Derrida über Jabes ocr

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Edmond Jabès und die Frage nach dem Buch Von nun an wird man Je bâtis ma demeure 1 genauer wiederlesen. Ein gewisser Efeu schien ihren Sinn zu verbergen oder aufzusaugen und auf sich abzulenken. Humor und Spiele, Lachen und Rundgesänge, Lieder schlangen sich anmutig um eine Sprache, die sich, weil sie ihre wahre Wurzel noch nicht lieben gelernt hatte, leicht im Winde bog. Sie richtete sich noch nicht auf, um vor allem die Geradheit und Unbeug- samkeit der poetischen Verpflichtung zu sagen. In le Livre des questions 2 verändert sich der Ton nicht, noch wird mit der Absicht gebrochen, der Akzent aber vertieft sich. Eine mächtige und alte Wurzel wird ausgegraben, auf der eine alterlose Wunde bloß- gelegt wird (denn Jabès lehrt uns, daß die Wurzeln sprechen, die Worte wachsen wollen und der poetische Diskurs in einer Wunde angeschnitten wird): es handelt sich um einen gewissen Judaismus als Geburt und Passion der Schrift. Passion der Schrift, Liebe und Ausdauer des Schrift- zeichens, von dem sich nicht sagen läßt, ob das Jüdische ihr Sujet ist oder gar das Schriftzeichen selber. Gemeinsame Wurzel vielleicht eines Volkes und einer Schrift. Unermeßliches Schicksal jedenfalls, das die Geschichte einer »aus dem Buch hervorgegangenen Rasse« im radikalen Ursprung des Sinns als Schriftzeichen erzeugt, das heißt in der Geschichtlichkeit selbst. Denn Geschichte kann es ohne den Ernst und das Werk der Literalität nicht geben. Schmerzvolle Faltung ihrer selbst, durch die die Geschichte sich selbst reflektiert, indem sie sich die Chiffre gibt. Diese Reflexion ist ihr Anfang. Das Einzige, was mit der Reflexion anhebt, ist die Geschichte. Diese Falte aber, und diese Furche, ist der Jude. Der Jude, der die Schrift wählt, die den Juden auserwählt, in einem Austausch, durch den die Wahrheit vollauf in Geschichtlich- keit übergeht und sich die Geschichte in ihrer Empirizität bestimmt. ... »Schwierigkeit Jude zu sein, die sich mit der Schwierigkeit zu schrei- 1 E.Jabès, Je bâtis ma demeure (Gedichte, 1943-1957), Paris 1959. Diese Sammlung wurde mit einem bewunderungswerten Vorwort von Gabriel Bounoure vorgestellt. Bedeutende Studien wurden in2wischen Jabès gewidmet: M. Blanchot, L'interruption, N.R.F., Mai 1964; G. Bounoure, Edmond Jabès, la demeure et le livre, Mercure de France, Januar 1965; Edmond Jabès, ou la guérison par le livre, les Lettres Nouvelles, Juli-September 1966. 2 Paris 1963. 102

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Edmond Jabès und die Frage nach dem Buch

Von nun an wird man Je bâtis ma demeure1 genauer wiederlesen. Ein gewisser Efeu schien ihren Sinn zu verbergen oder aufzusaugen und auf sich abzulenken. Humor und Spiele, Lachen und Rundgesänge, Lieder schlangen sich anmutig um eine Sprache, die sich, weil sie ihre wahre Wurzel noch nicht lieben gelernt hatte, leicht im Winde bog. Sie richtete sich noch nicht auf, um vor allem die Geradheit und Unbeug-samkeit der poetischen Verpflichtung zu sagen. In le Livre des questions2 verändert sich der Ton nicht, noch wird mit der Absicht gebrochen, der Akzent aber vertieft sich. Eine mächtige und alte Wurzel wird ausgegraben, auf der eine alterlose Wunde bloß-gelegt wird (denn Jabès lehrt uns, daß die Wurzeln sprechen, die Worte wachsen wollen und der poetische Diskurs in einer Wunde angeschnitten wird): es handelt sich um einen gewissen Judaismus als Geburt und Passion der Schrift. Passion der Schrift, Liebe und Ausdauer des Schrift-zeichens, von dem sich nicht sagen läßt, ob das Jüdische ihr Sujet ist oder gar das Schriftzeichen selber. Gemeinsame Wurzel vielleicht eines Volkes und einer Schrift. Unermeßliches Schicksal jedenfalls, das die Geschichte einer

»aus dem Buch hervorgegangenen Rasse« im radikalen Ursprung des Sinns als Schriftzeichen erzeugt, das heißt in der Geschichtlichkeit selbst. Denn Geschichte kann es ohne den Ernst und das Werk der Literalität nicht geben. Schmerzvolle Faltung ihrer selbst, durch die die Geschichte sich selbst reflektiert, indem sie sich die Chiffre gibt. Diese Reflexion ist ihr Anfang. Das Einzige, was mit der Reflexion anhebt, ist die Geschichte. Diese Falte aber, und diese Furche, ist der Jude. Der Jude, der die Schrift wählt, die den Juden auserwählt, in einem Austausch, durch den die Wahrheit vollauf in Geschichtlich-keit übergeht und sich die Geschichte in ihrer Empirizität bestimmt. ... »Schwierigkeit Jude zu sein, die sich mit der Schwierigkeit zu schrei-

1 E.Jabès, Je bâtis ma demeure (Gedichte, 1943- 1957) , Paris 1959. Diese Sammlung wurde mit einem bewunderungswerten Vorwort von Gabriel Bounoure vorgestellt. Bedeutende Studien wurden in2wischen Jabès gewidmet: M. Blanchot, L'interruption, N . R . F . , Mai 1964; G . Bounoure, Edmond Jabès, la demeure et le livre, Mercure de France, Januar 1965; Edmond Jabès, ou la guérison par le livre, les Lettres Nouvelles, Juli-September 1966.

