Herzens weit vorausgeeilt und hatte diese schließlich im Keim erstickt. Als Mill im Alter von zwanzig Jahren von seiner "geistigen Krise", einer tiefen und Monate dauernden Depression, die zusätzlich durch Überarbeitung gefordert wurde, ereilt wurde, war er seiner plötzlich aufbrechenden, bisher künstlich zurückgedrängten Emotionalität hilflos ausgeliefert. Seine gesamte

514 Mit drei Jahren begann John Stuart Mil Griechisch zu lernen, indem er griechisch­englische Wörterlisten auswendig lernte. Die ersten Bücher, die John Stuart Mill las, waren Äsops Fabeln und Xenophons Anabasis im Original. Mit acht Jahren kamen Latein hinzu, daneben Mathematik und Naturwissenschaften, mit zwölf Nationalökonomie, so daß er, wie er später sagte, „mit einem Vorsprung von einem ganzen Vierteljahrhundert vor seinen Zeitgenossen ins Leben ging.“ Vgl. Mil, J.St., Autobiographie, 1873, S. 43.

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Erziehung war auf die Bewältigung intellektueller Probleme ausgerichtet gewesen; emotionale Probleme waren nicht einmal dem Namen nach vorgekommen.515

Die "geistige Krise" wurde zu einem Wendepunkt in Mills philosophischer und persönlicher Entwicklung. Durch die Zuwendung zu den Romantikern, insbesondere der sentimentalen Naturromantik Wordsworths und der Heroenverehrung Carlyles gewann Mill erstmals Einblick in die Vielfältigkeit menschlichen Fuhlens und Wollens.516

Der unmittelbare Anstoß, der von dieser Entdeckung ausging, war, daß Mill sich seiner eigenen geistigen Bildung zuwandte, da sie zumindest die gleiche Bedeutung hatte wie der Kampf um materielle Genüsse. In dieser Zeit nimmt Mill eine Reihe wichtiger Anregungen auf. Von Coleridge lernt er die soziale Bedeutung althergebrachter Institutionen und Traditionen zu verstehen; die Saint-Simonisten verhelfen ihm zu der Einsicht in die Notwendigkeit eines nicht nur kritischen, sondern auch konstruktiven Denkens. 517

Wordsworth wurde von Mill 1828 entdeckt, und im nächsten Jahr mündeten Meinungsverschiedenheiten über dessen Verdienst in eine offene Auseinandersetzung, in der Mill sich zum ersten Mal gegen die jungen Utilitaristen stellte. Danach schloß er sich enger an Coleridges Schüler Maurice und Sterling an. Es folgte eine Periode

515 Vgl. de Marchi, Neil, John Stuart Mill, 1989, S. 270.516 Die Veränderungen, die die Entwicklung der wissenschaftlichen Erkenntnis im philosophischen Bereich hervorrief, gaben auch in England Anstoß zu einer reaktionären und konservativen Bewegung, die darauf gerichtet war, die Individualität und die Selbstbeobachtung wieder in ihre Rechte einzusetzen. Mit Carlyle und Coleridge machte sich eine Einstellung bemerkbar, die durch Aufgeschlossenheit gegenüber gewissen Motiven der Philosophie des deutschen Idealismus charakterisiert war. Charakteristisch ist u.a. der von Thomas Carlyle kultivierte Persönlichkeits- und Heldenkult. Vgl. Aster, E., Geschichte, 1932, S. 351.517 Samuel Taylor Coleridge (1772-1834) ist Romantiker; er steht der wissenschaftlichen Rationalität kritisch gegenüber und sucht in dichterischer Weise nach einer Synthese von Wissen und Glauben. Im Denken Samt-Simons herrscht die Idee einer umfassenden Sozialreform vor. Er sah die Entstehung einer neuen Ordnung voraus und betonte, daß sich eine solche nur verwirklichen lasse, wenn Männer der Wissenschaft und Großindustrielle die Führung der Gesellschaft übernähmen. Die Ideen Saint-Simons bilden die unmittelbare Vorstufe zu positiven Philosophie Auguste Comtes. Vgl. Poggi, S., Röd, W., Die Philosophie der Neuzeit 4, S. 22ff.

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bitterer Reaktion gegen den engstirnigen Rationalismus, vor dem er sich auf der Flucht sah.518

Von bleibendem Einfluß auf Mills Denkweise wird insbesondere der Positivismus Comtes, mit dem Mill seit 1841 regelmäßig korrespondiert und mit dem er sich 1865 in seiner Schrift "Auguste Comte und der Positivismus" abschließend auseinandersetzt. Nach anfänglicher Begeisterung für den "Cours de Philosophie Positive" stand Mill später insbesondere den totalitären Zügen des von Comte entworfenen technokratischen Herrschaftssystems kritisch gegenüber.319 Mill übernahm die Idee der Führung durch "savants" und die Sicht der Geschichte als Abfolge kritischer und harmonischer Perioden von Auguste Comte und behandelte sie seinerseits in einer Abfolge von Essays, die unter dem Titel "The Spirit of the Age" veröffentlicht wurden.520

Mills endgültige Abwendung vom klassischen Utilitarismus dokumentiert sich in seinen Essays "Remarks on Bentham s Philosophy" (1833) und "Bentham" (1838). Indem Mill sich vom einseitig hedonistischen Menschenbild des 18. Jahrhunderts lossagt, hebt er die ethische Diskussion um den Utilitarismus auf die Stufe von logischer und anthropologischer Differenziertheit, auf der sie sich bis heute bewegt. Obwohl Bentham mit seiner zergliedernden, anatomisierenden Methode zum ersten Mal Präzision des Denkens in die Philosophie der Moral und der Politik in die ökonomische Wissenschaft eingeführt habe und die Rechtsphilosophie, die er als ein Chaos vorfand, als eine Wissenschaft zurücklasse, habe er, statt von semen Widersachern zu lernen und seine moralische Phantasie durch das Verständnis

518 Vgl. de Marchi, Neil, John Stuart Mill, 1989, S. 271.519 Comte hatte daraufhingewiesen, daß im gegenwärtigen Übergangszeitalter der Widerstreit zweier entgegengesetzter Tendenzen eine Krise heraufbeschworen hatte. Die Herrscher hatten nach Auffassung Comtes lediglich die auf Anarchie hinauslaufenden Tendenzen gesehen und nicht bemerkt, daß sich auf diese Art und Weise eine neue Gesellschaft entwickle. Das Volk lehne seinerseits die Herrscher ab, erhebe aber zu Unrecht die individuelle Vernunft zur höchsten Staatsgewalt, wodurch die Entfaltung eines Systems allgemeiner Ideen verhindert werde, ohne das jedoch keine Gesellschaft bestehen könne. Das Volk, so argumentierte Comte, müsse lernen, daß konstitutionelle Reformen sich nur mit den praktischen Aspekten gesellschaftlicher Einrichtungen befaßten, wogegen die Bestimmung von Ziel und Richtung der neuen Gesellschaft vorher bedacht werden müsse. Diese geistige Arbeit müsse bei den „savants“ liegen, einer neuen Klasse von Männern, der Bildung alle Bereiche der positiven Wissenschaft umfasse. Vgl. Aster, E., Geschichte, 1980, S. 339ff.520 Vgl. de Marchi, Neil, John Stuart Mill, 1989, S. 271.

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entgegengesetzter Denkweisen zu bereichern, seine Borniertheit zum Maßstab der Wahrheit gemacht und alles, was ihr nicht gemäß war, als Selbsttäuschung abgetan.521

In Anlehnung an James Mill und J. Bentham bleibt auch John Stuart Mill der intuitiven Erkenntnis gegenüber skeptisch. Was den älteren wie auch den jüngeren Mill an der utilitaristischen Ethik anzog, war, daß sie versprach, sowohl den Relativismus als auch den Intuitionismus in der Ethik zu überwinden.522 Der Intuitionismus war für Mill eine gefährliche und abwegige Theorie, die die Menschen in der Illusion bestärkte, daß das, woran sie fest und unerschütterlich glauben, auch wahr sein müsse.

Der Utilitarismus versprach demgegenüber, das Chaos der miteinander unvereinbaren, aber gleichermaßen als intuitiv gewiß ausgegebenen moralischen Wahrheiten durch eine Ethik zu ersetzen, die moralische Nonnen nicht einfach als schlechthin intuitive Gewißheiten der Begründungspflicht entzog, sondern sie der Überprüfung, Kritik und Revision anhand der individuellen und kollektiven Entscheidung unterwarf. Nur die Erfahrung erlaubt es letztlich, darüber zu urteilen, welche Typen von Handlungen dazu tendieren, uns selbst und andere glücklich zu machen.

Benthams Lust-Unlust-Psychologie, nach der der Mensch als unverbesserlicher Egoist außer seiner eigenen Lust nichts zu erstreben vermag, setzt Mill eine reichere Anthropologie entgegen. Nach ihr ist der Mensch sehr wohl dazu fähig, moralische Vollkommenheiten und Ideale um ihrer selbst willen zu erstreben und an sich und andere einen Maßstab anzulegen, der nicht nur die Glücks- und Unglücksfolgen einer Handlung, sondern auch ihre edle Gesinnung, Würde und moralische Schönheit berücksichtigt.

Seine beiden Hauptwerke verfaßte Mill in der Periode zwischen 1840 und 1850, eine Periode, die vor allem durch die enge seelische Verbindung Mills zu seiner späteren Frau Harriet Taylor bestimmt war: 1843 erschien sein philosophisches Hauptwerk, das "System der Logik", 1848 brachte er sein ökonomisches Hauptwerk, die "Principles", heraus. Mill verfaßte seine Werke immer neben seiner Arbeit in der East India Company. Dort war John Stuart Mill insgesamt 35 Jahre lang tätig. Zuletzt

Vgl. Bimbacher, D., John Stuart Mill, 1981, S. 137. 522 Vgl. Bimbacher, D., John Stuart Mill, 1981, S. 140.

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bekleidete er dort die Position des Chefs des Examiner's Office, in der er für die gesamte Korrespondenz mit Indien verantwortlich war.523

Im Rahmen seiner Erkenntnistheorie lehnt sich John Stuart Mill an die empirische Erkenntnistheorie seiner Vorgänger an. Auch John Stuart Mill will nur in den augenblicklichen Wahrnehmungen das positiv Gegebene sehen. Seiner Auffassung nach gibt es weder objektive Wesenheiten noch zeitlose Geltungen, noch aprioristische Inhalte oder Tätigkeiten des Verstandes. Was die Wissenschaft verarbeitet, ist ausschließlich Erfahrungsmaterial, ihre Methode besteht deshalb notwendigerweise in der Induktion.524 Mill wird zum Vater der induktiven Logik; sie ist bei ihm die Wissenschaftslehre.525

Nach seinem Rückzug aus der East India Company widmete sich Mill ausschließlich dem Schreiben. Nacheinander erschienen "On Liberty", "Thoughts on Parliamentary Reform" und "Dissertations and Discussions" (1859), dann "Considerations on Representative Government" und "Utilitarism" (1861); 1865 folgten "An Examination

In die 1830er Jahre fallen auch ein Großteil der politischen Aktivitäten Mills. Während dieser Periode war es Mills Hauptwunsch, die Radikalen zu einer unabhängigen dritten Partei im englischen Parlament zu machen. Gemäß seiner politischen Philosophie, die von Coleridge und Comte beherrscht war, glaubte er, daß zwei große umfassende Mächte die Szene beherrschte, die des Beharrens und des Fortschritts, die in etwa durch die Aristokratie (Tories und Whigs) und das Volk repräsentiert seien. Um die Kräfte der Avantgarde zu vereinigen, war John Stuart Mill bereit, mit all denjenigen zusammenzuarbeiten, deren unmittelbare Refortnziele ihm akzeptabel erschienen, obwohl seine persönlichen Hauptziele die Ausdehnung des Wahlrechts und die geheime Wahl waren. Vgl. dazu die ausführliche Studie von Joseph Hamburger: Intellectuals in Politics, John Stuart Mill and the Philosophical Radicals London 1955.524 Seiner Methode entsprechend äußert sich Mil in Anlehnung an den Positivismus Comtes und den späteren Neopositivismus des Wiener Kreises dahingehend, daß idealerweise alle Einzelwissenschaften zu einer Einheitswissenschaft vereinigt werden sollten. Auch wenn im Detail beträchtliche, durch die unterschiedlichen Erkenntnisgegenstände bedingte Unterschiede in der Methodologie bestehen bleiben, soll sich die Methode der Psychologie und der Sozialwissenschaft doch in ihrer Struktur durch nichts von der der Naturwissenschaften unterscheiden. So Mill: „Der Rückständigkeit der moralischen Wissenschaften kann man nur dadurch abhelfen, daß man auf sie die gebührend erweiterten und verallgemeinerten Methoden der Naturwissenschaft anwendet.“ Mill, J.St., Logik, 1968, S. 150.

Mils tiefergehende Beschäftigung mit methodologischen Fragen reicht bereits bis in die zwanziger Jahre des 18. Jahrhunderts zurück; jedoch wurde sein philosophisches Hauptwerk,„ A System of Logic, Ratiocinative and Inductive, being a Connected View for the Principles and the Methods of Scientific Investigation“ erst 1843 veröffentlicht. Mills „Logik“ wurde bald nach ihrem Erscheinen zum anerkannten Lehrbuch an englischen Universitäten. Mill verdrängte damit die Vormachtstellung von William Whewell, dessen „History of the Inductive Sciences“ 1837 erschienen war. Vgl. Poggi, S.; Röd, W., Die Philosophie der Neuzeit, Bd. 4, 1989, S. 40ff.

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of Sir William Hamilton s Philosophy" sowie "Auguste Comte and Positivism". 1873 starb Mill in Avignon.

6.2 Die naturrechtsphilosophische Position

Entsprechend seiner utilitaristischen Grundhaltung nimmt Mill eine ablehnende Haltung gegenüber dem Naturrecht ein. Der Schlüsselbegriff der intuitionistischen Ethik, Rechtsphilo Sophie und Politik, von dem Mill sich unbedingt distanzieren möchte, ist der Begriff Natur, verstanden als ein normativer Begriff moralischer Nonnalität und seine begrifflichen Verwandten "Naturrecht", "natürlich", "naturwidrig" und andere Begriffe, durch die die Natur zur Basis moralischer Bewertung und Normierung gemacht wird.

Die Argumentation, mit der Mill auf diese Art und Weise "naturalistische" Moralbegriffe in seinem Essay "Nature", dem ersten der "Tluee Essays on Religion" (1874) attackiert, darf als wahres Kabinettstückchen analytischer Moralphilosophie bezeichnet werden, das im übrigen für die Gegenwart, in der die Rechtsphilosophie weiterhin von Naturrechtskonstruktionen und die Alltagsmoral von Normen des "Natürlichen" beherrscht wird, unvermindert aktuell ist.526

In seinem Essay "Nature" stellt Mill zunächst die Frage, ob der Begriff "Natur" von denjenigen Philosophen, die ihn zu einem moralischen Kriterium erheben, in einem beschreibenden oder einem vorschreib enden Sinne verwendet wird.527 In einem vorschreibenden Sinne kann "Natur" oder "natürlich" nach Auffassung von Mill nicht verstanden werden, da die Handlungsanweisung, der Natur zu folgen, sinnlos ist: Gleichgültig, wie der Mensch handelt, er kann nicht anders als der Natur gehorchen,

526 Vgl. Bimbacher, D., John Stuart Mil, 1981, S. 149.527 Als beschreibender Begriff kann „Natur“ nach Auffassung Mils nur zweierlei bedeuten,entweder die Gesamtheit der Dinge - die gesamte Welt einschließlich des Menschen, seines Wollens und Handelns; oder aber die Gesamtheit der Dinge, wie sie wären, wenn es denMenschen nicht gäbe. Dazu kommentiert Mill: „In einem Sinne bedeutet Natur alle in deräußeren und inneren Welt vorhandenen Kräfte, und alles, was vermöge dieser Kräftegeschieht. In einem anderen Sinne bedeutet es nicht alles, was geschieht, sondern nur das, was ohne die Mtwirkung oder ohne die freiwillige und absichtliche Mitwirkung des Menschen geschieht.“ Mill, J.St., Nature, 1874, S. 8.

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da er selbst, insofern er ein Teil der Natur ist, irgendwelchen Naturgesetzen - physikalischen und psychologischen - gehorcht. Dazu äußert sich Mill:

"Diejenigen, die behaupten, wir sollten gemäß der Natur handeln, ... glauben, daß das Wort Natur ein äußeres Kriterium dessen biete, was wir tun sollten; und wenn sie als eine Regel für das, was sein sollte, ein Wort niederlegen, welches in seiner eigentlichen Bedeutung das, was ist, bezeichnet, so tun sie es, weil sie sich dabei entweder deutlich oder undeutlich vorstellen, daß das. was ist, die Regel und den Maßstab für das, was sein sollte, bildet."528

Durch die Beobachtung der Natur der Dinge kann der Mensch diese zwar an sich nicht ändern, jedoch kann er durch die intelligente Benutzung seiner Erkenntnis sich eines ganz bestimmten Naturgesetzes bedienen, um einem anderen entgegenzuwirken.529 Grundsätzlich vollzieht sich der Kampf gegen die materielle Natur unter den heftigsten Verwünschungen des spontanen Naturverlaufs.530 Da der materielle Weltgang voll ist von Ungeheuerlichkeiten, die kein Mensch ungestraft verüben dürfte, können die Kräfte der Natur letztlich nur insofern als heilbringend angesehen werden, als sie uns zum Versuche zwingen, ihrer Herr zu werden. Es ist nämlich so,

"daß die Ordnung der Natur, soweit der Mensch sie nicht geändert hat, eine derartige ist, wie kein Wesen, dessen Eigenschaften Gerechtigkeit und Wohlwollen sind, sie mit der Absicht gemacht haben würde, daß seine vernünftigen Geschöpfe ihr als Beispiel folgen sollten."531

Was die moralischen Regulative der Gesellschaftsordnung betrifft, so sind sie nach Mills Auffassung sämtlich künstlich. Nicht die Natur, wie sie sich gibt, darf somit das Vorbild des Menschen sein, sondern die künstlich vervollkommnete menschliche

528 Mill, J. St., Nature, 1874, S. 13.525 Vgl. Saenger, S., John Stuart MU, 1901, S. 190.530 Dabei verletzt der spontane Naturverlauf in unzähligen Fällen den moralischen Sinn des Menschen; er nimmt sich wie eine absichtliche „Verhöhnung von Recht und Billigkeit“ aus. Vgl. Saenger, S., John Stuart Mill, 1901, S. 192.531 Mill, J.St., Nature, 1874, S. 25.

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Natur der edelsten menschlichen Wesen ist die einzige Natur, welcher zu folgen empfehlenswert erscheint.532

Letztlich kann die Aufgabe des Menschen nicht darin bestehen, die Natur nachzuahmen, sondern nur darin, mit den wohltätigen Naturmächten zusammenzuarbeiten, um die äußere Natur - und gleichzeitig die Natur des Menschen selbst - im Sinne eines kulturellen, vom Menschen gesetzten Maßstabs zu verbessern.513 Demzufolge lehnt Mill auch die Vorstellungen einer natürlichen Gerechtigkeit ab. Eine Übereinstimmung mit der Natur hat durchaus nichts mit Recht und Unrecht zu tun. Grundsätzlich kommt für Mill das Naturrecht als Quelle des Rechts nicht in Betracht.534

"Ich glaube jedoch, daß das Gerechtigkeitsgefühl völlig künstlichen Ursprungs ist, denn die Vorstellung einer natürlichen Gerechtigkeit geht nicht jener der herkömmlichen voraus, sondern folgt ihr. Je weiter man in die frühen Denkweisen der Menschheit zurückblickt, ...desto vollständiger findet man die Gerechtigkeitsvorstellungen der Menschen durch die ausdrückliche Festsetzung des Gesetzes bestimmt und begrenzt. ... Die Vorstellung einer höheren Gerechtigkeit, der die Gesetze selbst unterworfen sind und durch welche das Gewissen ohne eine positive Gesetzesvorschrift gebunden ist, ist eine spätere Ausdehnung der Vorstellung, die durch die Analogie der gesetzlichen Gerechtigkeit an die Hand gegeben wurde und ihr folgte."535

532 Vgl. Saenger, S., John Stuart Mill, 1901, S. 193.533 Dazu sagt John Stuart Mill: „Die Pflicht des Menschen besteht darin, mit den wohlwollenden Kräften zusammenzuarbeiten, nicht dadurch, daß er den Lauf der Natur nachahmt, sondern ihn beständig zu verbessern strebt - und den Teil von ihr, über den wir eine Kontrolle ausüben können, in bessere Übereinstimmung mir einem hohen Maßstab der Gerechtigkeit und Güte bringt.“ Mill, J.St., Nature, 1874, S. 65.534 Positive Gesetze sind nach Mils Auffassung prinzipiell von Naturgesetzen, d.h. von den Gleichförmigkeiten des Zusammenbestehens oder der Aufeinanderfolgen in den Phänomenen des Universums zu unterscheiden. Dies läßt sich aus der Tatsache ableiten, daß das Wort „Gesetz“ zwei unterschiedliche Bedeutungen hat, in deren einer es einen bestimmten Teil dessen, was ist, in deren anderer dessen, was sein sollte, bezeichnet. Zu ersterem gehört z.B. das Gravitationsgesetz, zu letzterem „das Strafgesetz, das Zivilgesetz, das Gesetz der Ehre, das Gesetz der Wahrhaftigkeit, das Gesetz der Gerechtigkeit, welche sämtliche Teile dessen sind, was sein sollte, oder dessen, was jemand hinsichtlich dessen, was sein sollte, meint, fühlt oder empfiehlt.“ Mil, J.St., Nature, 1874, S. 14.535 Mil, J.St., Nature, 1874, S. 52f.

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6.3 Die utilitaristische Position

Auch John Stuart Mill ist zunächst vom Benthamschen Utilitarismus völlig belegt. Mill lernt den Utilitarismus im wesentlichen durch seinen Vater, der eng mit Jeremy Bentham befreundet war, kennen. John Stuart Mill las Bentham erstmalig 1821 im Alter von 15 Jahren nach der Rückkehr von einem einjährigen Frankreichaufenthalt. Seine Eindrücke beschreibt er dabei in seiner Autobiographie folgendermaßen:

"Ich fühlte mich auf eine Höhe gestellt, von der aus ein endloses geistiges Gebiet mit unberechenbaren Ereignissen sich vor mir aufrollte, und im Verlauf gesellten sich zu der intellektuellen Klarheit die ermutigendsten Aussichten auf eine praktische Verbesserung der menschlichen Angelegenheiten... Als ich den letzten Band des "Traité" niederlegte, war ich ein anderer Mensch. Das Nützlichkeitsprinzip bildete nun den Schlußstein, der alle die abgerissenen fragmentarischen Teile meines seitherigen Glaubens und Wissens zusammenhielt, und verlieh meinen Vorstellungen von den Dingen eine Einheit. Ich hatte jetzt Ansichten, einen Glauben, eine Doktrin, eine Philosophie und ... eine Religion, deren Predigt und Verbreitung zur äußeren Hauptaufgabe eines Lebens gemacht werden konnte."536

Fast unmittelbar darauf gründete Mill eine Diskussionsgruppe, die Utilitaristische Gesellschaft, deren Mitglieder Malthusianismus, Stimmrecht, Rationalismus des sittlichen Verhaltens und Assoziationspsychologie auf ihre Fahnen schrieben.537 Sie wollten es den französischen Philosophen des 18. Jahrhunderts gleichtun und hofften sogar, ihre Modelle des Strebens nach dem allgemeinen Glück zu verwirklichen.

Auch den Einflüssen der Assoziationspsychologie war John Stuart Mill bereits in seiner frühesten Jugend ausgesetzt. Nach der Lektüre von John Lockes "Essay on Human Understanding" (1690) und Claude-Adrien Helvétius "De l'esprit" gab ihm

536 Mill, J.St., Autobiographie, 1873, S. 68,537 Vgl. de Marchi, Neil, John Stuart Mill, 1989, S. 270.

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sein Vater David Hartleys "Observations on Man, his Frame, his Duty, and his Expectations" (1749) zu lesen.538

Nach seiner geistigen Krise entwickelt Mill eine distanzierteres Verhältnis zum Utilitarismus Jeremy Benthams und seines Vaters. Mill befaßt sich bereits zwei Jahre nach dem Tod seines Vaters ausführlicher mit Bentham in seinem Essay "Bentham" (1838). Dort legt er die Unzulänglichkeiten der Benthamschen Doktrin offen. Mill zählt Bentham zu den "negativen und zerstörenden Philosophen, unter denen, welche zu erkennen vermögen, was falsch, aber nicht, was wahr ist, die den menschlichen Geist zu dem Gefühl der Widersprüche und Ungereimtheiten herkömmlicher Meinungen und Institutionen erwecken, aber nichts an die Stelle dessen setzen, was sie wegnehmen.1,539 So verkenne Bentham die Existenz von Begriffen wie "Gewissen", "Selbstachtung" sowie "Ehre und persönliche Würde".

"Den Menschen erkennt er nie als ein Wesen an, daß fähig ist, geistige Vollkommenheit als einen Endzweck anzustreben. ... Auch das Streben nach einem anderen idealen Ziel um seiner selbst willen erkennt er kaum als eine Tatsache in der menschlichen Natur an.“540

Diesen Gedanken fuhrt Mill zwanzig Jahre später in seinem Essay "Utilitarianism" (1861) fort; dieser erschien 1861 in mehreren Folgen in Frazer's Magazine und wurde 1863 in Buchform zugänglich gemacht.541

Der Utilitarismus ist auch bei John Stuart Mill durch zwei Grundprinzipien charakterisiert. Erstens, daß sich die moralische Richtigkeit einer Handlung an den wahrscheinlichen Folgen dieser Handlung bemißt, wobei neben den beabsichtigten Folgen auch die indirekten und Nebenfolgen zu berücksichtigen sind; zweitens, daß

538 Dazu bemerkt John Stuart Mill in seiner Autobiographie: „Obschon diese Schrift nicht wie der „Traité de Législation“ eine neue Färbung verlieh, macht sie doch einen ähnlichen Eindruck auf mich im Hinblick auf den unmittelbaren Gegenstand. So unvollständig auch Hartleys Erklärung der verwickelteren Geistesphänomene durch das Gesetz der Assoziation in vielen Punkten ist, fand ich doch darin eine reale Analyse...“ Mill, J.St., Autobiographie,1873,S. 70.539 Mill, J.St., Bentham, Gesammelte Werke Bd. X, 1874, S. 140.540 Mill, J.St., Bentham, Gesammelte Werke, Bd. X, 1874, S. 159.541 Vgl. Wolf, J.C., Utilitaristische Ethik, 1992, S. 160.

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der Maßstab der Beurteilung der Handlungsfolgen ausschließlich im Glück und Unglück, in Lust (pleasure) und Unlust (pain) der von der Handlung tatsächlich oder möglicherweise Betroffenen besteht. Eine Handlung ist demzufolge nach utilitaristischen Kriterien dann richtig, wenn sie unter allen möglichen Handlungen diejenige ist, die fiir die Betroffenen das größte Übergewicht an Glücksfolgen über Unglücksfolgen erhoffen läßt.

"Das Glaubensbekenntnis, das als Fundierung der Ethik die Nützlichkeit annimmt ..., geht davon aus, daß Handlungen in dem Verhältnisse richtig sind, als sie dazu

neigen, das Glück zu befördern; falsch, wenn sie dazu tendieren, das Gegenteil von Glück zu erzeugen. Unter Glück ist Freude ... und das Fehlen von Leid ... gemeint; unter Unglück Leid und der Mangel an Freude. Um eine klare Ansicht der ethischen Normen, die von dieser Theorie gesetzt werden, zu geben, müßte vieles mehr gesagt werden ... Aber diese ergänzenden Erklärungen wirken nicht auf die Theorie vom Leben zurück, auf die diese Theorie der Ethik gegründet ist, nämlich daß Freude und Freiheit von Leid die einzigen, als Ziel wünschenswerten Dinge sind; und daß alle wünschenswerten Dinge ... entweder um des ihnen eigenen Vergnügens wünschenswert sind oder als Mittel zur Beförderung des Vergnügens oder zur Verhütung von Leid."542

Mit Hilfe des Utilitarismus will Mill letztlich mit dem beklagenswerten Zustand der Moralphilosophie Schluß machen und sie endlich auf den Pfad der Wissenschaft fuhren.543 Im Rahmen des Utilitarismus kann die Erfahrung letztlich sagen, welche Handlungen den Menschen glücklich machen. Nur der Utilitarismus erlaubt es, die historisch, kulturell und individuell unterschiedlichen Wertvorstellungen auf ein einheitliches, von den Utilitaristen als schlechthin rational bezeichnetes Prinzip, das Nützlichkeitsprinzip, zurückzubeziehen und alle konkreten Fragen von Richtig und Falsch, Gut und Schlecht, Wert und Unwert, der Erfahrung anheimzustellen.544

' 2 Mil, J.St., Utilitarianism, 1910, S. 6.543 Vgl. Höffe, O., Einführung, 1992, S. 22.544 In Anlehnung an Bentham läßt auch Mill keinen Zweifel daran, daß der Nutzen allein um seiner selbst willen angestrebt wird. Dazu Mill: „Vielmehr werden sie (die Freuden) an sich selbst und um ihrer selbst willen angestrebt und sind an sich selbst und um sich selbst willen erstrebenswert. Sie sind nicht nur Mittel zum Zweck, sie sind auch Teile des Zwecks.“ Mill, J.St., Utilitarismus, 1992, S. 66.

