DERRIDA - Einsprachigkeit des Anderen (Artikel, 1992)_

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Jacques Derrida Die Einsprachigkeit des Anderen oder die Prothese des Ursprungs Für David Wills Der »Mangeli.egt nicht in der Unkenntn is einer Sprache (d es Fran si - sch en), sondern in der Nichtbeherrs chung einer angeeigneten Sprache. [--1 Das autoritäre und prestigeträchtige Eingreifen der französischen Sprache ve rstär kt diese Proz ess e des Mange ls_ - Di e Zurückforderung dieser angeeigneten S prache muß al so über ei ne kri- ti sche Revision des Französ isch en gehen [ __ 1 - Di ese Revis ion könnt e in dem Maß, wie die Zähmung durch die französi- sche Sp ra che durch eine Mechanik des >Humani smus< betrieben w ird, an etwas teilnehmen, das hier Antihumanismus heißen soll Ed ouard Glissant, Le disco urs antillai s (Paris: Se ui l, 198 1), S 334_ Da - eine Geburt zur Sprache, durch ein In einandergreifen von Namen und Identitäte n, die sich umeinander einrollen: nostalgischer Kr eis des Einzig- artig en l-l Ich glaube f est, daß in dieser Erhlu ng die Sprache selbst eife r- süchtig war_ Abdelkebir Khatibi, Amour bilingue (Montpe llier: Fat a Morgana, 1983), S_ 75_ Stellen Sie sich jemanden vor, der das Französische pflegte. Und den das Französische pflegte. Dieses Subjekt der französischen Kultur würde Ihnen zum Beispiel auf Französisch sagen: »Ich habe nur eine Sprache, und es ist noch nicht einmal meine.« Und dann noch, oder auch: »Meine Einsprachigkeit ist absolut, unüberschreitbar und un- bezweifelbar, aber diese einzige Sprache , die ich sprechen muß, solange ich sprechen kann, ist nicht meine. Ich habe nur eine, und das ist nicht mein e.« Eine solche Rede ist unmöglich, würde man sagen. Sie macht keinen Sinn. Sie wird von sich selbst von einem logischen Wider-

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Jacques Derrida

Die Einsprachigkeit des Anderen oder die Prothese des Ursprungs

Für David Wills

Der »M angei« li.egt nicht in der Unkenntn is einer Sprache (des Französi­

schen), sondern in der Nichtbeherrschung einer angeeigneten Sprache. [--1 Das autoritäre und prestigeträchtige Eingreifen der französischen Sprache verstärkt diese Prozesse des Mange ls_

- Die Zurückforderung dieser angeeigneten Sprache muß also über eine kri­tische Revision des Französischen gehen [ __ 1

- Diese Revision könnte in dem Maß, wie die Zähmung durch die französi­sche Spra che durch eine Mechanik des >Humanismus< betrieben w ird, an

etwas teilnehmen, das hier Antihumanismus heißen soll Edouard Glissant, Le discours antillais (Paris: Seui l, 1981), S 334_

Da - eine Geburt zur Sprache, durch ein Ineinandergreifen von Namen und Identitäten, die sich umeinander einrollen: nostalg ischer Kreis des Einzig­

artig en l-l Ich glaube fest, daß in dieser Erzä hlu ng die Sprache selbst eifer­süchtig war_

Abdelkebir Khatibi, Amour bilingue (Montpellier: Fata Morgana, 1983), S_ 75_

Stellen Sie sich jemanden vor, der das Französische pflegte . Und den das Französische pflegte. Dieses Subjekt der französischen Kultur würde Ihnen zum Beispiel auf Französisch sagen:

»Ich habe nur eine Sprache, und es ist noch nicht einmal meine.«

Und dann noch, oder auch: »Meine Einsprachigkeit ist absolut, unüberschreitbar und un­

bezweifelbar, aber diese einzige Sprache, die ich sprechen muß, solange ich sprechen kann, ist nicht meine. Ich habe nur eine, und das ist nicht meine.«

Eine solche Rede ist unmöglich, würde man sagen. Sie macht keinen Sinn. Sie wird von sich selbst von einem logischen Wider-

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spruch oder, wie man heutzutage sagen würde, von einem prag­matischen Widerspruch fortgetragen. Einen pragmatischen Wider­spruch, weil der, der spricht - das Subjekt der Rede - das Gegen­teil von dem. tut, was er sagt. Er beweist durch sein Tun, durch seinen Sprechakt, das Gegenteil von dem, was seine Rede zu be­haupten, zu beweisen, unter Beweis zu stellen scheint. Sobald ich auf Französisch sage, daß die französische Sprache - die ich spre­che und die meine Äußerung verständlich macht - nicht meine Sprache is t, ich aber auch keine andere habe, befinde ich mich anscheinend in diesem »pragmatischen Widerspruch« gefangen.

Der Vorwurf des »pragmatischen Widerspruchs« wird heute oft voreilig denen gemacht, die sich Fragen stellen. Man sagt zu ihn en: »Ah, ihr stellt euch hinsichtlich der Wahrheit Fragen und in eben dem Maße glaubt ihr noch nicht an die Wahrheit; wie soll man eure Aussagen dann überhaupt ernst n ehmen, da sie Wahr­heit beanspruchen? usw. «

Ich habe an anderer Stelle versucht, auf diese Art von Einwand zu antworten, der mich jedenfalls nicht daran hindern wird, mich in diesem angeblichen pragmatischen Widerspruch einzurichter~ und zu behaupten : »Es ist möglich, einsprachig zu sein (ich bin es), völlig einsprachig, und eine Sprache zu sprechen, die nicht die eigene ist . «

Was soll das heißen? Noch zu Anfang - bevor ich anfange - möchte ich zwei Behaup­

tungen wagen, die ebenfalls widersprüchlich aussehen werden; diesmal jedoch nicht wegen eines Widerspruchs in ihnen, son­dern wegeh eines Widerspruchs zwischen ihnen: 1. Man spricht immer nur eine Sprache. 2. Man spricht niemals nur eine Sprache. - Diese zweite Behaup­tung geht in die Richtung dessen, was Khatibi in eben dem Au­genblick, in dem er Problematik und Programm eines Werkes über Zweisprachigkeit definiert, klarstellt: »Wenn es (wie wir im Anschluß an und mit anderen sagen) die Sprache nicht gibt, wenn es keine ausschließliche Einsprachigkeit gibt, dann bleibt abzu­stecken, was die Muttersprache in ihrer aktiven Teilung ist und was zwischen der Muttersprache und der sogenannten fremden Sprache aufgepfropft wird . Was dort aufgepfropft wird und was sich dort verliert und weder der einen noch der anderen zu-

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kommt: das Unkommunizierbare. Von daher Zwie-sprache, in ihren Effekten des Sprechens und des Schreibens [ ... ].« ]

Und es ist vielleicht das, weswegen man schreibt und das, wes­wegen man sich um Geschichte und Genealogie kümmert. Ein bestimmter genealogischer und anamnetischer Trieb fände seine Triebfedel~ seine Kraft und seine Zuflucht in diesem doppelten Gesetz, in der Doppelheit, der Doppelzüngigkeit dieser Zugehö­rigkeitsklausel :

1. Man spricht immer nur eine Sprache odel~ besser, ein einziges Idiom.

2. Man spricht nie eine einzige Sprache. Es gibt kein reines Idiom. Ist das möglich? Ich glaube ja, ich glaube das, wie man sagt, aus

Erfahrung zu wissen und möchte es gerne zeigen, oder vielmehr in Erinnerung rufen, mir in Erinnerung rufen. Was ich mir in Er­innerung rufen möchte, ist die Unmöglichkeit - und die Not­wendigkeit dessen, was unmöglich ist und was es dennoch gibt : Übersetzung, eine andere Übersetzung als die, von der die Kon­ven tion, die Tradition und einige Übersetzungstheoretiker spre­chen . Denn dieses doppelte Postulat : - Man spricht immer nur eine Sprache - Man spricht nie eine einzige Sprache ist das Gesetz dessen, was man Übersetzung nennt.

Hier ist gerade ein internationales Kolloquium eröffnet wor­den, zu dem großzügig Frankophone eingeladen wurden, die, wie man eigenartigerweise sagt, verschiedenen Nationen, Kultu­ren, "S taaten angehören . Unter den Teilnehmern gibt es zwei (Ab­delkebir Khatibi und mich), die neben einer alten Freundschaft ein bestimmter Rechtsstand verbindet. Diesen Rechtsstand nennt man in jenem Land, das mein Land ist, »franco-maghrebinisch «. Was soll das heißen? Und welcher Art ist dieser Bindestrich? Wer ist fra neo-maghrebinisch? Um letzteres zu erfahren, muß man wissen , was franco-maghrebinisch ist, und um wiederum dieses herauszufinden, müßte man wissen, wer der franco-maghrebi­nischste ist. Nach einern der Philosophie vertrauten Zirkelschluß würde man sagen, daß der der franco-maghrebinischste ist, an dem man ablesen kann, was das eigentlich ist, franco-maghrebi­nisch. Man entziffert das Wesen des Franco-Maghrebinischen am paradigmatischen Beispiel des »Franco-Maghrebinischsten«, also

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des Franco-Maghrebiners par excellence. Angenommen, es gäbe so etwas wie eine historische Einheit von »Frankreich« und »dem Maghreb« - und das ist absolut nicht sicher -, dann wäre das »und« niemals ein Faktum, sondern allein ein Versprechen.