2 Pa r i s 1963.

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ben deckt; denn der Judaismus und die Schrift sind nur ein einziges Warten, eine einzige Hoffnung, ein einziger Verschleiß.« Die eigensinnigste Behauptung des Livre des questions besteht darin, daß dieser Austausch zwischen dem Juden und der Schrift rein und gründend, ein Austausch ohne Prärogative sei, in dem der ursprüng-liche Anruf zunächst Konvokation (in einer anderen Bedeutung des Wortes) sei. »Du bist derjenige der schreibt und der geschrieben wird.«

»Und Rabbi Ilde: Welcher Unterschied besteht zwischen Wählen und Auserwähltsem, da wir nichts anderes tun können, als uns der Wahl zu unterwerfen? <« Und vermittels einer Art stillschweigender Verschiebung in Richtung auf das Wesen hin, wodurch dieses Buch zu einer langen Metonymie wird, wird die jüdische Situation beispielhaft für die des Dichters, des sprechenden und schreibenden Menschen. Dieser findet sich gerade in der Erfahrung seiner Freiheit der Sprache ausgeliefert und von einer Sprache in Freiheit gesetzt, deren Herr er doch ist. »Die Wörter erwählen den Dichter ...«

"Die Kunst des Schriftstellers besteht darin, die Wörter nach und nach dazu zu bringen, sich für seine Bücher zu interessieren.« (Je bâtis ma demeure) Es handelt sich also wirklich um eine Arbeit, eine Entbindung, eine langsame Zeugung des Dichters durch das Gedicht, dessen Vater er ist. »Das Gedicht wird mich nach und nach vollenden.« (L'Espace blanc) Der Dichter ist also durchaus das Sujet des Buches, seine Substanz und sein Meister, sein Diener und sein Thema. Das Buch aber ist das Sujet des Dichters, des sprechenden und wissenden Wesens, das ins Buch über das Buch schreibt. Diese Bewegung, durch die das Buch, welches durch die Stimme des Dichters artikuliert wird, sich faltet und sich an sich selbst bindet, zum Sujet an sich und für sich wird, diese Bewegung ist keine spekulative oder kritische Reflexion, sondern zunächst Dichtung und Geschichte. Denn das Sujet bricht und öffnet sich in ihr, indem es sich repräsentiert. Die Schrift wird geschrieben, sie stürzt aber ebenfalls in den Abgrund ihrer eigenen Repräsentation. Im Innern dieses Buches, das sich unendlich selbst reflektiert, das sich wie eine schmerzhafte Hin-terfragung seiner eigenen Möglichkeit entfaltet, repräsentiert sich so-mit die Form des Buches selbst:

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»Der Roman über Sarah und Yukel ist, durch verschiedene Dialoge und Meditationen hindurch, die imaginären Rabbinern zugeschrieben wer-den, die Erzählung einer von den Menschen und den Wörtern zerstör-ten Liebe. Er besitzt die Dimension des Buches und den bitteren Eigen-sinn einer irrenden Frage.« Wir werden sehen: vermittels einer anderen Richtung der Metonymie - bis zu welchem Punkt aber ist sie anders? - beschreibt le Livre des questions auf diese Weise die Erzeugung von Gott selbst. Die Weisheit des Dichters vollzieht folglich ihre Freiheit in dieser Passion: in Autonomie den Gehorsam gegenüber dem Gesetz des Wortes zu übersetzen. Andern-falls, und wird die Passion Untertänigkeit, bricht der Wahnsinn aus. »Der Wahnsinnige ist das Opfer der Rebellion der Wörter.« {Je bâtis ma demeure)

Indem er diese Anweisung auf die Wurzel wahrnahm und sich durch diesen ausdrücklichen Befehl des Gesetzes inspirieren ließ, hat Jabès vielleicht von der Begeisterung, das heißt von den Kaprizen der Erst-lingswerke Abstand genommen, er ließ sich aber seine Redefreiheit durch nichts ungültig machen. Er erkannte sogar, daß die Freiheit erd-und wurzelgebunden sein muß, sollte sie nicht bloßer Wind sein: »Belehrung, die Rabbi Zale mit Hilfe dieses Bildes übersetzte: >Du glaubst der Vogel sei frei. Du irrst dich, es ist die Blume . . .<« . . . »Und Rabbi Lima: >Die Freiheit erwacht allmählich, in dem Maße, als wir unserer Bindungen bewußt werden, gleich dem Schlafenden, der seine Sinne wieder erlangt; dann erst haben unsere Handlungen einen Namen.<«