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Der Maßstab allerdings, an dem diese Erfahrungen gemessen werden, das NützlichJkeitsprinzip selbst, kann - wie Mill nicht leugnen konnte - nicht aus der Erfahrung gewonnen werden. Die Erfahrung kann immer nur Auskunft darüber geben, was Menschen tun, was sie wollen oder welche moralischen Normen sie für richtig halten, nicht aber, was sie tun sollen.545

Wenn das Nützlichkeitsprinzip selbst nicht dem Einwand ausgesetzt sein sollte, auf der Intuition zu beruhen, muß es auf eine andere Weise als durch Intuition verbindlich gemacht werden können, ohne sich andererseits auf die bloße Erfahrung zu berufen. Eben diesem Dilemma hatte Bentham aus dem Weg zu gehen versucht, indem er alle mit dem utilitaristischen nicht übereinstimmenden Standpunkte diffamierte, eine politisch, jedoch nicht philosophisch befriedigende Lösung, die Mill in seinem Essay "Bentham" kritisierte.546

Mills Versuch, das Dilemma aulzulösen, der "Beweis des Utilitarismus" im vierten Kapitel von "Utilitarismus" ist zuweilen als ein deduktiver, logisch zwingender Beweis mißverstanden und dementsprechend kritisiert worden. Aber wie Mill selbst zu Beginn seines Essays darstellt, können letzte Prinzipien nicht zum Gegenstand eines Beweises gemacht werden. So kommentiert Mill:

"Es versteht sich, daß dies kein Beweis im populären und gewöhnlichen Sinne des Wortes sein kann. Fragen nach letzten Zwecken sind eines direkten Beweises nicht fähig. Wenn von etwas gezeigt werden kann, daß es gut ist, dann nur dadurch, daß man zeigt, daß es ein Mittel zu etwas anderem ist, von dem ohne Beweis zugegeben wird, daß es gut ist.“547

Wäre ein deduktiver Beweis möglich, so würde dies lediglich zeigen, daß es sich bei dem scheinbar obersten Prinzip um ein abgeleitetes Prinzip handelt. Mills Beweis kann

545 Das Nützlichkeitsprinzip soll nach Mils Vorstellung nur in seltenen Fällen selbst handlungsbestimmend werden, in denen die Sekundärprinzipien, die sog. axiomata media, in denen sich das Nützlichkeitsprinzip konkretisiert, zu keinem eindeutigen Ergebnis führen. So Mill: „Welches Grundprinzip der Moral wir auch vertreten mögen, stets bedürfen wir untergeordneter Prinzipien, nach denen wir es anwenden können.“ Mil, J.St., Utilitarismus, 1861, S. 42.546 Vgl. Bimbacher, D., John Stuart Mil, 1981, S. 140.547 Mil, J.St., Utilitarismus, 1861, S. 8f.

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daher nur eine Art Plausibihtätsargument sein. Es stellt - wie Mill selbst sagt - Erwägungen an, "die geeignet sind, den Geist entweder zu einer Zustimmung oder Verwerfung einer Theorie zu bestimmen.1,548

Mill versucht, aus der These des individuellen Hedonismus, daß jeder nichts als sein eigenes Glück begehrt, zunächst den Mittelsatz abzuleiten, daß, wie das eigene Glück fiir jeden einzelnen ein Gut ist, das allgemeine Glück für die Allgemeinheit ein Gut sein muß, und von diesem auf das Prinzip weiterzuschließen, nach dem das Glück der Allgemeinheit das Ziel jeder Handlung, auch der Handlung des einzelnen sein soll. Mill geht zunächst von der Prämisse des egoistischen Hedonismus aus und formuliert diese folgendermaßen:

"Fragen nach Zwecken sind (mit anderen Worten) Fragen danach, welche Dinge wünschenswert sind. Der Utilitarismus sagt, daß Glück wünschenswert ist, daß es das einzige ist, das als Zweck wünschenswert ist, und daß alles andere nur als Mittel zu diesem Zweck wünschenswert ist."549

Aus dem egoistischen Hedonismus leitet Mill das Prinzip eines subjektiv-ethischen Hedonismus ab. Dabei leistet sich Mill einen klaren empirischen Fehlschluß: Was tatsächlich erstrebt wird, das ist auch erstrebenswert. Mit den Worten Mills:

"Der einzige Beweis dafür, daß ein Gegenstand sichtbar ist, ist, daß man ihn tatsächlich sieht. ... Ebenso wird der einzige Beweis dafür, daß etwas wünschenswert ist, der sein, daß die Menschen es tatsächlich wünschen.1,550

Im nächsten Schritt deduziert Mill aus der vorgeblichen Konklusion des subjektiv­ethischen Hedonismus das Prinzip des objektiv-ethischen Hedonismus.

"Dafür, daß das allgemeine Glück wünschenswert ist, läßt sich kein anderer Grund angeben, als daß jeder sein eigenes Glück anstrebt, insoweit er es fur erreichbar hält."551

548 MU, J.St., Utilitarismus, 1861, S. 9.549 Mill, J.St., Utilitarismus, 1861, S. 61.550 Mill. J.St., Utilitarismus, 1861, S. 60f.

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In der Form, in der Mill jedoch sein Argument vorträgt, ist es unschlüssig. Aus der Tatsache, daß für jeden einzelnen sein eigenes Glück ein Gut ist, das er erstrebt, und neben dem er möglicherweise nichts anderes erstrebt, folgt zwar, daß für die Allgemeinheit das allgemeine Glück ein Gut ist, das sie in derselben Weise erstrebt wie der einzelne sein eigenes Glück. Dies reicht jedoch keineswegs aus, um zu zeigen, daß der einzelne das Glück der Allgemeinheit erstrebt; darüber hinaus ist nicht klar, wie der einzelne nach dem allgemeinen Glück strebt, wenn als Ausgangsvoraussetzung gilt, daß jeder nur nach seinem eigenen Glück strebt. Letztlich folgt aus der von Mill angenommenen Prämisse nur, daß für jeden irgendein Teil des allgemeinen Glücks bzw. daß jeder Teil des allgemeinen Glücks für irgend jemanden gut ist.552

Mill versucht dieser Schwierigkeit dadurch zu entgehen, daß er zwischen Glück als Ziel von Handlungen und Bestandteilen des Glücks, den inhaltlichen Zielen, die von dem einzehien nicht um seines Glückes willen, sondern um ihrer selbst willen erstrebt werden und aus deren Erreichung sich das Glück gewissermaßen erst als Resultante ergibt, unterscheidet.

Mill täuscht sich nicht darüber, daß es sehr schwierig ist, glücklich zu werden, indem man geradewegs danach strebt. Dazu ist vielmehr nötig, daß die Bestandteile des Glückes zunächst unabhängig erstrebt werden. Eine solcher Bestandteil des Glückes, der um seiner selbst willen erstrebt wird, ist für Mill auch das Streben nach dem Glück der Allgemeinheit. Mill versucht in diesem Sinne, die utilitaristische Ethik mit der christlichen auszusöhnen:

"In der goldenen Regel, die Jesus von Nazareth aufgestellt hat, finden wir den Geist der Nützlichkeitsethik vollendet ausgesprochen. Die Forderungen, sich dem anderen so gegenüber zu verhalten, wie man möchte, daß er sich einem selbst gegenüber verhält, stellen die utilitaristische Moral in ihrer höchsten

5,1 Mill, J.St., Utilitarismus, 1861, S. 61.552 Vgl. Höffe, O , Einführung, 1992, S. 24f. Das 4. Kapitel von Mills "Utilitarismus“ ist dermeistdiskutierte Teil des Essays. Mills Beweis wird einmütig kritisiert. Vgl. Jones, H., Mill'sArgument for the Principle of Utility, 1978, S. 338-354.

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Vollkommenheit dar."553

In diesem Zusammenhang fuhrt Mill auch Pflichterfüllung und Tugend als wahre utilitaristische Ziele an; Tugend und Pflicht werden vor allem deshalb erstrebt, weil sie mit der Glückseligkeit als Endzweck assoziiert werden.554

Damit ist Mills Beweis jedoch keineswegs gerettet. Letztendlich besteht die Schwierigkeit, altruistische Konsequenzen aus egoistischen Prämissen herzuleiten auch dann weiter, wenn man zugibt, daß es durchaus im Interesse der eigenen Lebenserfüllung sein kann, statt des eigenen Wohls das Wohl anderer zu erstreben. Was das Nützlichkeitsprinzip fordert, ist nicht, daß es im Sinne allgemeiner Lebensklugheit ist, das allgemeine Wohl zum Ziel unseres Handelns zu machen: Dies muß vielmehr auch dann der Fall sein, wenn es den Forderungen unserer privaten Lebensklugheit widerspricht.555

Grundsätzlich verfolgt J.St. Mill in seinem Essay "Utilitarismus" (1861) das Ziel, den Gegnern des Utilitarismus entgegenzukommen, indem er zu zeigen versucht, daß die praktischen Konsequenzen des Utilitarismus sich keineswegs grundlegend von den traditionellen Prinzipien der Ethik unterscheiden. Im Rahmen dieser Zugeständnisse kommt Mill weit vom Utilitarismus Benthamscher Prägung ab. Als substantielles Zugeständnis Mills an die traditionelle Ethik ist zweifelsohne Mills Einführung eines qualitativen Lustmaßes im Gegensatz zu dem von Bentham vertretenen rein quantitativen zu werten. Nicht nur das Mehr und Weniger an Lust, Freude, Wohlbefinden und Befriedigung soll die Einschätzung der Handlungsfolgen bestimmen, sondern auch das Höher und Niedriger, das Besser und Schlechter der Lust. Nur indem er den Befriedigungen, die die höheren Fähigkeiten des Menschen ins Spiel bringen, eine vorrangige Rolle in der utilitaristischen Vorstellung vom guten Leben zuweist, glaubt Mill dem Vorwurf von konservativer Seite begegnen zu können, der Utilitarismus sei eine pig-philosophy, die die Ethik pervertiere, indem sie

553 Mill, J.St., Utilitarismus, 1861, S. 30.554 Vgl. Starbatty, J., Klassiker, 1985, S. 91.555 Vgl. Bimbacher, D., John Stuart Mill, 1981, S. 143.

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die Befriedigung niedrigster Instinkte zum alleinigen Lebenszweck erkläre.556 Dazu kommentiert Mill:

"Eine solche Lebensauffassung (die der hedonistischen Lebensphilosophie, Anm. d. Verf ) stößt bei vielen Menschen ... auf eingewurzelte Abneigung. Der Gedanke, daß das Leben keinen höheren Zweck habe als die L ust... erscheint ihnen im äußersten Grade niedrig und gemein; als eine Ansicht, die nur der Schweine würdig wäre, mit denen die Anhänger Epikurs ja schon früh gleichgesetzt wurden..."557

Insbesondere das Gefühl der Würde ist es, daß den Menschen vom Tier unterscheidet und ihn dazu befähigt, auch geistigen Vergnügen gegenüber offen zu sein. Das Gefühle der Würde wächst mit den höheren Fähigkeiten des Menschen und macht einen wesentlichen Teil der Glückseligkeit aus. Mill beschreibt es dahingehend, daß es

"allen Menschen in der einen oder anderen Weise und im ungefähren Verhältnis zu ihren höheren Aidagen zu eigen ist und das für die, bei denen es besonders stark ausgeprägt ist, einen ... entscheidenden Teil ihre Glücks ausmacht..."558

Dem Gefühl der Würde kommt das Verdienst zu, den Menschen im Maße seiner höheren Fähigkeiten zu den idealen Gütern zu leiten. Indem Mill den Menschen mit dem Gefühl der Würde ausstattet, verleiht er ihm nicht nur einen bestimmten inneren Wert, sondern auch das Bewußtsein von diesem Wert. Das Gefühl der Würde soll im Rahmen der Selbsterziehung kultiviert werden.559 Jedoch geben die Menschen sich unter dem Einfluß eines schwachen Charakters sehr leicht dem Einfluß der niederen Vergnügen hin.

Mill macht zurecht auf die verschiedenen Arten von Lust aufmerksam und wehrt vor allem den Eindruck ab, der Utilitarismus ergreife gegen wissenschaftliche, humanitäre und künstlerische Beschäftigungen Partei. So äußert er:

556 Vgl. die Kritik von Carlyle, Thomas, Latter-Day Pamphlets, London, 1850, S. 28ff.557 Mill, J.St., Utilitarismus, 1861, S. 86.558 Mill, J.St., Utilitarismus, 1992, S. 89.559 Vgl, Thieme, E., Sozialethik, 1910, S. 18,

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"Es wäre unsinnig anzunehmen, daß der Wert einer Freude ausschließlich von der Quantität abhängen sollte, wo doch in der Wertbestimmung aller anderen Dinge neben der Quantität auch die Qualität Berücksichtigung findet."560

Aufgrund der angestrebten qualitativen Differenzierung ist Mill gezwungen, verschiedene Arten der Lust zu qualifizieren. Er übernimmt das traditionelle dualistische Schema der "körperlich-geistigen Freuden" und bewertet die geistigen Freuden qualitativ höher. Wie Bentham, so bemerkt auch Mill, daß man die Überlegenheit der geistigen Freude quantitativ, nämlich durch ein höheres Maß an Dauer und Sicherheit und sowie ein geringeres Maß an Kosten erweisen kann.161

Mill geht von einer Vergleichbarkeit aus, die sich quantitativ als "mehr oder weniger stark" erstrebt interpretieren läßt; auch wenn die Bewertung der verschiedenen Freuden nicht mehr mit dem übermäßig vereinfachten Instrumentarium von Benthams hedonistischem Kalkül auskommt, steht im Hintergrund ein quantitativer Begriff.562

Mills Einführung eines qualitativen Maßstabes läßt das utilitaristische Glücksmaximierungsproblem allerdings völlig unbestimmt werden. Solange kein gemeinsamer Maßstab für Quantität und Qualität an Lust definiert ist, lassen sich Qualität und Quantität nicht miteinander vergleichen. Auch das von Mill entwickelte Entscheidungsverfahren wirft nur neue Probleme auf. Nach Mill sollen diejenigen, die mit beiden Arten der Lust vertraut sind, darüber entscheiden, welcher der beiden der Vorzug zu geben ist. Dabei zeigt sich Mill völlig davon überzeugt, daß diejenigen, die mit beiden Vergnügen vertraut sind, in jedem Fall den "höheren" den Vorzug geben würden. So äußert sich Mill:

"Es ist nun aber unbestreitbare Tatsache, daß diejenigen, die mit beiden gleichermaßen... bekannt sind, der Lebensweise entschieden den Vorzug geben, an der auch ihre höheren Fähigkeiten beteiligt sind."563

560 Mill, J.St., Utilitarismus, 1861, S. 15.561 Vgl. Höffe, O , Einführung, 1992, S. 23562 Vgl. Höffe, O., Einleitung, 1992, S. 23.563 Mill, J.St., Utilitarismus, 1992, S. 88.

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Zu den höherstehenden Freuden zählt Mill die Liebe zum Schönen, das Streben nach Ordnung, das Gefühl der Ehre und das Verlangen nach höherer Würde. Bei geistigen Freuden, so läßt sich Mill interpretieren, ist man in einem höheren Maße Mensch als bei sinnlichen Freuden, denn

"... kein intelligenter Mensch möchte ein Narr, kein gebildeter Mensch ein Dummkopf, keiner, der feinfühlig und gewissenhaft ist. selbstsüchtig und niederträchtig sein - auch wenn sie überzeugt wären, daß der Narr, der Dummkopf oder der Schurke mit seinem Schicksal zufriedener ist als sie mit dem ihren."564

Die Lustbefriedigung desjenigen ist am größten, der die geringsten Anforderungen stellt. Je höher aber die Anforderungen sind, desto eher wird auch die Erkenntnis kommen, daß jedes Glück bei der Unvollkommenheit der Welt auch unvollkommen ist. In diesem Zusammenhang differenziert Mill zwischen der Glückseligkeit und der Zufriedenheit eines Menschen, mit der eine Unterscheidung von zwei Menschentypen einhergeht.

"Es ist unbestreitbar, daß ein Wesen mit geringerer Fähigkeit zum Genuß die besten Aussichten hat, voll zufriedengestellt zu werden; während ein Wesen mit höheren Fähigkeiten stets das Gefühl haben wird, daß alles Glück, das es von der Welt, so wie sie beschaffen ist, eiwarten kami, unvollkommmen ist."565

Es ist daher sehr viel einfacher, ein Wesen mit geringerer Fähigkeit zum Genuß zufnedenzustellen, während das über höhere Fähigkeiten verfugende Wesen letztlich doch immer das Gefühl hat, daß letztlich alles Glück der Welt unvollkommen sei. Dennoch zieht Mill den wissenden Menschen dem Unwissenden vor.

Dieses Entscheidungsverfahren kann jedoch entweder nur zeigen, daß die höheren Befriedigungen lustvoller sind als die niederen - dann ist das qualitative Kriterium überflüssig - oder daß diejenigen, die die Qualität der Lust in ihrer Vorzugswahl berücksichtigen, die höheren höher schätzen als die niedrigen, womit offenbleibt, ob

564 Mill, J.St., Utilitarismus, 1975, S. 62.565 Mill, J.St., Utilitarismus, 1992, S. 89.

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die niederen den höheren womöglich nicht doch rein quantitativ überlegen sind. Darüber hinaus muß Mill zusätzlich voraussetzen, daß derjenige, der gelernt hat, die höheren Befriedigungen zu genießen, weiterhin dazu fähig ist, die niederen voll auszukosten:

"Es ist besser, ein unzufriedener Mensch zu sein als ein zufriedengestelltes Schwein; besser ein unzufriedener Sokrates als ein zufriedener Narr. Und wenn der Narr und das Schwein anderer Ansicht sind, dann deshalb, weil sie nur die eine Seite der Angelegenheit kennen. Die andere Partei hingegen kennt beide Seiten."566

Letztlich geht es Mill somit gar nicht darum, das Leben des unzufriedenen Sokrates als lustvoller darzustellen als das des zufriedenen Schweins; es geht ihm vielmehr darum, es als besser, menschenwürdiger zu erweisen. Nur Mills utilitaristische Loyalitäten hindern ihn daran, sich offen dazu zu bekennen. Vergleichen und vergleichend urteilen kann nur derjenige, der Verschiedenes kennt. Vom Tier oder vom roh-sinnlichen Menschen kann man ein solches Urteil nicht erwarten, wohl aber von dem, der denkt. Kein Mensch, der soziale und geistige Gefühle zu erzeugen fähig ist, wird gegen die größte Menge sinnlicher Genüsse die Fähigkeit solchen Fühlens eintauschen wollen. Sie bildet die Grundlage der menschlichen Würde. Mit den Worten Mills:

"Aber nicht das Urteil eines oder einiger Menschen ist maßgebend ... erst wenn von zwei Vergnügen dem einen von allen denen, die beide aus Erfahrung kennen, einstimmig ... der Vorzug gegeben wird, so sind wir sicher, daß dieses Vergnügen das qualitativ höhere und darum wünschenswertere ist."567

Was den Glücksbegriff angeht, so legt Mill bedeutend mehr Wert auf das Glück, das den Tätigkeiten entspringt im Gegensatz zu dem Glück, das aus rein passivem Genuß resultiert. Nur dasjenige Leben kann glücklich sein, in dem die Freuden, die aus Aktivitäten entspringen, ein deutliches Übergewicht über die passiven Freuden

566 Mill, J.St., Utilitarismus, 1975, S. 62567 Mill, J.St., Utilitarismus, 1869, S. 136.

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besitzen. Damit kommt Mill der Lustvorstellung des Aristoteles, nach der Lust die Vollendung einer Tätigkeit ist, von allen modernen Hedonisten am nächsten.568

Für Mill als Assoziationspsychologen stellt sich der Mensch dabei als ein Wesen dar, das unbegrenzt bildbar und vervollkommnungsfähig ist. Die Erlebnisfahigkeit des Menschen soll durch richtige Erziehung und richtige gesehschaflliche Institutionen so sehr gesteigert und auf soziale Ziele hingelenkt werden, daß individueller und kollektiver Nutzen nicht mehr notwendig auseinanderklaffen. Im Rahmen des Prozesses der Ideenassoziation gelangt das Individuum "wie selbstverständlich dazu, sich seiner selbst als eines Wesens bewußt zu werden, welches selbstverständlich auf andere Rücksicht zu nehmen hat."569

Die Ursachen dieses Prozesses sind nach Mills Aussage dreifach: Das Gefühl der Sympathie, die Einflüsse der Erziehung und die Existenz äußerer Sanktionen wirken schließlich dahingehend, daß der Mensch ein "vollständiges Gewebe schützender und kräftigender Assoziationen"570 bildet.

Die psychische Instanz, auf die Mill zunächst vertraut, ist die Fähigkeit des Menschen zur Anteilnahme an dem Wohl und Wehe der Mitmenschen, die "Sympathie". Aber anders als die Sympathie-Ethiker des 18. Jahrhunderts, zu denen auch Hume und Smith zählten, glaubt Mill letztlich nur in begrenztem Maße an die Naturgegebenheit der Sympathiegefühle. 571

"Das Verlangen nach Einheit mit unseren Mitgeschöpfen ist schon jetzt ein mächtiges 'Prinzip in der menschlichen Natur' ... Der soziale Verband ist dem

568 An die aristotelische Ethik erinnert auch das von Mill stets hervorgehobene, bei einem Hedonisten zunächst paradox anmutende Ideal des edlen Charakters, eines Menschen, der dazu erzogen worden ist, Tugend und Selbstvervollkommnung um ihrer selbst willen zu wollen und in ihnen sein Glück zu finden, ln Mills moralischer Utopie ist das Streben nach Tugend zu einer fest verwurzelten Gewohnheit geworden, daß in ihr nur dasjenige wahrhaft begehrt werden kann, was der Tugend gemäß ist. Vgl. Graeser, A., Die Philosophie der Antike, Bd.2, 1983, S. 232ff569 Mill, J.St., Utilitarismus, 1869, S. 162.570 Mill, J.St., Utilitarismus, 1869, S. 164.571 Die Sympathiegefuhle sind darüber hinaus nicht jedem Menschen zu eigen: „Dieses Gefühl steht in sehr vielen Individuen an Stärke ihren selbstsüchtigen Gefühlen bei weitem nach und fehlt sogar oft gänzlich. Für die aber, die es besitzen, hat es alle Eigenschaften eines natürlichen Gefühls.“ Mill, J.St., Utilitarismus, 1869, S. 165.

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Menschen so vertraut, so natürlich und so notwendig, daß er, ausgenommen einige seltene FaËe, sich nie anders denkt denn als Glied einer Genossenschaft."572

Vielmehr müssen die Sympathien erst durch einen langwierigen individuellen und kollektiven Erziehungsprozeß ausgebildet und aufrechterhalten werden. Alle sozialen Motivationen sind gelernt, ein Produkt der Kultur; es kommt lediglich nur darauf an, sie dem einzelnen so zur zweiten Natui' werden zu lassen, daß er sein Glück allein in solchen Tätigkeiten finden kann, die auch dem Glück seiner Mitmenschen dienen. Grundsätzlich ist die moralische Fähigkeit des Menschen für Mill ein natürliches, wenn auch erworbenes Vermögen, das zwar nicht ein Bestandteil der inneren Natur des Menschen ist, aber zu einer hohen Entwicklungsstufe gebracht werden kann.

"Unter dem Einfluß einer fortgeschrittenen Erziehungskunst wird das Gefühl der Einheit mit unseren Mitgeschöpfen (und es kann kein Zweifel sein, daß Christus dies beabsichtigte) sich in unseren Charakter so tief eingewurzelt haben und für unser Bewußtsein so vollkommen ein Teil unserer Natur geworden sein, wie es die Scheu vor dem Verbrechen in einer jungen Person von gewöhnlich guter Erziehung ist."573

Der ideale Mensch ist nach Mill letztlich deijenige, der das Gute nicht aus Furcht, sondern aus natürlichem Antrieb tut; die Nächstenliebe in diesem Menschen entwickelt sich schließlich dahingehend, daß er nur noch nach dem Allgemeinwohl strebt.574 Dabei begreift Mill die Identität von Gemeinwohl und Eigeninteresse durchweg als Prozeß:

"In einem fortschreitenden Zustande des menschlichen Geistes sind die Einflüsse in ununterbrochenem Wachstum begriffen, welche schließlich dahin zielen, in jedem Individuum ein Gefühl der Einheit mit allen übrigen zu erzeugen - ein Gefühl, das in seiner höchsten Vollkommenheit den einzelnen nie eine für das eigene Wohl förderliche Lebenslage fordern ließe, welche in den Genuß ihrer Vorteile nicht alle

572 Mill, J.St., Utilitarismus, 1869, S. 162.573 Mill, J.St., Utilitarismus, 1869, S. 157.574 Vgl. Guyau, J.M., Die englische Ethik, 1914, S. 131.

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Auch im Rahmen der Lehre von den "Sanktionen" fuhrt Mill die Moralpsychologie des Utilitarismus aus der dogmatischen Enge des egoistischen Hedonismus heraus. Auch bei Mill ist der Moralist außerstande, den Bestand der Gesellschaft zu garantieren; er benötigt vielmehr den Beistand des Gesetzgebers. In Mills System verdankt das Individuum seine Tugend somit letztlich dem Staate, genau wie bei Hobbes und Helvétius.576 Der Staat muß die Moral zum einen durch die sozialen Einrichtungen, zum anderen durch die individuelle Belehrung unterstützen. In Anlehnung an seinen Vater und Bentham verfolgt der Staat auch bei John Stuart Mill utilitaristische Ziele, die Beförderung des Allgemeinwohles:

"Die Einmischung der Regierung läßt sich daher durch keine andere allgemeine Regel beschränken, als durch die einfache imd unbestimmte Vorschrift, daß sie nirgends zulässig sei, als wo der Fall der allgemeinen Nützlichkeit stark hervortritt."577

Wählend in Benthams Modell der "künstlichen Harmonie der Interessen" ausschließlich die äußeren Sanktionen - die Androhung von Strafen durch die staatlichen Gesetze (legale Sanktionen), die Mißbilligung seitens der Gesellschaft (soziale Sanktion) und eine vorgestellte Bestrafung nach dem Tode (theologische Sanktion) sicherstellen sollten, daß sich der einzelne in seinem eigenen Interesse so verhält, wie es das Gesamtinteresse verlangt, sieht Mill die verläßlichsten Triebfedern des moralisch richtigen Handelns nicht in äußeren, sondern in inneren Sanktionen: Dem Streben nach Selbstvervollkommnung und Tugend, der Gewissenhaftigkeit und dem Pflichtgefühl. Mill bezeichnet in diesem Zusammenhang das Gewissen als ein Gefühl "in unserem eigenen Innern, eine stärkere oder schwächere Beunruhigung,

einschließe.1'575

575 Mill, J.St., Utilitarismus, 1869, S. 164.$1< Vgl. Guyau, J.M., Die englische Ethik, 1914, S. 169.577 Einen solchen Fall erkennt Mill vor allem in der Frage der Erziehung. In diesem Fall kann die Regierung annehmen, daß sie einen höheren Bildungsstand und höhere Einsicht hat, um dem Volk eine bessere Erziehung zu gewähren als es sich selbst voraussichtlich wählen würde. Die Regierung soll nach Auffassung Mills vorschreiben, daß alle sich Kenntnisse gewisser Dinge aneignen; sie soll die Erziehung aber nicht zu einem Monopol machen; neben den öffentlichen Einrichtungen sollen auch private Bildungsanstalten weiterhin bestehen. Vgl.Mill, J.St., Utilitarismus, 1869, S. 110.

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welche die Pflichtverletzung begleitet und in richtig ausgebildeten moralischen Naturen sich in den ernsteren Fällen bis zu einem Zurückschaudem wie vor dem Unmöglichen steigert."578

Damit gesteht Mill der religiösen Ethik und dem Intuitionismus die Bedeutung des Gewissens als Motivationsquelle moralischen Handelns zu, ohne jedoch von James Mills assoziationstheoretischer Erklärung des Gewissens als Internalisierung äußerer Belohnungs- und Strafanreize abzugehen. Das Gewissen ist im Prinzip jeden beliebigen Inhalts fähig; es ist weder die Stimme Gottes noch die Stimme der reinen praktischen Vernunft; es ist schlicht die Stimme derer, durch die wir erzogen worden sind.

Obwohl Mill häufig von Tugend und moralischer Entwicklung spricht, darf man seinen Begriff des Menschen als eines "progressive being" nicht zu eng fassen. DasFernziel einer utilitaristischen Gesellschaft ist nicht eine Gemeinschaft von"Tugendbolden“. Obwohl Mill mit Helvétius und seinem Vater James Mill an die Allmacht der Erziehung glaubt, schiebt er der Zumutung, Erwachsene zu erziehen und den Staat als moralische Erziehungsanstalt zu organisieren, einen Riegel vor.Wichtiger als die moralische Konvergenz der Menschen auf ein Ziel bin ist die Garantie von Freiheitsspielräumen, in denen sich die Verschiedenheit derTemperamente und Charaktere entfalten kann.