Stellen wir eine Arbeitshypothese auf. Nehmen wir an, daß ich Abdelkebir Khatibi - ohne ihn verletzen zu wollen, durch die treue und bewundernde Zuneigung, die ich für ihn empfinde -erkläre, daß ich mich hier für den franco-maghrebinischeren von uns beiden halte, und vielleicht sogar für den einzigen Franco­Maghrebiner. Falls ich mich irre, falls ich mich täusche, falls ich zu weit gehe, wird man mir sicher widersprechen, und ich werde erklären , was ich meine . Es gibt unter uns Frankophone, die keine Maghrebiner sind. Es gibt ebenso Nicht-Franzosen, die gleichzeitig auch Nicht-MaghrebuLer sind . Es gibt außerdem fran­kophone Maghrebiner, die keine Franzosen sind und die nie Franzosen, das heißt französische Staatsbürger waren . Meine H y­pothese ist deshalb, daß ich hier vielleicht der einzige bin, der von sich sagen kann, daß er gleichzeitig maghrebinisch (das ist keine Staatsangehörigkeit) und französischer Staatsbürger ist. Das eine wie das andere, und sowohl das eine wie das andere von Geburt. Denn schließlich sprechen wir hier von Geburt und Nationalität. Von Geburt, was den Boden angeht; von Geburt, was das Blut angeht, wie einige sagen; und von Geburt, was die Sprache an­geht. Sowie von den Beziehungen zwischen Geburt, Sprache, Kultur, Nationalität und Staatsbürgerschaft.

Das jedenfalls ist m eine Hypothese, und das ist in meinen Augen die einzige - allerdings vollkommene - Rechtfertigung fÜl: meine Anwesenheit auf diesem Kolloquium. Das ist die Ge­schichte, die ich mir erzähle, die ich mir vielleicht gerne im Zei­chen des Zeichens, der Schrift und der Anamnese erzählen würde, im Zeichen auch der Renvois d'ailleursoder der Echoes fr0111 elsewhere, und die ich jetzt in eULe kleine Fabel fassen werde.

Wenn ich sage, daß ich vielleicht der einzige Franco-Maghre­biner hier bin, dann autorisiert mich das nicht, im Namen von irgend jemandem und schon gar nicht im Namen einer franco­maghrebinischen Gemeinschaft zu sprechen , deren Identität ja gerade in Frage steht. Unsere Frage ist hier immer eine Frage n ach Identität. Identität ist ein Konzept, dessen eigene Identität in

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Debat ten um Mono- oder Multikulturalismus, um Nationalität, Staatsbürgerschaft und Zugehörigkeit im allgemeinen immer als völlig durchsichtig dogmatisch vorausgesetz t wird. Aber was ist Identität?

Francb-Maghrebiner zu sein - »wie ich« - heißt nicht, heißt vor allem nicht, ein Übermaß oder einen Überfluß an Identitäten, Attributen oder Namen zu besitzen. Es heißt ganz zweifellos zu­nächst einmal, eine gesUirte Identität. Und ich gebe diesem Aus­druck »Identitätsstörungen« sein ganzes Gewicht, seine ganze Tragweite, ohne die psycho- oder sozio-pathologischen Konno­tationen ausgrenzen zu wollen. Wenn ich mich als Franco-Ma­ghrebuLer präsentiere, beziehe ich mich auf die Staatsbürger­schaft. Staatsbürgerschaft bezieht sich bekanntlich nicht auf die kulturelle, sprachliche oder historische Zugehörigkeit im allge­m einen. Sie deckt nicht a11 diese Zugehörigkeiten ab. Aber sie ist auch nicht einfach ein Prädikat des Überbaus, das an der Ober­fläche der Erfahrung dahin gleitet. Vor allem dann nicht - und das ist mein Fall und die typische Situation, von der ich spreche - , wenn diese Staatsbürgerschaft ganz und gar prekär, jung, bedroht, künstlicher als je ist. Und wenn man sie im Laufe seines Lebens bekommen hat - diese Erfahrung haben viele Amerikaner ge­macht -, aber auch wenn man sie zunächst im Laufe seines Le­bens verloren hat - und das ist ganz sicher kaum je einem Ameri­kaner zugestoßen .

Denn eine Staa tsbürgerschaft ist zwar wesentlich niemals na­türlich, aber das Prekäre und Künstliche an ihr tritt wie in einer bevorzug~en Beziehung dann deutlicher zutage, wenn man sich noch an ihren Erhalt erinnert (wie zum Beispiel an den Erhalt der französischen Staatsbürgerschaft, die den jüdischen Algeriern durch den Erlaß Cn2mieux 1870 eingeräumt wurde) und vor allem wenn man wie die jüdischen Algerier den Verlust der französi­schen Staatsbürgerschaft erfahren hat, wie es m ein Fall »unter der Besatzung«, wie man sagt, war. Ich sage »wie man sagt«, denn Algerien ist nie von den Deutschen besetzt worden und die den algerischen Juden entzogene französische Staatsbürgerschaft war - mit a11 ihren Folgen - allein die Tat Frankreichs. Ich war zu die­sem Zeitpunkt sehr jung, ich verstand zweifellos nicht gen au -schon damals verstand ich nicht genau -, was der Verlust der

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Staatsbürgerschaft bedeutete. Aber ebenso zweifellos hängt der Ausschluß - der Ausschluß von der den jungen Franzosen gm"an­tierten Schulbildung etwa - mit den Identitätsstörungen, von de­nen ich eben sprach, zusammen. Und mit meinem Verhältnis zu einer Sprachzugehörigkeit, auf das ich gleich zurückkomme.

Der zwei Jahre andauernde Verlust der Staatsbürgerschaft fand strictu sensu nicht - das habe ich bereits unterstrichen - »unter der Besatzung« statt. Es war vielmehr eine franco-französische Ge­walttat; man könnte sogar sagen, daß es eine Tat des französi­schen Algeriens in Abwesenheit der deutschen Besatzung wm". In Algerien hatte man nie eine deutsche Uniform zu Gesicht be­kommen. Also kein Alibi, kein Ableugnen, keine mögliche Täu­schung : Es war unmöglich, die Verantwortung für diesen Aus­schluß auf eine fremde Besatzung abzuschieben. Und wenn ich mich nicht täusche, gibt es für eine Aberkennung der Staatsbür­gerschaft, die für mehr als hunderttausend Personen auf einmal verfügt wurde, kaum Beispiele in der Geschichte. Frankreich selbst verweigerte ihnen die französische Identität, es nahm sie Menschen, deren kollektives Gedächtnis sich noch daran erin­nerte - oder kaum vergessen hatte -, daß die Staatsbürgerschaft ihnen eben noch verliehen worden war und daß diese Verleihung ein halbes Jahrhundert zuvor prompt zu gewalttätigen Verfol­gungen und zum Beginn von Pogromen geführt hatte.

Fördert oder hemmt diese Identitätsstörung die genealogische Anamnese, ,das genealogische Begehren oder die genealogische Kraft? Zweifellos beides - das ist die andere Seite jgnes Wider­spruches, von dem ich zu Anfang sprach.

Unter diesem Titel - die Einsprachigkeit des Anderen - werde ich etwas wagen, das sowohl mit mir selbst als auch mit der Gat­tung der autobiographischen Erinnerung eine nur vage Ähnlich­keit hat, die vielleicht unumgänglich ist, wenn man sich im Raum der Erzählung [relation] exponiert; ich verstehe »relation« sowohl im Sinne von Narration, 2 d. h . von genealogischer Erzählung, als auch allgemeiner in bezug auf das, was Edouard Glissant mit die­sem Begriff bezeichnet, wenn er von der Poitique de la relation spricht, so wie man auch von zwischenkultureller, relationaler Politik sprechen könnte.

Ich wage es, mich hier als Franco-Maghrebiner par excellence,

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ecce homo, zu präsentieren; naiver oder jedenfalls entwaffnetel~ als ich es normalerweise tun würde. Ecce homo, denn es handelt sich um eine »Passion«, die des Franco-Maghrebiners, der leidet und Zeugnis ablegt. Was die rätselhafte Bedeutung des Zeugnis-Able­gens oder der Exemplarität angeht, hier die erste, die zweifellos allgemeinste Frage: Was passiert, wenn man eine angeblich ein­zigartige Situation - meine beispielsweise - in Termini beschreibt, deren Generalität eine irgendwie strukturelle, universelle, tran­szendentale, ontologische Bedeutung annimmt? Wie eine Einzig­m"tigkeit beschreiben, bezeichnen oder bestimmen, deren Ein­maligkeit gerade am Zeugnis-Ablegen hängt, an dem Faktum also, daß bestimmte Individuen in bestimmten Situationen die Züge einer universellen Struktur besser als andere bezeugen, offen­baren, anzeigen, quasi live zu lesen geben? Und vor allem dann, wenn sie es in einer Sprache tun, die sie - sicherlich - sprechen, auf die zu sprechen sie sich verstehen, aber die sie sprechen , in­dem sie sie gleichzeitig in dieser Sprache selbst als die Sprache des Anderen darstellen? Das ist die Situation der meisten hier unter uns.