Die Freiheit verständigt und tauscht sich mit dem aus, was sie hält, mit dem, was sie aus einem verborgenen Ursprung empfängt, mit der Schwere, die ihr Zentrum und ihren Ort einordnet. Ein Ort, dessen Kult nicht unbedingt heidnisch ist. Vorausgesetzt dieser Ort ist kein Ort, keine Umzäunung, keine ausschließende Lokalität, keine Provinz und kein Ghetto. Wenn ein Jude oder ein Dichter den Ort proklamie-ren, erklären sie keineswegs den Krieg. Aus der Ubererinnerung er-innern wir uns, daß dieser Ort, diese Erde immer Dort sind. Der Ort ist nicht das empirische und nationale Hier eines Territoriums. Als un-vordenklich, ist er auch eine Zukunft. Besser: die Uberlieferung als Geschick. Die Freiheit wird der nicht-heidnischen Erde nur dann ge-währt, wenn sie von ihr durch die Wüste eines Versprechens getrennt ist. Das heißt durch das Gedicht. Wenn die Erde sich in der poetischen Rede benennen läßt, dann enthält sie sich fern aller Nähe vor, illic:

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»Yukel, du hast dich in deiner Haut immer unwohl gefühlt, du bist nie hier gewesen, sondern immer Anderswo . . .« »Woran denkst du? - An die Erde. - Du bist doch auf Erden. - Ich denke an die Erde, in der ich sein werde. - Wir stehen einander doch von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Und unsere Füße berühren die Erde. - Ich kenne nur die Steine des Weges, der, so sagt man, zur Erde führt.« Der Dichter und der Jude wurden nicht hier, sondern dort geboren. Sie irren, von ihrer wahren Geburt getrennt. Allein aus der Sprache und der Schrift, aus dem Gesetz selbst hervorgewachsen. »Aus dem Buch hervorgegangene Rasse«, da sie Söhne der zukünftigen Erde sind. Aus dem Buch selbst hervorgewachsen. Selbständig ebenfalls, sagten wir. Das setzt voraus, daß der Dichter seine Sprache und sein Gesetz nicht einfach von Gott empfängt. Die jüdische Heteronomie bedarf der Fürsprache eines Dichters nicht. Die Dichtung ist im Verhältnis zur Prophetie, was das Götzenbild im Verhältnis zur Wahrheit ist. Aus diesem Grund vielleicht scheinen uns der Dichter und der Jude in Jabès zugleich so vereint und getrennt zu sein; deshalb ist le Livre des questions als Ganzes auch eine Auseinandersetzung mit der jüdischen Gemeinde, die in der Heteronomie lebt, und der der Dichter nicht wirk-lich angehört. Die poetische, mit keiner anderen vergleichbare Autono-mie setzt voraus, daß die Gesetzestafeln gebrochen sind. *Und Rabbi Lima: >Die Freiheit wurde am Anfang zehnfach in die Gesetzestafeln eingegraben, wir waren ihrer aber so wenig würdig, daß der Prophet sie in seinem Zorn zerbrach.<«

Zwischen den Bruchstücken der zerbrochenen Tafel wächst das Gedicht und faßt das Recht zur Rede Wurzel. Damit hebt das Abenteuer des Textes als vogelfreies Unkraut wieder an, weit von »der Heimat der Juden« entfernt, die »ein heiliger Text inmitten der Kommentare ist«. Die Notwendigkeit des Kommentars ist wie die poetische Notwendig-keit, die Form selbst der Rede im Exil. Am Anfang steht die Hermeneu-tik. Diese gemeinsame Unmöglichkeit, in die Mitte des heiligen Textes wieder einzutreten, wie auch diese gemeinsame Notwendigkeit der Exegese, dieser Imperativ der Interpretation wird vom Dichter und vom Rabbiner unterschiedlich interpretiert. Die Differenz zwischen dem Horizont des ursprünglichen Textes und der exegetischen Schrift läßt die Differenz zwischen dem Poeten und dem Rabbiner unüberbrückbar werden. Da sie sich nie treffen können, wie nahe sie einander auch sind, wie sollten sie da wieder in die Mitte eintreten können? Die ur-

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sprüngliche Eröffnung der Interpretation bedeutet im Wesentlichen, daß es immer Rabbiner und Dichter geben wird. Und zwei Deutungen der Interpretation. Das Gesetz wird damit Frage, und das Recht zur Rede deckt sich mit der Pflicht zur Befragung. Das Buch des Menschen ist ein Buch der Fragen. »Auf jede Frage antwortet der Jude mit einer Frage.« Rabbi Lema. Wenn dieses Recht aber absolut ist, so heißt das, daß es nicht von irgendeinem Zufall in der Geschichte abhängt. Der Bruch der Tafeln bezeichnet zunächst den Bruch in Gott als dem Ursprung der Ge-schichte.

»Vergiß nicht, daß du der Kern eines Bruches bist.« Gott hat sich von sich selbst getrennt, um uns sprechen, staunen und fragen zu lassen. Er tat das nicht, indem er sprach, sondern schwieg, indem er dem Schweigen die Möglichkeit gab, seine Stimme und seine Zeichen zu unterbrechen, indem er die Tafeln brechen ließ. Im Exodus hat Gott bereut und hat es mindestens zweimal gesagt, vor den ersten und vor den neuen Tafeln, zwischen der Rede und der ursprünglichen Schrift, und in der heiligen Schrift zwischen dem Ursprung und der Wiederholung (32- 14 ; 33- 17) . Die Schrift ist also von Ursprung an hermetisch und zweitrangig. Die unsrige freilich, die seinige aber auch schon, die mit der unterbrochenen Stimme und der Verbergung seines Angesichts anhebt. Diese Differenz, diese Negativität in Gott, ist unsere Freiheit, die Transzendenz und das Wort, die die Reinheit ihres nega-tiven Ursprungs nur in der Möglichkeit der Frage wiederfinden. Die Frage, die »Ironie Gottes«, von der Schelling sprach, richtet sich, wie immer, zunächst auf sich selbst.