6.4 Zum Freiheitsbegriff

Gerade aus Mills Betonung des Freiheitsgedankens sind Diskussionen um den utilitaristischen Gehalt von John Stuart Mills Theorien entstanden. Im Jahre 1859 erscheint Mills Essay "On Liberty", in dem Mill sich ganz dem Thema der Freiheit und ihrer Verteidigung widmet. Das Buch wurde schnell sein berühmtestes und meistgelesenes Werk; bereits ein Jahr später erschien die deutsche Übersetzung.379

578 Mill, J.St., Utilitarismus, 1869, S. 158.579 Das Thema der Freiheit war bereits die Prämisse seines 1848 erschienen Hauptwerkes, der„Principles of Political Economy“; bereits dort befinden sich die grundlegenden Prämissen von„On Liberty“. So äußert Mill an entsprechender Stelle: „Laissez-Faire sollte die allgemeine

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Mills Plädoyer für die Freiheit im seinem Essay "Über die Freiheit" hat eine doppelte Stoßrichtung: Zum einen geht es Mill darum, die individuelle Handlungs-, Meinungs-, Diskussions- und Assoziationsfreiheit gegen Einschränkungen durch staatliche Gesetze und Maßnahmen zu verteidigen, zum anderen darum, den Entfaltungsspielraum des Individuums gegen den "Terror der öffentlichen Meinung" und andere gesellschaftliche Konformitätszwänge zu sichern. Nicht nur Akte der öffentlichen Gewalt können tyrannisch wirken; in weit schlimmerem Maße können die kollektive Gesellschaft und die soziale Gleichheit dies bewirken.580

Mills Befürchtungen hinsichtlich der Freiheit lassen sich vor allem durch einen Blick auf das viktorianische Zeitalter erhellen. Auf der einen Seite herrscht eine fast völlige Emflußlosigkeit des Staates in Angelegenheiten, die das Privatleben betreffen, denn es herrscht ein fast völliger Mangel an Zwang der öffentlichen Gewalt. Auf der anderen Seite dominieren jedoch gesellschaftliche Normen und Verhaltensregeln: Orthodoxie des Denkens, moralisierende, oft die Grenzen der Prüderie weit überschreitende Ansichten über Sitte und Geschlecht. All das wurde mit einem Absolutheitsanspruch vorgetragen, der alle diejenigen, die sich nicht in die herrschenden Verhaltensnormen einfügten, zu gesellschaftlichen Außenseitern stempelte.

"Über die Freiheit" ist deshalb nicht nur ein Bekenntnis zur größtmöglichen Sicherung der "äußeren" politischen Freiheiten des Individuums, sondern zugleich ein Plädoyer für die Notwendigkeit starker, selbstbewußter, "innerlich" freier Persönlichkeiten, die dem Druck der öffentlichen Meinung standzuhalten und nivellierenden Tendenzen Einhalt zu gebieten vermögen.581 Gerade weil der Fortschritt der Gesellschaft von den

Regel sein, und jede Abweichung davon, sofern nicht ein großer Vorteil sie gebietet, ein sicheres Übel.“ Mil, J.St., Grundsätze, Bd. VH, 1968, S. 265.5“ Dazu kommentiert John Stuart Mill: „Wenn die Gesellschaft selbst der Tyrann ist ... sind ihre Mttel zu tyrannisieren nicht beschränkt auf Handlungen, die sie durch die Hände ihrer politischen Funktionäre tun kann. Die Gesellschaft kann vollziehen und vollzieht ihre eigenen Befehle: und wenn sie falsche statt richtige Befehle gibt... übt sie eine soziale Tyrannei aus, die furchtbarer als viele Arten der politischen Unterdrückung ist...“ Mill, J.St., Liberty, 1910, S. 68.5S1 Auf die Gefahren der Mehrheitstyrannei innerhalb der Demokratie hatte insbesondere Alexis de Tocqueville in seinem Werk „De la Démocratie en Amérique“ hingewiesen, das Mill 1835 und 1840 rezensiert hatte. Vgl. Alexis de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, 2 Bände, München 1976.

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Leistungen ihrer großen Männer abhängt, ist die Möglichkeit einer freien Entwicklung fiir diese eine der wichtigsten Bedingungen der allgemeinen Wohlfahrt, denn nach Auffassung Mills sind es gerade die Außenseiter, die am ehesten dazu beitragen, durch geistige, soziale, technische und wirtschaftliche Neuerungen die Lebensumstände der Menschen auf lange Sicht zu verbessern.582

Mill äußert sich dahingehend, daß der Nonkonformist vor der Gesellschaft geschützt und mm Anderssein ermutigt werden soll. Die Gesellschaft soll dem einzelnen nicht vorschreiben dürfen, wie er glücklich werden soll, sondern soll ihn umgekehrt dazu ermutigen, durch Entfaltung seiner kreativen und imaginativen Potentiale zu seinem eigenen Lebensweg zu finden. In Anlehnung an das Bildungsideal Wilhelm von Humboldts hielt Mill dem Viktorianischen Zeitalter, in dem die gesellschaftlichen Konventionen und die Absolutheitsansprüche der Religion noch in den Privatbereich hineinregierten, das Bild eines autonomen Individuums entgegen, das sich unerschrocken den herrschenden Tendenzen seiner Zeit entgegenstellt und fur die Toleranzbereitschaft seiner Zeitgenossen eine fortwährende Bewährungsprobe darstellt.583 Mill geht es nicht um eine Gegenstellung zur Gesellschaft, sondern um die Werdens- und Lebensform der Persönlichkeit und ihrer Freiheit, um den Versuch, eine Grenze fur das rechtmäßige Eingreifen der Gesellschaft in die individuelle Freiheit zu errichten und diese Eingrenzung auch zu rechtfertigen.

Während in der vorindustriellen Welt verschiedene Schichten und verschiedene Berufe in einer verschiedenen Welt lebten, leben sie im Rahmen der Industrialisierungsgesellschaft in einem großen Ausmaß in derselben.584 Dieser

582 Eine Einschränkung der Meinungs- und der Diskussionsfreiheit blockiert nach Mil den über Jahrtausende andauernden Prozeß der Wahrheitsfindung. Ausgehend von der Grundüberzeugung aller Aufklärer, daß das Wissen der Wahrheit auf lange Sicht für die Menschheit nur von Nutzen sein kann, bedeutet jede Unterdrückung der freien Diskussion für Mil einen abwegigen und uneinlösbaren Anspruch auf Unfehlbarkeit. Eine Meinung, die nicht verbreitet werden kann, beschränkt die Freiheit des einzelnen. Mill postuliert somit, daß die Gesellschaft keine Gewißheit über die Wahrheit besitzt; er tut dies, um auch gegenüber dem Nutzenprinzip das Freiheitsprinzip im Vordergrund belassen zu können. Vgl. Saenger, S.,John Stuart Mill, 1901, S. 166.583 Vgl. Bimbacher, D., John Stuart Mill, 1981, S. 146.584 Diese Angleichung hat zur Folge, daß die Menschen jetzt „dieselben Dinge lesen, denselben Dingen zuhören, dieselben Dinge ansehen, dieselben Stellen aufsuchen, ihre Hoffnungen und Befürchtungen auf dieselben Dinge bezogen haben, dieselben Rechte und Freiheiten haben und dieselben Mittel, sich ihrer zu versichern.“ Mill, J.St., Liberty, 1910, S. 130.

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geistigen Öde setzt Mill die Individualität entgegen. In diesem gesellschaftlichen Kontext wird das Individuum zum Streiter fur die geistige Freiheit.

Grundsätzlich basiert Mill seine Verteidigung der Freiheit auf den Grundsatz, daß sich die Gesellschaft nur in diejenigen Handlungen eitumischen darf, die primär auf andere bezogen sind; in diejenigen Handlungen, die primär selbstbezogen sind, darf sie sich nicht einmischen.585

"Die beiden Maximen, die zusammen den ganzen Inhalt dieser Abhandlung ausmachen ... sind, erstens, daß das Individuum der Gesellschaft nicht rechenschaftspflichtig ist für Handlungen, die nur die eigenen Interessen betreffen ... Zweitens, daß das Individuum für solche Handlungen verantwortlich ist, die den Interessen anderer schädlich sind. "586

Mill leugnet nicht, daß alle Handlungen soziale Wirkungen haben oder haben können; aber er kennt Handlungen, die in erster Linie oder vorwiegend andere betreffen. Nur diese sollen Gegenstand gesellschaftlichen Eingreifens sein. Die "negative" Freiheit des Individuums, tun und lassen zu können, was es von sich aus möchte, soll ihre Grenze lediglich da finden, wo ihre Ausübung das Glück und die Freiheit anderer bedroht.587 Solange anderen jedoch kein Schaden zugefiigt wird, soll jeder ohne

585 Diese Grundthese Mills ist in ihrer Trennung von menschlichen Handlungen in solche, die die Interessen anderer berühren und solche, die es nicht tun, häufig kritisiert worden. So äußerte bereits Fitzjames Stephen im Jahre 1873: „ ... Der Versuch, zwischen selbstbezogenen und auf andere bezogenen Handlungen zu unterscheiden, (kommt) einem Versuch gleich, zwischen Handlungen, die in der Zeit, und Handlungen, die sich im Raum ereignen, zu unterscheiden. ... Die Unterscheidung ist zusammengenommen falsch und unbegründet.“ James Fitzjames Stephen: Liberty, Fraternity, Equality, 1874, S. X.586 MU, J.St., Liberty, 1910, S. 149.587 Daß Mill auf den Begriff Übel als Voraussetzung gesellschaftlichen Eingreifens Bezug nimmt, ist gleichfalls kritisiert worden. So kommentiert Laski, daß Mill im Rahmen seinerAussage grundsätzlich keine Bestimmung des Übels liefert. Über die soziale Relevanz einer Handlung besitzen wir somit keine Beurteilungsgrandlage, ehe nicht deren Folgen betrachtet werden. Da nun nicht alle Folgen vorhergesehen werden können, kann man auch nicht wissen,ob eine Handlung primär auf eine Person selbst oder auf andere bezogen ist, solange nicht die Folgen eingetreten sind. Dies bedeutet, daß keine Aussage darüber möglich ist, ob eine Handlung andere verletzt, ehe sie nicht begangen wurde. Damit stellt sich Mils Prinzip als Post-Faktum-Prinzip heraus und ist ohne Nutzen für das praktische Verhalten der Menschen. Vgl. Laski, HJ., Authority in the Modem State, 1919, S. 55. Ähnlich argumentiert auchAnschutz, R. P., Philosophy, 1953, S. 48.

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Beeinträchtigung durch seine Zeitgenossen seinen eigenen Lebensplan verwirklichen und die Risiko des Scheitems selbst tragen.

"Der einzige Grund, um dessentwillen Macht rechtmäßig über irgendein Mitglied der zivilisierten Gesellschaft gegen seinen Willen ausgeübt werden kann, (besteht darin), Übel von anderen abzuhalten."588

Selbst im Falle der nicht rein selbstbezogenen Handlungen soll der Staat immer dann nicht eingreifen dürfen, wenn zu erwarten ist, daß die Handlung besser ausgefuhrt wird, wenn sie vom Individuum statt vom Staat ausgeführt wird, wenn es der Erziehung des Bürgers dienen könnte, sie selber auszuführen, und wenn die Gefahr besteht, daß dadurch, daß der Staat die Handlung übernimmt, der Ausdehnung seiner Macht ungebührlich Vorschub geleistet würde.

Insbesondere die Kritiker haben in Mills Verherrlichung des Individualismus einen zentralen Widerspruch zu seinem sonst utilitaristischen Bekenntnis gesehen589: In der Tat argumentiert Mill so, als betrachte er die Entfaltung des Individuums und seiner ureigensten Eigenschaften als Selbstzweck und keineswegs nur als Mittel der gesellschaftlichen Wohlstandssteigerung. In einem vielzitierten Abschnitt seiner Einleitung betont Mill jedoch, daß sich seine Untersuchungen lediglich auf Nützhchkeitspinzipien beziehen werden. Dort äußert Mill:

„Ich betrachte die Nützlichkeit als letztes Kriterium in allen ethischen Fragen; aber es muß Nützlichkeit im weitesten Sinne sein, gegründet auf die dauernden Interessen des Menschen als eines fortschreitenden Wesens.“ 590

Es kann durchaus Handlungen geben, die nicht sozialrelevant sind, aber dennoch utilitaristisch die Möglichkeit und Notwendigkeit zum Eingreifen der Gesellschaft eröffnen können, weil dieser Eingriff dem größten Glück der größten Zahl gemäß wäre. Auch in diesem Fall lehnt Mill den Eingriff der Gesellschaft ab. Letztlich hat die

588 Mill, J.St., Liberty, 1910, S. 72f.589 Diese Auffassung wird u.a. vertreten von Robson (1968), S. 128; Anschutz (1953), S. 20- 29 sowie Flimmelfarb (1974), Kap. 3; Vgl. Rausch, H., John Stuart Mill, 1968, S. 255f.590 Mill, J.St., Liberty, 1859, S. 17f.

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Entfaltung der individuellen Freiheit für Mill jedoch einen gesamtgesellschaftlichen Nutzen zur Folge. Unter Berücksichtigung dieses Aspekts ist es auch zu verstehen, daß Mill eine naturrechtliche Begründung des Freiheitsbegriffes ablehnt. So äußert er:

„Es ist angebracht festzustellen, daß ich auf jeden Vorteil verzichte, der meiner Argumentation aus der Idee eines von allen Nützlichkeitserwägungen unabhängigen abstrakten Rechts erwachsen könnte.“ 591

6.5 Der utilitaristische Staat

Insbesondere Mills politische Theorie kann als Ausdruck seines Utilitarismus gelten; dort verleiht Mill dem von ihm entwickelten Menschenbild eines geistig voll entwickelten Menschen den deutlichsten Ausdruck. Zum einen soll jeder Bürger durch den politischen Prozeß zu diesem Ideal erzogen werden; in der Zwischenzeit übernimmt die ohnehin gebildete Elite die Regierung.

Grundsätzlich faßt Mill seine Gedanken zur Demokratie und zum Repräsentativsystem in seinen 1861 erschienenen "Considerations on Representative Government" zusammen. Dort entwirft er institutionelle Vorkehrungen, die der gebildeten Minderheit einer Elite genügend Einfluß verschaffen sollen, damit sie die Mehrheitsmeinung korrigieren kann. Das Volk sollte eine Regierung bekommen, die die "Volksmeinung in den Schranken der Vernunft und der Gerechtigkeit" hält.592 Dabei vertrat er die Auffassung, daß das allgemeine Interesse am besten durch philosophisch gebildete Staatsmänner gewahrt bleibt, besser als durch einfache demokratische Prozesse und ganz gewiß besser als durch parlamentarische Konzessionen, die eine Mittelklasse zufriedenstellen und radikalere Reformen im Keim ersticken.593 Um dieses Ziel zu erreichen, empfahl Mill proportionale

591 Mill, J.St., Liberty, 1859, S. 17.592 Vgl. Mill, J.St., Considerations on Representative Government, 1861, S. 134.593 Bereits Bentham hatte in seiner Schrift „Fragment on Government“ betont, daß die Grundlage der Regierung nicht ein Vertrag sei, sondern die menschliche Notwendigkeit. Die Befriedigung der menschlichen Erfordernisse ist dabei gemäß Benthams Utilitarismus auch die einzige Rechtfertigung des Staates. Grundsätzlich geht auch Mill in seinem Essay „On Representative Government“ von dem Postulat aus, daß eine Handlung danach zu bewerten sei, inwieweit sie einen Beitrag zur Gesamtsumme menschlicher Glückseligkeit leisten wird;

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Repräsentation und Mehrheitswahlrecht; er war gegen die geheime Wahl und machte das Wahlrecht von der Fähigkeit zu lesen und zu schreiben abhängig.594

Darüber hinaus setzt sich John Stuart Mill auch fur die geistige Entwicklung der übrigen Gesellschaftsklassen ein, fur die er eine größtmögliche Beteiligung am politischen Prozeß fordert, denn Staatseingriffe erhöhen tendenziell die Staatsmacht und fuhren zum Despotismus. In "On Representative Government" geht Mill davon aus, daß die Untertanen eines Despoten notwendig intellektuell und moralisch verkümmern müssen, während Selbstverwaltung Energie, Charakter und Intelligenz der Beteiligten entwickle und damit zum augenblicklichen und künftigen Wohlergehen beitrage.595

Mill dient die Demokratie damit in erster Linie dazu, den Menschen zum mündigen Staatsbürger zu erziehen. Das Repräsentativsystem ist nach Mills Auffassung die einzig mögliche Regierungsform in größeren Staaten und die beste Form für alle Völker, die zivilisiert genug seien, um es auszuüben. Dazu kommentiert Mill:

"Damit können wir jetzt den Wert politischer Institutionen ... bestimmen. Er besteht ... in dem Grad, in dem jene die allgemeine geistige Entwicklung fordern, worunter wir hier Fortschritt in bezug auf Urteilskraft, Sittlichkeit, Selbsttätigkeit und Leistungsfähigkeit subsumieren."596

Auch das Gros der Staatsbürger soll seine geistigen Fähigkeiten vervollkommnen. Mill entwickelt seine Argumente für die liberale Demokratie, indem er diese mit einer

auch er folgt dem Postulat Benthams, daß allen Menschen die gleiche Bedeutung beizumessen sei. Vgl. deMarchi, N., John Stuart Mill, 1989, S. 269. m Insbesondere aus Mills Betonung der Freiheit folgt seine Befürwortung des Repräsentativsystems als beste Regierungsform: „Freiheit kann nur dort in umfassender Weise den Charakter prägen, wo derjenige, auf den sie einwirkt, bereits vollberechtigter Staatsbürger ist oder die Aussicht hat, es zu werden.“ Mill, J.St., Considerations on Representative Government, 1861, S. 74.595 In diesem Zusammenhang spncht sich Mill auch gegen den Zentralismus aus, wo „sechs bis acht in der Hauptstadt wohnhafte und als Minister bekannte Männer beanspruchen, daß die ganze öffentliche Verwaltung des Landes, wenigstens anscheinend, unter ihren Augen erfolge.“ Mill, J.St., Gesammelte Werke, Bd.V, 1968, S. 261. Demgegenüber sprach Mill sich dafür aus, den lokalen Verwaltungen einen größeren Anteil der politischen Initiative zu überlassen. Auch wenn eine zentrale Regierung effizienter sein könnte, so sei es dennoch immer richtiger, daß die Individuen diejenigen Dinge selbst regeln, die sie selbst betreffen.596 Mil, J.St., Considerations on Representative Government, 1861, S. 50.

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patemalistischen Herrschaft kontrastiert, da die freie Entwicklung des Individuums und die Möglichkeiten der Artikulation jedes Gruppeninteresses die höchsten Ziele des gesellschaftlichen Lebens sind. Der Paternalismus hingegen bewirkt grundsätzlich eine Entmündigung des Bürgers; die Teilnahme der Individuen an der Politik ist jedoch die notwendige Voraussetzung des Mündigwerden.597

Mills Anliegen ist es vor allem, die Verantwortung des einzelnen Bürgers zu maximieren. Damit folgt Mill nicht dem Argument seines Vaters, der die Notwendigkeit der Demokratie aus der Tatsache ableitete, daß die Menschen dazu neigen würden, einander zu unterdrücken. Für ihn ist die Demokratie jedoch der sicherste Weg zur Ausbildung von mit öffentlichem Geist ausgestatteten Menschen.

"Jede Regierung, die gut zu sein beansprucht, muß die positiven Eigenschaften der einzelnen Bürger zu einem gewissen Teil für die Wahrnehmung ihrer kollektiven Interessen organisieren. Eine Repräsentativverfassung stellt ein Mittel dar, dem in einem Gemeinwesen erreichten allgemeinen Maß an Einsicht und redlicher

Gesinnung sowie der individuellen Vernunft und sittlichen Reife seiner mündigsten Bürger mehr Gewicht und direkteren Einfluß auf die Regierung zu sichern, als ihnen in jedem anderen politischen System zukäme."558

Der Sinn der Repräsentation besteht vor allem darin, daß das Volk durch seine Abgeordneten die höchste aufsichtsführende Macht ausübt. Die Macht ist den Weisesten anvertraut, die dem von John Stuart Mill im Rahmen seines Utilitarismus entwickelten Menschenbild des idealen Menschen entsprechen. Diese sind in einer Art

597 Auch in wirtschaftspolitischer Hinsicht spricht John Stuart Mil sich aus staatsbürgerlichen Bedenken heraus gegen eventuelle Eingriffe von seiten des Staates aus. Durch jede staatliche Zwangsgewalt würde die politische Abhängigkeit des Individuums vermehrt, die private Initiative eingeengt und die staatsbürgerliche Selbständigkeit vermindert. Staats eingriffe sind der privaten Initiative stets unterlegen; sie lenken die Tätigkeiten des einzelnen in bestimmte Bahnen, obwohl der Staat es selten besser weiß. Die allgemeinen Angelegenheiten des täglichen Lebens werden grundsätzlich besser von denjenigen besorgt, die ein unmittelbares Interesse an ihnen haben. Die Entwicklung tatkräftiger Fähigkeiten im ganzen Gemeinwesen ist für Mill eines der wertvollsten Güter überhaupt. „Die Geschäfte des Lebens sind ein wesentlicher Teil der praktischen Erziehung eines Volkes, ohne welchen aller Unterricht durch Schulen und Bücher nicht ausreicht, um es zum Handeln zu befähigen.“ Mill, J.St., Utilitarismus, 1869, S. 263.598 Mill, J.St., Considerations on Representative Government, 1861, S. 50.

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gesetzgebenden Kommission vertreten, die die Gesetzesentwürfe vorbereitet, die das Parlament als Verkörperung seines Willens billigen oder zuröckweisen kann.

Solange die Menschen nicht diese geistige und sittliche Reife entwickelt haben, lehnt John Stuart Mill eine öffentliche Kontrolle durch populäre Mehrheiten ab, da deren Ziel nur darin bestehen würde, die selbstsüchtigen Interessen gegen das Gemeinwohl durchzusetzen. Mill spricht sich somit gegen eine Vergrößerung der Wahlbevölkerung aus, denn je weniger die Zusammensetzung des Parlamentes diese geistige Qualifikation gewährleistet, desto mehr wird sie eine kurzfristige Innen- und Außenpolitik fördern.599

Um zu gewährleisten, daß kein partikulares Interesse so stark wird, daß es sich gegen alle anderen Interessen durchsetzt, schlägt John Stuart Mill vielmehr eine Wahlrechtsreform vor, die gleichzeitig eine Präsenz der am besten gebildeten Männer im Parlament garantiert.600 Im Rahmen dieser Reform schlägt Mill weitere Stimmen für diejenigen Personen vor, deren Beschäftigung ein höheres Niveau der Bildung anzeigt. So äußert Mill:

"Eine so gewählte Versammlung würde die Elite der Nation enthalten, während auf der anderen Seite jeder Wähler die Gelegenheit hätte, den fähigsten und besten Mann im Empire, der willig ist zu dienen, zu wählen."601

’"Mill, J.St., Considerations, 1861, S. 111600 Um die Unterdrückung der Minderheit durch eine Mehrheit zu verhindern, spricht sich Mill für das von Thomas Hare entwickelte Konzept der Minderheitenrepräsentation aus. Hare schlägt dort vor, übergreifende Wahlbezirke mit einem Quotensystem zu bilden, durch das eine gegebene Anzahl von Voten, in welchem Bezirk sie auch immer abgegeben wurde, einem Mitglied zufließt. Dadurch erlangt jede Minderheit von gewisser Bedeutung eine Stimme. Vgl. Mill, J.St., Considerations, 1861, S. 130.601 Mill, J.St., Considerations, 1910, S. 265.

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6.6 Ordnung und Gerechtigkeit

Während Mill sich innerhalb seiner politischen Theorie vor allem auf sein utilitaristisches Menschenbild stützt, fließt sein ethisches Anliegen in sein ökonomisches Werk, "Principles of Political Economy with Some of Their Applications to Social Philosophy'1 ein. Die geisteswissenschaftliche Entwicklung John Stuart Mills tritt in den verschiedenen Auflagen deutlich zutage. "In der ersten Ausgabe finden sich noch viele warme Worte zur Verteidigung des Privateigentums, in der zweiten Ausgabe und noch vielmehr in der dritten Ausgabe des Jahres 1852 eine ebenso eingehende Kritik desselben und eine wohlwollende Begründung des Sozialismus... In der dritten Ausgabe, die vollkommen umgearbeitet wurde, steht John Stuart Mill bereits ganz auf dem Boden der neuen Zeit..."602 Insbesondere die vielen textlichen Änderungen in den "Principles" körnten dahingehend gewertet werden, daß das moralische Anhegen fur Mill immer wichtiger wurde.

In seinen "Principles" richtete sich John Stuart Mill zunächst gegen die seit Adam Smith übliche Definition der Politischen Ökonomie als Wissenschaft von den Gesetzen, die die Produktion, Distribution und Konsumtion der Reichtümer regeln.603 Im Gegensatz zu diesem ausgesprochenen utilitaristischen Materialismus steht die Definition der Nationalökonomie und des Vermögens in der Einleitung zu den "Principles". Dort äußerte Mill:

"Schriftsteller über Volkswirtschaft suchen die Natur des Vermögens und die Gesetze seiner Produktion und Verteilung zu lehren und zu erforschen, wobei mehr oder weniger unmittelbar die Wirksamkeit aller der Ursachen eingeschlossen ist, infolge deren die Lage der Menschheit oder irgendeiner Gesellschaft menschlicher Wesen bezüglich jenes allgemeinen Ziels menschlicher Wünsche verbessert oder verschlechtert wird. "604

602 Reßler, A., Die beiden Mills, 1929, S. 22.603 Diese Definition wurde noch in Mills "Essays on Some Unsettled Questions of Political Economy" verwendet. Vgl. Mill, J.St., On the Definition of Political Economy and on the Method of PhilosophicalInvestigation in that Science, in: London and Westminster Review IV, XXVI, Oktober, S. 1- 29.6m Mill, J.St., Grundsätze, Bd. 5, 1968, S. 1.

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Diese Definition zeigt bereits die veränderte Einstellung John Stuart Mills: Er war im Begriff, die "ideale" Ökonomie mit den abstrakten und natumotwendigen Gesetzmäßigkeiten zu verlassen und nahm bereits eine gewisse Relativität ökonomischer Gesetze an. Für den Sozialphilosophen Mill war das letzte Ziel fiir die Politische Ökonomie "das Gute für die Menschheit".605 Mittels zweier unmittelbarer Ziele sollte dieses Endziel realisiert werden: Freiheit des einzelnen und gutes Auskommen für alle. Dementsprechend nimmt John Stuart Mill auch eine entscheidende Modifizierung der klassischen Lehre vor: Die Verteilung des Reichtums wird bei ihm nicht mehr durch ein unabänderliches Naturgesetz bestimmt, sondern durch den menschlichen Willen beeinflußt. Die klassischen Lehren der Produktion sind dagegen allgemeingültig und können auf jede Gesellschaft angewendet werden. 606 So äußert Mill:

„Die Verteilung des Reichtums ist eine rein menschliche Institution. Sie ist von den Gesetzen und den Sitten der Gesellschaft abhängig. Die Regeln der Verteilung werden von den Meinungen und Gefühlen des herrschenden Teiles der Gesellschaft bestimmt und sind zu verschiedenen Zeiten und in den verschiedenen Ländern sehr unterschiedlich, sie könnten noch unterschiedlicher sein, wenn es der Menschheit beliebte. “607

Gerade die Unterscheidung von Produktions- und Distributionsgesetzen diente Mill als Grundlage seiner weitreichenden Reformvorschläge. Mit der Trennung von Produktion und Verteilung konnte Mill sein sozialpolitisches Programm und seine ethischen Grundsätze in eine Systematik der Ökonomie einordnen. Einerseits kann er am Grundsatz der Wirtschaftsfreiheit im Sinne eines Gesetzes der naturrechtlichen Philosophie festhalten; andererseits kann die Wohlfahrt durch Eingriffe in die Distributionssphäre gesteigert werden. Gleichzeitig beseitigt Mill die der klassischen Lehre innewohnende Hoffnungslosigkeit, die den Menschen dazu verurteilte, einem in

605 Vgl. de Marchi, Neil, John Stuart Mill, 1989, S. 282.606 So Mill: „Die Gesetze und Bedingungen der Produktion von Vermögen haben etwas von dem Charakter physikalischer Wahrheiten; bei ihnen findet sich nichts Freiwilliges oder Willkürliches...“ Mill, J.St., Grundsätze, Bd. 5, 1968, S. 210.607 Mill, J.St., Grundsätze, Bd. 5, 1968, S, 210.