Teh will das an einem Beispiel erläutern . Wenn ich sage, »ich habe nur eine Sprache, und das ist nicht meine« oder »man spricht immer nur eine Sprache«, liegt keine Zwei- oder Mehrsprachig­keit vor; aber wenn ich dann behaupte, »man spricht nie eine ein­zige Sprache«, »es gibt nur Mehrsprachigkeit«, dann sind das Aussagen, die sich anscheinend widersprechen (es gibt kein X; es gibt nur X) und deren Universalität ich zeigen könnte, hätte ich die Zeit. Jedermann muß sagen können: »Ich habe nur eine Spra­che, und das ist nicht meine.« Selbs t diejenigen, die mehrere Spra­chen sprechen (und das ist eine Struktur des Begehrens oder des Versprechens, die alles Sprechen informiert und auf die ich zu­rückkomme), neigen dazu, eine einzige Sprache zu sprechen, und zwar eine Sprache, die nur selbst von sich selbst sprechen kann. Man kann von einer Sprache nur in dieser Sprache sprechen (Ein­sprachigkeit und Tautologie, absolute Unmöglichkeit einer Meta­sprache). In dieser Einsprachigkeit ist der Bezug zur Sprache aus der Sicht desjenigen, der schreibt oder spricht, nie einer des Eigentums, der Beherrschung welcher Art auch immer. Wenn das »Nicht-Beherrschen einer angeeigneten Sprache«, von dem

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Edouard Glissant in dem von mir als Motto zitierten Text spricht, zunächst natürlich bestimmte historische Situationen der Ent­fremdung und der Knechtschaft betrifft, dann trägt es doch auch, prägt man ihm die erforderlichen Modulationen ein, weit über diese Sihlationen hinaus. Es gilt auch für das, was man die Spra­che des Herren nennen würde. Statt Situationen sprachlicher Un­terdrückung und kolonialer Enteignung aufzulösen, sollte diese vorsichtige und differenzierte Universalisierung der Möglichkeit hegemonialer Gewalt Rechnung tragen. Ich würde sogar sagen, daß nur sie es kann. Denn der Herr besitzt nicht eigentlich, was er dennoch seine eigene Sprache nennt . Was immer er auch will oder tut, er kann mit ihr keine Beziehungen des Eigentums, keine Beziehung natürlichel~ nationaler, gebürtigel~ ontologischer Identitä t unterhalten. Er kann sie sich nur in einem nicht-natür­lichen Prozeß phantasmatischer Konstruktion aneignen. Nur weil die Sprache nicht sein natürliches Eigentum ist, kann er sie historisch durch die Gewalt kultureller Usurpation, die wesen­haft kolonial ist als seine auferlegen. Weil es kein natürliches, eigentliches Eigentum der Sprache gibt, ist die Gewalt, die sie ver­anlaßt, allein die der Aneignung. So daß jeder sagen kann: ich habe nur eine Sprache und das ist nicht meine. Meine eigene, meine eigentliche Sprache ist mir eine Fremdsprache. Meine Sprache, die einzige, die ich spreche, ist die Sprache des Ande­ren. Wie der »Mangel«, so ist diese Entfremdung konstitutiv. Sie strukturiert das Eigene und das Eigentliche d'er Sprache in ihrem Vorkommen selbst, das heißt in ihrem Phantasma. Ich beziehe mich hier auf die semantische und etymologische Ähnlichkeit, die das Phantasma dem phainesthai, der Phänomenalität und dem Phänomen, assoziiert. Die Schwere der politischen und histori­schen Gewalt ist dadurch nicht abgemildert, im Gegenteil. Denn es gibt Situationen, Erfahrungen von Subj ekten, die in der Lage [situation] sind - aber was heißt situieren in diesem Fall? -, davon exemplarisch Zeugnis abzulegen. Diese Beispielhaftigkeit ist nicht einfach die eines beliebigen Beispiels in einer Serie . Es ist vielmehr die bemerkenswerte [remarquable]qnd bemerkte [remar­quante] Beispielhaftigkeit, die aufblitzend, intensiv, und das heißt traumatisch die Wahrheit dieser strukturellen und universel­len Notwendigkeit zu erkennen gibt. Ich sage traumatisch, weil

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es hier um Schläge und Wunden, um Narben, oft um Morde, manchmal um kollektive Ermordungen geht.

Wie ist also der Status dieser bemerkten Beispielhaftigkeit, die es erlaubt auf dem Körper einer unersetzlichen Einzigartigkeit ein universelles Gesetz und eine Struktur neu einzuschreiben [re-marquer]? Das ist ein weites Feld, das ich hier nicht abhan­deln werde, sondern zu dem ich nur folgendes, die Struktur noch Verkomplizierendes sagen mächte: Nur weil es eine sol­che Re-markierung des Quasi-Transzendentalen oder des Quasi­Ontologischen im phänomenalen, ontischen oder empirischen­Beispiel gibt ist man gezwungen, gleichzeitig zu sagen, »man spricht immer nur eine Sprache« und »man spricht nie eine ein­zige Sprache« oder »ich spreche nur eine Sprache, und das ist

. nicht meine«. Denn die Erfahrung der Sprache (oder eher die der Markierung, der Re-markierung oder des Randes) ist eben dieje­nige, die diese Behauptung möglich und notwendig macht; die Beziehung nämlich zwischen der transzendentalen oder ontolo­gischen Universalität und der beispielhaften oder bezeugenden Einzigartigkeit: die martyrisierte Existenz. Wenn wir hier an­scheinend abstrakte Begriffe wie die der Markierung oder Remar­kierung zur Sprache bringen, dann denken wir auch an die Stigmata und an die Wunden, die dem Körper eingeschrieben werden . Wir sprechen im strikten und quasi etymologischen Sinn der Begriffe Martyrium und Passion. Und wenn ich »Körper« sage, dann meine ich damit sowohl das, was den Sprach- und Schriftkörper betrifft, als auch das, was diesen zu einer Sache des Körpers macht, zu einer Sache eben dieses Körpers, den man den Körper im eigentlichen Sinne nennt.

Inwiefern kann die Situation eines franco-maghrebinischen Märtyrers - leidenschaftlich - Zeugnis ablegen für dieses univer­selle Schicksat das uns einerseits eine einzige Sprache bestimmt und andererseits verbieteC sie uns anzueignen, wobei dieses Ver­bot an das Wesen der Sprache oder besser an das der Schrift ge­bunden ist?

In dem gängigen Konzept setzt die auto-biographische Anam­nese (ein ausuferndes Problemfeld, auf das ich hier nicht einge­hen werde) die Identifikation voraus. Was immer die Odyssee, Ge­schichte einer Heimkehr zu sich oder nach Hause [chez soi, asoi],

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was immer der Bildungsroman, was immer die Geschichte der Konstitution des Ichs, des autos sein mag: der oder die, welche schreibt, muß bereits »ich « sagen können. Auf jeden Fall muß die identifikatorische Modalität der Sprache in der Sprache schon gesi­chert sein. Die Frage nach der Einheit der Sprache, meint man, muß entschieden sein, egal ob es sich nun um Sprache im strikten oder im weiteren Sinne handelt - und hier wird man alle identifi­katarischen Modelle und Modalitäten, die identifikatorischen Pole der Sozialkultur (Politik, Religion, Literatur USw.) einbezie­hen. Man muß schon wissen, in welcher Sprache man sich sagt, ich mich sage. Wir denken hier sowohl an das ich denke als auch an das grammatikabsche oder linguistische Ich, an das Ich oder an das Wir in ihrer identifikatorischen Form, die von kulturellen, symbolischen, soziokulturellen Figuren geprägt werden. Daß das Ich der sogenannten auto-biographischen Anamnese je nach Sprache verschieden gesagt wird - in jeder, und nicht nur in grammatischer, logischer oder philosophischer Hinsicht -, daß es diesen Sprachen nicht voraus liegt und also von der Sprache im allgemeinen nicht unabhängig ist, das wird von denen, die von der Autobiographie im allgemeinen reden - Gattung oder keine Gattung, literarische Gattung oder keine literarische Gattung usw. - , selten berücksichtigt.

Ohne mich hier mit den ausufernden Problemen zu beschäfti­gen, die Sie ahnen, möchte ich mich auf eine Konsequenz be­schränken. Sie berührt das, was hier unser Gemeinplatz ist, das Anderswo, die Erwiderung - einmal angenommen, sie könnten jemals ein Gemeinplatz sein. Das in Frage stehende Ich hat sich zweifellos am Ort einer unauffindbaren Situation, die immer auf ein anderswo, auf etwas anderes, auf eine andere Sprache, auf den Anderen im allgemeinen verweist, geformt (falls es das hat tun können und falls die Identitätsstörung, von der wir vorhin sprachen, nicht die Konstitution selbst des Ichs und des Ich-sagens affiziert hat) . Es situiert sich in einer nicht situierbaren Erfahrung der Sprache - im weiteren Sinne des Wortes -, die weder einspra­chig noch zweisprachig, noch mehrsprachig ist. Weder eins noch zwei, noch zwei + n. Auf jeden Fall gab es vor dieser fremd­artigen, dieser unheimlichen Situation einer nicht-nennbaren Sprache kein denkbares oder denkendes Ich .