»Gott befindet sich in einem ständigen Aufstand gegen Gott . . .« ». . . Gott ist eine Interrogation Gottes . . .« Kafka sagte: »Wir sind nihilistische Gedanken, die in Gottes Kopf aufsteigen.«3 Wenn Gott die Frage in Gott eröffnet, wenn er Öffnung der Frage selbst ist, dann gibt es keine Einfachheit Gottes. Was für die klassischen Rationalisten das Undenkbare war, wird hier zur Evi-denz. Gott, der in der Duplizität seiner eigenen Frage zu Werke geht, geht nicht die einfachsten Wege; er ist nicht wahrhaftig, er ist nicht aufrichtig. Die Aufrichtigkeit, die die Einfachheit ist, ist eine verlogene Tugend. Man muß sich im Gegenteil zur Tugend der Lüge erheben.

3 Zit. n. M a x Brod, Franz Kafka, Eine Biographie, F rankfur t 1962, S. 94/9J.

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»Rabbi Jakob, der mein erster Lehrer war, glaubte an die Tugend der Lüge, weil es, wie er sagte, keine Schrift ohne Lüge gibt, die Schrift aber der Weg Gottes ist.« Abgelegener, schräger, zweideutiger Weg, den Gott sich selbst entlehnt. Ironie Gottes, List Gottes, schräger Weg, Aus-gang Gottes, Weg zu Gott, für den der Mensch kein einfacher Umweg ist. Unendlicher Umweg. Weg Gottes, Gottes Weg. »Yukel, spreche uns von jenem Menschen, der Lüge in Gott ist.«

Dieser Weg, dem keine Wahrheit vorangeht, um ihm seine Geradheit vorzuschreiben, ist der Weg in die Wüste. Die Schrift ist das Moment der Wüste als Moment der Trennung. Ihr Name sagt es - auf aramäisch - an: die Pharisäer, diese Unverstandenen, diese Männer des Schrift-zeichens, waren auch »Abgesonderte«. Gott spricht nicht mehr zu uns, er hat sich unterbrochen: man muß die Wörter auf sich nehmen. Man muß sich vom Leben und den Gemeinden lösen, sich den Spuren an-vertrauen, Mensch des Sehens werden, weil man nicht länger mehr die Stimme in der unmittelbaren Nähe des Gartens hört: »Sarah, Sarah, womit beginnt die Welt? - Mit dem gesprochenen Wortf - Mit dem Blick? ...« Die Schrift bewegt sich auf einer gebrochenen Linie zwi-schen der verlorenen Rede und der versprochenen Rede. Die Differenz zwischen Rede und Schrift ist die Schuld, der Zorn Gottes, der aus sich heraustritt, die verlorene Unmittelbarkeit und die Arbeit außerhalb des Gartens. »Der Garten ist Rede, die Wüste Schrift. In jedem Sandkorn überrascht uns ein Zeichen.«: Die jüdische Erfahrung als Reflexion, Trennung von Leben und Denken, bedeutet den Durchgang des Buches als unendliche Anachorese zwischen den beiden Unmittelbarkeiten und den beiden Selbstidentitäten. »Yukel, wieviel Seiten zu leben und zu sterben trennen dich von dir, vom Buch bis zum Aufgeben des Buches?« Das Wüstenbuch besteht aus Sand, »aus wahnsinnigem Sand«, aus un-endlichem, unzählbarem und grundlosem Sand. »Hebe ein wenig Sand auf, schrieb Rabbi Ivri, . . . du wirst dann die Nichtigkeit des Wortes erkennen.«

Das jüdische Bewußtsein ist durchaus das unglückliche Bewußtsein und le Livre des questions seine Verdichtung; es ist am Rande der Phäno-menologie des Geistes eingeschrieben, der der Jude nur ein Stück weit, ohne jede eschatologische Provision, folgen will, um seine Wüste nicht begrenzen, sein Buch schließen und seinen Schrei vernarben zu lassen. »Kennzeichne die erste Seite des Buches mit einem roten Lesezeichen, denn die Wunde ist an seinem Anfang eingeschrieben. Rabbi Alce.« Wenn die Abwesenheit die Seele der Frage ist, wenn die Trennung nur