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den kapitalistischen Privatuntemehmen zum Ausdruck kommenden Naturgesetz zu gehorchen, das Armut und Ungerechtigkeit zu verewigen schien.608

Solange jedoch kein Einverständnis darüber besteht, daß gutes Auskommen und nicht materieller Wohlstand der gesellschaftliche Zweck sein soll, besteht bei Mill ein Widerstreit zwischen der Verwendung von Zeit für die Pflege des ganzen verinnerlichten Gefühlslebens einerseits und der Verfolgung ökonomischer Aktivitäten andererseits. Im letzten Teil seiner „Principies“ bestreitet Mill. daß der rein materielle Fortschritt ein wünschenswertes Endziel sei. Die wachsende Zahl von Menschen, die sich ihren Reichtum nicht gönnten, war für Mill ein abschreckendes Beispiel. In Anlehnung an seinen Vater vertrat Mill vielmehr die Auffassung, daß die Gesellschaft eine müßige Klasse brauchte, die - befreit von den mit der materiellen Produktion verbundenen Pflichten - den Weg zu einem zivilisierten Leben weist.

ln Anlehnung an David Ricardo betrachtet John Stuart Mill den Weg der Volkswirtschaft als einen Weg hin zum stationären Zustand. Ist dieser erst einmal erreicht, so werden die Menschen auch der besseren Verteilung des Sozialprodukts mehr Aufmerksamkeit schenken und nicht nur darauf bedacht sein, dieses grenzenlos zu vergrößern.609 Als Ideal schwebte Mill ein Zustand vor, indem die materiellen Bedürfnisse einerseits ausreichend gedeckt wären und andererseits noch Zeit und Güter für die Gestaltung persönlicher Kultur übrigbleiben würden. Den stationären Zustand betrachtet er als eine Chance, eine harmonische Sozialordnung zu schaffen.

608 Entsprechend dieser Auffassung unterscheidet Mill auch zwischen zwei unterschiedlichen Forschungsmethoden für beide Bereiche. Die Produktion kann nur a priori, d.h. durch die konkret-deduktive Methode erfaßt werden; erst die deduktiven Schlüsse sind dann durch Erfahrung zu verifizieren. Für die Verteilung hingegen existieren keine a priori gültigen Nonnen, sondern nur a posteriori festzustellende Tendenzen. Bei ihr ist daher die Induktion anzuwenden. Vgl. Mill, J.St., Collected Works, Bd. VH, 1963, S. 225. Die Verteilung gehört deshalb in das Gebiet der moralischen und sozialen Wissenschaft. So Mill: „Die Gesetze der Entstehung menschlicher Meinungen gehören nicht zu unserer gegenwärtigen Aufgabe. Sie sind ein Teil der allgemeinen Theorie der menschlichen Entwicklung, eines weit größeren und schwierigeren Untersuchungsgegenstandes als es die Volkswirtschaft ist.“ Mill, J.St., Grundsätze, Bd. 5, 1968, S. 212.609 So kommentiert Mill: „Die Volkswirte müssen es stets mehr oder minder deutlich erkannt haben, daß die Zunahme des Wohlstands nicht grenzenlos ist, so daß am Ende des sogenannten progressiven Zustands der stationäre Zustand liegt, daß jeder Fortschritt im Vermögen nur ein Hinausschieben dieses Zustands sein und jeder Schritt vorwärts nur eine Annäherung an ihn.“ Mil, J.St., Grundsätze, Bd. 7, 1968, S. 58.

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Dazu müßte zunächst diejenige Profitrate gewählt werden, der ein Gesamtertrag und ein gutes Auskommen fur die gesamte Bevölkerung entsprechen würde.

"Ich bekenne, daß ich mich nicht mit dem Lebensideal derjenigen befreunden kann, welche dafür halten, daß fortwährendes Gegeneinanderkämpfen der normale Zustand menschlicher Wesen sei; daß das Sich-Drängen, Stoßen, Schieben, was die derzeit üblichen Umgangsformen des gesellschaftlichen Daseins abgibt, das erstrebenswerteste Los der menschlichen Gattung oder irgend etwas anderes seien als die unerfreulichen Symptome eines der Stadien des intellektuellen Fortschritts. "610

Indem Mill bestreitet, daß der rein materielle Fortschritt ein wünschenswertes Endziel für die Gesellschaft darstellt, integriert er gleichzeitig das im Rahmens des Utilitarismus entwickelte Menschenbild eines idealen Menschen in seine Politische Ökonomie. So vertrat er die Auffassung, daß man die bessere Beherrschung der Naturkräfte lieber dazu nutzen solle, die Arbeitszeit zu verkürzen; die dadurch gewonnene Freizeit könne dann zur Pflege anderer Dinge genutzt werden. Die Kunst des Lebens würde wahrscheinlich viel besser gedeihen, wenn man damit aufhören würde, das Gehirn in der Kunst des Vorwärtskommens zu strapazieren. Letztlich soll der Stillstand im wirtschaftlichen Fortschritt den menschlichen Kulturfortschritt ermöglichen. Dazu kommentiert Mill:

"Es dürfte die Bemerkung kaum notwendig sein, daß ein stationärer Zustand des Kapitals und der Bevölkerung keineswegs einen stationären Zustand des menschlichen Fortschritts in sich schließt. Der Spielraum für alle Arten geistiger Entwicklung sowie des moralischen und ökonomischen Fortschritts würde dabei nicht verkleinert werden; es wäre ebensoviel Raum vorhanden für die Ausbildung der Kunst des Lebens und mehr Aussicht für das Gelingen derselben, wenn die Kunst des Erwerbens die Geister nicht minder ausschließlich in Anspruch nähme."611

610 Mill, J.St., Grundsätze, Bd. 7, 1968, S. 60.611 Mil, J.St., Grundsätze, Bd. 7, 1968, S. 63.

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In Mills erhoffter Zukunftsgesellschaft sollte im Gegenteil weder die Gesellschaft als Ganzes überlastet werden noch sich je um ihre Existenzmittel extrem sorgen müssen. Als besten Zustand betrachtet er in seinen “Principles" den, indem

"keiner arm ist, niemand reicher zu sein wünscht, niemand Grund hat zu befurchten, daß er durch die Bestrebungen anderer, die sich selbst vorwärts drängen wollen, zurückgeschoben wird."612

Im Gegensatz zu Smith, dem der Zustand der Entwicklung der für die Masse der Bevölkerung glücklichste schien, sah Mill zuversichtlich dem Tag entgegen, an dem es nicht länger notwendig wäre, die Energien der Menschheit im Kampf um die Reichtiimer einzusetzen.

Indem Mill die Verteilung in das Gebiet der moralischen Wissenschaft einordnet, kann er gleichzeitig sein Anliegen einer sozialeren und gerechteren Verteilung einbringen. Mill gilt dabei als der erste Vertreter des Utilitarismus, der alle Volksschichten in seine Gerechtigkeitsvorstellungen einbezieht. Dennoch haben seine Vorschläge zu einer Modifizierung der Verteilung einen utopischen Charakter.

Mill war zunächst der Auffassung, daß das Privateigentum in den primitiven Gesellschaften nicht aufgrund seiner Nützlichkeit eingefiihrt worden war, sondern um bei aufkommenden Streitigkeiten den Frieden zu bewahren.613 Um jede Aggression zu unterdrücken, verliehen die primitiven Stammesführer dem Erstbesitz Legalität; jeder, der mit Gewalttätigkeiten anfing, indem er einem anderen den Besitz nahm oder ihn zu nehmen versuchte, wurde als Angreifer behandelt.614

612 Mill, J.St., Grundsätze, Bd. 7, 1968, S. 60.613 ln diesem Zusammenhang liefert Mill folgende Definition des Privateigentums: „Privateigentum ist die Anerkennung eines Rechts für jede Person, ausschließlich zu verfügen über dasjenige, was sie hervorgebracht oder durch Schenkung oder rechtmäßige Übereinkunft ohne Gewalt oder Betrug, von denen, die es hervorgebracht haben, erhalten hat. Die Grundlage des Ganzen ist das Recht der Produzenten auf dasjenige, was sie selbst hervorgebracht haben.“ Mill, J.St., Grundsätze, Bd. 5, 1968, S. 229.614 Mit der Behauptung, daß die gesellschaftliche Verfassung Europas ihren Ausgangspunkt von einer Verteilung des Eigentums nimmt, die das Ergebnis von Eroberung und Gewalt war, hatte Mill die naturrechtliche, natumotwendige Eigenschaft des Eigentums geleugnet. M t den Worten Mills: „Die sozialen Einrichtungen des jetzigen Europas nahmen ihren Anfang von einer Eigentumsverteilung, die nicht das Ergebnis einer gerechten Teilung oder der Aneignung

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Dennoch ist Miil keineswegs ein Gegner des Privateigentums als Ordnungsfaktor. Er will die Institution des Privateigentums nicht zerstören, sondern verbessern; sein Ideal ist die Partizipation aller Mitglieder der Gesellschaft an den Vorteilen des Eigentums. So kommentiert er:

"Das Prinzip Privateigentum' hat bislang in keinem Land einen fairen Prozeß gehabt... Dann hätte man herausgefunden, daß das Prinzip des Individualeigentums nicht notwendigerweise mit all den physischen und sozialen Übeln untrennbar verbunden ist, wie es die sozialistischen Autoren zumeist vermuteten."615

Gleichzeitig befaßte sich Mill mit anderen Möglichkeiten zur Verteilung des Eigentums. Er studierte zu diesem Zweck die Programme der Sozialisten, der Kommunisten sowie Pläne für genossenschaftliche Kolonien.616 In seinen "Prinzipien" stellte Mill zunächst fest, er sympathisiere mit den praktischen Zielen der Sozialisten und halte die Zeit für die von ihnen gewünschten Änderungen reif Nicht einverstanden war Mill hingegen mit der sozialistischen Gegnerschaft gegen den Wettbewerbsgedanken.617

durch Erwerbstätigkeit, sondern von Eroberung und Gewalt war.“ Mill, J.St., Grundsätze, Bd. 5, 1968, S. 220.615 Mill, J.St., Grundsätze, Bd. 5, 1968, S. 220f.616 Bei Mill kam die Anregung zur Beschäftigung mit sozialistischen Ideen in erster Linie von den französischen Sozialisten. Mit Sozialismus meinte MU also nicht unbedingt eine Bewegung, die die Arbeiterklasse repräsentiert, sondern eher die Art Kooperationsexperimente, die Marx utopisch nannte. Mills Erfahaing in bezug auf den Sozialismus war begrenzt auf das, was er bei Owen, Saint-Simon und früher französischer Sozialisten gelesen hatte; Mill unterschied nicht klar zwischen Kommunismus und Sozialismus. Mills Haltung zum Sozialismus wandelte sich im Verlauf seines Lebens mehrmals: Während er in der ersten Auflage der „Principies“, die noch vor der Revolution 1848 veröffentlicht wurde, die praktischen Schwächen des utopischen Sozialismus anerkannte, erkannte er in der dritten Auflage der „Principies“ den Sozialismus durchaus als Endziel des menschlichen Fortschrittes an. Schließlich verfaßte Mill 1869 die „Chapters on Socialism“, die erst nach seinem Tod erschienen. Dort warnte er vor der Unterdrückung des Individualismus im Sozialismus: „In allen Gesellschaften ist die Unterdrückung der Individualität durch die Mehrheit bereits ein großes und wachsendes Übel; es würde wahrscheinlich noch größer unter dem Kommunismus, außer insofern es in der Macht der Individuen läge, dem Grenzen zu setzen ...“ Mill, J.St., Collected Works, Bd. 5, 1967, S. 746.617 Trotz seiner grundsätzlich wohlwollenden Behandlung des Sozialismus war Mill letztlichdennoch kein Sozialist: Die sozialen Übel, die er erblickte, gingen für ihn nicht auf dasPrivateigentum an den Produktionsmitteln zurück, sondern auf die schrankenlose Ausübungder Eigentumsrechte. So äußert Mill: „Anstatt also in der Konkurrenz jenes verderbliche und

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Schon früh warf er dem Owenschen Sozialismus mit seinem gleichen Produktionsanteil für alle vor, daß dieser zwar ein dem Altruismus verpflichtetes System sei, jedoch verstehe er nicht, wie er aus Menschen Altruisten machen könne, wenn sie es doch nicht wären. Solange die Menschen in jenem Zustand verharrten, indem ein äußerer Ansporn notwendig war, damit sie im allgemeinen Interesse handelten, sollte nach Mills Meinung jeder weiterhin die Früchte seines eigenen Fleißes erhalten.618 Um das Glück der Gesamtgesellschaft zu erzielen, entwickelt Mill demgegenüber eigene Maßnahmen.

Sein erstes Ziel war die Hebung des kleinbäuerlichen Besitzes auf individueller Basis. Zwar war John Stuart Mill nicht unbedingter Gegner des Großgrundbesitzes, jedoch erhoffte er sich vom Kleinbesitz wesentlich mehr Vorteile: Die Lage der Lohnarbeiter werde durch das Nebeneinkommen gebessert, die individuelle Initiative und Intelligenz der Bauern angeregt und vor allem eine Neutralisation der ungerechten Bodenrente erreicht.619

Wäre das rechtliche Rahmenwerk zur Sicherung der Streuung des Grundbesitzes einmal vorhanden, so würden der Ausbau des Erziehungswesens und die vorgeschlagenen neuen Formen der Grundbesitzverhältnisse automatisch folgen. Mills Ziel liegt vor allem darin, den Wirtschaftsprozeß auf eine genossenschaftliche Grundlage zu stellen; so hoffte er zuversichtlich, daß es einmal Erzeuger- und Verbrauchergenossenschaften geben werde. Gleichzeitig trat Mill auch für die Bildung von Arbeiterassoziationen ein.620

antisoziale Prinzip zu erblicken, wofür sie der großen Mehrheit der Sozialisten gilt, bin ich der Meinung, daß in dem gegenwärtigen Zustande der Industrie und Gesellschaft jede Einschränkung der Konkurrenz ein Übel, und jede Ausdehnung derselben, wenn sie auch zeitweilig die eine oder andere Klasse von Arbeitern benachteiligt, schließlich stets ein Segen ist. Der Schutz gegen Konkurrenz bedeutet soviel wie Schutz der Trägheit und geistigen Stumpfheit, soviel wie eine Enthebung von der Notwendigkeit, ebenso tätig und intelligent zu sein wie andere Leute.“ Mill, J.St., Grundsätze, Bd. 7, S. 284. m Vgl. de Marchi, N., John Stuart Mill, 1968, S. 284.619 Vgl. Reßler, A., Die beiden Mills, 1929, S. 40.620 Gerade zu Mills Zeiten hatte die Lohnpolitik der ersten Gewerkschaften in England eingesetzt. John Stuart Mill unterstützte diese Bestrebungen, da er glaubte, daß diese Verbände durch ihre Machtstellung die Beziehung zu Nachfrage und Angebot tatsächlich ändern könnten. Er war überzeugt, daß die Arbeit der Gewerkschaften keineswegs nutzlos war, denn es wäre möglich, daß sie durch Streiks eine Lohnerhöhung durchsetzten. Vgl. Reßler, A., Die beiden Mills, 1929, S. 46.

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Mill glaubte, das ganze Lohnsystem durch eine Assoziationsform ersetzen zu können. Er dachte dabei weder an eine Assoziation unter der Leitung des Staates noch eines an der Spitze stehenden Kapitalisten. Er verstand darunter vielmehr eine Genossenschaft zwischen Arbeitern selbst, die - untereinander vollständig gleich - zusammen das in dem Unternehmen angelegte Kapital besitzen, und die nur selbstgewählten Direktoren gehorchen, die sie selbst auch wieder absetzen können.621

Diese kooperative Lösung im Sinne von Produktivgenossenschaften erschien ihm als ein Ideal, das unter Beibehaltung des Privateigentums bereits alle Vorteile eines kommunistischen Systems in sich vereinigte. Er versprach sich von dieser Assoziationsform eine gesteigerte Produktivität der Arbeit, hervorgerufen durch das gemeinsame Interesse aller Arbeiter. Nach John Stuart Mill konnte somit die naturgesetzliche Gültigkeit der Lohnfondstheorie durch die Machtstellung der Koalitionen gebrochen werden.622 Da Mill die Verteilungsgesetze für veränderbar hielt und gleichzeitig auf die Kraft von Zusammenschlüssen vertraute, die auf eine organische Einheit in der Gesellschaft abzielten, sah er die Lösung darin, den lohnabhängigen Arbeitern kleine Grundstücke zu übereignen und sie so in grundbesitzende Bauern zu verwandeln; die Industriearbeiter sollten Mitglieder zahlreicher genossenschaftlich organisierter Unternehmen und so zu arbeitenden Miteigentümern werden.623

"Schließlich, und vielleicht in einer weniger fernen Zukunft als vorhergesagt werden mag, könnte das Prinzip des Genossenschaftswesens den Weg bilden zu einer Umgestaltung der menschlichen Gesellschaft, bei welcher Freiheit und Selbständigkeit der Individuen mit den moralischen, intellektuellen und wirtschaftlichen Vorteilen einer verbundenen Produktion vereinigt blieben, und welche ohne Gewalttätigkeit oder Beraubung und selbst ohne plötzliche Störungen in den bestehenden Gewohnheiten und Erwartungen, wenigstens auf dem industriellen Gebiete die besten Wünsche des demokratischen Geistes verwirklichen würde, indem sie der Teilung der Gesellschaft in Fleißige und

621 Vgl. Gide, Ch., Rist, Ch., Die beiden Mills, 1929, S. 404ff.622 Vgl. Reßler, A., Die beiden Mills, 1929, S. 48.623 Vgl. de Marchi, N., John Stuart Mill, 1989, S. 280.

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Müßiggänger ein Ende machte und alle sozialen Auszeichnungen verschwinden ließe, mit Ausnahme der durch persönliche Dienste und Anstrengungen erworbenen."

Innerhalb der Arbeiterorganisationen sollte Zusammenarbeit an die Stelle des Wettbewerbs treten; untereinander aber konnten und sollten die Organisationen in Wettbewerb treten. Dieser sollte die Menschen nicht daran hindern, einen angemessenen Lebensunterhalt zu verdienen, sondern ihnen einen gewissen Anreiz zur Arbeit geben.

624 Mill, J.St., Grundsätze, Bd. 7, 1968, S. 100.

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7. Kapitel: Der Utilitarismus im 20. Jahrhundert - Die Ordnungspolitik F.A. von Hayeks

Im Gegensatz zu allen bisher analysierten Ökonomen, die Mitglied der klassischen Nationalökonomie waren, ist Friedrich August von Hayek einem völlig anderen geistesgeschichtlichen Hintergrund zuzuordnen, eine Tatsache, die unter anderem daraus resultiert, daß die klassische Nationalökonomie nach John Stuart Mill von der Grenznutzenschule abgelöst wurde.

Mit John Stuart Mill und David Ricardo hatte die klassische Nationalökonomie um die Mitte des vorigen Jahrhunderts ein hochentwickeltes und reifes Stadium erreicht: Sie verfugte über ein theoretisches Gebäude, das einen Zugang zu allen großen Fragen des ökonomischen Bereiches ermöglichte, und kein anderer Ansatz der damaligen Zeit hatte etwas Vergleichbares zu bieten. Doch in den Jahren nach 1860 begann die Fassade der klassischen Nationalökonomie abzubröckeln. Bereits bei John Stuart Mill treten die inneren Widersprüche der klassischen Nationalökonomie zutage.

Es entwickelten sich vor allem drei große Gegenströmungen: Der Marxismus, der Historismus und die marginalistische oder Grenznutzentheorie, jedoch stellte erst die Grenznutzentheorie den ersten geschlossenen Theoriesprung zur Klassik dar.625

Innerhalb der Grenznutzentheorie postulierte der Nutzen in erster Linie eine neue ökonomische Perspektive, während der "Marginalismus" sich vor allem als methodologische Innovation erweisen sollte. Mit ihrem NutzenbegrifF knüpfte die Grenznutzen schule an den Utilitarismus an, insofern sie sich innerhalb ihrer Wertlehre auf die Lust- und Unlustgefühle des Menschen berief. Den Grenznutzentheoretikem galt es als bewiesen, daß, um mit Gossen zu sprechen, jeder Mensch seine

625 Innerhalb von weniger als vier Jahren erschienen drei Werke, welche eine ausgearbeitete Grundlage für die Grenznutzentheorie präsentierten und die für lange Zeit richtungsweisend bleiben sollten. 1871 publizierte Jevons seine „Theory of Political Economy“; gleichzeitig kam Menger mit seinen „Grundsätze der Volkswirtschaftslehre“ hinaus. 1874 folgten Walras' „Elements de politique pure“. Alle drei Werke bauten auf den gleichen Grundelementen auf, die in entscheidenden Punkten mit der klassischen Ökonomie kontrastierten. Vgl. Lehmann,H., Grenznutzentheorie, 1968, S. 113ff.

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Handlungen so einrichtet, daß die Summe seines Lebensgenusses die denkbar größte werde. Lust- und Unlustgefühle werden gegeneinander abgewogen; jene sucht man zu erreichen, diese zu vermeiden oder durch Lustgefühle zu kompensieren,626

Innerhalb der Grenznutzenschule hat vor allem die Österreichische Schule, der auch von Hayek zuzurechnen ist, ein besonderes Gepräge. Dies ist vor allem auf die Tatsache zurückzufuhren, daß Carl Menger, deren Begründer, in Österreich zunächst auf ein theoretisches Vakuum stieß,627 jedoch gleichzeitig eine Reihe extrem interessierter und begabter Juristökonomen in seinen Bann ziehen konnte. Hatte Gossen nur ganz allgemein psychologische Gesetze, die das gesamte Leben des Menschen bestimmen, herausstellen wollen, so ist die Anwendung dieser Regel vor allem Carl Menger, Eugen v. Böhm-Bawerk und Friedrich Wieser zu verdanken.628

In der Tat entwickelte sich die Österreichische Schule in einer von den anderen neoklassischen Schulen verschiedenen Linie, trotz der gemeinsamen Herkunft aus der Marginalistischen Revolution. Während sich die europäische klassische Tradition, insbesondere das System von Walras, auf die allgemeine Gleichgewichtsökonomie konzentrierte und bei gegebenem Wissen der individuellen Präferenzen, dem Stand der Technologie etc. Vorhersagen wollte, welches das Gleichgewicht innerhalb der Wirtschaft sei, fanden die Österreicher den Prozeß, der bis zum allgemeinen Gleichgewicht führte, viel interessanter. Ihre Lehren verkörpern das Wiederaufleben des ökonomischen Liberalismus und ihre Mitglieder - unter ihnen Menger und von Mises - werden als direkte intellektuelle Abkömmlinge des frühen ökonomischen Liberalismus betrachtet.629

626 Vgl. Lütge, F., Geschichte, 1963, S. 85.627 Menger mußte seine Theorie gegen den Widerstand des deutschen Sprachraumes vortragen. Die Vorherrschaft der historischen Schule in Deutschland zwang ihn dazu, seine Theorie als solche gegen den Historismus zu verteidigen. Trotz der Verschiedenheiten seines Ansatzes im Vergleich zur klassischen Nationalökonomie stand ihm diese infolge ihrer theoretischen Ausrichtung und zum Teil aufgrund ihrer liberalen wirtschaftspolitischen Idee näher als die theorielose historische Schule. Hatte noch Stanley Jevons nach einer psychologischen Erklärung für individuelle Bewertungen gesucht, so nahm Menger diese als gegeben hin. Die Bedürfnisse und ihre Befriedigung bildeten den zentralen Gegenstand der Ökonomie. Vgl. Lehmann, H., Grenznutzentheorie, 1968, S. 113ff.628 Vgl. Lehmann, H., Grenznutzentheorie, 1968, S. 116ff., S. 210ff.629 Alle Mitglieder der Österreichischen Schule vertraten dogmatisch die Auffassung, daß jede Abweichung von der klassischen Lehre ein unwiderruflicher Schritt zum Sozialismus sei. Hauptvertreter der jüngeren Österreichischen Schule waren Ludwig Edler von Mises,Friedrich August von Hayek, Richard von Strigl, Oskar Morgenstern, Paul N. Rosenstein-

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7.1 Biographischer Hintergrund

Friedrich August von Flayek (1899-1992) wurde 1899 in Wien in eine an akademische Tradition reiche Familie geboren. Bildung und Gelehrtentum standen in hohem Ansehen bei Hayeks Familie. Von Hayeks Vater war Arzt und lehrte an der Universität Wien Botanik; auch von Hayeks jüngere Brüder waren Naturwissenschaftler (Anatom und Chemiker).630 In seiner Jugend erlebte von Hayek den verblassenden Charme der Donaumonarchie; im März 1917 rückte er als Artillerieoffizier in die k.u.k. Armee ein und kehrte 1918 unversehrt von der Front nach Wien zurück.

An der Universität Wien nahm er das Studium der Rechtswissenschaften auf. Dort beeinflußten ihn vor allem die Vorlesungen Friedrich von Wiesers, der zusammen mit Carl Menger zu den Begründern der Österreichischen Schule gehörte. Da die Wiener Universität in den Wintermonaten des Jahres 1919 geschlossen blieb, wich von Hayek nach Zürich aus, wo er sich mit der Erkenntnistheorie Moritz Schlicks vertraut machte. Nachhaltigen Einfluß auf Hayek hatten auch die Werke des Physikers und Wissenschaftstheoretikers Emst Mach.631

1921 beendete von Hayek sein Studium der Rechtswissenschaften erfolgreich mit der Promotion und zwei Jahre später auch das der Staatswissenschaften. Noch während seiner Ausbildung trat von Hayek in das "Österreichische Abrechnungsamt" ein und kam dort in engen Kontakt mit dessen Leiter, Ludwig von Mises.

Im Jahre 1927 begründete von Hayek zusammen mit Ludwig von Mises das Österreichische Institut für Konjunkturforschung, dessen Leiter er bis 1931 war. 1929

Rodan und Gottfried von Haberler. Ludwig Edler von Mises war neben von Hayek die führende Figur der Österreichischen Schule im 20. Jahrhundert. Ihm gelang es weitaus stärker als von Hayek, Anhänger um sich zu sammeln; aus diesem Grund wird er als Vater der „neuen“ Österreichischen Schule bezeichnet. Vgl. Kirzner, I.M., Austrian School of Economics, 1984, S. 148.630 Vgl. Leube, KR., Friedrich August von Hayek, 1989, S. 130.631 Emst Mach sah das Ideal der Wissenschaft in der Ausmerzung aller „metaphysischenZutaten“ und die richtige Methode in der „vereinfachenden Beschreibung“. Mach kann als geistiger Ahnherr des Wiener Kreises von Neupositivisten betrachtet werden, die eine ihrer Organisationen auch nach ihm Emst-Mach-Verein nannten. Vgl. Kirzner, I M , Austrian School of Economics, 1984, S.148.

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habilitierte sich von Hayek im Fach Nationalökonomie und Statistik an der Universität Wien mit einem Beitrag zur Geld- und Konjunkturtheorie. Sein Habilitationsvortrag "Gibt es einen Widersinn des Sparens?" brachte ihm eine Einladung von Lionel Robbins ein, vier Vorlesungen an der London School of Economics zu halten; noch 1931 wurde von Hayek als erster Ausländer zum Tooke Professor für Economic Science and Statistics an die London School of Economics berufen.

Die folgenden 18 Jahre in England begannen bereits im Sommer 1931 mit einer fimdamentalen Auseinandersetzung mit den Lehren von John Maynard Keynes. In den 30er Jahren bildeten die Ideen von Hayeks die intellektuelle Alternative zu denen von Keynes. Von Hayek veröffentlichte zwei Artikel in "Economica", um Keynes' "Treatise on Money" einer wissenschaftlichen Kritik zu unterziehen. 1938 erwarb von Hayek die britische Staatsbürgerschaft; 1940 wurde ihm der wirtschaftswissenschaftliche Doktorgrad der Universität London verliehen.

1944 erschien von Hayeks berühmtestes Buch "The Road to Serfdom". Dort warnte von Hayek nicht nur vor den Gefahren des Totalitarismus in der Form von Faschismus und Sozialismus, sondern auch vor jenen der modernen Wohlfahrtsdiktatur. "The Road to Serfdom" wurde zu von Hayeks Überraschung ein momentaner Erfolg und avancierte schließlich zu einem internationalen Bestseller der Nachkriegsjahre.

Aufgrund des großen Erfolges dieses Werkes wurde von Hayek zu zahlreichen Vorträgen und Gastvorlesungen in die USA eingeladen, was schließlich zu seiner Berufung an die University of Chicago führte. Im Oktober 1950 nahm von Hayek seine Arbeit als Professor of Social and Moral Sciences in Chicago auf; in den folgenden Jahren war von Hayek u.a. von Milton Friedman und Frank Knight und später auch George Stigler als Kollegen umgeben. Von Hayeks Konzentration auf die Sozial-, Rechts- und Wirtschaftsphilosophie führte schließlich zur Veröffentlichung seines Hauptwerkes, "The Constitution o f Liberty" (1960), wo von Hayek die ethischen, ökonomischen und anthropologischen Grundlagen einer freien Wirtschafts­und Gesellschaftsordnung entwickelt.

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Nach rund, zwölf Jahren folgte von Hayek dann einem Ruf an die Universität Freiburg, um dort den tradition srciclien Lehrstuhl Walter Euckens zu übernehmen. Nach seiner Emeritierung in Freiburg 1968 nahm von Hayek eine Gastprofessur an der Universität Salzburg an. 1974 erhielt von Hayek den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften. Ironischerweise wurde der Preis gleichzeitig auch an Gunnar Myrdal, den sozialistischen Ökonomen und Vater des schwedischen ''Volksheimes" verliehen. In seinem Nobelvortrag "The Pretence of Knowledge" weist von Hayek die irrigen Annahmen des herrschenden Post-Keynesianismus nochmals zurück und deutet die wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Krisen der Zeit als deren Konsequenzen.