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Es ist unmöglich, die Sprachen abzuzählen - das wollte ich sa­gen . Es gibt keine Abzählbarkeit [co111ptabilitel der Sprachen, weil die Einheit der Sprache, die sich aller arithmetischen Abzählbar­keit entzieht, niemals bestimmt ist. Das »ein« der Einsprachc, von der ich spreche, ist also weder eine arithmetische Einheit noch irgendeine Einheit. Derjenige (dieses Ich), von dem ich spreche, ist jemand, dem der Zugang zur arabischen Sprache oder zu den nichtfranzösischen Sprachen Algeriens (dialektales oder literari­sches Arabisch, Berberisch) untersagt worden ist. Aber dieses gleiche Ich ist auch jemand, dem der Zugang zur französischen Sprache auf eine andere, anscheinend abwegige und perverse Art und Weise ebenfalls untersagt worden ist. Und dem damit auf einen Schlag der Zugang zu den Identifikationen versperrt wurde, die eine befriedete Auto-biographie - Memoiren im ldas­sischen Sinne - ermöglichen.

In welcher Sprache soll man seine Memoiren schreiben, wenn es keine erlaubte Muttersprache gibt und man die Sprache und sein Ich erfinden muß, sie gleichzeitig erfinden muß, jenseits von jener Anamnese, die die doppelte Untersagung hervorgebracht hat?

Man muß zweifellos vermeiden, sich hier gesicherter Katego­rien, zu welchem Bereich sie auch gehören mögen, zu bedienen. Man gibt beispielsweise der Bequemlichkeit oder der Automatik nach, wenn man von Untersagung [interdit] spricht. Wenn es eine Untersagung gab, so war sie zugleich außergewöhnlich und grund­legend. Man untersagt den Zugang zu einer Sprache und nicht eine Sache, eine Geste, eine Handlung. Man untersagt den Zu­gang zum Sagen, einem bestimmten Sagen. Das ist jedoch die grundSätzlichste Untersagung, die absolute Untersagung, die Untersagung der Diktion und des Sagens. Die Untersagung, von der ich rede, ist also keine Untersagung unter anderen. Aber auf der anderen Seite scheint das Wort Untersagung noch zu gewagt, zu einfach und zu zweideutig, da die Grenze, von der wir spre­chen, weder als - offizieller - Gesetzesakt noch als körperliche, natürliche oder organische Schranke verfügt worden ist. Man batte (formal, legal) die Wahl, Arabisch oder Berberisch zu lernen oder nicht zu lernen. Die Untersagung funktionierte also auf an­dere Weise .

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Schließlich und vor allem konnte die Erfahrung dieses doppel­ten Verbotes, das niemandem, mir jedenfalls keinerlei Zuflucht ließ, nur die Erfahrung des Überschreitens einer Grenze sein (ich sage nicht Transgression, weil dieses Wmt zu aufgeladen ist). Dieses Überschreiten der Grenze würde ich in eilLem bestimmten Sinne des Wortes Schrift nennen, und so würde ich eÜlen be­stimmten Modus der Aneignung einer untersagten Sprache be­zeichnen, eine An eignung, die sie gleichzeitig wiederherstellt, sie wiedererfindet, sie verformt oder reformiert, sie den Preis der Un­tersagung bezahlen läßt oder sich an ihr für die Kosten der Unter­sagung schadlos hält - was zweifellos auf das gleiche hinausläuft. Aber diese Schrift als Aneignung der untersagten Sprache konnte in meinem Fall nicht von der Erfahrung ein er gesprochenen Mut­tersprache au sgehen , denn ich hatte ja keine andere als die fran­zösische. Und eben das zeichnet den Typ von Situation aus, die ich hier repräsentiere, diese von Khatibi als Anruf der Schrift von der Doppelsprache [bi-langue] her beschriebene Situation. Ich zitiere noch eimnal dieses große Buch , Doppelsprachige Liebe . Die Stimme, die in der ersten Person redet, tut das von einer Mutter­sprache hel~ die die Sprache vielleicht verloren hat, aber die diese Stimme nicht verloren hat:

Ja, meine Muttersprache hat mich ve rl oren. Verloren ? Aber wieso, sprach ich nicht, schrieb ich nicht mit großem Genuß in meiner Muttersprache 7 Und war die Doppelsprache nicht meine Chance der Teufelsaustreibung ? Ich meine etwas anderes. Meine Mutter war illiterat. Und meine Ta nte, meine falsche Amme, war es auch Dig lossie von Geburt an, d ie mich viel leicht durch zweite Entbindungsschmerzen, jenseits von jeder Mutter, eins und einzig­artig, der Schrift geweiht hatte, zwischen dem Buch meines Gottes und mei­

ner Fremdsprache.

Ich werde versuchen , dies direkter zu sagen - auch auf das Risiko hin, es schlecht zu sagen .

Erstens. Die Untersagung - behalten wir dieses Wort bei -, die die arabischen und die Berbersprachen betrat nahm für jemanden meiner Generation kulturelle und soziale Formen , zunächst aber einmal eine schulische Form an. Wegen der kolonialen Zensur, der sozialen Abgrenzungen, der Rassismen, dem Verschwinden des Arabischen als offizieller, alltäglicher und als Verwaltungs-

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sprache - vm allem in dem städtischen und vmstädtischen Milieu, in denLichlebte-war die Schule die einzige Zuflucht UlnArabisch als Fremdsprache zu lernen, als Sprache des Anderen, aber auch des allernächsten Nachbarn (ich wohnLe an einem der gleichzeitig unsichtbaren Ul1.d fas t unüberschreitbaren Ränder eines ara­bischen Viertels: die Segregation war ebenso wirksam wie subtil ; ich muß hier auf die präzisen Analysen verzichten, die die Sozial­geographie des Wohnens und auch die der Klassenräume der Grundschule, wo es noch viele kleine arabische Algerier und Kaby­len gab, erfmdert). Das fakultative Lernen des Arabischen war erlaubt; es wurde in Algerien wie jede andere Fremdsprache -Englisch, Deutsch oder Spanisch - in jedem beliebigen französi­schen Gymnasium angeboten . Und ohne jetzt Statistiken zur Hand zu haben, erinnere ich mich, daß der Prozentsatz der Gym­nasiasten, die diese Sprache wählten, bei maxim al zwei Prozent lag. Die sehr kleine Anzahl derjenigen, die sich da so eigenartig engagierten , muß aber noch einmal differenziert werden: denn m anchmal gab es Schüler algerischer Abstammung (Eingebmene, wie sie offiziellILießen), die ausnahmsweise das Gymnasium besu­chen konnten (und von ihnen lernten nicht alle Arabisch). Und es gab kleine Algerienfranzosen nichtstädtischer Herkunft, die Söhne von Siedlern, die, wie man sagte, aus »dem Inneren « kamen und glaubten, das Arabische aus technischen und beruflichen Gründen zu benötigen: unter anderem danüt ihre Feldarbeiter sie verstanden, was auch hieß: ihnen gehorchten. All die anderen, zu denen auch ich gehörte, nahmen die Untersagun g, die das Ergeb­nis der zunehm enden Bedeutungslosigkeit, der mganisierten Marginalisierung dieser Sprache Wdl~ passiv hin. Denn die Kolo­nialpolitik behandelte Algerien so, als ob es sich bei dem Land um den Zusammenschluß von drei französischen Departements han­delte .

Ich kann hier weder diese sprachliche Kolonialpolitik direkt analysieren ndch das Wort »Kolonialismus« ohne Vmbehalte be­nutzen. Jede Kultur ist ursprünglich kolonial - und nicht nur die Etymologie lehrt uns das. Jede Kultur wird erst durch die Gewalt einer Sprach politik eingesetzt. Ich will die Besonderheit und die Brutalität dessen, was man die »eigentliche« moderne koloniale Gewalt nennt, nicht verwischen, im Gegenteil. Die Erfahrung

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dieser »eigentlichen« Kolonialgewalt (die manche, darunter auch ich, von beiden Seiten, wenn man so sagen kann, erfahren haben) offenbart exemplarisch die universelle und wesenhafte Kolonial­struktur aller Kultur. Sie zeugt davon als Märtyrer, bei leben­digem Leibe [ä vif]. Die Einsprachigkeit des Anderen ist zunächst einmal: die vom Anderen durch koloniale Gewalt, die immer dazu tendiert, die Sprachen auf das Eine und auf die Hegemonie des Homogenen zu reduzieren, verordnete Einsprachigkeit. Und das gilt überall, wo di.ese Homogenisierung in der Kultur arbeitet, wo die Falten glattgestrichen und geplättet werden.