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in dem Bruch Gottes - mit Gott - entstehen kann, wenn der unend-liche Abstand des Andern nur im Sand eines Buches geachtet wird, in dem die Verirrung und das Trugbild immer möglich sind, dann ist le Livre des questions in einem der nicht endende Gesang auf die Ab-wesenheit und ein Buch über das Buch. Die Abwesenheit sucht sich im Buch selbst zu erzeugen und verliert sich, indem sie sich benennt; sie weiß sich verloren und verlierend, und in diesem Maße bleibt sie un-angreifbar und unzugänglich. Sie zu erreichen, heißt sie zu verfehlen; sie zu zeigen, heißt sie zu verbergen; sie zu bekennen, heißt zu lügen. »Das Nichts ist unsere wesentlichste Sorge, sagte Rabbi Idar«, das Nichts aber - wie das Sein - kann nur schweigen und sich verbergen. Abwesenheit. Abwesenheit des Ortes zunächst. »Sarah: Die Rede hebt den Abstand auf, gibt den Ort verloren. Sind wir es, die sie formu-lieren, oder formt sie uns?» »Die Abwesenheit des Ortes« ist der Titel eines Gedichtes, das in Je bâtis ma demeure aufgenommen wurde. Es beginnt wie folgt: »ödes Gelände, geplagte Seite...« Le Livre des questions hält sich entschlossen im öden Gelände, im Nicht-Ort zwi-schen Stadt und Wüste, in dem die Wurzel auch abgewiesen oder sterili-siert wird. Außer Wörtern blüht nichts im Sand oder zwischen den Pflastersteinen. Die Stadt und die Wüste, die weder Länder, Land-schaften noch Gärten sind, belagern die Dichtung von Jabès und sichern seinen Schreien ein notwendig unendliches Echo. Stadt und Wüste zugleich, das heißt Kairo, wo Jabès herkommt, der, wie man weiß, ebenfalls einen Auszug aus Ägypten erlitt. Die Wohnstatt, die der Dichter mit »den Engeln gestohlenen Dolchen« erbaut, ist ein leichtes Zelt, aus Wörtern in der Wüste gebildet, in der der umherziehende Jude, mit Unendlichkeit und Schriftzeichen geschlagen, durch das zerbrochene Gesetz gebrochen wird. Und in sich gespalten wird - (die griechische Sprache hätte uns gewiß viel über das eigentümliche Verhältnis des Ge-setzes, der Irre und des Mangels an Selbstidentität, über die der Spal-tung, dem Gesetz und dem Nomadendasein gemeinsamen Wurzel --véjieiv - mitzuteilen). Der Dichter der Schrift kann sich nur dem Un-heil widmen, das Nietzsche auf den herabruft - oder dem verspricht - , der in sich »Wüsten birgt«.4 Der Dichter - oder der Jude - beschützt die Wüste, die seine Rede, die nur in der Wüste sprechen kann, be-schützt; die seine Schrift beschützt, die nur in der Wüste Furchen ziehen kann. Das heißt, indem er allein einen unauffindbaren und nicht ange-wiesenen Weg erfindet, dessen gerader Linie und dessen Ausgang uns

4 F . Nietzsche, Werke, Bd. I I , München 19s S. S40.

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kein kartesischer Entschluß vergewissern kann. »Wo ist der Weg? Der Weg bleibt immer zu finden. Ein weißes Blatt ist mit Wegen bedeckt... Man wird denselben Weg zehn-, ja hundertmal gehen . ..« Die Schrift zeichnet und erkennt zugleich in der Wüste, ohne es zu wissen, ein un-sichtbares Labyrinth, eine Stadt im Sand. »Man wird denselben Weg zehnmal, ja hundertmal gehen ... Und alle diese Wege haben ihre eigenen Wege. - Sonst wären sie keine Wege.« Den ganzen ersten Teil des Livre de l'absent kann man wie eine Meditation über den Weg und das Schriftzeichen lesen. »Gegen Mittag fand er sich auf der weißen Seite vor dem Unendlichen. Jede Tretspur, jede Fährte war verschwun-den. Im Sand begraben.« Dazu kommt noch jener Übergang der Wüste zur Stadt, jene Grenze, die die einzige Wohnstatt der Schrift ist: »Als er seinen Stadtteil und seine Wohnung wiederfand - ein Nomade hatte ihn auf dem Rücken eines Kamels bis zum nächsten Kontrollpunkt ge-leitet, wo er in einem Militärlastwagen Platz nahm, der auf die Stadt zufuhr -, suchten ihn so manche Wörter an. Er bemühte sich jedoch ver-bissen, ihnen aus dem Wege zu gehen.«

Abwesenheit des Schriftstellers ebenfalls. Schreiben heißt sich zurück-zuziehen. Nicht in sein Zelt, um zu schreiben, sondern von seiner Schrift selbst. Weit von seiner Sprache entfernt auf eine Sandbank zu laufen, sie zu emanzipieren und ihr den Ort zu räumen, sie allein und entblößt ihres Weges gehen zu lassen. Die Rede sich selbst zu überlassen. Dichter zu sein, heißt die Rede sein zu lassen. Sie ganz von allein sprechen zu lassen, was sie nur in der Schrift zu tun imstande ist. (Wie es im Phaidros heißt, »schweift« die Rede blind, allein herum, wenn sie »ihres Vaters Hilfe« beraubt ist, »gleichermaßen unter denen . . ., die sie verstehen, und unter denen, für die sie nicht gehört«; herumschwei-fend, verloren, diesmal nicht, weil sie in den Sand, sondern, was auf dasselbe hinausläuft, »ins Wasser« geschrieben ist, wie Piaton sagt, der ebensowenig an »die Schriftgärtchen« und an jene glaubt, die sie »durch das Rohr« aussäen wollen (275 e-276 d). Die Schrift zu lassen, heißt nur da zu sein, um ihr den Durchgang zu lassen, um das durchschei-nende Element ihres Ausgehens zu sein: alles und nichts. Im Hinblick auf das Werk ist der Schriftsteller alles und nichts zugleich. Wie Gott auch:

»Wenn du manchmal glaubst, schreibt Rabbi Servi, Gott sähe dich nicht, dann weil er sich so bescheiden gibt, daß du ihn mit der Fliege ver-wechselst, die an der Scheibe deines Fensters summt. Darin besteht aber der Beweis seiner Allmacht; denn er ist zugleich Alles und Nichts.«