1976 stellte von Hayek in seiner Broschüre "The Denationalisation of Money" die Idee vor, den staatlichen Behörden das Monopol zur Geldausgabe zu entziehen. Der einzige Weg, Inflation und monetäre Interventionen zu verhindern war für Hayek, die Geldausgabe zu privatisieren, um damit Wettbewerb und Freiheit in der Wahl des Geldes zu ermöglichen. In den Jahren 1973 bis 1979 erschien schließlich die Trilogie "Law, Legislation and Liberty", die von vielen als das "magnum opus" von Hayeks angesehen wird.632 Dort baute von Hayek vor allem seine Vorschläge zur Reform und Rekonstruktion der Demokratie weiter aus, denen zufolge zwei mit verschiedenen Aufgaben betraute repräsentative Versammlungen geschaffen werden sollten. Am 23. März 1992 starb von Hayek in Freiburg.

7.2 Die naturrechtsphilosophische Position

Mit seinem Eintreten für spontane Ordnungen knüpft von Hayek in gewisser Weise an die von Bernard de Mandeville, Adam Smith und David Hume vertretenen Vorstellungen natürlicher Ordnungen an. Im Gegensatz zu den Theorien von J. Bentham und J.St. Mill findet man in von Hayeks Schriften wieder eine enge Verbindung zwischen dem Gedanken eines evolutionären Prozesses und der

632 Vgl. Leube, K.W., Friedrich August von Hayek, 1989, S. 136.

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Vorstehung einer spontanen Ordnung, eine Verbindung, die Hayek betont, wenn er von den "Zwillingsideen der Evolution und der spontanen Ordnung" spricht.633

Von Hayek überwindet die von den Griechen, bzw. von den Sophisten geprägte Sicht, daß alle sozialen Phänomene nur in den Kategorien "natürlich" und "künstlich" verstanden werden können. Demgegenüber entwickelt er eine dritte Dimension sozialer Phänomene, den Bereich der sich entwickelnden und selbst-regulierenden Strukturen in der Gesellschaft im Rahmen einer natürlichen Regelselektion.634 Neben solchen Erscheinungen, die im Sinne völliger Unabhängigkeit vom menschlichen Handeln "natürlich" zu nennen wären, und jenen, die im Sinne eines Produkts menschlichen Entwurfs als künstlich gelten dürften, wäre eine mittlere Kategorie zu berücksichtigen, die alle ungeplanten Ordnungen und Regelmäßigkeiten umfaßt, deren Existenz wir im menschlichen Zusammenleben feststellen. Von Hayek betont in diesem Zusammenhang, daß

"ein Großteil dessen, was wir Kultur nennen,... weder völlig unabhängig vom menschlichen Handeln entstand, noch planmäßig geschaffen wurde."635

Die Ordnungsform muß vor allem der Größe und Komplexität der betreffenden Gesellschaft Rechnung tragen. Diese Auffassung gründet auf von Hayeks erkenntnistheoretischer Annahme, daß die Natur der menschlichen Erkenntnis- und Artikulationsfähigkeit Grenzen setzt, die das menschliche Planungsvermögen so weit einschränken, daß eine von Menschen geplante Ordnung nur einen niedrigeren Komplexitätsgrad haben kann, der in der Regel unter dem einer spontanen Ordnung liegt.636 In diesem Zusammenhang führt von Hayek vor allem an, daß das entscheidende Wissen des Menschen lediglich implizites Wissen ist, das dieser nicht artikulieren kann:637

Von Hayek, F.A. Freiburger Studien, 1969, S. 128.634 Vgl. Gray, J., Hayek, 1986, S. 29.635 Von Hayek, F.A., Freiburger Studien, 1969, S. 36.636 Wie Kant, so geht auch von Hayek davon aus, daß der Verstand des Menschen einer natürlichen Begrenzung unterliegt, die ihn daran hindert, das wahre Wesen der Erscheinungen zu erkennen. Vgl. von Hayek, F A., The Sensory Order, 1952, S. 2f.637 Hinter dem Begriff des impliziten Wissens steht zunächst die Vorstellung, daß der Menschvieles weiß, was er nicht ausdrücken kann. In diesem Sinne ist das implizite Wissen lediglichals Gegenstück zum expliziten Wissen, d.h. zur sprachlich formulierten Erkenntnis zu verstehen. Unter implizitem Wissen sind weiterhin Kenntnisse über Zusammenhänge zu

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"Erstens ist der Verstand des Menschen selbst ein Produkt der Zivilisation, in der er aufgewachsen ist, und der Verstand weiß von der Erfahrung, die ihn geformt hat, zum großen Teil nichts - Erfahrung, die ihn unterstützt, indem sie in Gewohnheiten, Gebräuchen, der Sprache und Moral verkörpert ist und Teil seines Bestandes ist. "6:,s

Sprache, Sitte, Moral, Brauchtum und Recht sind Strukturen von einer Komplexität, die zu begreifen sich der menschliche Verstand schwertut. Sie werden zwar durch das Verhalten aller Beteiligten konstituiert, doch nimmt niemand den Effekt des eigenen Verhaltens auf den Gesamtausgang vollständig wahr. Es bildet sich - oder evolviert - ein wechselseitig koordiniertes Verhalten, zu dem alle beitragen, das allen hilft, das jeder gewohnheitsmäßig voraussetzt und erwartet, aber das aus der jeweiligen individuellen Sicht selten als Gesamtheit verstanden wird.639

Gerade weil die spontane Ordnung ungeplant ist, kann sie mit der radikalen Ignoranz des Menschen bezüglich des unendlich vielfältigen Wissens innerhalb der Gesellschaft

verstehen, die man zwar nutzen kann, deren innere Kausalität aber unerklärt ist. Mit seiner Vorstellung vom implizitem Wissen greift von Hayek auf Michael Polanyi zurück, der diesen Begriff in seinem Werk „The Tacit Dimension“ ausgearbeitet hat. Vgl. Polanyi, M., The Tacit Dimension, 1966. Gleichzeitig verleiht von Hayek mit dem Begriff des impliziten Wissens dem in der Österreichischen Schule vorherrschenden methodologischen Subjektivismus Ausdruck. Vgl. Kirzner, I.M., Austrian School, 1984, S. 148f.638 Von Hayek, F. A., Die Verfassung der Freiheit, 1971, S. 32. Diese Äußerung von Hayeks läßt sich dahingehend deuten, daß er Vertreter der evolutionären Erkenntnistheorie ist. Diese kann als Theorieströmung des 20. Jahrhunderts gelten, zu deren Hauptvertretem Donald T. Campbell und Konrad Lorenz zählen. Im 19. Jahrhundert war der Evolutionsgedanke auch bereits schon von Herbert Spencer und Emst Mach problematisiert worden. In seinem Werk zur theoretischen Psychologie, „The Sensory Order“, vertritt von Hayek wesentliche Auffassungen derselben. Dort befaßt er sich vor allem mit den biologischen Grundlagen der menschlichen Erkenntnis; seine neueren erkenntnistheoretischen Forschungen enthalten hingegen lediglich Aussagen über die kulturellen Fundamente der menschlichen Wissensbildung. Als Grundaussage stellt die „evolutionäre Erkenntnistheorie“ die Aussage auf, daß sich der Erkenntnisapparat und die Wirklichkeit vor allem deshalb aneinander anpassen, weil sich unsere Sinne, unser Gehirn und unser Denken im Lauf der Evolution an dieser Welt entwickelt und sich an diese angepaßt haben. So äußert Radnitzky: „Im Zentrum des Programms dieser spezies-übergreifenden Erkenntnistheorie stehen erstens, komparative Untersuchungen der objektiven Produkte gewisser Evolutionsprozesse, und zweitens, Untersuchungen der Entwicklungsprozesse, die zu den genannten Produkten und zu den Fähigkeiten führen, die ihrer Produktion zugrunde liegen.“ Vgl. dazu Radnitzky, G., Erkenntnistheoetische Probleme im Lichte von Evolutionstheorie und Ökonomie: Die Entstehung von Erkenntnisapparaten und epistemischen Ressourcen, 1987, S. 115.639 Vgl. Witt, U., Bemerkungen, 1989, S. 141.

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fertig werden.640 Die spontane Sozialordnung kann das fragmentarische Wissen in einer Art und Weise verwenden, die einer holistisch geplanten Ordnung unmöglich ist.

"Diese Struktur der menschlichen Aktivitäten paßt sich permanent an, und sie funktioniert, weil sie sich ständig an Millionen von Fakten anpaßt, die in ihrer Gänze niemandem bekannt sind. Die Bedeutung dieses Prozesses wird am bedeutendsten im ökonomischen Bereich."641

Dies bedeutet, daß eine spontane Ordnung vor allem dasjenige Wissen verwenden kann, das in den Gewohnheiten und Dispositionen des Menschen verkörpert ist; die Gesellschaft hängt zu einem großen Teil von diesem praktischen Wissen ab und kann nicht ohne dieses existieren. Von Hayek schließt eine sprachliche Formulierung des impliziten Wissens prinzipiell aus, da das Gehirn sich nicht selbst erklären kann.642

Im Rahmen seiner Erkenntnistheorie vertritt von Hayek die Auffassung, daß der Mensch dank seiner Wahmehmungsregeln nicht konkrete Ereignisse wahmimmt, sondern nur bestimmte Aspekte derselben; aus diesem Grund verfugen die Wahmehmungsregeln über ein implizites Wissen, das der Mensch niemals vollständig verstehen kaim. Gleiches gilt auch fur die kulturell gebildeten Verhaltensregeln. Sowohl die Wahrnehmung des Menschen als auch sein Verhalten reagieren dabei nicht auf konkrete Situationen, sondern auf Abstraktionen. Dies läßt sich aus der Tatsache heraus erklären, daß die Verhaltensregeln nicht auf einzelne Ereignisse und

Im Rahmen seiner Erkenntnistheorie behauptet von Hayek, daß aus der Natur des Verstandes und der Sinneswahmehmung folgt, daß es keine „unabhängige“ Realität gibt, die der Mensch eines Tages zur Gänze erkennen kann. Letztlich ermöglicht die Sinnesordnung dem Menschen lediglich eine Erkenntnis, die sich auf mehr oder minder grobe Muster der Realität richtet. Die Außenwelt ist so komplex, daß der menschliche Erkenntnisapparat im Laufe der Evolution die Phänomene der Außenwelt zu den von ihm gebildeten „Kategorien“ zusammenfassen muß. Vgl. von Hayek, F.A., The Sensory Order, 1952, S. 19.641 Von Hayek, F.A., Studies in Philosophy, Politics, Economics, 1967, S. 7 lf.642 Aus der Annahme, daß Erklären klassifizieren bedeutet und daß ein System ein anderes nur dann klassifizieren kann, wenn es über mehr Klassen verfügt als das zu klassifizierende, folgert er, daß kein System sich oder gar komplexere erklären kann. Von Hayek hat allerdings später eingeräumt, daß seine Behauptung, sich selbst erklärende Systeme seien unmöglich, inadäquat sei. Diese These von Hayeks ist auch von G. Vollmer angezweifelt worden. Nach Auffassung Vollmers gibt es eine Vielzahl natürlicher Systeme, die weitaus komplexere Systeme klassifizieren. Vgl. Vollmer, G., Was können wir wissen, Bd.l, 1985-1986, S. 323, Anm. 11; vgl. von Hayek, F A., The Sensory Order after 25 Years, 1982, S. 292.

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Situationen zugeschnitten sind, sondern auf wiederkehrende Situationstypen. Andernfalls könnten sie von den Individuen nicht tradiert werden.043

Im Kontrast zum Begriff der "Organisation", der seiner gängigen Bedeutung nach auf Ordnungsformen abzielt, die das "Ergebnis bewußter Anordnung" sind, benutzt von Hayek den Ausdruck "spontane" Ordnung als Bezeichnung für eine gewachsene, sich selbst erzeugende Ordnung, die durch die "gegenseitige Anpassung der Elemente" hervorgebracht wird.644 Daß es im sozialen Bereich eine solche "spontane Ordnung" gibt und daß "eine wirkungsvolle Koordination der menschlichen Tätigkeiten ohne bewußte Organisation" allein durch den "Mechanismus der gegenseitigen Anpassung" bewirkt wird, bezeichnet von Hayek als die entscheidende sozialtheoretische Entdeckung der schottischen Moralphilosophie.645

Der wesentliche Unterschied zwischen einer spontanen und einer geplanten Ordnung läßt sich dahingehend definieren, daß erstere als Ganzes geplant ist, was auf letztere nicht zutrifft. Selbstverständlich sind auch die Handlungen, die eine spontane Ordnung bewirken, nicht ohne Plan, aber die Intentionen sind nicht auf das unbeabsichtigt entstehende System gerichtet.

Im Gegensatz zu einer spontanen Ordnung können Organisationen nicht sehr komplex sein, da sie geplant und einem bestimmten Ziel angepaßt wurden. Als Organisationsregeln bezeichnet von Hayek solche Regeln, die zur Bewältigung spezifischer Aufgaben aufgestellt werden.646 Um die Gründung einer Organisation zu

643 Im Rahmen der von ihm vertretenen Erkenntnistheorie unterscheidet von Hayek zwischen der phänomenalen und der physikalischen Welt; die Sinneswahmehmungen des Menschen reiht von Hayek in die phänomenale Ordnung ein; die physikalischen Ereignisse umfassen all das, was sich in der Realität ereignet. Die Sinnesordnung kann nur diejenigen Sinneswahmehmungen ordnen, die bestimmte Regelmäßigkeiten aufweisen. Damit ist die Wahrnehmung für von Hayek gleichermaßen abstrakt. Es richtet sich nicht auf konkrete Ereignisse, sondern auf etwas, was von vielen vorhergehenden Ereignissen durch die Sinnesordnung als etwas, das ihnen gemeinsam ist, abstrahiert wurde. Abstraktes Wahmehmen bedeutet somit, die abstrahierten Gemeinsamkeiten in konkreten Ereignissen wiederzuentdecken. Da der Verstand selbst eine Ordnung von Ereignissen und Komplexen von Beziehungen ist, erhält er auch lediglich Informationen über die Beziehungen bestimmter Elemente dieser Ordnung zu bestimmten anderen Elementen derselben. Vgl. Bouillon, H., Ordnung, 1991, S. 38.644 Vgl. von Hayek, F. A., Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Bd.l, 1980, S. 59.645 Vgl. von Hayek, F.A., Freiburger Studien, 1969, S. 163.646 Vgl. Bouillon, H., Ordnung, 1991, S. 22.

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beschreiben, reicht es aus, auf die Gründer, ihre Absichten und die Ausführung derselben zu verweisen. Die Planer bringen ihre Zielvorstellungen in die Gestaltung der Ordnung mit ein; sie bilden die Meinung darüber, was allen Organisationsmitgliedem nützt. Die Entstehung, die Struktur und die Regeln sind die wichtigsten Merkmale, an denen von Hayek die Unterscheidung zwischen geplanten und spontanen Ordnungen festmacht.

Jeder Planer befindet sich aber bereits in einem Geflecht von gewachsenen Systemen, von dem seine Planungsmöglichkeiten abhängen, nicht zuletzt, weil auch die menschliche Vernunft, auf der jede rationale Planung beruht, in ein Netz geordneter Strukturen eingewoben ist. Insofern ist es gerechtfertigt, von einem chronologischen wie auch von einem erkenntnistheoretischen Primat der spontanen Ordnung gegenüber der geplanten zu sprechen.

Das Zusammenwirken in einer spontanen Ordnung oder Marktordnung beruht auf abstrakten Regeln, die den Beteiligten die Verfolgung ihrer verschiedenen individuellen Ziele erlauben. Das spezifische Kriterium dieser abstrakten Regeln liegt nach von Hayek darin, daß sie "für eine unbekannte Anzahl künftiger Fälle gelten" und "im wesentlichen negativ sind, d.h. nur Verbote aussprechen und damit einen Bereich abstecken, innerhalb dessen der handelnde Mensch nach seinem Wissen und im Dienste seiner Zwecke entscheidet. "647

Die Auswirkung der Individuen auf die von ihnen unbeabsichtigt erzeugten Strukturen und die Rückwirkung derselben auf ihre Verursacher wird durch die Unterteilung in abstrakte und spontane Ordnungen veranschaulicht. Die abstrakte Ordnung ist der Bestand an Regeln, an kodifizierten Normen, während die konkrete Wirklichkeit, die sich im Rahmen einer abstrakten Ordnung einspielt, die spontane Ordnung darstellt.648 Von Hayek spricht genau dann von einer abstrakten Ordnung, wenn sie spontan entstanden ist und ihre Struktur es zuläßt, daß weitere Ordnungen spontan aus ihr entspringen können. Es gibt also in jeder abstrakten Ordnung, wie restriktiv diese

447 Von Hayek, F.A., Freiburger Studien, 1969, S. 178. Mit den Worten von Hayeks: „Die Regeln stellen nur den Rahmen dar, innerhalb dessen der Einzelne sich bewegen muß, die Entscheidungen aber ihm zustehen.“ Von Hayek, F. A., Die Verfassung der Freiheit, 1971, S. 183.648 Vgl. Zintl, R., Individualistische Theorien, 1983, S. 159.

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auch sein möge, eine spontane Ordnung; jedes noch so detailliert abgefaßte System von Regeln wird erst von den Handlungen der Individuen interpretiert, in eine konkrete Situation übersetzt.649 Obwohl also allen denkbaren abstrakten Ordnungen ein Spielraum eigen ist, den erst die spontane Ordnung ausfullt, kann das Ausmaß, in dem eine abstrakte Ordnung den Spielraum einengt, d.h. den konkreten Zustand der Gesellschaft fixiert, erheblich variieren.650

Von Hayek geht von einer Selbstreplikation spontaner Ordnungssysteme aus.651 Diejenigen Ordnungssysteme, die aus den Interaktionen einzelner Individuen hervorgehen, replizieren sich dadurch, daß sie Regelsysteme bilden, die von den Individuen praktiziert werden, wobei diese Praxis unbeabsichtigt die Ordnung aufrechterhält.652 Die Feststellung, daß die spontane Ordnung auf allgemeinen Regeln beruht, wird durch von Hayek gleichgesetzt mit der Annahme, daß eine spontane Ordnung "ein endogenes, von innen her wachsendes oder, wie die Kybernetiker sagen, sich selbstregulierendes oder sich selbstorganisierendes System" ist.653

649 Die Pole größter Offenheit und größter Geschlossenheit der abstrakten Ordnung sind gekennzeichnet durch die Gegenüberstellung von „Nomos“ und „Thesis“ im Bereich abstrakter Ordnungen und die ihnen entsprechenden Pole „Kosmos“ und „Taxis“ im Bereich des konkreten Handelns unter Regeln. Wenn die Regeln allgemeinen Charakter haben und keine bestimmten Handlungen vorschreiben, dann ist nicht vorab fixiert, welche konkrete Situation aus ihnen folgt. Ob es sich um eine spontane Ordnung im engeren Sinne handelt, hängt davon ab, welches Handeln diese allgemeinen Regeln induzieren. Weisen die Regeln einen Befehlscharakter auf, so zielen sie dahin, das Handeln unmittelbar so zu fixieren, daß daraus eine zuvor entworfene Situation mit erwünschten Eigenschaften, eine „Taxis“, erzwungen wird. Vgl. Zintl, R., Individualistische Theorien, 1983, S. 160.“50 Die abstrakte Ordnung darf grundsätzlich nur aus Verboten bestehen, die allgemein gelten. Diese Verbote müssen widerspruchsfrei sein, d.h. die Handlungen, die den Individuen erlaubt sind, dürfen nicht miteinander kollidieren. Weist eine abstrakte Ordnung diese Eigenschaften auf, so erzeugt sie eine spontane Ordnung, die nicht nur gegenwärtigen Wünschen von Individuen genügt, sondern auch im Stande ist, sich künftigen Wünschen anzupassen. Vgl. Zintl, R., Individualistische Theorien, 1983, S. 159.651 Von Hayek nimmt insbesondere Bezug auf Campbells Theorie der „Kausalität von oben“, um seine Theorie der Selbstreplikation spontaner Ordnungen zu untermauern; Campbells Theorie bietet dabei eine Erklärung dafür, warum spontane Ordnungen im Wettbewerb mit anderen weniger symmetrischen Systemen bestehen, bzw. warum nicht-chaotische Zustände überleben können. Vgl. Donald T. Campbell, Downward Causation, 1974, S. 180f.652 Der Begriff der Replikation ist hier in Analogie zu dem in der Biologie zu verstehen; wiederholt wird das vorgegebene Ordnungsmuster, nicht aber die Ordnung selbst. Die Theorie der Selbstreplikation hat in von Hayeks Theorie der spontanen Ordnung vor allem die Aufgabe zu erklären, warum die Menschen, wenn sie die Vorteile eines unbeabsichtigten Systems nutzen wollen, nicht in dem Maße in die gewachsene Struktur eingreifen dürfen, daß deren Replizierung behindert wird. Vgl. Bouillon, H., Ordnung, 1991, S. 31.653 Vgl. von Hayek, F.A., Freiburger Studien, 1969, S. 209.

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Wenn von Hayek nun den Prozeß der Herausbildung einer spontanen Ordnung als einen evolutionären Prozeß charakterisiert, so geht er zunächst davon aus, daß in einem nur durch allgemeine Regeln gesteuerten Prozeß aus den vielfältigen separaten Handlungen der einzelnen Akteure ein unintendiertes Gesamtergebnis hervorgeht. Gleichzeitig wirken die unintendierten Ergebnisse auf die künftigen Handlungen der Individuen zurück.654

Da die allgemeinen Verhaltensregeln den einzelnen lediglich gewisse Beschränkungen auferlegen, ihnen im übrigen aber die Freiheit belassen, ihr Handeln nach ihrer eigenen Situationseinschätzung zu gestalten, weist eine spontane Ordnung zwei wesentliche Charakteristika auf. Einerseits wird eine solche spontane Ordnung mehr Wissen nutzen können und daher auch komplexer sein als jede, auf zentraler Koordination beruhende Organisation; dies impliziert jedoch andererseits den Verzicht auf die Möglichkeit, den konkreten Inhalt der Ordnung zu bestimmen.655

Diese Überlegung steht bei Hayek im Vordergrund, wenn er den Prozeß der Herausbildung einer spontanen Ordnung als einen evolutionären Prozeß charakterisiert. Für die spontane Ordnung gilt dasselbe, wie für evolutionäre Prozesse im allgemeinen. Sie lassen sich nur äußerst schwierig erklären und beeinflussen. Da wir bestenfalls die Regeln kennen können, die von den Elementen verschiedener Arten befolgt werden, aus denen die Strukturen bestehen, aber nicht alle individuellen Elemente und nie alle besonderen Umstände, in denen sich jedes von ihnen befindet, ist unser Wissen auf den allgemeinen Charakter der Ordnung beschränkt, die sich bildet.

654 Von Hayek bringt den wechselseitigen Prozeß zwischen spontanen Ordnungen und den Individuen bzw. ihrem Geist zum Ausdruck, wenn er schreibt: „Geist ist ebenso sehr ein Produkt der sozialen Umgebung, in der es sich entwickelt hat, wie auch etwas, das seinerseits auf diese Institutionen gewirkt und sie verändert hat.“ Vgl. von Hayek, F. A., Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Bd.l, 1980, S. 33.655 M t der Charakterisierung vieler ökonomischer Sachverhalte als „komplexe“ Phänomene deutet von Hayek darauf hin, daß die konkreten tatsächlichen Ereignisse und Prozesse durch das Zusammenwirken so vieler Einzelfaktoren und Interdependenzen bestimmt sind, daß ihre vollständige Erklärung an der Unmöglichkeit scheitert, alle relevanten Randbedingungen mitzuberücksichtigen. Es ist deshalb auf diesem Gebiet unmöglich, einfache Effekte zu isolieren, durch deren bloße Kombination untereinander und mit singulären Randbedingungen die Erklärungen des jeweiligen Phänomens erfolgen könnte. So von Hayek: „(Wir) wissen, daß wir nicht alles wissen können, was wir zu einer vollständigen Erklärung der Phänomene wissen müßten.“ Vgl. von Hayek, F. A., Die Theorie komplexer Phänomene, 1972, S. 34.

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Gleichzeitig liefert von Hayek eine Erklärung dafür, warum spontan gebildete Systeme im Wettbewerb mit anderen bestehen können. Darin äußert er die Vorstellung, daß sich die allgemeinen Regeln, die die Grundlage der spontanen Ordnung bilden, selbst in einem Prozeß allmählicher Entwicklung als uiuntendiertes Produkt des Zusammenspiels individueller Bestrebungen herausbilden und verändern. Mit dem Gedanken der Evolution von Regeln verbindet sich bei von Hayek die recht spezifische Vorstellung eine "Auswahlvorganges, der ... vom Erfolg gelenkt wird", eines Selektionsprozesses, in dem sich bestimmte Verhaltensregeln durchgesetzt haben, "weil sie die Gruppe, in der sie entstanden waren, befähigten, sich gegenüber anderen durchzusetzen."656 Um die Entstehung und Erhaltung spontaner Ordnungen zu erklären, greift von Hayek somit auf zwei unterschiedliche Theorien zurück.

"In dem einen Sinne sprechen wir von einer spontanen Ordnung in bezug auf eine komplexe, aggregierte Struktur, die aus den freiwilligen Handlungen von Individuen geformt wird, während wir in einem anderen Sinne von dem evolutionären Wachstum von Recht und Institutionen durch eine Art von Darwinschem Prozeß des Überlebens des Bestangepaßten reden. ... Eine Version zeigt, wie Institutionen und Bräuche auf eine kausal-genetische Art hervorgehen können, während die andere zeigt, wie sie faktisch überleben.1,657

Wie von Hayek betont, bedeutet die Anwendung evolutionstheoretischen Denkens im Bereich sozialer Erscheinungen keineswegs die Übertragung eines Denkmusters aus der Biologie in die Sozialwissenschaft. Ideengeschichtlich war es vielmehr umgekehrt so, daß die biologische Evolutionstheorie ihr Vorbild in den Sozialwissenschaften hatte, und zwar in jener Theorie vom Wachsen menschlicher Institutionen, die die schottischen Moralphilosophen des 18. Jahrhunderts als Darwins Vorläufer auf dem Gebiet der Ethik entwickelt hatten.658

656 Vgl. von Hayek, F. A., Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Bd.l, 1980, S. 24.637 Vgl. Barry, N.P., The Tradition of Spontaneous Order, 1982, S.U.658 Erst im 19. Jahrhundert kam es zu einer Übertragung evolutionstheoretischer Gedanken aufden Bereich der Biologie. Die Verbreitung des Entwicklungsgedankens in der Biologie wurdeerst durch Charles Darwin vorangetrieben. Vgl. Poggi, S.; Röd, W., Philosophie der Neuzeit4, 1989, S. 102 ff.