Aber die Einsprachigkeit des Anderen bedeutet auch noch etwas anderes, das man erst nach und nach enthüllen wird: daß man in jedem Fall nur eine Sprache spricht, und daß man sie nicht hat, daß sie dem Anderen immer a-symmetrisch ist.

Denn natürlich konnte der versperrte Zugang zur arabischen Sprache und Schrift und zur ganzen, davon untrennbaren Kultur nicht spurlos an uns vorübergehen; er hinterließ vor allem Spuren der Faszination in der Praxis des scheinbar Erlaubten, das heißt in der Praxis des Französischen. Die arabische Sprache wurde die alle/fremdeste, und dieses Privileg war mit einer eigenartigen, beunruhigenden Nähe verbunden. Zu zeigen, daß die französi­sche Sprache ebenfalls, wenn auch auf andere Art, untersagt war, wird mir schwerer fallen .

Zweitens. Auch diese Erfahrung wurde vor allem durch die Schule vermittelt. Unterscheiden wir nun zwischen mehreren Allge­meinheitsniveaus und soziolinguistischen Strukturen. Für alle Schüler der französischen Schule in Algerien, ob sie nun gebür­tige Algeriel~ »algerische Franzosen« oder im Milieu der jüdi­schen Algerier geboren waren, die sowohl das eine als auch das andere waren (eingeborene Juden, wie man unter der Besatzung ohne Besatzung sagte, und trotzdem französisch) - für alle war das Französische angeblich die Muttersprache, deren Quelle, de­ren Normen, deren Regeln, deren Gesetze jedoch woanders an­gesiedelt waren, irgendwo anders hinverwiesen : auf die Hauptstadt nämlich. Man sagte nicht »Frankreich«, sondern »die Haupt­stadt«. Jedenfalls in der offiziellen Sprache, in der Sprache der Reden, der Zeitungen, der Schule. In meiner Familie, und oft

Die Einsprachigkeit des Anderen 29

auch anderswo, sagte man unter sich »Frankreich« (er kann sich Ferien . in Frankreich erlauben, er wird in Frankreich studieren, dieser Lehrer kommt aus Frankreich). Die Hauptstadt, die Mutter­stadt, der Sitz der Muttersprache war ein Ort, der, ohne es zu sein, symbolisch für ein fremdes Land stand und der modellhaft die Sprache der Herren, besonders die des Schullehrers als deren Repräsentant im allgemeinen repräsentierte. Ganz anders als für den kleinen Franzosen aus Frankreich war für uns die Metropole, mit ihrer Vorbildfunktion bezüglich der feinen Unterschiede, der Richtigkeit, der Eleganz, der literarischen und gesprochenen Sprache, anderswo. Die Sprache der Hauptstadt war die Mutter­sprache als Sprache des Anderen. Für den kleinen Provenzalen oder den kleinen Bretonen gibt es natürlich ein analoges Phäno­men, und Paris kann diese Rolle der Hauptstadt auch für einen Provenzalen spielen, so wie es die vornehmen Viertel für eine gewisse Art von Banlieu tun. Aber in diesem Fall hat der Andere nicht mehr die gleiche Art von Transzendenz, von Entfernung und von Anderswo-sein, er hat nicht mehr die unerreichbare Autorität eines Herren, der autre-mer wohn.t usw. Wir wußten dunkel, aber sicher, daß Algerien nicht nur ein Regierungsbezirk oder ein Armenviertel war. Es war auch ein Land - Land in einem Sinn des Wortes, das weder Staat noch Nation, noch Religion, noch auch, wage ich zu sagen, authentische Gemeinschaft meint. Und in Algerien selbst konnte sich im übrigen die Struktur Haupt­stadt /Provinz wieder etablieren: »Algier/das Innere«, »Algier/ Oran«, »Algier/Constantine«, »Algier-Zentrum«, »Algier/Vor­orte« (villenartig oder arm usw.).

Das ist eine erste Stufe der Allgemeinheit. Zwischen dem soge­nannten schulischen, grammatikalischen oder literarischen Mo­dell und der gesprochenen Sprache lag das Meer, ein symbolisch unendlicher Raum, ein Abgrund für die Schüler der französi­schen Schulen in Algerien, ein Raum, den ich erst mit neunzehn Jahren zum ersten Mal physisch überquert habe. Man könnte endlos über die »Geschichte Frankreichs«, über das, was man in der Schule unter dem Namen der »Geschichte Frankreichs« un­terrichtete, reden: es war das unglaublichste, aber für die Kinder meiner Generation das unauslöschlichste Fach. Ich werde mich mit einigen Andeutungen zum Französischunterricht begnügen.

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Die Entdeckung der französischen Literatur, dieses so einmaligen Schreibmodus, den man damals französische Literatur nannte, war die Erfahrung einer Welt ohne Verbindung zur Lebenswelt. Diese Diskontinuität ist doppelt aufschlußreich: Sie exponiert eine wesenhafte Diskontinuität die die literarische Kultur - Lite­ralität als ein bestimmtes Umgehen mit Sprache, Sinn und Refe­renz - immer von der nicht-literarischen Kultur trennt, selbst wenn diese Trennung nie klar oder einfach ist. Aber von dieser universellen und essentiellen Diskontinuität abgesehen, gab es noch eine schärfere Trennung, die die französische Literatur -ihre Geschichte, ihre Werke, ihre Modelle, ihren Kult, ihre For­men des Feierns - von der Kultur der »Algerienfranzosen« schied. Natürlich war a11 dies in ständiger und beschleunigender Bewegung: die Dinge änderten sich innerhalb des Jahrhunderts von einer Generation zur nächsten, und man benötigte eine sorg­fältige diachrone Abstimmung. In dieser Geschichte gab es eine einzigartige Begebenheit, und das war der Krieg oder genauer ein Moment mitten im Krieg, kurz nach der Landung der Alliierten in Nordafrika, im November 1942. Damals bildete sich in Algier eine Art von französisch er Literaturhauptstadt im Exil. Dadurch be­kam auch die algerische Literatur in französischer Sprache, wie man sage egal ob es sich um Schriftsteller europäischen (Camus und viele andere) oder algerischen Ursprungs handelte, eine theatralische Sichtbarkeit. In diesem Moment habe ich mich von der französischen Literatur und Philosophie faszinieren lassen: sehr beneidenswerte Dinge, gefürchtet, unerreichbaJ~ die man sich aneignen, die man zähmen, die man liebes schmeichelnd ein­nehmen und die man entflammen, verbrennen, vielleicht zerstö­ren, jedenfalls aber markieren, verändern, beschneiden, auf­

pfropfen, anlocken mußte. Ich sagte bereits, daß es sich hier um eine erste Stufe der Allge­

meinheit handelt, weil das für alle Schüler gilt, die der Pädagogik des Französischen unterworfen und von ihr geformt werden.

Im Inneren dieses Ganzen, das selbst nicht über einfach er­reichbare Identifikationsmodelle verfügte, kann man einen Teil­bereich unterscheiden, dem ich selbst angehörte - allerdings nur bis zu einem gewissen Punkt, denn sobald von KultUl~ Sprache oder Schrift die Rede ist, kann das Konzept von Zugehörigkeit

j

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Die Einsprach igkeit des Anderen 31

und Ganzem nicht mehr einer einfachen Topik von Ausschluß, Einschluß oder Zugehörigkeit Platz machen. Die Untergruppe, der ich angehörte, ist die der »eingeborenen Juden«, wie man in dieser Zeit sagte. Als französische Bürger, die sie seit 1875 bis zuin Ausschlußgesetz von 1940 waren, konnten sie sich jedoch nicht eigentlich mit den Modellen, Normen oder Werten identifizieren, deren Bildung ihnen, weil französisch, hauptstädtisch, christlich und katholisch, fremd war. (In dem Milieu, in dem ich lebte, nannte man die Katholiken und alle nicht-jüdischen Franzosen, selbst wenn sie protestantisch oder orthodox waren, einfach ka­tholisch. »Katholisch« war alles, was weder jüdisch noch arabisch war.) Diese jungen, eingeborenen Juden konnten sich weder ein­fach mit den Katholiken noch mit den Arabern identifizieren, de­ren Sprache diese Generation nicht sprach. Zwei Generationen früher sprachen ihre Großeltern noch Arabisch, oder jedenfalls eine Art von Arabisch. Den Wurzeln der französischen Kultur, die ihre einzige erworbene Kultur und ihre einzige Sprache war, fremd, den arabischen oder Berberkulturen meistens noch frem­der, war den meisten dieser »eingeborenen Juden« auch die jü­dische Kultur fremd: bodenlose kulturelle Entfremdung, mein Unglück, andere würden sagen meine radikale Chance - das war diese völlige Unkultur, aus der ich niemals herausgekommen bin . Auch hier hat ein Untersagen eine Rolle gespielt. Seit Ende des letzten Jahrhunderts und dem Aufdrücken der französischen Staatsbürgerschaft war die sogenannte Assimilation und Akkul­turation so schneIt so brutat so fieberhaft in Gang gekommen, daß der Bezug zur traditionellen jüdischen Kultur - religiös oder einfach sozial - in den Praktiken und rituellen Verhaltensweisen so verarmte, so sklerotisch, so erstarrt oder nekrotisch wurde, daß deren Sinn selbst für die meisten Juden Algeriens nicht mehr les­bar ist. Was die Sprache im engen Sinn angeht, so gab es inner­halb der jüdischen Gemeinschaft nicht einmal die Möglichkeit des Rückzugs auf ein Idiom, das wie das Jiddisch eine innere Abge­schlossenheit garantiert hätte, die als Schutz gegen die offizielle Kultur und Sprache oder auch in anderen sozio-semantischen Si­tuationen hätte dienen können. Das »ladino« wurde in dem Alge­rien, in dem ich aufwuchs, und besonders in großen Städten wie Al­gier, wo die jüdische Population sehr hoch war, nicht praktiziert.