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Wie Gott, so auch der Dichter: »Als ich als Kind zum ersten Mal meinen Namen schrieb, war ich mir bewußt, ein Buch zu beginnen. Rabbi Stein . . .«

»... Ich bin aber nicht jener Mensch, denn jener Mensch da schreibt, der Schriftsteller aber ist niemand.«

»Ich, Serafi, der Abwesende, wurde geboren, um Bücher zu schreiben. (Ich bin abwesend, da ich der Erzähler bin. Nur die Erzählung ist wirk-lich.)«

Und dennoch (es ist dies nur ein Beispiel der sich widersprechenden Setzungen, die unablässig die Seiten des Livre des questions zerreißen; sie notwendig zerreißen, denn Gott widerspricht sich schon) läßt nur das Geschriebene mich existieren, indem es mich benennt. Es ist also wahr, daß die Dinge gleichzeitig zum Existieren kommen und ihre Existenz verlieren, dadurch, daß sie benannt werden. Aufopferung der Existenz an das Wort, wie Hegel sagte, doch ebenfalls Weihe der Existenz durch das Wort. Es reicht übrigens nicht aus, geschrieben zu sein; um einen Namen zu haben, muß man schreiben. Muß man sich anrufen. Das setzt voraus, daß »mein Name eine Frage ist... Rabbi Eglal.« »Ohne meine Schriften bin ich anonymer als ein Bettuch im Wind, durchscheinender als eine Fensterscheibe

Diese Notwendigkeit, seine Existenz mit dem oder gegen das Schrift-Zeichen auszutauschen - sie zu verlieren oder zu gewinnen - , ist Gott ebenfalls auferlegt: »Ich habe dich nicht gesucht, Sarah. Ich suchte dich. Durch dich kehre ich zum Ursprung des Zeichens, zur nicht formulierten Schrift, die der Wind auf dem Sand und dem Meer entwirft, zur wilden Schrift des Vogels oder des schalkhaften Fisches zurück. Gott, der Herr des Windes, der Herr des Sandes, der Herr der Vögel und Fische, er-wartete vom Menschen das Buch, das der Mensch vom Menschen er-wartete; der eine, um endlich Gott, der andere, um endlich Mensch zu sein . . .«

»Alle Schriftzeichen formen die Abwesenheit. Daher ist Gott das Kind Seines Namens

Rabbi Tal

Meister Eckhart sagte: »>Gott< entsteht erst da, wo alle Kreaturen ihn aussprechen.« Diese Hil fe , die die Schrift des Menschen Gott erteilt,

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widerspricht nicht ihrer Unmöglichkeit, sich »selbst zu helfen« (Phai-dros). Kündigt sich das Göttliche - das Verschwinden des Menschen -nicht in dieser höchsten Not der Schrift an? Wenn die Abwesenheit sich nicht durch das Schriftzeichen reduzieren läßt, so deshalb, weil sie sein Äther und seine Respiration ist. Tren-nung und Grenze ist das Schriftzeichen dort, wo der Sinn sich aus der Gefangenschaft seiner aphoristischen Einsamkeit befreit. Denn jede Schrift ist aphoristisch. Keine »Logik«, keine Vermehrung bindender Lianen kann mit ihrer wesenhaften Diskontinuität und Unwirklichkeit, mit der Genialität des darunter liegenden Schweigens zu Rande kom-men. Der Andere wirkt ursprünglich am Sinn mit. Zwischen den Be-deutungen gibt es einen wesenhaften lapsus, der nicht die einfache und positive Täuschung eines Wortes, noch sogar das nächtliche Gedächtnis jeder Sprache ist. Vorzugeben, ihn durch die Erzählung, den philoso-phischen Diskurs, die Ordnung der Vernunftgründe oder die Deduk-tion zu reduzieren, heißt die Sprache verkennen und, daß der Bruch selbst die Totalität ist. Das Fragment ist kein bestimmter Stil und kein bestimmtes Scheitern, es ist die Form des Geschriebenen. Außer wenn Gott selbst schreibt; zudem müßte er dann aber auch noch der Gott der klassischen Philosophen sein, der sich nicht selbst hinterfragte und unterbrach, der sich nicht selbst den Atem abschnitt, wie der Gott von Jabès. (Der Gott der Klassiker, dessen wirkliche Unendlichkeit die Frage nicht tolerierte, besaß nicht das vitale Bedürfnis nach der Schrift.) Im Gegensatz zum Leibnizschen Sein und Buch gehorcht die Rationa-lität des Logos, dessen Verantwortung unsere Schrift trägt, dem Prinzip der Diskontinuität. Die Zäsur begrenzt und fixiert nicht nur den Sinn: »Der Aphorismus«, sagte Nietzsche, »die Sentenz, in denen ich als der erste unter Deutschen Meister bin, sind die Formen der >Ewigkeit<.«6

Denn die Zäsur bringt den Sinn zunächst hervor. Nicht ganz von allein, selbstverständlich; denn ohne die Unterbrechung - zwischen den Schriftzeichen, den Wörtern, den Sätzen, den Büchern - vermöchte keine Bedeutung zu erwachen. Vorausgesetzt, die Natur lehnt den Sprung ab, dann versteht man, warum die Schrift niemals die Natur sein wird. Sie geht nur nach Sprüngen vor. Das macht sie gefährlich. Der Tod wandert zwischen den Schriftzeichen. Schreiben, was Schreiben heißt, setzt Zugang zum Geist durch den Mut voraus, das Leben zu verlieren und an der Natur zu sterben.