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Seit Adam Smith und der schottischen Moralphilosophie hatte es Versuche gegeben, die Koordination wirtschaftlichen Verhaltens im multilateralen Tausch und der Arbeitsteilung als Phänomene komplexen Zusammenwirkens begreiflich zu machen.659 Die Entdecker des Zusammenhanges bedienten sich dabei solcher Metaphern wie der "Bienenfabel" ( de Mandeville), der "unsichtbaren Hand" (Smith) und der Vorstellung, daß Ordnungen zwar das Resultat menschlichen Handelns, aber nicht menschlichen Entwurfs seien (Ferguson). Dazu kommentiert von Hayek:

"ln der Diskussion solcher sozialer Gebilde wie Sprache und Moral, Recht und Geld, wurde im achtzehnten Jahrhundert das Begriffspaar Evolution und spontane Bildung einer Ordnung zumindest klar formuliert und die intellektuellen Werkzeuge bereitgestellt, die Darwin und seine Zeitgenossen auf die biologische Evolution anwenden konnten. "660

Jedoch betrachtet von Hayek auch die Evolutionstheorie Charles Darwins als Vorbild. Diese erhebt nicht den Anspruch, zu beliebig spezifischer Erklärung struktureller Einzelheiten in Aufbau, Funktionsweise oder Verhalten der Organismen verwendbar zu sein. Eine Beschränkung der Zielsetzung ist vor allem vom Objekt her notwendig, da es unmöglich ist, die konkreten Umstände, die im Lauf von zwei Milliarden Jahren über das Auftreten der heute vorhandenen Formen entschieden haben.661

Einer Erklärung mit Hilfe dieser Theorie sind tatsächlich nur bestimmte abstrakte Merkmale dieser Strukturen zugänglich, wie z.B. ihr zweckmäßiger Aufbau, das Bestehen voneinander abgegrenzter Alten oder ihre Vielfalt. Obwohl die Evolutionstheorie zur Erklärung solcher abstrakter Merkmale kein Wissen über die konkreten Bestimmungsfaktoren des Evolutionsprozesses im einzelnen erfordert, macht sie doch von den allgemeinen Annahmen Gebrauch, indem sie mit der Vielfalt der Umwelten und dem Zufallscharakter von Mutationen argumentiert.662

Vgl. Witt, U., Bemerkungen 1989, S. 141.“ ° Von Hayek, F.A., Freiburger Studien, 1969, S.237.681 Vgl., Graf, H.G., Mustervoraussagen, 1978, S. 47.662 Die biologische Evolutionstheorie besagt, daß primitive Attitüden unter den Selektionsbedingungen der damaligen Umgebung genetisch fixiert wurden; sie bewirkten eine beobachtbare Ordnung in den sozialen Interaktionen, für die die Soziobiologie die Erklärungsmuster liefert. Einmal genetisch fixiert, finden sich diese Attitüden und Werthaltungen nach weitgehendem Wegfall des biologischen Selektionsdruck als natürliche

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Nach von Hayek findet die Evolutionstheorie auch dort Anwendung, wo es utn die Funktionsweise z.B. eines Marktmechanismus in einem gegebenen Stadium der Entwicklung geht. Damit behält die Darwinsche Theorie im Sinne der Entwicklung ihre Eignung insofern, als auch hier die konkreten Ergebnisse im allgemeinen wegen der empirischen Unzulänglichkeit ihrer verursachenden Faktoren nicht vorhersehbar sein müssen. Hier kommt man nach von Hayek weiter, wenn man diesen Grenzen nach dem Vorbild der Darwinschen Evolutionstheorie durch eine entsprechende Art des Theoretisierens Rechnung trägt, nämlich durch die Formulierung von Theorien, die nichts Unmögliches an Kenntnissen über singuläre Tatsachen verlangen, um überprüfbar zu bleiben.663

Im Gegensatz zur biologischen Evolutionstheorie Charles Darwins betont von Hayek den als soziale und kulturelle Evolution bezeichneten Prozeß, den er zwischen Vernunft und Verstand ansiedelt. In Erweiterung des Gedankens der schottischen Moralphilosophie wird die Ordnung, die sich im menschlichen Zusammenleben in Kultur, Gesellschaft und Wirtschaft dokumentiert, als das Resultat eines jahrtausendelangen Entwicklungsprozesses interpretiert, in dem bestimmte Verhaltensweisen gelernt werden, oft ohne überhaupt ein Verständnis fur ihre Funktion in dieser Ordnung zu besitzen.664

Der entscheidende Faktor der kulturellen Evolution besteht darin, die erfolgreichen Institutionen und Bräuche nachzuahmen und weiterzugeben. Schon in der kleinen Gruppe der menschlichen Stammesgeschichte werden kulturelle Normen gelernt und durch kulturelle Überlieferung weitergegeben. Die Entstehung und Veränderung solcher Normen erfolgt blind, insoweit kein individuell geplanter und kontrollierter

Erbschaft im modernen Menschen wieder. Von Hayek kennt darüber hinaus auch die Evolution der menschlichen Intelligenz und ihrer Produkte, des Wissens, auf die bereits im Rahmen von v. Hayeks Erkenntnistheorie verwiesen wurde. So äußert von Hayek die Auffassung, daß der Mensch dank seiner Sinnesordnung keine konkreten Ereignisse wahmimmt, sondern nur gewisse Aspekte derselben. Vgl. Witt, U , Bemerkungen, 1989, S. 143.663 Vgl. Graf, H.G., Mustervoraussagen, 1978, S. 49f. m Vgl., Witt, U., Bemerkungen, 1989, S. 143.

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Prozeß vorliegt. Wie und welche Nonnen im einzelnen entstehen, ist eine Frage historischer Zufälligkeiten.665

Dieser Mangel an Verständnis und Wissen darüber, wie sich individuelles Verhalten wechselseitig beeinflußt und Regelhaftigkeit generiert, herrscht nicht nur in den komplexen, modernen Gesellschaften, mit weit verzweigter Arbeitsteilung; bereits auf der Stufe einer auf Selbstversorgung beruhenden Gesellschaft gibt es Formen der Koordination des zwischenmenschlichen Verkehrs, deren Funktionsweise und Zustandekommen nur noch bruchstückhaft überschaut werden.

Es ist jedoch keineswegs zufällig, welche Regeln innerhalb einer Gruppe überleben und erfolgreich sind. Es gibt einen Prozeß der Selektion, indem sich vor allem diejenigen Regelungen ausbreiten, die besser geeignet sind, eine immer größere Anzahl von Menschen in der jeweiligen Gruppe am Leben zu erhalten. Nach von Hayeks Auffassung werden die kulturellen Regeln durch Imitation von Individuum zu Individuum übertragen, ohne daß sie gekannt oder ihre Funktionen vollständig von denen, die sie befolgen und imitieren, verstanden werden. Dafür bietet er eine psychologische Erklärung, die auf der Angst der Menschen vor dem Unbekannten und Neuen und ihrem Vertrauen auf das, was in der Vergangenheit erfolgreich war, basiert.666

Ob neue Regeln von einer Gruppe dauerhaft praktiziert werden, hängt vor allem davon ab, inwieweit sie zum Erfolg der Gruppe beitragen. Als Kriterium, an dem sich der Erfolg der kulturellen Regeln abmessen läßt, fuhrt von Hayek den Zuwachs an

665 In der Tradition der österreichischen Schule, vor allem Mengers, ist von Hayeks Sichtweise von einer Grundprämisse geprägt: Individuelles Wissen ist unvollständig und unvollkommen, ein Tatbestand, der vor allem für das individuelle Handlungswissen gilt, das den Entscheidungen innerhalb der Wirtschaft zugrundeliegt. Es gilt darüber hinaus vor allem für den Einfluß, den das eigene Handeln auf den Rahmen und die Beschränkungen der Entscheidung anderer haben. Vgl. dazu Sheamur, J., The Austrian Connection, Hayek's Liberalism and the Thought of Menger, 1986, S. 210ff.666 Auf dieser dritten Ebene der Evolution spielt vor allem die Gruppenselektion eine entscheidende Rolle: Jene Gruppen und Teile der Gesellschaft, die Regelungen hervorbringen, die es ihnen erlauben, eine überlegene Form des sozialen und wirtschaftlichen Zusammenlebens zu finden, sind besser in der Lage, sich zu vermehren und Mitglieder von außen zu integrieren. Jene Gruppen der menschlichen Gesellschaft, die dagegen nicht in der Lage sind, durch eigenen Erfmdungsreichtum oder durch Imitation geeignete Formen des Zusammenlebens spontan zu entwickeln, werden dagegen verkümmern. Vgl. Bouillon, H., Ordnung, 1991, S. 40.

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neuen Mitgliedern in der Gruppe an, die diese Regeln befolgt.667 Der evolutionäre Auswahlprozeß wird vor allem dadurch in Gang gehalten, daß Änderungen der Umweltbedingungen "eine Änderung der Ordnung der Gruppe ..., und daher der Verhaltensregeln" erfordern.668 Mit den Worten von Hayeks:

"Jede Änderung in den äußeren Umständen wird eine gewisse Änderung in ... Gewohnheiten und Bräuchen notwendig machen.... Jede Änderung schafft in gewissem Sinne ein Problem fur die Gesellschaft, obwohl kein einzelner es als solches empfindet; und es wird allmählich gelöst durch die Herausbildung einer neuen allgemeinen Ordnung."669

Von Hayek vermutet wohl zurecht, daß ein Wechsel in der Umwelt eine Veränderung im Regelsystem einer Gruppe erforderlich machen kann. Aber wenn dieser Wechsel sich rascher vollzieht, als der Prozeß der Regelanpassung Schritt halten kann, besteht die Gefahr, daß die Gruppe diesen Wandel nicht übersteht.

Diese Änderung wird sich in einem Prozeß der Anpassung und des Lernens um so erfolgreicher durchsetzen, je größer die Gelegenheit für die Entstehung von ungeplanten Erneuerungen ist, von denen "die unzweckmäßigen fallengelassen und die zweckmäßigen beibehalten werden."670 Da dieser evolutionäre Prozeß durch Neuerungen vorangetrieben wird, hängt der Fortschritt nach von Hayek "von der größtmöglichen Gelegenheit fur den Eintritt von Zufälligkeiten ab."671 Die Chance für Innovationen wird um so größer, je mehr Wettbewerb ermöglicht wird, wobei der Wettbewerb, auf dem der kulturelle Selektionsprozeß beruht, den "Wettbewerb zwischen organisierten und unorganisierten Gruppen ebenso einschließt wie den Wettbewerb zwischen Individuen."672

667 Vgl. von Hayek, F.A., Freiburger Studien, 1969, S. 157f.668 Von Hayek, F A., Freiburger Studien, 1969, S. 149.669 Von Hayek, F.A., Die Verfassung der Freiheit, 1971, S. 36.670 Von Hayek, F.A., Die Verfassung der Freiheit, 1971, S. 51.671 Von Hayek, F A., Die Verfassung der Freiheit, 1971, S. 42f.672 Von Hayek, F A., Die Verfassung der Freiheit, 1971, S. 46.

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7.3 Die utilitaristische Position

Da von Hayek für spontane Ordnungen plädiert, ist er äußerst skeptisch, was vertragstheoretische Konstruktionen betrifft. Im Gegensatz zu präferenzethischen Positionen vertritt Hayek nicht die Auffassung, daß auch die Auswahl von Regeln und Institutionen an individuelle Präferenzen zu knüpfen ist. Entsprechend dieser Betrachtungsweise hat von Hayeks liberale Theorie weit weniger Probleme mit Annahmen über Individuen als die präferenzethischen Varianten von Gesellschaftstheorien; so wird den Individuen nicht zugemutet, eine Gesellschaftsordnung aus dem Nichts erschaffen zu müssen. Wenn Gesellschaften durch Vertrag zustande kommen, dann ist es auch nicht unmöglich, daß sie wie Organisationen verfaßt sind. In von Hayeks Antirationalismus verbirgt sich somit ein konsequenter Antiutilitarismus.

Von Hayek leitet seine Kritik des von ihm so bezeichneten 'konstruktivistischen Rationalismus' zunächst aus seiner Erkenntnistheorie ab.673 Den grundlegenden Irrtum sieht er vor allem in der von diesem vertretenen Annahme, daß alle relevanten Tatsachen einem einzelnen Geist bekannt seien. Als konstruktivistischen Rationalismus' bezeichnet er dabei jene Gesellschaftsphilosophie, die in der Tradition von René Descartes steht und davon ausgeht, daß wir in der Lage sind, ganze Gesellschaften nach Maßgabe eines rationalen Planes zu konstruieren.674 Nach Maßgabe von Hayeks Erkenntnistheorie wissen die Individuen selbst nicht, was sie wollen; dementsprechend kann auch kein anderer beanspruchen, dies zu wissen:

"Eine andere irreführende Redewendung ... ist der berühmte Satz, daß jedermann die eigenen Interessen am besten kennt. In dieser Form ist die Behauptung weder

673 Den konstruktivistischen Rationalismus verfolgt von Hayek bis zu Aristoteles zurück. So zieht Aristoteles im zweiten Buch der "Physik" die spontane Formierung eines geordneten Zustandes stark in Zweifel. Vgl. Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Bd.l, 1980, S. 34f.

So äußert von Hayek: „Die Irrtümer des konstruktivistischen Rationalismus sind eng verknüpft mit dem cartesischen Dualismus, d.h. mit der unabhängig existierenden Geist- Substanz, die außerhalb des Kosmos der Natur steht und den Menschen befähigt, von Anfang an gerüstet mit einem derartigen Geist, die Institutionen der Gesellschaft und Kultur zu entwerfen, in denen er lebt... Die Vorstellung eines schon voll entwickelten Geistes, der die Institutionen entwirft, die das Leben in Gesellschaft möglich machen, steht im Gegensatz zu allem, was wir über die Evolution des Menschen wissen “ Von Hayek, F.A., Recht, Gesetzgebung, Freiheit, Bd.l, 1980, S. 34f.

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einleuchtend noch notwendig fur die Argumentation eines Individualisten. Die wahre Grundlage seines Gedankenganges ist, daß niemand wissen kann, wer etwas am besten weiß."675

Aus der Tatsache, daß den Individuen nicht generell unterstellt werden kann, daß sie ihre eigenen Interessen kennen, und wenn gleichzeitig Außenstehenden unterstellt werden kann, daß sie solche wahren Interessen nicht kennen können, dann ist es unmöglich, solche Ordnungsentwürfe unter Gesichtspunkten wie dem 'Gemeinwohl', der 'Gerechtigkeit' und dem größten Glück der größten Zahl' zu diskutieren.

Aus diesem Grund richtet sich von Hayek gegen die lange vorherrschende Auffassung der neoklassischen Theorie der vollkommenen Konkurrenz, die das zur bewußten Herbeiführung konkreter, erwünschter realökonomischer Ergebnisse erforderliche Wissen nicht nur für leicht erlangbar, sondern auch für hinreichend zentralisierbar hält. Nicht unser Wissen ist vollkommen und unbegrenzt, wie dies die neoklassische Theorie der vollkommenen Konkurrenz voraussetzt, sondern unser Unwissen. Das Marktsystem kann dementsprechend nicht als auf Grund vollkommenen Wissens vollkommen geordnet und geschlossen gedacht werden. Das Bild einer Wirtschaftsgesellschaft, in der alle Probleme gelöst sind, entspricht nicht der Wirklichkeit. Innerhalb seiner ökonomischen Theorie geht von Hayek zunächst davon aus, daß Wissen entdeckt werden muß, es kann nicht, jeder praktischen Erfahrung zuwider, einfach als bekannt vorausgesetzt werden. Der Wettbewerb gilt dabei als wichtigstes aller bekannten Entdeckungsverfahren, der das verstreute Wissen und Können der Menschen nutzbringend zusammenführt.676

675 Von Hayek, F A., Individualismus und wirtschaftliche Ordnung, 1952, S. 27.676 Um den Unterschied zwischen dem Marktprozeß und dem neoklassischen Gleichgewichtssystem der vollkommenen Konkurrenz zu betonen, hat von Hayek den Begriff der Katallaxie geschaffen. Die Katallaxie ist eine spontane Ordnung oder ein Kosmos; sie ist keine bewußte Organisation, sondern ein Produkt des spontanen Wachstums. Die Katallaxie ist ein Netzwerk von vielen Wirtschaften, jedoch hat sie selbst keinen spezifischen Zweck; ihr Zweck liegt in der Erfüllung möglichst vieler individueller Zwecke. Dazu von Hayek: „Die Katallaxie ist, als Gesamtordnung, jeder geplanten Organisation deshalb so überlegen, weil in ihr jeder, während er seinen eigenen Interessen folgt, ob nun gänzlich egoistisch oder hochgradig altruistisch, die Ziele vieler Personen fördert, von denen er die meisten niemals kennen wird.“ Vgl. von Hayek, F.A., Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Bd.2, 1981, S. 152.

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Wie alle sozialen Gebilde ist auch der Markt keine gemachte, sondern eine vom Selektionsprinzip hervorgebrachte spontane Ordnung. Dabei gilt der Markt als ein viel zu geniales Koordinationsinstrument einzelwirtschaftlicher Handlungen, als daß er von einem Menschen hätte erfunden werden können. Der Markt vermittelt über die Signalfunktion der Preise die zum Wirtschaften notwendigen Informationen besser, als es wegen der enormen Komplexität des Geschehens der beste Planer je vermöchte.677 Da die allgemeinen Verhaltensregeln dem einzelnen lediglich gewisse Beschränkungen auferlegen, ihm aber im übrigen die Freiheit belassen, ihr Handeln nach ihrer eigenen Situationseinschätzung zu gestalten, kann eine solche Ordnuug vielmehr Wissen nützen als eine Einzelperson jemals besitzen könnte.678

Das Marktsystem ist ein offenes System, das in ständiger Auseinandersetzung mit einer unablässig sich wandelnden Umgebung Probleme löst, und in dem jeder einzelne gegen seine konstitutionelle Unwissenheit ankämpfen muß. Vorhandenes Wissen kann stets durch besseres Wissen ersetzt werden: Dies gilt für alle Arten des Wissens, für die Kenntnis besonderer vorübergehender Umstände ebenso wie für wissenschaftliches Wissen, das sich z.B. als naturwissenschaftliche Erkenntnis, auch in Gütern und Diensten verkörpern kann; letztlich trifft es auch für Wissen zu, das in Verhaltensregeln, in Rechtsnormen etwa, verkörpert ist.

An dieser Stelle führt von Hayek den Wettbewerb als ein Verfahren zur Entdeckung von Tatsachen ein, die ohne sein Bestehen entweder unbekannt bleiben oder zumindest doch nicht genutzt werden können.

"Das Problem, das die Marktordnung löst, ist gerade das der Nutzung von mehr Wissen, als irgendein einzelner Verstand besitzt. Die Marktordnung erreicht dies durch ein Entdeckungsverfahren, was wir Wettbewerb nennen."679

Der Wettbewerb als Entdeckungsverfahren ist der Schlüssel zu jener Tür, hinter der sich das evolutorische Potential einer Gesellschaft verbirgt. Evolution ist ein echtes Knappheitsphänomen: Ohne Wissensknappheit, ohne begrenztes Wissen, ohne

Vgl. von Hayek, F A., Freiburger Studien, 1969, S. 258.678 Vgl. von Hayek, F A., Die Verfassung der Freiheit, 1971, S. 40.679 Von Hayek, F A., Freiburger Studien, 1969, S. 167.

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unbegrenztes Unwissen, ohne Existenz positiver Informationskosten, wie immer diese bezeichnet wird, wäre weder das Angebot neuer Problemlösungen, die Mutation, noch das Aussortieren der Leistungsfähigsten, die Selektion, sinnvoll und überhaupt möglich.680

Der Wettbewerb läßt sich im Zeitablauf als eine Folge von Ungleichgewichten charakterisieren, die immer fur irgendwelche Teilnehmer Anreize zu zusätzlichen Anstrengungen, zu Erfindungen neuer Produkte und zu Verbesserung von Produkten und Produktionstechniken mit sich bringen. Es gibt zwar niemals Gleichgewichte, aber immer klare Signale für Ungleichgewichte mit den entsprechenden Ausgleichsanreizen, die dann selbst ein neues Ungleichgewicht mit neuen Anreizen erzeugen. Die ständige Bedrohung, die dem Wettbewerb innewohnt, macht den Wettbewerb zu einem anonymen, doch äußerst wirkungsvollen Entdeckungsmechanismus und damit zum Instrument ständiger Wohlstandssteigerung.681

Wegen der Unbegrenztheit und Universalität unseres Unwissens ist ex ante im einzelnen unbekannt, welche konkreten Probleme in der Zukunft auftauchen werden und wieviel und welche Art von Ressourcen, Wissen und Phantasie zu ihrer Lösung mobilisiert werden. Darüber hinaus ist es unmöglich festzustellen, daß das im Wettbewerb entdeckte Wissen das bestmögliche ist. Der Grund liegt darin, daß der Wettbewerb als Entdeckungsverfahren ein evolutorischer Prozeß ist: Um die Optimalität der Ergebnisse eines solchen Prozesses feststellen zu können, wäre letztlich als Vergleichsmaßstab ein zweiter evolutorischer Prozeß notwendig, der die Eigenschaft der Optimalität aufweist. Eine solche Vergleichsgröße existiert jedoch nicht. Sie ließe sich nur durch Anmaßung von vollständigem Wissen durch einen außenstehenden Beobachter gewinnen. Aber ob dessen Wissen wirklich vollständig ist, läßt sich aus prinzipiellen Gründen niemals feststellen.

680 Wie effizient der Wettbewerb als Entdeckungsverfahren jedoch letztlich arbeitet, entscheidet sich alleine auf der Ebene der Verhaltensregeln. Wenn die Rechtsordnung allai erlaubt, ihre Ressourcen, ihre Phantasie und ihre schöpferische Intelligenz in den Dienst der Lösung ihrer ökonomischen Probleme zu stellen, dann wird es nicht nur zu einem größeren Maß an Handelnskoordination und Zielerfüllung kommen, es wird gleichzeitig auch mit einem größeren Strom an Neuerungen zu rechnen sein, aus denen ausgewählt werden kann. Vgl. Kunz, H., Wettbewerb, 1989, S. 216.681 Vgl. F.A. v. Hayek Freiburger Studien, 1969, S. 249ff.

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Demgegenüber ist der Utilitarismus nach Auffassung von Hayeks ein "konstruktivistischer Irrtum", der "unter der faktischen Annahme der Allwissenheit verfahren muß", da er "eine Kenntnis der besonderen Wirkungen unserer individuellen Handlungen voraussetzt, während in der Tat die gesamte Existenz des Phänomens, das sie erklären wollen, nämlich eines Systems von Verhaltensregeln, auf der Unmöglichkeit solchen Wissens beruht... Und der charakteristischste Zug von Moral und Recht, wie wir sie kennen, ist deshalb, daß sie aus Regeln bestehen, denen ungeachtet der bekannten Wirkung der besonderen Handlung gehorcht werden soll."682

Von Hayek sieht sich auch deshalb nicht als Utilitarist, weil der Mensch im Rahmen seiner Konzeption nach Überleben strebt, nicht nach Glückseligkeit. Abstrakte Verhaltensregeln erlegen dem Menschen eine Disziplin auf, die auch entschieden unangenehm sein kann, die aber notwendig ist, um die komplexe Struktur der Gesellschaft zu erzeugen, die das Überleben sichert. Von Hayek selbst betrachtet sich durchgehend als Naturalisten, die Ethik ist für ihn völlig das Resultat der kulturellen Evolution.

Dennoch kann der Utilitarismus auch unter anderen Aspekten betrachtet werden als unter dem Lust-Unlust-Kalkül Benthams. Falls sein Wesen anstattdessen darin liegt, das größte Glück der größten Zahl herbeizufuhren, kann er eine Nützlichkeitsdefimtion im Sinne des Überlebens für sich beanspruchen. Unter diesem Aspekt muß von Hayek als ethischer Utilitarist betrachtet werden. In diesem Sinne hat Gray ihn als Systemutilitaristen bezeichnet; fur ihn dient die Nützlichkeit als Standard zur Bewertung gesamter Regelsysteme.683 Nach von Hayek dienen die Regeln der Moral vor allem dazu, den Bestand der Sozialordnung und gleichzeitig das Fortbestehen der menschlichen Gattung an sich zu garantieren; nur zu diesem Zweck sind die Moralregeln aus dem Prozeß der kulturellen Evolution entstanden. Mit den Worten von Hayeks:

"Die Gruppe mag sich nur deshalb erhalten haben, weil ihre Mitglieder

682 Von Hayek, F.A., Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Bd.2, 1981, S. 37f.683 Vgl. Gray, J., Hayek and the Rebirth of Classical Liberalism, 1982, S. 50.

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Handlungsweisen entwickelt und weitergegeben haben, die dies Gruppe als Ganzes effektiver machten als andere; aber kein Mitglied der Gruppe braucht den Grund zu wissen, warum bestimmte Dinge in einer bestimmten Art getan werden.1'684

Es kann durchaus als ironisch bezeichnet werden, daß ausgerechnet von Hayek - der große Individualist - in seiner moralischen Theorie als letzten Bezugspunkt nicht das freie und autonome Individuum wählt, sondern die abstrakte Sozialordnung. Auf diese Art und Weise bewegt sich seine Ethik in Richtung des von ihm verhaßten Kollektivismus; als entscheidender Unterschied ist jedoch anzufiihren, daß von Hayek der Versuchung widersteht, Regeländerungen im Namen der Gruppe vorzunehmen.685

Von Hayek selbst ordnet sich einer dem Konstruktivismus und Utilitarismus entgegengesetzten intellektuellen Tradition zu. Er fordert keine Originalität für seine Ideen, sondern ist der Auffassung, daß er bestimmte fundamentale Gedanken des achtzehnten Jahrhunderts neuformuliert. Zu seinen Vorläufern zählt er vor allem die britischen Sozialwissenschaftler des 18. Jahrhunderts, die eine der Aufklärung entgegengesetzte intellektuelle Strömung bildeten.686 Diese Schule geht nach Auffassung von Hayeks auf die Philosophien Bernard de Mandevilles, Adam Smiths David Humes und Adam Fergusons zurück: Bei allen genannten Autoren finden sich bereits Ansätze einer Theorie der sozialen Evolution.

In utilitaristischen und konstruktivistischen Gesellschaftsentwürfen sieht von Hayek einen falschen' im Gegensatz zum wahren' Individualismus vertreten. Dort werde die Vernunft überbetont, Ordnung als bewußtes Planen der Ratio aufgefaßt, so daß die Institutionen der Gesellschaft als Konstruktionen der Soziotechnik erscheinen.687 In von Hayeks Theorie der sozialen Evolution ist die individuelle Freiheit eine notwendige Voraussetzung fur spontanes Wachstum. Im Gegensatz dazu behaupten die Rationalisten, daß die Individuen nur durch Zwangsgesetze zusammengehalten

Von Hayek, F.A., Recht, Gesetzgebung und Freiheit, 1981, Bd. 2, S. 115.685 Vgl. Walker, G., Ethics, 1986, S. 45.686 Vgl. Barry, N.P., Hayeks Philosophy, 1979, S. 7.

In der von Hayek aufgestellten Ahnenreihe der Vertreter eines echten Individualismus steht John Locke an erster Stelle, gefolgt von Hume, Smith und Burke. Der von diesen vertretene evolutionäre Rationalismus glaubt, daß Gesellschaft, Sprache und Recht sich in einer evolutionären Art und Weise entwickelt haben und nicht von irgendjemandem entworfen wurden. Vgl. Dörge, F.W., Menschenbild, 1959, S. 93.

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werden können, die von allmächtigen Souveränen geschaffen und an kollektive Ziele gebunden sind.688

Außer Descartes macht von Hayek auch die englischen Naturrechtsphilosophien des 17. und 18. Jahrhunderts für utilitaristische Irrtümer verantwortlich. Diese nahmen fälschlicherweise an, daß moralische Nonnen aus ersten Prinzipien abgeleitet werden könnten. Solche Normen sollten in einer Rechtsordnung, unabhängig von der Erfahrung, verkörpert werden. Als bedeutendster Vertreter dieser Richtung galt Thomas Hobbes; in der Folge entwickelte sich das konstruktivistische Denken ausgehend von Francis Bacon, Voltaire, lean-Jacques Rousseau, Jeremy Bentham und John Austin weiter.689 Insbesondere Voltaire faßte die Ansichten der Konstruktiv!sten treffend zusammen, indem er die Auffassung äußerte, daß der erste Schritt zur Konzipierung eines besseren Rechtssystemes deijenige sei, alle bestehenden Gesetze abzuschaffen. Diese Sicht fand ihren Höhepunkt schließlich im Rechtspositivismus Benthams.690

Ausdrücklich distanziert sich von Hayek auch - ganz im Gegenteil zu seinem Lehrer Mises - von den Benthamiten, die unter dem Einfluß des falschen' Individualismus stünden. Die besondere Tragik des Individualismus liegt nach von Hayek vor allem darin, daß beide grundverschiedenen Interpretationen unter demselben Namen bekannt geworden sind und sich in der Theorie von John Stuart Mill vermischten.691 In seiner Kategorisierung Benthams als 'falschen' Individualisten führt von Hayek vor allem Benthams Argument an, daß jedes Gesetz grundsätzlich einen Verstoß gegen die Freiheit darstelle. 692

688 Vgl. von Hayek, F. A., Die Verfassung der Freiheit, 1971, S. 65ff.689 Vgl. Walker, G., Ethics, 1986, S. 26.690 Vgl. Barry, N.P., Hayeks Philosophy, 1979, S. 8,691 Dennoch lassen sich durchaus Parallelen zwischen J.St. Mill und F.A. von Hayek ableiten.Vor allem die Ähnlichkeit zwischen von Hayeks und Mills Ausarbeitung eines indirekten Utilitarismus ist auffällig. Bei Mill bedeutet „indirekter“ Utilitarismus, daß der Nützlichkeitstest nicht auf praktische Fragen, sondern auf gesamte Regelsysteme angewandt wird. Das Nützlichkeitsprinzip gilt dort als Bewertungsstandard gesamter Sozialsysteme. Vgl. Gray, J., Hayek, 1986, S. 96f.692 Freiheit bedeutet für Bentham Macht. Je mehr der Mensch vermag, desto freier ist er. Jededer Macht gesetzte Schranke ist eine Behinderung der Freiheit. Dabei verkennt Benthamvöllig, daß das Gesetz vor allem auch eine Schutzfunktion für die allgemeine Freiheit innehat.Das wahre Gesetz ist keineswegs ein Eingriff in die persönliche Freiheit des Menschen; es ist vielmehr eine Vergrößerung der allgemeinen Freiheit. Vgl. Guyau, J.M., Die englische Ethik, 1914, S. 55.