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Es geht hier mit anderen Worten um eine Gemeinschaft, die sowohl in sich selbst desintegriert und destrukturiert ist, und die zudem noch durch etwas dreifach abgetrennt ist, abgeschnitten wie sie ohnehin schon ist durch das, was ich vielleicht etwas vor­schnell ein Untersagen genannt habe: abgetrennt sowohl von der arabischen oder Berberkultur und -sprache als auch von der fran­zösischen und europäischen Kultur, die für sie nur ein Pol oder eine entfernte Metropole darstellt; entfremdet sowohl von der eigenen Geschichte als auch von jener Geschichte und Sprache, von denen man annehmen muß, daß es ihre eigenen sind, ohne daß sie es noch sind. Eine dreifache Abtrennung von 'etwas, was man dennoch durch eine Fiktion, deren Simulakrum und deren Gewalt hier unser Thema ist, fortführen muß: dieselbe »Gem ein­schaft« im selben »Land«, im selben »Staat«:

Wo kann man sich und mit wem kann man sich iden tifizieren, um seine eigene Identität auszubilden und um sich seine eigene Geschichte zu erzählen? Und zunächst einmal, wem kann m an sie erzählen? Was sind die Vorbilder? Man muß sich ohne Vorbild und ohne geSich erten Empfänger konstituieren. (All das, was ich hier sehr schematisch und negativ beschreibe, hat paradoxe Ef­fekte, von denen ich gleich sprechen werde.)

Was heißt Einsprachigkeit, hier meine eigene Einsprachigkeit, in dieser Situation? Meine Bindung an das Französische hat For­men, die ich manchmal als neurotisch charakterisiere. Die ande­ren Sprachen, die ich m ehr oder weniger ungeschickt lese, entzif-

. fere und manchmal spreche, sind Sprachen, die ich nie wirklich bewohnen werde.

Wie kann man mit einer sich mit seinem Selbst vermischenden Gewißheit behaupten und wissen, daß man nie eine andere Spra­che bewohnen wird und daß man die einzige Sprache, die man spricht, absolut einsprachig spricht? Wie ist es aber vor allem möglich - und das ist die fa talere Frage - , daß die einzige Sprache, die dieser EinsprachIer spricht und auf ewig sprechen wird, trotz­dem nicht seine eigene ist? Daß sie für ihn, der sie bewohnt und den sie bewohnt, unbewohnbar und öde bleibt? Daß sie als Spra­che des Anderen gefühlt, erkundet, bearbeitet und wiedererfun­den wird? Das ist natürlich mein Fall. Aber man wird mit Recht einwenden, daß es apriori immer und für jedermann so ist. Die

Die Einsprachig keit des Anderen 33

sogenannte Muttersprache ist nie rein natürlich, eigentlich und bewohnbar. Bewohnen ist ein irreführender und mehrdeutiger Be­griff, um dahin zu führen, daß man nie ·bewohnt, was man sich angewöhnt hat, bewohnen zu nennen. In der Differenz dieses Exils und dieser Nostalgie gibt es keine mögliche Behausung. Das heißt nicht, daß alle Exile gleichwertig sind.

Dennoch hat diese Wahrheit der apriorischen, universellen, wesenhaften Entfremdung in Kultur und Sprache - die immer die Sprache des Anderen ist - eine Falte . Diese Wahrheit wird hier von neuem markiert [re-marquee], also markiert und offengelegt an einem Ort und in einer historischen, sehr spezifischen, man könnte sagen idiomatischen Situation.

Ich werde nun darlegen , warmn mir Wörter wie: Wahrheit, Entfremdung, Behausungen, Platz des Subjektes usw. problema­tisch erscheinen, nämlich gerade weil sie einer Philosophie und Metaphysik angehören, die sich über die Sprache des Anderen, über die Einsprachigkeit des Anderen hinweggesetzt haben. So daß m eine Auseinandersetzung mit der Einsprachigkeit nichts anderes gewesen ist als ein dekol1struktives Schreiben, das dieser Sprache - meiner einzigen Sprache - und dem, was sie am mei­sten und besten transportiert, nämlich der Metaphysik, die uns all jene Konzepte liefert, welche ich zur Beschreibung dieser Situation benutze (Sprache, Einsprachigkeit, Entfremdung des Subjektes, Gesetz, Unterscheidung zwischen transzendentaler oder ontologischer Universalität und phänomenaler Empirizität u sw.), zu Leibe rückt.

Unter den paradoxen Effekten, von denen ich reden möchte, gibt es einen, dessen Prinzip ich nur andeute. Diese empirisch­transzendentale oder ontico-ontologische (ganz wie Sie wollen) Neu-einschreibung [re-marque] in die rätselhafte Artikulation zwi­schen einer universellen Struktur und seinem idiomatischen Zeu­gen verkehrt unm.ittelbar alle Zeichen.

Der Bruch mit der Tradition, die Entwurzelung, die Unerreich­barkeit der Geschichte, die Amnesie, das Unentzifferbare usw. -all das entfesselt den genealogischen Trieb, das Begehren der Sprache, die zwingende Bewegung zur Anamnese, die Faszina­tion des Untersagten. Die Abwesenheit eines festen Identifika­tionsmodells für das Ego - in a11 seinen linguistischen, kulturellen

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usw. Dimensionen - führt zu Bewegungen, die sich immer am Rand des Zusammenbruchs befinden und entweder 1. eine Amnesie ohne Zuflucht in Form einer pathologischen De-strukturierung hervorrufen können oder 2. Stereotypen hervorrufen, die dem »normalen« oder herrschen­den französischen Modell konform sind (das ist eine andere Art von Amnesie in der integrativen Form) oder 3. an der Grenze dieser beiden Möglichkeiten auf Spuren - der Schrift, der Sprache, der Erfahrung - verweisen, die die An­amnese über eine einfache Rekonstitution des gegebenen Erbes, einer verfügbaren Vergangenheit hinausführen. Hier handelt es sich um eine ganz andere Anamnese oder, wenn man so sagen kann, sogar um eine Anamnese des ganz Anderen, zu der [au sujet de laquelle] ich etwas sagen möchte. Ich versuche, das Aller­schwierigste zu formulieren. Das sollte mich zu meinen bei den anscheinend widersprüchlichen Ausgangspositionen zurück­bringen; statt dessen führt es zum Geständnis oder zur Beichte, zum »Wahrheitmachen«, wie ich es kürzlich in »Circonfession«

versucht habe. 3

Der Einsprachler, von dem ich rede, spricht eine Sprache, die ihm entzogen wurde. Es ist nicht seine. Weil er um jede Sprache gebracht ist und er keine andere Zuflucht mehr hat - weder das Arabische noch das Berberische, noch das Hebräische, noch irgendeine andere Sprache, die seine Vorfahren gesprochen ha­ben - , weil dieser Einsprachier in gewisser Weise also sprachlos ist (er schreibt vielleicht, weil er sprachlos ist), ist er in die absolute Übersetzung, in eine Übersetzung ohne Ursprungssprache, ohne Ausgangssprache geworfen . Es gibt, wenn Sie so wollen, nur An­kunftssprachen; Sprachen, denen es - eigenartige Struktur -nicht gelingt, bei sich anzukommen, weil sie nicht mehr wissen, von wo sie kommen und in welche Richtung ihre Überfahrt geht. Einzig von diesen »Ankünften« her, von diesen einzigen Ankünf­ten hel~ entspringt das Begehren (noch bevor es ein Ich gibt, das es vorwärts tragen könnte, getragen wie es ist, dieses letztere, von der Ankunft selbst) als Begehren nach Rekonstitution, nach Re­stauration, aber in Wirklichkeit als Begehren nach dem Erfinden einer ersten Sprache [premiere langue], die vielmehr eine vorerste Sprache [avant-premiere langue] wäre, dazu ausersehen, dieses Ge-

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dächtnis zu übersetzen; das Gedächtnis dessen, was eben nicht stattgefunden hat, dessen, was untersagt worden ist und gerade deswegen eine Spur zurückgelassen hat, ein Gespenst, einen Phantomkörpel~ ein empfindliches, aber kaum lesbares Phan­tomglied, Spuren, Male, Narben . Als wenn es darum ginge, die Wahrheit von etwas zu produzieren, das zugegebenermaßen nie­mals stattgefunden hat.