6 F . Nictzsdie, a .a .O. , S. 1026.

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Jabès ist für diesen freigiebigen Abstand zwischen den Zeichen sehr aufmerksam. »Das Licht ist in ihrer Abwesenheit, die du liest. . .« ». •. Alle Schriflzeichen formen die Abwesenheit...« Die Abwesenheit ist die Erlaubnis, die den Schriftzeichen gewährt wird, sich aufzuzählen und zu bedeuten, sie ist aber auch das, was die Schrift-zeichen, in der Wendung der Sprache auf sich selbst, sagen: sie bezeich-nen die gewährte Freiheit und Vakanz, das, was sie »formen«, indem sie es in ihrem Netz einschließen. Abwesenheit schließlich als Odem des Schriftzeichens, denn das Schrift-zeichen lebt. »Der Name muß keimen, sonst ist er falsch«, sagt A. Bre-ton. Die Abwesenheit und die Trennung bezeichnend, lebt das Schrift-zeichen als Aphorismus. Es ist Einsamkeit, nennt die Einsamkeit und lebt aus der Einsamkeit. Außerhalb der Differenz wäre es toter Buch-stabe; ebenfalls, wenn es mit der Einsamkeit brechen, die Unterbre-chung, die Distanz, die Achtung, das Verhältnis zum Andern, das heißt ein bestimmtes Nicht-Verhältnis, unterbrechen würde. Es gibt daher ein tierisches Wesen des Schriftzeichens, das die Gestalten seiner Be-gierde, seiner Unruhe und seiner Einsamkeit annimmt.

»Deine Einsamkeit ist ein Alphabet von Eichhörnchen zum Gebrauch der Wälder

{la Clef de voûte in ]e bâtis ma demeure) Wie die Wüste und die Stadt, sagt auch der Wald, in dem die ver-ängstigten Zeichen wimmeln, gewiß auch den Nicht-Ort und die Irre, das Fehlen vorgezeichneter Wege, die einsame Erektion der verborge-nen Wurzel, die außer der Reichweite der Sonne zum Himmel auf-strebt, der sich verbirgt. Der Wald ist aber außer der Starre der Linien, der Bäume, an die sich verwirrte Buchstaben festklammern, das Holz, das der poetische Einschnitt verletzt.

»Sie schnitten die Frucht in den Schmerz des Baumes der Einsamkeit. ..

Wie der Seemann, der einen Namen eingräbt auf den des Mastes bist du im Zeichen einsam

Der Baum des Einstichs und der Einritzung gehört dem Garten nicht mehr an; es ist der Baum des Waldes oder des Mastes. Der Baum ist

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im Verhältnis zum Mast, was die Wüste im Verhältnis zur Stadt ist. Wie der Jude, der Dichter, der Mensch, Gott, haben die Zeichen nur die Wahl zwischen der Einsamkeit der Natur oder der einer Institu-tion. Von da an werden sie Zeichen und das Andere wird möglich. Das tierische Wesen des Schriftzeichens erscheint zunächst als eine Metapher unter anderen. (In Je bâtis ma demeure ist das Geschlecht zum Beispiel ein Vokal usf., oder auch: »Das Wort ändert manchmal mit Hilfe eines Komplizen sein Geschlecht und seine Seele«, oder auch noch: »Die Vokale sehen unter ihrer Feder den Fischmäulern, die aus dem Wasser auftauchen und vom Fischhaken durchbohrt sind, ähnlich; die Konsonanten gleichen abgefallenen Schuppen. Sie leben beengt in ihren Akten, in ihren Tintenhütten. Das Unendliche sucht sie heim ...«) Es ist aber vor allem die Metapher selbst, der Ursprung der Sprache als Metapher, in der das Sein und das Nichts, Voraussetzung und Jenseits der Metapher, sich nie selbst aussprechen. Die Metapher oder das tieri-sche Wesen des Schriftzeichens ist die primäre und unendliche Mehr-deutigkeit des Signifikanten als Leben. Psychische Untergrabung der trägen Literalität, das heißt der wieder zur Natur gewordenen Natur oder Rede. Diese Uber-Macht als Leben des Signifikanten ereignet sich in der Unruhe und der Irre der Sprache, die immer reicher als das Wis-sen ist, und der es nie an Bewegung mangelt, um weiter als die friedliche und seßhafte Gewißheit zu gehen. »Wie soll ich, was ich weiß/mit Worten sagen, deren Bedeutung I vieldeutig ist?«

Die organisierte Macht des Gesanges im Livre des questions, die schon durch das Zitat verraten wird, hält sich fern vom Zugriff des Kom-mentars. Man kann sich jedoch noch über ihren Ursprung befragen. Wird sie hier nicht insbesondere aus einem außerordentlichen Zusam-menfließen geboren, das auf dem Wall der Wörter, auf der punktuel-len Eigentümlichkeit der Erfahrung von Jabès, auf seiner Stimme und seinem Stil lastet? Zusammenfließen, in dem das Leiden, die tausend-jährige Reflexion eines Volkes sich verbinden, raffen und in Erinne-rung rufen; dieser »Schmerz«, »dessen Vergangenheit und Kontinuität sich mit denen der Schrift decken«, das Schicksal, das den Juden inter-pelliert und ihn zwischen Stimme und Chiffre stellt; er beweint die verlorene Stimme mit schwarzen Tränen, den Tintenspuren. Je bâtis ma demeure ist ein Vers aus la Voix de l'encre (1949). Le livre des questions: »Du errätst, daß ich dem, was gesagt wurde, eine große Be-deutung zumesse, mehr vielleicht als dem, was geschrieben wurde; denn