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Von Hayek ist mit dieser Auffassung nicht einverstanden; dies sei lediglich bei bestimmten Gesetzen der Fall.693 Bei Bentham sei jedoch ein positiver Freiheitsbegriff vorherrschend, der dem Menschen gestattet, bestimmte Dinge zu tun. Wo nur die Freiheit herrscht, bestimmte Dinge zu tun, da herrschen Vorschriften und Befehle. Aus diesem Grund verwirft von Hayek alle positiven Konzepte der Freiheit - soweit sie in Gesellschaftstheorien ihren Niederschlag finden - als rhetorische Verkleidung totalitärer Ansprüche.694

Von Hayeks Eintreten für die Freiheit kann zunächst als Konsequenz seiner Erkenntnistheorie und Methodologie betrachtet werden, die alles Wissen bei den Individuen sieht und der selbsttätigen Entwicklung größtmöglichen Raum verschaffen will.695 Da sich die abstrakte Gesellschaftswissenschaft mit der spontanen Evolution sozialer Institutionen beschäftigt, erklärt sie lediglich die Konsequenzen von

Ein Individuum ist frei in dem Umfang, in dem es über einen geschützten Bereich eigener, von äußerem Zwang unbeeinflußter Entscheidungsmöglichkeiten verfügt; in einer Gesellschaft herrscht Freiheit in dem Maße, in dem solche Bereiche für alle Mitglieder der Gesellschaft durch allgemeine Regeln geschützt sind. Dies ist jedoch nur dann der Fall, wenn dieser Grundsatz auch für den Inhaber der Herrschaftsgewalt gilt. In diesem Sinne muß auch de Herrschaft in ihrer Zwangsausübung begrenzt werden, indem sie nur dann für zulässig erklärt wird, wenn sie der Einhaltung allgemeiner, d.h. nur solcher Regeln gilt, denen die Zwangsausübung selbst unterliegt. Solche allgemeinen Regeln, die auch fur den Zwang ausübenden Staat gelten, haben die englischen Liberalen gemeint, wenn sie von der „Rule of Law“ oder dem „Government under the Law“ sprachen. Vgl. von Hayek, F.A., Freiburger Studien, 1969, S. 49; vgl. Barry, N.P., Hayeks Philosophy, 1979, S. 63.

Ein Freiheitskonzept, das auf der Möglichkeit beruht, den eigenen Willen durchzusetzen, wird durch von Hayek als eine bewußte oder unbewußte Verwechslung von Freiheit mit Macht charakterisiert. Von Hayek hält das Konzept der positiven Freiheit für gefährlich, da es den Bestand der liberalen Ordnung gefährdet; dieses Konzept kennt keine Grenzen für das Ausmaß, in dem zentrale Autoritäten einschreiten dürfen, um die Macht der Bürger zu erhöhen. Ein positiver Begriff individueller Freiheit hält im Gegensatz zur negativen Freiheit nicht alles für schutzwurdig, was ein Individuum mit sich selbst und seinem geschützten Bereich anfängt, sondern erlaubt die Anwendung moralischer Kriterien in Form einer öffentlichen Moral. Ein solcher Begnff schließt die Möglichkeit em, die Grenzen individueller Handlungsspielräume unter anderen Gesichtspunkten als dem Schutz gleicher Schutzräume anderer Personen zu ziehen. Vgl. Barry, N.P., Hayeks Philosophy, 1979, S. 59.

Von Hayek selbst hat die Verteidigung der Freiheit als Hauptzweck seines Werkes betrachtet: Seit dem Erscheinen von „Der Weg in die Knechtschaft“ (1944) befaßte er sich mit der Verteidigung des Liberalismus gegenüber Totalitarismus und Sozialismus. So beschäftigte er sich in den dreißiger Jahren mit den erkenntnistheoretischen Problemen des Sozialismus; in den vierziger Jahren argumentierte er gegen jegliche totalitäre Strömung, in den siebziger Jahren setzte er sich schließlich mit dem modernen Wohlfahrtsstaat auseinander. Als von Hayeks wichtigste Werke zur Verteidigung der Freiheit gelten „Die Verfassung der Freiheit (1960) und der erste Band von „Law, Legislation and Liberty: Rules and Order“ (1973).

Handlungen freier Individuen; so führt von Hayek auch an, daß unter dem Sozialismus keine abstrakte Gesellschaftswissenschaft existiert.696 Obwohl von Hayek die Auffassung äußert, daß die Freiheit einen Wert in sich selbst darstellt, betont er seine Freiheitstheorie vor allem unter dem Aspekt des Fortschritts und der Unvollständigkeit des individuellen Wissens.697 So argumentiert von Hayek, daß allwissende Menschen keine Freiheit benötigen. Nur in einer freiheitlich verfaßten Ordnung kommen die von Hayek vielfach beschriebenen Such-, Selektions- und Korrekturprozesse auf. die die Entwicklung der menschlichen Zivilisation und Kultur, aber auch die Entfaltung des Wirtschaftslebens herbeigeführt haben.

Die These von Hayeks Theorie über den Zusammenhang von Freiheit und individuellem Wohlbefinden lautet: Da wir wenig wissen, nicht nur über das, was wir können, sondern auch über das, was wir wollen oder in Zukunft wollen werden, ist die beste Ordnung die, die uns die Freiheit läßt, Fortschritte zu machen. Eine Ordnung, die individuelle Freiheit garantiert, ist zugleich diejenige, die auf die Dauer allen Individuen ein Maximum an Befriedigung ihrer Wünsche, auch der noch gar nicht bekannten Wünsche, sichert.698

Im Gegensatz zu Organisationen, in denen die Freiheit, individuelle Ziele zu verfolgen, beschnitten ist, da sich das Individuum, das sich einer Organisation anschließt, ausschließlich an den vorgegebenen Organisationszielen orientiert, dürfen Gesellschaften nicht wie Organisationen betrachtet werden. Gesellschaften kommen nicht durch freiwilligen Beitritt, durch Vertragsabschluß zustande. Da Menschen sich der Gesellschaft grundsätzlich nicht entziehen können, dürfen Gesellschaften im Unterschied zu Organisationen, denen man beitreten kann oder auch nicht, sich ihrer Mitglieder nicht bedienen,699

Im Rahmen des von ihm favorisierten Rechtsstaatskonzepts vertritt von Hayek vor allem das Konzept der negativen Freiheit. Negative Freiheit herrscht dort, wo ausschließlich Angelegenheiten des Individuums innerhalb seines geschützten

6,6 Vgl. Barry, N.P., Hayeks Philosophy, 1979, S. 55.697 Vgl. Barry, N.P., Hayeks Philosophy, 1979, S. 67.698 Vgl. Zintl, R., Individualistische Theorien, 1983, S. 159.699 Zintl, R., Individualistische Theorien, 1983, S. 154.

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Bereiches betroffen sind. Die Grenzen des Erlaubten werden dort durch allgemeine, fur alle Individuen gleichermaßen gültige Regeln zulässigen Handelns gezogen.700 Zur Garantie der negativen Freiheit ist zunächst eine Rechtsordnung vonnöten, die Individualsphären vor äußerem Zugriff vor gezieltem Zwang schützt. Mit den Worten von Hayeks:

"Freiheit setzt daher voraus, daß dem einzelnen ein privater Bereich gesichert ist, daß es in seiner Umgebung einen Bereich von Umständen gibt, in die andere nicht eingreifen können."701

Die Rechtsregeln, die solche Individualsphären etablieren, sollen allgemein gelten; Gleichheit vor dem Gesetz ist Kennzeichen einer freien Gesellschaft. Da es sich um Schutzregeln handelt, sollen sie vor allem Verbotscharakter haben und somit Handlungsgrenzen, nicht Inhalte des Handelns vorschreiben. Die Regeln sollen ein Minimum an Restriktionen auferlegen, gerade soviel, daß ein geordneter Umgang der Individuen möglich ist.

In liberaler Sicht bewirkt eine freiheitliche abstrakte Ordnung ein Handeln der Individuen, das selbst ohne Ausübung von gegenseitigem Zwang auskommt. Die Umsetzung einer abstrakten Ordnung, die zunächst nur einmal Verbote ausspricht, in eine Wirklichkeit mit derart günstigen Eigenschaften erfolgt zunächst einmal durch den Wettbewerb. Individuen, denen Handlungsfreiheit gesichert ist, werden freiwillig miteinander kooperieren, soweit dies dem wechselseitigen Vorteil dient. Da jedes Individuum die Kooperationsangebote wahmehmen wird, von denen es sich am meisten für seine persönlichen Zielsetzungen verspricht, und da kein Individuum ein anderes Individuum zur Kooperation zwingen kann, werden alle Individuen ihr Handeln so entrichten, daß ihnen möglichst günstige Kooperationsmöglichkeiten offenstehen. Die entstehenden Sozialbeziehungen werden somit Wettbewerbscharakter haben.

700 Dazu äußert von Hayek: „Das klassische Ideal der Rule of Law oder des Government under the Law ... besagt..., daß der private Bürger nur insofern zu etwas gezwungen werden darf, als sich dies aus solchen für alle geltenden Regeln der Gerechtigkeit ergibt. Die Zwangsgewalt der Staates ist auf die Durchsetzung solcher Rechtsregeln beschränkt.“ Von Hayek, F.A., Freiburger Studien, 1969, S. 49.701 Von Hayek, F.A., Die Verfassung der Freiheit, 1971, S. 17.

Gleichzeitig sichert der Wettbewerb die individuelle Freiheit, indem er anonymen Zwang ausübt. Kein Individuum kann auf sich allein gestellt seine Ziele erreichen, jedes Individuum hängt nahezu vollständig davon ab, was seine Leistung für die anderen wert ist, die es anzubieten hat. Eine Person wird um so besser gestellt sein, ihre Ziele um so eher erreichen zu können, je besser sie ihre Leistungsangebote der Nachfrage anpaßt. Gerade diese Unterordnung des Individuums unter den Wettbewerb ist es, die zugleich die Freiheit sichert.

Aktivitäten, die darauf zielen, dem jeweiligen Gegenüber wohl oder übel zu tun, hindern das Individuum nur daran, sich auf das zu konzentrieren, worauf es ankommt, nämlich ein attraktiver Vertragspartner zu sein und wettbewerbsfähig zu bleiben. Nimmt ein Individuum das nicht zur Kenntnis, so wird es dafür bestraft. Die Verhinderung von wechselseitig ausgeübtem Zwang findet also gerade deshalb statt, weil die Individuen in einen deterministischen Handlungszusammenhang eingebunden sind, indem sie lediglich die Zeit haben, sich um ihre eigenen Angelegenheiten zu kümmern. Damit wird die Freiheit um so nachhaltiger gesichert, desto durchgreifender der anonyme Zwang durch die Verhältnisse ist.

Von Hayek übt auch Kritik am Utilitarismus hinsichtlich der von diesem vertretenen Gerechtigkeitsvorstellung. Dazu führt er zwei unterschiedliche Argumente an. Zunächst setzt der Utilitarismus voraus, daß der Nutzen eines jeden Individuums gemessen und in einer sozialen Nutzenfünktion zusammengefaßt werden kann. Demgegenüber hält von Hayek alle interpersonellen Nutzenvergleiche für illegitim: Da der Nutzen nicht quantifizierbar ist, kann das Wohlergehen eines Individuums nicht mit dem anderer verglichen werden, ein Kritikpunkt, der sich nicht nur gegen den Utilitarismus richtet, sondern gemeinhin gegen den Versuch, kollektive Wünsche aus individuellen Präferenzen abzuleiten.702

Darüber hinaus kritisiert von Hayek den Utilitarismus dahingehend, daß dieser einem sich selbst entwickelnden Kosmos Ziele auferlegt, die aus a priori Überlegungen abgeleitet werden und keinerlei Bezug zu Tradition und Empirismus haben. In

702 Vgl. Barry, N.P., Hayeks Philosophy, 1979, S. 129.

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Anlehnung an den konstruktivistischen Rationalismus vertritt auch der Utilitarismus falsche Vorstellungen vom menschlichen Wissen, eine Tatsache, die sich am einfachsten anhand des Akt-Utilitarismus demonstrieren läßt. Dieser setzt voraus, daß eine Handlung in dem Maße als gut oder schlecht bewertet wird, als sie positive Konsequenzen hervorbringt. Falls eine Handlung somit dazu beiträgt, das Glück innerhalb der Gesellschaft zu fordern, sollte diese Handlung gestattet werden, egal ob sie einen Regelbruch impliziert oder nicht.

Als Konsequenz läßt sich daraus ableiten, daß eine unbeschränkte Intervention des Gesetzgebers mit dem Argument gestattet wird, daß der allgemeine Nutzen hierdurch maximiert wird. Traditionelle Regeln der Moral und der Politik, z.B. Gerechtigkeits­und Eigentumsregeln werden unter diesem Aspekt zu rein vorläufigen Regeln; sie werden nur dann au&echterhalten, wenn sie einen unmittelbaren Nutzen versprechen.703

Von Hayeks Einwände gegen den Utilitarismus sind offensichtlich, da dieser die von Hayeks Erkenntnistheorie widersprechende Annahme enthält, daß Gesetzgeber die Konsequenzen aller Handlungen vorhersehen können. Dagegen ist das Charakteristikum von Hayeks Großer Gesellschaft gerade, daß wir über ein solches Wissen nicht verfugen können.704 Die Ordnung der Gesellschaft entsteht nicht aus dem Willen eines Gesetzgebers heraus, sondern sie ist das Produkt von Individuen, die

703 Vgl. Barry, N.P., Hayeks Philosophy, S.130.Von Hayek bezeichnet die kapitalistische Marktgesellschaft als „Große Gesellschaft“ oder

„Offene Gesellschaft“. Große Gesellschaft, weil in ihr die Menschen - im Unterschied zum früheren Leben in kleinen Einheiten - ihre wirtschaftliche Interaktion über weite anonyme Bereiche erstrecken; offene Gesellschaft, weil sie aufgrund ihrer Ausdehnung nicht mehr von einheitlichen Werten und Zielen, die allen Menschen gemeinsam sind, getragen wird, sondern für unterschiedliche Werte und Ziele offen ist. Die Offene Gesellschaft ist eine freie und pluralistische Ordnung, weil in ihr die Menschen nicht von einer einheitlichen Instanz autoritär auf eine bestimmte Wert- und Zielhierarchie verpflichtet werden, sondern weil jeder Mensch autonom fur sich entscheiden kann. Die Offene Gesellschaft setzt sich aus einer Vielzahl unabhängiger Entscheidungszentren zusammen. Die Große Gesellschaft verzichtet darauf, das in der Kleingruppe geltende Prinzip der Brüderlichkeit auf die große Gruppe auszudehnen. Einer der entscheidenden Vorteile der Großen Gesellschaft gegenüber den Kleinen Gesellschaften, wie z.B. der steinzeitlichen Horde ist die friedfertige Verfolgung gegensätzlicher Interessen. Der Tauschhandel bzw. die daraus erwachsene Marktordnung ist für von Hayek das Merkmal der Großen Gesellschaft. Vgl Waibl, E., Ökonomie und Ethik n, 1989, S. 210.

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ihr Verhalten der Disziplinierung durch abstrakte Regeln unterwerfen, Regeln, die keinen ideologischen Zweck im Sinne des Utilitarismus verfolgen.

Aus diesen Gegenargumenten heraus hat sich schließlich auch der Regelutilitarismus entwickelt. Dieser räumt im wesentlichen ein, daß Regeln, nicht spezifische Handlungen, als gut und schlecht bewertet werden müssen. Im Rahmen des Regelutilitarismus erscheinen auch die traditionellen Gerechtigkeitsregeln als legitim, da die Erfahrung gezeigt hat, daß ihre Befolgung auf lange Sicht zu positiven Konsequenzen fuhrt.705 Damit werden Regelbrüche verboten, auch wenn sie aus akt­utilitaristischen Gründen gerechtfertigt erscheinen.

Gerade indem von Hayek den Regelutilitarismus akzeptiert, weist er die zweckgerichtete Interpretation aller menschlichen Handlungen nach ihrem quantifizierbaren Nutzen zurück. Darüber hinaus argumentiert er dahingehend, daß die Betrachtung von Regeln im Rahmen des Utilitarismus widersprüchlich ist, da selbst der Regelutilitarismus zumindest über eine Regel innerhalb seines Systems verfugt, die nicht allein aufgrund ihrer Konsequenzen befolgt wird.

Von Hayek vertritt die Auffassung, daß Regelsysteme nicht als Ziele, sondern als Mittel begriffen werden müssen. Es ist gerade das Charakteristikum der offenen Gesellschaft, daß Menschen sich über Mittel einigen, und nicht über Ziele. Die präziseste Aussage, die nach Hayek über die Nützlichkeit von Regeln getroffen werden kann, ist diejenige, die besagt, daß sich das gesamte Regelsystem gerade aus dem Grund entwickelt hat, weil die Menschen diese Regeln als geeignete Mittel für die Realisierung ihrer individuellen Ziele betrachteten.706

Letztlich sind die Methoden des konstruktivistischen Rationalismus und die des evolutionären Rationalismus beide utilitaristisch. Der Utilitarismus der evolutionären Rationalisten ist einer von Prinzipien und Regeln. Eine besondere Regel wird in bezug auf ihre Nützlichkeit gerechtfertigt, aber ihre Nützlichkeit wird in einer Reihe von Fällen beurteilt. Grundlage dieser Form des Utilitarismus ist die Erkenntnis der Grenzen der menschlichen Vernunft. Zugleich ist es aber wesentlich, daß ein

705 Vgl. Barry, N.P., Hayeks Philosophy, 1979, S. 130.706 Vgl. Barry, N.P., Hayeks Philosophy, 1979, S. 131.

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Gehorsam gegenüber moralische» und rechtlichen Regeln existiert, damit die Menschen ihre Ziele innerhalb der Gesellschaft erfolgreich anstreben können.707 Der Utilitarismus der konstruktivistischen Rationalisten ist dagegen eine Fall-zu-Fall- Methode, die auf Regeln verzichtet.

Insbesondere aus von Hayeks Moraltheorie lassen sich jedoch letztlich Parallelen zu einem, wenn auch sehr indirekten, Utilitarismus ableiten.708 Die utilitaristische Komponente in von Hayeks Denken ist vor allem insoweit indirekt, als er nie das utilitaristische Prinzip zur Lösung praktischer Fragen heranzieht. Dagegen verdeutlicht er, daß die Rolle des Nutzens weder präskriptiv noch praktisch ist, sondern eher einen Bewertungsstandard für die Bewertung ganzer Regelsysteme und Praktiken darstellt.709 Nach von Hayek ist ein erfolgreiches Regelsystem eine unerläßliche Voraussetzung zur Herstellung des Allgemeinwohles, eine Ansicht, die er insbesondere von David Hume übernimmt. Wie Hume, so betrachtet auch von Hayek die Aufrechterhaltung eines rechtlichen Rahmenwerkes und die Verfolgung des Allgemeinwohles nicht als konkurrierende Ziele; ein stabiles Regelwerk dient dagegen als Grundvoraussetzung für die Verfolgung des allgemeinen Wohles.710

In seiner Sicht des Utilitarismus lehnt von Hayek die hedonistische Komponente desselben ab und nähert sich vielmehr dem modernen Präferenzutilitarismus an: Jedes Regelsystem wird dahingehend getestet, daß die Chancen eines anonymen Individuums, seine unbekannten Ziele ungehindert zu verfolgen, maximiert werden. So äußert von Hayek:

"Die optimale Politik innerhalb einer Katallaxie sollte darauf abzielen, die Chancen jedes willkürlich gewählten Gesellschaftsmitglieds dahingehend zu vergrößern, ein großes Einkommen zu erzielen...1'711

707 Vgl. Hayek, F.A., Freiburger Studien, 1969, S. 81.708 Insbesondere Gray weist daraufhin, daß der von Hayek vertretene Utilitarismus eher dem von Henry Sidgewick als dem von Jeremy Bentham und John Stuart Mill ähnelt. Vgl. Gray, J , Hayek, 1986, S. 59.709 Vgl. Gray, J., Hayek, 1986, S. 59.710 Vgl. Gray, J., Hayek, 1986, S. 97.711 Von Hayek, F.A., Studies, 1967, S. 173.

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Nach von Hayeks Auffassung sind wir weiterhin nicht dazu gezwungen, den historischen Bestand sozialer Regeln so zu akzeptieren, wie wir ihn vorfinden; er kann durchaus dahingehend verbessert werden, daß er die Chancen der Menschen vergrößert, ihre individuellen Ziele zu erreichen.

Im Rahmen der Tauschgesellschaft hebt das eigennützige Gewinnstreben erfahrungsgemäß das allgemeine Wohlstandsniveau und kommt damit der Lebenssituation aller Menschen zugute. Den Beweis für den Vorzug der paradox anmutenden Marktmoral sieht von Hayek in den glänzenden Erfolgen, den die Marktgesellschaft bei der Abschaflung der absoluten Armut zu erzielen vermocht hat. Die Marktordnung steht somit letztlich weder im Gegensatz zur Moral noch bedarf sie korrigierender Maßnahmen, um moralverträglich zu sein. Die Marktordnung ist vielmehr per se ein moralisches Konzept.712

Als Grundvoraussetzung für das reibungslose Funktionieren der Marktordnung gilt dabei, daß die Rechtsordnung jedem beliebig herausgegriffenen einzelnen die Möglichkeit gibt, seine ökonomischen Probleme nach seine Art zu lösen und das dafür relevante Wissen zu erwerben. Dazu müssen persönliche Freiheit und Privatautononhe in wirtschaftlichen Angelegenheiten grundrechtlich verbürgt sein. Nur unter diesen Voraussetzungen entsteht der Markt als Ergebnis menschlichen Handelns, aber nicht menschlichen Entwurfs; nur so wird dem Wettbewerb als Entdeckungsverfahren, als Forschungsreise ins Unbekannte Raum gegeben und die Ergebnisoffenheit der Marktprozesse sichergestellt.

7.4 Hayeks Vorschlag zur Yerfassungsreform

Finden sich bei von Hayek gewisse Annäherungen an einen modernen Regelutilitarismus, so lehnt er jedoch das klassische utilitaristische Staatsverständnis grundlegend ab. So wirft er Bentham und dessen Nachfolgern vor, im Rahmen der Rechtsetzung keine Unterscheidung zwischen Gesetzen und Befehlen getroffen und

712 Vgl. von Hayek, F.A., Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Bd.2, 1981, S. 195.

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alle Gesetzestypen auf den von einem Souverän ausgesprochenen Befehl zurückgefuhrt zu haben. Diese Entwicklung habe dazu geführt, daß die ausfiihrende Regierungsgewalt letztlich keinerlei Beschränkungen mehr unterlag.713 Den Endpunkt einer solchen Entwicklung sieht von Hayek in den heutigen westlichen Demokratien, die nicht mehr von dem Ideal der Freiheit unter dem Gesetz geleitet werden, sondern von Gesetzen mit Befehlscharakter. Um die Freiheit in der Gesellschaft wieder tragfahig zu machen, unterbreitet von Hayek einen Vorschlag zur Verfassungsreform. Mit den Worten von Hayeks:

„Die Freiheit wird nur erhalten bleiben, wenn sie als allgemeines Prinzip anerkannt wird, dessen Anwendung auf besondere Fälle keiner Rechtfertigung bedarf. Es ist daher ein Mißverständnis, dem klassischen Liberalismus vorzuwerfen, daß er zu doktrinär gewesen sei. Sein Mangel war nicht, daß er zu hartnäckig an Prinzipien festhielt, sondern vielmehr, daß es ihm an Prinzipien mangelte, die hinreichend bestimmt gewesen wären, eine klare Leitung zu bieten.“714

Die persönliche Freiheit wird durch das liberale Gebot der Minimierung von Zwang durch allgemeine Regeln garantiert. Die individuellen Gestaltungsmöglichkeiten werden durch allgemeine Gesetze und ungeschriebene Regeln menschlichen Verhaltens begrenzt; sie sind nicht im Sinne moderner Anarchie- und Emanzipationsideale grenzenlos oder nur der persönlichen Dezision unterworfen. Grundsätzlich können Regeln, die Willkür verhindern und für den Staat wie den einzelnen gleichermaßen gelten sollen, keine konkreten Handlungsanweisungen beinhalten; diese erzwingen keine bestimmten Handlungen, sondern verbieten lediglich, die geschützte Sphäre des Individuums zu verletzen.

713 Es ist durchaus richtig, daß der traditionelle Utilitarismus, wie er von John Stuart Mill und Bentham vertreten wurde, kollektivistische Untertöne aufweist und daß die Freiheit immer der Nützlichkeit untergeordnet ist. Jedoch ist von Hayek vor allem dahingehend kritisiert worden, daß er Bentham in die gleiche intellektuelle Kategorie einordne wie Rousseau. Schließlich stand auch bei Bentham das Individuum im Mittelpunkt seiner Analyse, und obwohl es ihm nicht gelang, die soziale Nützlichkeit aus den individuellen Präferenzen abzuleiten, bildete er doch eine Vorhut gegen einen bestimmten mystischen und konservativen Kollektivismus, wie er währen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vertreten wurde. Vgl. Barry, N.P., Hayeks Philosophy, 1979, S. 64.714 Von Hayek, F.A., Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Bd. 1, 1980, S. 90.

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Die ideale Verfassung muß nach von Hayek "zum Ausdruck bringen, daß ihre Regeln dazu bestimmt sind, die individuelle Sphäre jedes einzelnen zu definieren und zu schützen; sie muß ferner zum Ausdruck bringen, daß Menschen von niemandem, auch nicht von staatlichen Instanzen, gezwungen werden können, bestimmte Dinge zu tun oder nicht zu tun, ausgenommen, es geschieht im Rahmen dieser Regeln. Diese grundlegende Klansei definiert nur die Grenzen der Zwangsgewalt, denn alle Gewalt - auch die der Regierung - ist an diese Regeln gebunden."715

Ein Individuum ist dementsprechend in dem Umfang frei, in dem es über einen geschützten Bereich eigener, von äußerem Zwang unberührter Entscheidungsmöglichkeiten verfugt; in einer Gesellschaft herrscht Freiheit in dem Maße, in dem solche Bereiche fur alle Mitglieder der Gesellschaft durch allgemeine Regeln geschützt sind. Zur Vermeidung von Willkür muß jener Grundsatz insbesondere auch für den Inhaber der Herrschaftsgewalt gelten: Die Herrschaft muß in ihrer Zwangsausübung begrenzt werden, indem sie nur dann für zulässig erklärt wird, wenn sie der Einhaltung allgemeiner Regeln dient, denen die Zwangsausübung selbst unterliegt.

„Das klassische Ideal der Rule of Law oder des Government under the Law ... besagt..., daß der private Bürger nur insofern zu etwas gezwungen werden darf, als sich dies aus solchen für alle geltenden Regeln der Gerechtigkeit ergibt. Die Zwangsgewalt des Staates ist auf die Durchsetzung solcher Rechtsregeln beschränkt.“716

In Anlehnung an seine Vorgänger betrachtet auch von Hayek die Demokratie als die bestgeeignete Regierungsform. Er bezeichnet sie als "eine der wichtigsten Sicherungen der Freiheit" und "die einzige Methode eines friedlichen

715 Auch auf von Hayeks Konzeption der Wirtschaftspolitik findet der Grundsatz des „Rule of Law“ Anwendung. So äußert er: „Das klassische Argument für die Freiheit in Wirtschaftsangelegenheiten beruht auf dem stillschweigenden Postulat, daß die Politik hier ebenso wie auf allen anderen Gebieten von der Herrschaft des Gesetzes geleitet sein soll.“ Von Hayek, F.A., Die Verfassung der Freiheit, 1971, S. 285.716 Regeln, die Willkür verhindern und für den Staat wie den einzelnen gleichermaßen gelten sollen, dürfen keine konkreten Handlungsanweisungen beinhalten. Diese erzwingen keine bestimmten Handlungen, sondern verbieten lediglich, die geschützte Sphäre des Individuums zu verletzen, die durch eben diese Regeln abgesteckt wird. Von Hayek, F. A., Freiburger Studien, 1969, S. 49.

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Regierungswechsels, die bis jetzt entdeckt worden ist."717 In ihren positiven Wirkungen ist die Demokratie jedoch keineswegs unfehlbar, denn Lebensbereiche, die als private Bereiche gelten, werden im Zuge der Demokratisierung immer mehr politischen Entscheidungsverfahren unterworfen, so daß die persönliche Freiheit antnmatko.il eingeschränkt wird.718 Die Demokratie alleine ist nicht dazu geeignet, den Mißbrauch der Macht durch die Regierung zu verhindern. Die Gewaltenteilung innerhalb der Demokratie stellt nach von Hayek kein wirksames Mittel zur Begrenzung der staatlichen Macht dar.

Gesetze, die den Anforderungen des materiellen Rechtsstaates im Sinne der "Rule of Law" genügen, sind solche Verhaltensregeln, die nicht nur fur alle Staatsbürger, sondern fur auch für den Staat gleichermaßen gelten. Sie sind generell und abstrakt in dem Sinne, daß sie weder bestimmte Personen noch bestimmte Zeitpunkte oder Orte nennen und daß es tatsächlich nicht voraussehbar ist, welche Wirkungen sie auf bestimmte bekannte Personen haben. Sie beziehen sich nur auf das Verhalten der Menschen - und zum Staat - , aber nicht auf ihre private Sphäre.719

Dies entspricht jedoch nicht mehr dem heute vorherrschenden Demokratieverständnis, das eine lediglich formale Sicht des Rechtsstaates propagiert. Heute wird jeder Erlaß der Regierung als Gesetz bezeichnet, ganz gleich, ob dieses Gesetz eine allgemeine Verhaltensregel im Sinne des Rule of Law darstellt oder nicht. Faktisch kommt es zu einer Verdrängung der Privatrechtsordnung durch Maßnahmegesetze.720

717 Von Hayek, F.A., Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Bd. 3, 1981, S. 20.718 Keine Garantie für individuelle Freiheit bietet Demokratie einfach deshalb, weil mit der Demokratie allein noch nicht ausgeschlossen ist, daß die Volkssouveränität als oberster Maßstab gilt und dementsprechend die demokratischen Prozeduren auch auf Materien angewandt werden, für die das Volk eigentlich kein Recht auf Entscheidung hat. Legt sich eine Demokratie aber rechtsstaatliche Zügel an, so stellt die Verteilung von Kompetenzen und Kontrollmöglichkeiten eine bessere Sicherung der Freiheit dar als dies einem Rechtsstaat ohne Demokratie zuzutrauen ist. Vgl. von Hayek, F.A., Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Bd. 3, 1981, S. 20.719 Vgl. von Hayek, F.A., Freiburger Studien, 1969, S.47f.720 Die Problematik liegt vor allem darin, daß alles das, was der Gesetzgeber beschließt, als Gesetz gilt. Dazu von Hayek: „Die Bezeichnung 'Gesetz' für all das, was die gewählten Volksvertreter beschließen und für jede Anordnung, die sie als Regierung unter dem Gesetztreffen ..., ist aber nicht viel besser als ein schlechter Witz. Das ist in Wahrheit einfachgesetzlose Ausübung der Regierungsgewalt.“ Von Hayek, F .A., Drei Vorlesungen über Demokratie, Gerechtigkeit und Sozialismus, 1977, S. 9.