Eine solche vorerste Sprache [avant-pre711iere], erfunden für die Genealogie dessen, was nie stattgefunden hat und für ein Ereig­nis, das abwesend war und nur negative Spuren von sich selbst in dem, was Geschichte macht, zurückgelassen hat, existiert nicht. Sie ist noch nicht einmal die verlorene Ursprungssprache . Sie kann nur die Ankunftssprache oder besser die kommende Sprache, eine versprochene Sprache sein; auch das ist eine Sprache des Anderen, aber eine ganz andere als die Sprache des Anderen als Herren- od er Siedlersprache, selbst wenn sich manchmal beunru­higende Ähnlichkeiten zwischen beiden ankündigen. Beunruhi­gend, weil die Mehrdeutigkeit niemals aufgehoben sein wird: in dem eschatologischen oder messianischen Horizont, den dieses Versprechen nicht verleugnen kann - oder den es nur verleugnen kann -, läuft die vorerste Sprache immer Gefahr, eine Sprache des Herren oder neuer Herren zu werden oder werden zu wollen. In jedem Augenblick des Schreibens oder Lesens, in jedem Augen~ blick der poetischen Erfahrung muß die Entscheidung sich von einem unentscheidbaren Grund erheben, der die Drohung in die Chance, die Gewalt in die Gastfreundschaft einschreibt.

Hier ist vielleicht der Ort, zwei Bemerkungen zu machen und zwei Neueinschreibungen [deux remarques] vorzunehmen.

1. Die erste, um noch mal zu unterstreichen, was die oben skiz­zierte Situation von der Situation des Franco-Maghrebiners oder genauer von der der maghrebinischen frankophonen Schriftstel­ler, die Zugang zu ihrer sogenannten Muttersprache haben, un­terscheidet. Auch diese Situation ist von Khatibi bemerkenswert geschildert worden; seine Beschreibung ist meinem hier unter­nommenen Entwurf sehr nahe und doch auf subtile Vleise von ihm verschieden:

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Jede Sprache bietet dem Denken mehrere Modi, Richtungen und Orte, und der Versuch, diese ganze Kette unter dem Gesetz des Einen zu halten,

ist die tausendjährige Geschichte der Metaphysik gewesen, die der Islam hier als theologische und mystische Referenz beispielhaft repräsentiert

Was hieße es nun in dieser Erzählung (Talismano von Abdelwahab Med­deb), die sich zwischen Disglossie und toter- Sprache transkribiert, in dieser ver-eindeutigen den Richtung (in französischer Sprache) zu den­

ken? Und was hieße es, unserer Perspektive entsprechend, nach dem Unberechenbaren zu denken: aus dreien eins zu machen und aus dem einen den Median, den Anderen, den Zwischenr-aum dieses Palimpse­

stes? Ich habe die These vertreten [. L daß der arabische Schriftsteller franzö­

sischer Sprache in einem Chiasmus gefangen ist, einem Chiasmus zwi­schen Entfremdung und Nichtentfremdung (in jedem Sinne dieser beiden

Begriffe): Dieser Autor schreibt nicht seine eigene Sprache, er üanskribiert seinen verwandelten Eigennamen, er kann nichts besitzen (falls man sich

eine Sprache aneignet), er besitzt weder seine Muttersprache, die keine Schriftsprache ist (ich unterstreiche wenn er seine Mutter-sprache nicht

besitzt, insofern sie keine Schriftsprache ist, so »besitzt« er sie doch im­merhin, was das »Reden« angeht Das ist nicht der Fall des algerischen Ju­

den, dessen Muttersprache nicht eigentlich die Einheit, das Alter und die l\Jähe hat, die man von einer Muttersprache erwartet Derrn sie ist schall die Sprache des Anderen, des französischen, nicht jüdischen Siedlers), noch

auch die arabische Schriftsprache, die entfremdet ist und einer Ersetzung

gegeben wird, noch auch die Sprache, die er gelernt hat und die ihm bedeu­

tet, sich in ihr zu enteignen und sich dort auszulöschen. Unlösbares Leiden,

wenn der Schriftsteller diese angeschlagene Identität in einer Klarheit des

Oenkens, die von diesem Chiasmus, von dieser Spaltung [schizel lebt, nicht

annimmt 4

2. Die zweite Bemerkung ist politischer. Ganz gegen den An­schein darf die außergewöhnliche Situation, die ich gleichzeitig als exemplarisch für eine universelle Struktur beschreibe (das heißt eine Art von völliger, ursprünglicher Entfremdung, die die gesamte Sprache als Sprache des Anderen stiftet: der unmögliche Besitz, die unmögliche Eigentlichkeit einer Sprache), nicht zu einer Neutralisierung der Unterschiede in der Enteignung, zu einem Verkennen der gewalttätigen und bestimmten Enteignun­gen führen, gegen die an verschiedenen Fronten gekämpft wer­den kann. Was die Frage im Gegenteil repolitisiert, ist der Bezug auf das Faktum, daß es kein natürliches Eigentum, sondern nur Bewegungen, Phantasmata, Einbildungen und Symbole der An-

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eignung gibt. Ruft man sich diesen Tatbestand ins Gedächtnis, so können Phänomene der Aneignung gleichzeitig analysiert und politisch behandelt werden. Insbesondere kann die Restauration dieser Phantasmata, die zu »nationalistischen« Gewalttätigkeiten oder zu monokultureller Hegemonie geführt hat, verhindert wer­den.

Weil es die vor-erste [avant-premier] Zeit der vorursprünglichen Sprache nicht gibt, muß man sie erfinden - und das ist eine andere Schrift. Vor allem aber muß man sie im Inneren der Sprachen, wenn man so sagen kann, schreiben. Man muß sie im Inneren der gegebenen Sprache wachsen lassen. Für mich wird diese Sprache von der Geburt bis zum Tod das Französische gewesen sein.

Aber dieses »im Inneren« des Französischen schreibt in den Selbstbezug der Sprache, in ihre Selbst-betroffenheit [auto-affec­tion] ein absolutes Äußeres, den kaum hör- oder lesbaren Bezug auf diese ganz andere vorerste Sprache ein, diesen Nullpunkt mi­nus eins der Schrift, der sein phantomartiges Mal »in« der besag­ten Einsprache zurückläßt. Auch das ist ein eigenartiges Phäno­men von Übersetzung. Übersetzung einer Sprache, die es noch nicht gibt, die es nie gegeben haben wird, in eine vorhandene Sprache. Diese Übersetzung übersetzt sich in einer inneren Über­setzung (franco-französisch) und spielt mit der Nichtidentität je­der Sprache. Deswegen kann man die Sprachen übrigens nie zäh­len [co111pter], und deswegen)st, selbst wenn man immer nur eine Sprache hat, diese Sprache, wie ich gleich erläutern werde, mit sich nicht eins.

Für den klassischen Linguisten ist natürlich jede Sprache ein System, dessen Einheit sich immer wieder herstellt. Diese Einheit ist jedoch keiner anderen vergleichbar. Sie ist für die Pfropfun­gen, die Ver- und Umformungen, die Enteignung sowie für eine gewisse Anomie, Anormalität und Deregulierung offen. So daß die Geste immer multipel ist; diese Geste nenne ich hier - selbst wenn sie rein mündlich, stimmlich, rhythmisch, musikalisch bleibt - Schrift, die versucht, die Einsprache, die man hat, ohne es zu wollen, mit Markierungen zu treffen, die diese ganz andere Sprache, diesen Nullpunkt minus eins des Gedächtnisses in Erin­nerung rufen. Diese Geste ist immer in sich selbst plurat geteilt und überbesetzt. Sie kann immer als Geste der Liebe zu oder der

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Aggression gegen diesen Körper, der in der gegeben en Sprache ausgestellt wird, interpretiert werden. In Wirklichkeit ist sie bei­des, Liebe und Aggression; sie schmiegt sich der gegebenen Spra­che - hier dem Französischen - an, verwendet sich für sie, schlingt sich um sie, um ihr zu geben, was diese nicht hat und was sie selbst auch nicht hat; aber diese Geste ist auch Markierung und Pfropfung, sie liebkost sie mit den Nägeln, mit manchmal geliehenen Nägeln . Wenn ich etwa davon träume, eine Anam­nese von dem zu schreiben, was es mir erlaubt hat, mich von einem völligen Sprach- und Erinnerungsverlust ausgehend zu identifizieren oder Ich zu sagen, dann weiß ich gleichzeitig, daß es mir nur gelingen wird, wenn ich eine unmögliche Schneise schlage, wenn ich eine Sprache erfinde, die so anders ist, daß sie sich den Norm en, dem Körper, dem Gesetz der gegebenen Spra­che nicht wiederaneignen läßt (durch Vermittlung a11 dieser nor­mativen Schem ata, die die Programme einer Grammatik, eines Wortschatzes, einer Semantik, einer Rhetorik, der Gattungen, der kulturellen Stereotypen und Klischees usw. sind) . Das Impro­visieren einer völligen Einweihung ist das Unmögliche selbst. Die Wiederaneignung findet immer statt. Weil sie unumgänglich ist, bleibt das, was sich in die Aporie begibt, eine unmögliche, unles­bare, nichtempfangbare Sprache. Eine unübersetzbare Überset­zung. Gleichzeitig produzier t diese unübersetzbare Übersetzung, dieses neue Idiom in der gegebenen Sprache - oder der Sprache, der man geben muß - Ereignisse, manchmal nicht fes ts teIlbare Er­eignisse : unlesbar. Diese Ereignisse sind immer eher versprochen als gegeben. Aber das Versprechen ist nicht nichts, es ist kein Nicht-Ereignis. Man muß folgendes bedenken: obwohl ich den Ausdruck »die gegebene Sprache« oft verwendet habe, um über die verfügbare Einsprache zu sprechen (das Französische, zum Beispiel), gibt es keine gegebene Sprache, oder besser: es gibt die Sprache [dt. im Original]; aber eine Sprache ist nicht, sie ist gege­ben worden, sie muß noch gegeben werden, sie bleibt nur unter der Bedingung, daß sie immer gegeben zu werden bleibt .

Ich komme also darauf zurück, daß man »immer nur eine Sprache hat«, um sie etwas anderes sagen oder tun zu lassen. Natürlich kann man mehrere Sprachen sprechen; natürlich gibt es Leute, die in mehr als einer Sprache kompetent sind und die

Die Ei nsprachigkeit des Andere n 39

sogar m ehrere Sprachen auf einmal schreiben (Prothesen, Über­setzungen, Umschreibungen). Aber sie tun es inllner mit Blick auf und im Versprechen einer einzigen, noch unerhörten Spra­che.

Jedesmal, wenn ich den Mund öffne, wenn ich. spreche oder schreibe, verspreche ich. Ob ich will oder nicht: hier muß m an zwi­schen dem Versprechen und dem Werden des Willens, der Ab­sicht oder dem Sagen-Wollen untersch eiden, die ihm in fataler Überstürzung immer so vernünftig assoziiert werden. Das Perfor­mativ di eses Versprechens ist kein speech act unter anderen. Er ist allen anderen Performativen implizit, und dieses Versprechen kündigt die Einzigartigkeit einer kommenden Sprache an. »Es muß eine Sprache geben«, »ich verspreche eine Sprache«, »eine Sprache ist versprochen«, die gleichzeitig aller Sprache [langue] und allem Sprechen [parole] vorausliegt und schon jeder Sprache und jedem Wort angehört, die sie bereits im voraus nicht in ihrer Identität oder in ihrer Einheit, sondern in ihrer Einmaligkeit und Einzigartigkeit der Differenz zu sich selbst versammelt: in der Dif­ferenz mit sich [avec soi] eher als in der Differenz von sich [d 'avee soi]. Es ist nicht möglich, außerhalb dieses Versprechens zu sprechen, das eine Sprache, die Einzigartigkeit einer Sprache gibt, indem diese Sprache verspricht, die Einzigartigkeit zu geben. Es kann hier nicht darum gehen, aus dieser Einmaligkeit [unicitel ohne Ein­heit [unitel herauszukommen. Sie m uß dem Anderen weder ge­genübergestellt noch von ihm unterschieden werden . Sie ist die Einsprache [monolangue] des Anderen. Das »des« kehrt hier seinen Genetiv um (es steht hier für den genetivus subjectivus: die Spra­che gehört dem Anderen, kommt vom Anderen, ist das Kommen des Anderen.

Das Versprechen, von dem ich rede und von dem ich sage, daß es das Versprechen des Unmöglich en ist und gleichzeitig die Möglichkeit jedes Sprechens, dieses Versprechen entspricht hier keinem messianischen oder eschatologischen Inhalt. Aber daß es für dieses Versprechen des Anderen in der Sprache des Anderen keinen notwendig bestimmbaren Inhalt gibt, m acht die Struktur oder die Öffnung der Sprache durch etwas, was dem Messianis­mus oder der Eschatologie ähnelt, nicht weniger unreduzierbal~ unauslöschlich. Es ist die strukturelle Öffnung, ohne die der Mes-

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sionismus selbst, ün s trengen, wortwörtlichen Sinne, nicht m ög­hch wäre. Vielleicht ist der Messianismus eben dieses ursprüng­liche Versprechen ühne künkre ten Inhalt. Auch da hätten wir es also. mit einer Remarkierung [remarque] der universellen Struktur auf oder durch d as messianische Idiüm dieser oder jener Religiün zu tun. Wir hätten es mit dem Exemplarisch-werden zu tun, das jede Religiün auf Grund eben dieser Remarkierbarkeit [remarquabilitel in sich birgt. Diese Einsprachigkeit des Anderen trägt sicherlich die gewaltsamen Spuren der kolonialen Hegemünie, aber was in ihr - was immer au ch die Notwendigkeit und die Legitimität aller Emanzipatiünen war -'- unüberschreitbar bleibt, is t ganz einfach, daß »es Sprache gibt«; das heißt, daß es kein e Metasprache gibt und daß immer eine Sprache von der Sprache sprechen wird. Man kann das auf viele Arten und in viele Sprachen übersetzen, in das Idiom Novalis' oder Heideggers beispielsweise, wenn jeder auf seine Weise vom Monülog einer Sprache redet, die immer von sich selbst spricht (was nicht heißt, daß sie monologisch üder tau­tülogisch ist, sondern daß es immer eine Sprache ist, die jene hete­rologische Öffnung benennen wird, welche es ihr ermöglicht, vün etwas anderem zu sprechen und sich an den Anderen zu wenden). Man kann es auch in das Idiüm Celans übersetzen, des Dichter-Übersetzers, der in der Sprache des Anderen und des Hü­locaust (in deutsch) sduieb, Babel in den Körper jedes Gedichtes einschrieb und die poetische Einsprachigkeit seines Werkes trotz­dem ausdrücklich in Anspruch nahm, sie gegenzeichnete, sie be­siegelte. Auch in viele andere Erfindungen püetischer Idiüme kann man sie übersetzen.

Nüch ein Wort - Epilüg, Nachwürt - zum Schlu ß. Was ich vor­gestellt habe, war nicht der Anfang einer autobiügraphischen Skizze oder Anamnese; es war nüch nicht einmal ein intellektuel­ler Bildungsroman. Wenn a11 das, was mich seit langer Zeit an der Schrift, der Spur, der Dekünstruktiün des PhalIügozentrismus und »der« westlichen Metaphysik interessiert hat, wenn a11 das nicht ühne diesen eigenartigen Bezug auf ein Anderswo hat fort­fahren können, dessen Ort und Sprache mir unbekannt oder un­tersagt waren; als ob ich versuchte, in die einzige mü· zur Verfü­gung stehende Sprache und francü-westliche Kultur zu überset­zen, in die ich mit meiner Geburt geworfen worden bin, eine mir

Die Einsprachigkeit des Anderen 41

selber unzugängliche Möglichkeit, als ob ich versuchen würde, eine Sprache, die ich noch nicht kenne, in meine »Einsprache« zu übersetzen, als ob ich falsch herum weben würde (was im übrigen einige Weber tun) und die für dieses Weben notwendigen Über­gangspunkte die Orte einer Transzendenz wären (und das heißt in den Augen der westlichen griechisch-christlichen Philosophie ein absolutes, aber gleichzeitig in ihr beschlossenes Anderswo. - epe­keina tes ousias, negative Theülügie und Meister Eckhardt, ein be­stimmter H eidegger und einige andere), dann kann ich mir nur vün der hier so. schematisch beschriebenen individuellen Situa­tiün her darüber klarwerden. Düch es kann nicht allein durch den individuellen Weg eines franco-maghrebinischen Juden einer bestimmten Generatiün erklärt werden. Die Wege und die Strate­gien, die ich in dieser Arbeit oder in dieser Leidenschaft del~ sa­gen· wir der Einfachheit halber, Dekünstruktiün habe verfolgen müssen, gehorchen auch inneren Strukturen der griechisch­christlich-gallischen Kultur, in die meine Einsprachigkeit mich einsperrt und mit der man rechnen mußte, um das Anderswo. zu übersetzen, anzuziehen, zu verführen, in das ich vorab ex-pür­tiert war, das heißt das Anderswo dieses ganz Anderen, zu dem ich mich in einer Beziehung der Nichtbeziehung befand, die noch auf ihre Sprache wartet - und auf sie warten kann und muß. Alle Sprachen der wes tlichen Metaphysik bis hin zum Wortschatz der Dekonstruktion sind dieser Tatsache zuzuschlagen, mit der man auf diese Weise rechnen muß.

Diese franco-maghrebinische Genealügie erklärt nicht alles, und dennüch könn te ich ühne sie vün dem, was mich beschäftigt, mich bindet, mich in Bewegung und im Gespräch hält, mich aber auch in einer Art vün Einöde isüliert, nichts erklären. Das Wunder der Übersetzung findet nicht jeden Tag statt; die Durchquerung der Wüste ist m anchmal öde. Und das nennt man häufig in der erschreckenden Pariser üder vielleicht westlichen Kultur: Unles­barkeit.

Aus dem Französischen übersetzt von Barbara Vinken