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Wenn von Hayek kn Hinblick auf Verfassungsregeln von "konstruktivistischem Rationalismus" spricht, so gilt seine Kritik vor allem einer staatstheoretischen Vorstellung, die das Ideal einer "beschränkenden Verfassung" ablehnt. Eine konkrete Ordnung, die die Handlungen von Staat und Bürgern zusammen auf konkrete Ziele hin lenken will, darf es in einer offenen Gesellschaft in Verbindung mit staatlicher Zwangsgewalt nicht geben. Während Verfassungen ihrer Intention nach dazu dienen sollen, die Macht der Regierung wirksam zu beschränken und die Freiheit des einzelnen zu sichern, sieht von Hayek die heutigen Verfassungen dahingehend gefährdet, daß sie die Garantien der individuellen Freiheit zerstören. Dies führt von Hayek vor allem darauf zurück, daß nicht konsequent zwischen Regierung und Gesetzgebung unterschieden wurde:

"Tatsächlich sind wir dorthin gelangt, nicht nur eine bestimmte Alt von Norm und Befehl als Gesetz zu bezeichnen, sondern fast alles, was der sog. Gesetzgeber beschließt: die heutige Interpretation der Gewaltentrennung beruht somit auf einem Zirkelschluß und macht sie völlig inhaltsleer: nur der Gesetzgeber darf Gesetze erlassen, und ihm sollen keine anderen Befugnisse zustehen, aber was immer er beschließt, ist Gesetz."721

Die Umformung der Rechtsordnung wurde vor allem dadurch ermöglicht, daß ein und dieselbe repräsentative Versammlung mit denselben Aufgaben betraut war, sowohl Regeln für individuelles Verhalten festzulegen, als auch Anordnungen für die Organisation und das Verhalten der Regierung zu erlassen.722

Indem ein Parlament beide Aufgaben wahmimmt, geraten zwei Ziele miteinander in Konflikt: Das Ziel demokratischer Kontrolle der Regierung einerseits und das Ziel der Einbindung der Regierung durch das Recht andererseits, denn eine Körperschaft, die die Regierungspolitik zu kontrollieren hat, dürfte kaum daran interessiert sein, ihren eigenen Handlungsspielraum durch allgemeine Regeln zu begrenzen. Von einer

721 Von Hayek, F.A., Freiburger Studien, 1969, S. 199.M t den Worten von Hayeks: „Ein und dieselben repräsentativen Versammlungen wurden

mit den beiden so verschiedenen Aufgaben betraut, sowohl Regeln für individuelles Verhalten festzulegen, als auch Anordnungen für die Organisation und das Verhalten der Regierung zu erlassen. So kam es, daß auch der Begriff . Gesetz“ selbst... für Organisationsregeln, ja sogar für isolierte Befehle verwendet wurde, wenn sie nur durch die in der Verfassung vorgesehene Instanz verabschiedet waren.“ Von Hayek, F.A., Freiburger Studien, 1969, S. 117.

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solchen Körperschaft ist es weit eher zu erwarten, daß sie die Aufgabe und Änderung von Regeln den aktuellen Bedürfnissen der Regierungstätigkeit unterordnet, und daß sie den Handhmgsspielraum der Regierung ständig erweitert, anstatt ihm Grenzen zu setzen.723

Aus dieser Problematik leitet von Hayek die Notwendigkeit ab, eine Modifikation der grundlegenden Verfassungsstruktur unserer derzeitigen demokratischen Regierungssysteme vorzunehmen. Der Erlaß "echter Gesetze" sollte einer auf lange Frist gewählten und ausschließlich auf diese Aufgabe beschränkten Versammlung Vorbehalten sein. Alle übrigen Aufgaben sollten von einer Regienmgsversammlung - im wesentlichen organisiert wie die der westlichen Demokratien - wahrgenommen werden. Seinen Reformvorschlag formuliert er dahingehend aus,

"daß wir das fast allgemein bestehende Zweikammersystem dazu benützen, die eine der beiden Vertretungsköiperschaften ausschließlich mit Gesetzgebung im eigentlichen Sinn, d.h. mit dem Erlaß allgemeiner, ausnahmslos anzuwendender Regeln zu betrauen, die allein die Anwendung von Zwang gegenüber dem privaten Bürger rechtfertigen, und die Führung der eigentlichen Regierungsgeschäfte innerhalb der so gesteckten Grenzen in die Hände der zweiten Kammer legen."724

Für eine solche Alternative zur modernen Demokratie, die faktisch unbeschränkte Macht der Mehrheit bedeutet, schlägt von Hayek den neuen Begriff der Demarchie vor; dieser soll eine Staatsform beschreiben, in der zwar die Macht der Mehrheit herrscht, doch selbst diese Macht durch den Grundsatz beschränkt ist, daß sie Zwangsgewalt nur in dem Maße besitzt, in dem sie bereit ist, sich an allgemeine Regeln zu binden.125

723 Die Tatsache, daß die modernen Parlamente sowohl für die Kodifizierung allgemeiner Verhaltensregeln als auch für den Erlaß von Maßnahmegesetzen zuständig sein sollten, ist nach von Hayek auf ein grundlegendes Mißverständnis der Demokratie seit Rousseau zurückzuführen. Die Wandlung der Parlamente von gesetzgebenden zu regierungstragenden Versammlungen, die nicht mehr beschränkt sind, weil sie das Gesetz, dem sie unterstehen, selbst verändern können, ist nach von Hayek das Ergebnis einer Entwicklung, die entscheidende Impulse von dem auf Descartes zurückgehenden Rationalismus erhalten hat.Vgl. von Hayek, F A., Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Bd.2, 1981, S. 13.724 Von Hayek, F.A., Freiburger Studien, 1969, S. 73.725 Vgl. von Hayek, F.A., Freiburger Studien, 1969, S. 205.

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Bei der legislativen Körperschaft handelt sich um eine Versammlung von Personen, die jeweils im Alter von vierzig Jahren von ihren Altersgenossen auf fünfzehn Jahre gewählt werden und nicht wiedergewählt werden können. Diese Versammlung soll nicht parteimäßig organisiert sein, und das Alter ihrer Mitglieder, der Zeitraum ihrer Tätigkeit und der fehlende Anreiz, aus wahltaktischen Gründen zu handeln, erlaubt es ihnen, frei von Einzelinteressen und frei von kurzfristigen Notwendigkeiten zu handeln. Das Ideal, das im Hintergrund dieses Vorschlags steht, klingt in Hayeks Schilderung der historischen Bedingungen an, unter denen sich freiheitliche Regeln entwickelt haben: Sie wurden von Richtern und Rechtsgelehrten, d.h. von interessenunabhängigen Experten der Gerechtigkeit entwickelt. Ort der Austragung von Interessengegensätzen im Rahmen dieser Regeln waren die Parlamente.

Grundsätzlich obhegt es der legislativen Versammlung, die Regeln des gerechten Verhaltens substantiell zu formulieren. Sie muß festlegen, was erzwingbares substantielles Recht im Sinne von Regeln des gerechten Verhaltens sein soll, ferner muß sie dieses substantielle Recht auch weiterentwickeln. Die Gewalt der legislativen Versammlung wird lediglich durch die Bestimmung der Verfassung begrenzt, die die allgemeinen Merkmale definiert, die solche Regeln des gerechten Verhaltens besitzen müssen, nämlich allgemein, universell und universal anwendbar zu sein.726

Das andere Gremium, ein Parlament herkömmlicher Art, kann dagegen nur im Rahmen der Regeln handeln, die ihm von dieser Versammlung vorgegeben werden; Geschenke aller Art werden unmöglich. Damit verleiht Hayek seiner Auffassung deutlichen Ausdruck, daß rechtsstaatliches Government under the Law nur erreicht werden könnte, wenn die zweite Kammer, die die laufenden Geschäfte führt und die Regierung kontrolliert, unter Regeln steht, über die sie selbst nicht verfugt.727

"Das Ideal des Government under the Law kann nur erreicht werden, wenn auch die Volksvertretung, die die Regierungstätigkeit dirigiert, unter Regeln steht, die sie selbst nicht ändern kann, sondern die von einer anderen demokratischen Köiperschaft bestimmt werden, die gewissermaßen die langfristigen Prinzipien

726 Vgl. Hoppmann, E., Verfassung, 1987, S. 40.727 Vgl. Rupp, H., Zweikammersystem und Verfassungsgericht, 1989, S. 97f.

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Abschließend bleibt festzuhalten, daß von Hayek sich im Rahmen der legislativen Versammlung an das von John Stuart Mill im Rahmen des von ihm entwickelten utilitaristischen Staates entwickelte Elitedenken annähert.

festlegt.1,728

7.5 Ordnung und Gerechtigkeit

Im Rahmen der von ihm vertretenen „spontanen“ Ordnungssysteme knüpft von Hayek auch an den Gerechtigkeitsbegriff' des frühen Utilitarismus, der am deutlichsten bei Adam Smith und den Physiokraten verkörpert ist, an. Die Regeln des Wettbewerbs am Markt, der im Zusammenwirken mit den Änderungen der Preisstrukturen über die Einkommen entscheidet, müssen nach Auffassung von Hayeks dem Gebot der Gerechtigkeit von Fairneß gehorchen. Die von der modernen Wirtschaftspolitik in zahlreichen Fällen und ohne ein erkennbares und systematisches Rechtssystem betriebene Politik der Privilegierung der einen und der Benachteiligung der anderen ist mit dieser Auffassung nicht vereinbar.

Der Ausgang des Katallaxiespiels ist grundsätzlich nicht vorhersehbar; von Hayek bezeichnet es in diesem Zusammenhang als ein "gemischtes Glücks- und Geschicklichkeitsspiel".729 Weil es zum Wesen des Spiels gehört, daß der Ausgang des Spiels nicht willkürlich von einer Person entschieden wird, sondern vom Spieler selbst, kann der Verlierer niemandem die Schuld fur sein schlechtes Abschneiden beim Spiel zuschieben. Dazu fuhrt von Hayek aus:

"Bezeichnenderweise ist einer der häufigsten Vorwürfe, die dem

™ Von Hayek, F.A., Freiburger Studien, 1969, S. 53ff.729 Von Hayek, F.A., Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Bd.2, 1981, S. 163. Interessant ist in diesem Zusammenhang, daß von Hayek Glück nicht als eudaimonia versteht, sondern - wie Macchiavellis fortuna - als das Unberechenbare und Irrationale, das nicht Gegenstand unserer Verfugungsmacht ist und sich folglich nicht erzwingen läßt. Glück und Unglück sind in diesem Zusammenhang Begünstigungen oder Einbußen, die einem einfach zufallen, ohne daß dieser Zufall mit Verdienst oder Verschulden in einem Zusammenhang steht. Vgl. Waibl, E., Ökonomie und Ethik II, 1988, S. 215.

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Wettbewerbssystem gemacht werden, der, daß es „blind" sei. Es ist kein Zufall, daß im Altertum die Blindheit ein Attribut der Göttin der Gerechtigkeit war. Konkurrenz und Gerechtigkeit mögen zwar sonst wenig gemeinsam haben, aber es empfiehlt die eine ebenso wie die andere, daß beide ohne Ansehung der Person Vorgehen. Es ist wichtig, daß eine Voraussage darüber unmöglich sein muß, wer Erfolg und wer Mißerfolg haben wird, und daß Belohnungen und Strafen sich nicht nach der Privatansicht eines einzelnen über Würdigkeit und Unwürdigkeit der verschiedenen Personen richten, sondern von dem Können und dem Glück der Betroffenen abhängen müssen."730

Von Hayeks Betrachtungsweise, das Verteilungsergebnis am Markt als das Resultat von Fähigkeiten und Zufall anzusehen, verleiht der Marktgesellschaft einen versöhnlichen Zug. Gleichzeitig bringt von Hayek in Erinnerung, daß das Wettbewerbssystem die wichtigste Garantie der Freiheit ist, und zwar nicht nur für diejenigen, die bereits über Besitz verfugen, sondern auch für diejenigen, die nichts haben.731 Im Wettbewerb ist niemand sicher vor Entwertungen seines Eigentums oder seiner Fähigkeiten. Die Veränderungen des Preisgefüges im Zeitablauf spiegeln zwar in der Gesellschaft insgesamt Wohlstandssteigerungen wider, sie bedeuten aber auch für jeden Einzelnen das Risiko, plötzlich vor dem Nichts zu stehen.732

Nach von Hayeks Auffassung soll die Gerechtigkeit allein durch allgemeine Regeln gesichert werden. Trade-Offs zwischen der Freiheit und der sozialen Gerechtigkeit lehnt er ab. In diesem Sinne möchte von Hayek das Individuum schützen und die ohnehin unvermeidliche Auslieferung an die Umwelt nicht überhand nehmen lassen. Von Hayeks Ideen lassen sich stark verkürzt dahingehend beschreiben, daß er sich für eine rechtsstaatlich verstandene Gleichheit mit Nachdruck ausspricht, sie ist für ihn ein Komplement des Freiheitsgedankens; in einer Gesellschaft herrscht Freiheit in dem Maße, in dem solche Bereiche für alle Mitglieder der Gesellschaft durch allgemeine Regeln geschützt sind.

730 Von Hayek, F.A., Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Bd.2, 1981, S. XXX.731 Vgl. Waibl, E. Ökonomie und Ethik, II, 1988, S. 215,732 Dazu äußert von Hayek: „Die Entlohnung, die ein Mann erwarten kann, (wird) immermehr davon abhängig, daß seme Fähigkeiten und Fertigkeiten die richtige Verwendung finden,als von diesen selbst. ... Die Notwendigkeit, selbst einen Bereich nützlicher Arbeit, einen geeigneten Beruf zu finden, ist die härteste Disziplin, die uns eine freie Gesellschaft auferlegt.“Von Hayek, F. A., Die Verfassung der Freiheit, 1971, S. 99.

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Eindeutig wendet er sich jedoch gegen das wohlfahrtsstaatliche und egalitaristische Gleichheitsideal, das im Grundsatz eine Vereinheitlichung der Lebensumstände fordert und hierzu staatlichen Zwang ein setzen will. Im Interesse der Freiheitssicherung in einer offenen Gesellschaft hält von Hayek Versuche, eine materielle Gleichheit herbeizufiihren, für verfehlt.

Die Konzepte der Verteilungsgerechtigkeit und der sozialen Gerechtigkeit sind letztlich Konzepte, die bei genauer Betrachtung nur eine Bedeutung haben können: Die Durchbrechung allgemeiner Regeln zugunsten bestimmter Interessen.733 Solange die Spielregeln als gerecht angesehen werden, werden Individuen an das Ergebnis keine gesonderten Maßstäbe anlegen können. Ein Wettbewerbssystem ist in seiner Legitimität und Stabilität somit nur dann bedroht, wenn die Teilnehmer den Charakter der Spielregeln nicht begreifen oder die Spielregeln nur unter kurzfristigen Zweckmäßigkeitserwägungen beurteilen. In diesem Sinne spricht sich von Hayek auch gegen nachträglich vorgenommene sekundäre Einkommensverteilungen aus.734

Zu beachten ist, daß für von Hayek die nachträgliche Korrektur des Spielausganges nicht nur die Spielregeln verletzt, sondern in langfristiger Perspektive auch für die Verlierer nachteilig ist, weil es gewissermaßen ihre Chancen mindert, in weiteren Spielrunden zu den Gewinnern zu zählen. Von Hayek veranschaulicht seine These am Beispiel der Vermögensumverteilung durch staatliche Verwendung von Steuergeldem. Sobald eine Regierung via Besteuerung mit dem Vermögenstransfer zugunsten einer Gruppe beginnt, zieht dies die Forderungen anderer Gruppen nach sich. Um allen Forderungen gerecht zu werden, müßten letztlich alle Einkommen für eine gerechte' Verteilung alloziert werden, was allerdings die freie Verfolgung der Eigeninteressen am Markt außer Kraft setzen würde.735

Vgl. Zintl, R., Individualistische Theorien, 1983, S. 169.Dazu kommentiert von Hayek: „Wie groß auch unser Mitgefühl für diejenigen sein mag,

die sich, nicht aufgrund eines eigenen Fehlers, sondern in der Folge unvorhergesehener Entwicklungen, in einer reduzierten Position sehen, so bedeutet dies doch nicht, daß wir beides haben können, das progressive Steigen des allgemeinen Wohlstandsniveaus, von dem die zukünftige Verbesserung der Lebensbedingungen der großen Masse abhängt, und den Schutz vor solchen immer wieder vorkommenden Positionsverschlechterungen einiger Gruppen.“ Von Hayek F.A., Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Bd. 2, 1981, S. 190.735 Vgl. Bouillon, H., Ordnung, 1991, S. 115.

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Wie für die Begründer des Liberalismus, Adam Smith und John Locke, ist auch für von Hayek die Umverteilung der falsche Weg, um die Armen aus ihrer Armut zu befreien. Der richtige Weg besteht vielmehr darin, den Reichtum bei den Reichen zu belassen, die davon einen produktiven, und damit allgemein nutzbringenden, Gebrauch machen. Nicht die Mildtätigen, die ihren Reichtum karitativ an die Armen abgeben, sind nach von Hayek die Wohltäter der Menschheit, sondern die reichen Unternehmer. Diese gelten nämlich als Schrittmacher des Fortschritts. Die Reichen, die im Lebensniveau der übrigen Gesellschaft voranschreiten, antizipieren bloß den allgemeinen Fortschritt im Wohlstandsniveau.736

Die Reichen schaffen mit einer zeitlichen Verzögerung den Reichtum der übrigen, indem sie die Gesellschaft hinter sich herziehen. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, daß von Hayek nicht nur den unternehmerisch-produktiven Reichtum im Interesse der Armen verteidigt, sondern auch den "müßigen", der in Form von Luxuskonsum verausgabt wird. Der Luxus der Reichen hat in seinen Augen eine Führungsfunktion für die Artikulation neuer Bedürfnisse. Mit ihrer Verschwendung und Extravaganz experimentieren die Reichen mit neuen Lebensstilen, die später für alle zugänglich sein werden.737 Der gesellschaftliche Nutzen dieser müßigen Reichen, die weder auf Erwerbsarbeit angewiesen noch an materiellem Gewinn interessiert sind, besteht darin, Neues zu eiproben und in die Welt zu bringen.

Falsch ist für von Hayek demgegenüber die Vorstellung, daß die Führenden etwas für sich in Anspruch nehmen, was sonst den übrigen zur Verfügung stünde. Umverteilung mildert die Armut der Armen nur kurzfristig, während sie langfristig die Annut nur noch verschärft. Weil nur die Ungleichheit den Fortschritt aller zu fördern vermag, ist das Bestehen von Gruppen, die den anderen voraus sind, unbedingt notwendig.

736 Dazu kommentiert von Hayek: „Was diejenigen, die großen privaten Reichtums angreifen, nicht verstehen, ist, daß Reichtum hauptsächlich dadurch geschaffen wird, daß man Ressourcen der produktivsten Nutzung zuführt.... Und es kann keinen Zweifel daran geben, daß die meisten derjenigen, die große Vermögen in Gestalt neuer Industrieanlagen und dergleichen aufgebaut haben, dadurch mehr Leuten genützt haben, indem sie Gelegenheiten für lohnendere Beschäftigungen geschaffen haben, als wenn sie ihren Überfluß an die Armen weggeschenkt hätten. Von Hayek, F.A., Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Bd. 2, 1981, S. 136.737 Vgl. von Hayek, F.A., Die Verfassung der Freiheit, 1971, S. 55f.

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Radikal neue Ideen in Politik, Wissenschaft und Kunst können sich mu' dann bilden, wenn wenigstens eine kleine Anzahl von Menschen ungehindert ihren eigenen Zielen nachgehen kann. 738

Für zulässig hält von Hayek lediglich eine gewisse Umverteilung von Einkommen zugunsten derjenigen, die ohne eigenes Verschulden nicht in der Lage sind, auf dem Markt ein zum Leben ausreichendes Einkommen zu erzielen. Ausdrücklich spricht er sich für ein staatlich garantiertes Mindesteinkommen aus, das sicherstellen soll, daß niemand unter ein bestimmtes Niveaus zu sinken braucht, wenn er nicht mehr für sich selber zu sorgen imstande ist. Die Notwendigkeit dieser Maßnahme ergibt sich nicht zuletzt aus systemstabilisierenden Gründen, um nicht diejenigen zu Systemgegnem zu machen, die wegen irgendwelcher Umstände unverschuldet in die Situation geraten sind, sich selbst nicht mehr helfen zu können.739

738 Einen der Hauptgründe für das Verschwinden einer sog. „Mußeklasse“ sieht von Hayek in der Steuerprogression, die bestehende Vermögen zerstört und die Bildung neuer Vermögen verhindert. Letztlich stellt die progressive Besteuerung somit eine Diskriminierung der Minderheit durch die Mehrheit der Gesellschaft dar. Sie behandelt die Menschen willkürlich verschieden und verstößt damit gegen das rechtsstaatliche Prinzip der Gleichheit vor dem Gesetz. Die progressive Besteuerung hat zur Folge, daß die gleiche Leistung zweier Menschen unterschiedlich bezahlt wird, je nachdem, wieviel sie sonst noch im Laufe eines Jahres verdient haben. Die progressive Besteuerung vermindert die Leistungsbereitschaft, und zwar gerade derjenigen, auf deren Leistung es den Menschen am meisten ankommt. Bedenklich ist dabei vor allem, daß es in der Folge der Verminderung der Leistungsbereitschaft zu einer Fehlleitung von Produktivkräften kommt. Die progressive Besteuerung erschwert dagegen riskante Unternehmungen und schränkt den Wettbewerb ein, indem sie die Position der bereits bestehenden Unternehmen gegenüber neu hinzutretenden stärkt; sie unterstützt damit die Schaffung quasimonopolistischer Positionen. Vgl. von Hayek, F. A., Die Verfassung der Freiheit, 1971, S. 205.739 Vgl. Waibl, E., Ökonomie und Ethik H, 1988, S. 210.

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Ausblick

Die vorliegende Arbeit hat den Utilitarismus von der griechischen Antike bis zur Neuzeit analysiert; dieser kann als ein zeitalterübergreifendes Phänomen gelten. Im 20. Jahrhundert beweist das evolutorische Ordnungssystem F.A. von Hayeks die unverminderte Aktualität des Utilitarismus.

Utilitaristische Gesellschaftssysteme haben durchwegs unterschiedliche Ausprägungen. Bereits in der griechischen Antike bestanden individualistische und sozialphilosophische Gesellschaftstheorien nebeneinander. Diese problematisieren jedoch noch nicht das Verhältnis zwischen dem eigeninteressierten Individuum und der Gemeinschaft. Bei Platon, Aristoteles und Thomas von Aquin stand das Interesse der Gemeinschaft im Vordergrund; Epikur entwickelt seinen Utilitarismus als rein individualistische Theorie.

Dieser Antagonismus kommt erst im neuzeitlichen Utilitarismus deutlicher zum Vorschein. So entstehen im Rahmen des klassischen Utilitarismus gleichzeitig dessen rationalistische und empiristische Varianten, die respektive bei Jeremy Bentham und Adam Smith verwirklicht werden. Auf der einen Seite wird der Staat zum Glücksgaranten des Bürgers, auf der anderen entwickelt sich die Vorstellung einer natürlichen Ordnung, die automatisch zum größtmöglichen Glück ihrer Bürger führt.

Interessant sind insbesondere die vielen Querverbindungen der einzelnen utilitaristischen Theorien untereinander. So greift John Stuart Mill auf das Menschheitsideal von Platon und Aristoteles zurück; Jeremy Bentham orientiert sich am Hedonismus Epikurs. Im Rahmen seiner politischen Theorie prägt John Stuart Mill ein ausgesprochenes Elitedenken, ein Element, das von Hayek in seinen Vorschlag zur Verfassungsreform integriert; in der Antike war diese Idee auch bereits von Platon entwickelt worden. Der Evolutionsgedanke wiederum findet sich bereits in Ansätzen bei David Hume und Adam Smith; erst bei von Hayek erfährt er seine wissenschaftliche Untermauerung.

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John Stuart Mill und Friedrich August von Hayek haben darüber hinaus die wichtigsten Schriften zur Verteidigung der Freiheit im 19. und 20. Jahrhundert geschrieben. Hatte John Stuart Mill mit seiner Schrift „On Liberty“ das Individuum vor den Zwängen des Viktorianischen Zeitalters geschützt, so liefert von Hayek eine äußerst wirkungsvolle Verteidigung vor den Gefahren von Totalitarismus und Sozialismus. Mit seiner Betonung von Spontaneität und Unvorhersehbarkeit fehlt von Hayeks Analyse der Freiheit Mills Rationalismus und Utilitarismus. Von Hayek geht nicht davon aus, daß a priori determinierte Moralprinzipien die Grenzen der Freiheit bestimmen können. Er möchte vielmehr zeigen, wie die Freiheit mit allgemeinen Regeln vereinbart werden kann, während John Stuart Mill die Freiheit mit Bezug auf das Nützlichkeitsprinzip rechtfertigen wollte.740

Die rationalistische Variante des Utilitarismus findet ihren Endpunkt in den Theorien von John Stuart Mill. Durch seine Trennung der Produktions- und Verteilungsgesetze, seine Konzeption der sozialen Gerechtigkeit und seine Entwicklung des romantischen Menschenbildes bricht John Stuart Mill gewissermaßen mit dem traditionellen klassischen Liberalismus; die Verfremdung seiner liberalen Ideen wird vorwiegend auf kontinental-französischen Einfluß zurückgefuhrt.

Von Hayek ist sich der negativen Wirkungen des rationalistischen Utilitarismus bewußt. Daher greift er direkt auf den frühen klassischen Utilitarismus von Adam Smith und David Hume zurück und verleiht ihm im Rahmen seiner Annahme des impliziten Wissens einen wissenschaftlichen Charakter. Die vom rationalistischen Utilitarismus vertretene Vorstellung, daß der Staat fur das Glück seiner Bürger verantwortlich ist, lehnt von Hayek gerade ab und verleiht der selbsttätigen Aktivität des Individuums wieder größeren Raum. Seiner Auffassung nach hatte der rationalistische Utilitarismus nur negative Wirkungen auf das politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche System.

Im Gegensatz zum Utilitarismus von Adam Smith, der noch auf metaphysischem Hintergrund argumentiert, entwickelt von Hayek sein Konzept „spontaner

740 Insbesondere Barry weist jedoch darauf hin, daß gerade Mills Schrift „On Liberty“ keine typisch utilitaristischen Bezüge aufweist. Vgl. Barry, N.P., Hayeks Philosophy, 1979, S.70

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Ordnungen“ rein wissenschaftlich. Gerade weil das einzelne Individuum im gesellschaftlichen Prozeß über das entscheidende Wissen verfügt, muß seiner ungehinderten Entfaltung der größtmögliche Raum gewährt werden; in diesem Sinne argumentiert von Hayek auch fiir die Entfaltung größtmöglicher Freiheit innerhalb der Gesellschaft: Die spontane Ordnung innerhalb von Wirtschaft und Gesellschaft kann nur dann entstehen, wenn dem Individuum größtmögliche Freiheit gewährt wird. Der größtmöglichen Gewährung der Freiheit muß sogar die Verfassung Rechnung tragen.

Gerade weil das zukünftige Ausmaß an Wissen nicht vorhersehbar ist, gestattet von Hayek es dem Individuum, innerhalb eines allgemeinen Regelwerkes zu experimentieren. Sein Haupteinwand gegen die rationalistische Freiheitstheorie stützt sich dabei darauf, daß der Rationalist das Wachstum von Wissen mit Kontrolle und Vorhersehbarkeit assoziiert, während die vorhersehbaren Phänomene lediglich einen geringen Teil menschlichen Wissens ausmachen.

Von Hayek macht den evolutorischen Utilitarismus damit zum zukunftsweisenden System. Schließt man sich seinen Erkenntnissen zur Evolution gesellschaftlicher Regeln und zur Verteilung des Wissens innerhalb der Gesellschaft an, so haben Theorien, die Gesellschaften nach fest vorgegebenen Regeln organisieren wollen, endgültig ausgedient. Der rationalistische Utilitarismus mit seiner klaren Orientierung an wohlfahrtsökonomischen Regeln kann als überholt gelten.

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