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in dem, was geschrieben wurde, fehlt meine Stimme, an die ich glaube, - Ich höre die schöpferische Stimme, nicht die mitschuldige Stimme, die eine Dienerin ist.« (Bei E. Levinas fände man dasselbe Zögern, dieselbe unruhige Bewe-gung in der Differenz zwischen dem Sokratismus und dem Hebraismus, der Misere und der Größe des Schriftzeichens, dem Pneumatischen und dem Grammatischen.) In der ursprünglichen Aphasie, wenn die Stimme Gottes oder des Dichters abhanden gekommen ist, muß man sich bei diesen Stellvertre-tern der Rede bescheiden: beim Schrei und der Schrift. Le Livre des questions, die narzistische Wiederholung, die poetische Revolution un-seres Jahrhunderts, die außerordentliche Besinnung des Menschen, ver-sucht heute endlich - und auf immer vergebens - , mit allen Mitteln, auf allen Wegen, von seiner Sprache wieder Besitz zu ergreifen, als ob das sinnvoll wäre, und im Widerstand gegen einen Vater des Logos die Verantwortung über sie zu beanspruchen. Im Livre de l'absent kann man zum Beispiel lesen: »Eine entscheidende Schlacht, in der die Be-siegten, die ihre Wunde verrät, zusammenbrechend die Schriftseite be-schreiben, die die Sieger dem Auserwählten widmen, der sie ohne sein Wissen ausgelöst hat. Der Kampf findet in der Tat statt, um die Über-legenheit des Wortes über den Menschen, des Wortes über das Wort zu behaupten.« Ist dieses Zusammenfließen le Livre des questions? Nein. Der Gesang sänge nicht mehr, entstünde seine Spannung ledig-lich aus dem Zusammenfließen. Das Zusammenfließen muß den Ur-sprung wiederholen. Dieser Schrei singt, weil er in seinem Geheimnis das Wasser eines gespaltenen Felsen, die einzigartige Quelle, die Ein-heit des hervorspringenden Bruchs berührt. Darauf folgen die »Strö-mungen«, das »Zuströmen«, die »Einflüsse«. Ein Gedieht läuft immer Gefahr, sinnlos zu sein; ohne dieses Risiko wäre es nichts. Damit das Gedicht von Jabès Gefahr läuft, einen Sinn zu haben, damit seine Frage wenigstens diese Gefahr läuft, muß man die Quelle präsumieren und daß die Einheit nicht die Folge einer Begegnung ist, sondern daß diese Begegnung heute von einer anderen Begegnung unterlaufen wird. Erste, einzigartige Begegnung zumal, denn sie war Trennung gleich der von Sarah und Yukel. Die Begegnung ist Trennung. Ein solcher Satz, der der »Logik« widerspricht, reißt die Einheit des Seins - im leicht zerbrechlichen Glied des »ist« - auseinander, indem er das Andere und die Differenz in die Quelle des Sinns aufnimmt. Aber, so wird man ein-wenden, man muß immer schon das Sein denken, um diese Dinge, die

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Begegnung und die Trennung, wessen und von wem, zu sagen, vor allem aber, daß die Begegnung Trennung ist\ Gewiß, das »man muß immer schon« bezeichnet aber gerade das originäre Exil aus dem Reich des Seins, das Exil als das Denken des Seins, und daß das Sein sich nie selbst zeigt, jetzt, außer in der Differenz, in allen Bedeutungen, die dieses Wort heute erfordert, nie präsent ist. Ob er das Sein oder der Herr des Seienden ist, Gott selbst ist, erscheint als das, was er in der Differenz ist, das heißt als die Differenz und in der Verbergung. Wenn man, was wir hier tun, einem ungeheuren Gedicht jämmerliche Graffitos hinzufügt, wenn man es auf seine »thematische Struktur«, wie man sagt, reduzieren will, dann müßte man wohl feststellen, daß es in ihm nichts Originelles gibt. Die Frage in Gott, die Negativität in Gott als Freisetzung der Geschichtlichkeit und der menschlichen Rede, die Schrift des Menschen als Begierde und Frage von und nach Gott (la question de Dieu: die doppelte Genitivität ist ontologisch, noch bevor sie grammatikalisch wird, oder vielmehr die Wurzelung des Ontologi-schen und des Grammatikalischen im grapbein), die Geschichte und der Diskurs als der Zorn des aus sich heraustretenden Gottes, usw. . . . , all das sind Motive, die hinlänglich bekannt sind: sie gehören Böhme, der deutschen Romantik, Hegel und dem späten Scheler usw. zunächst nicht eigentlich an. Die Negativität in Gott, das Exil als Schrift, das Leben des Schriftzeichens schließlich, das ist schon die Kabbala. Das heißt die •-Tradition« selbst. Und Jabès ist sich der kabbalistischen Widerklänge in seinem Buch bewußt. Manchmal spielt er sogar mit ihnen.7

Die Traditionalität ist aber nicht die Orthodoxie. Andere werden viel-leicht all jene Aspekte nennen, durch die Jabès sich ebenfalls von der jüdischen Gemeinde trennt, vorausgesetzt dieser letzte Begriff habe hier noch einen, bzw. seinen klassischen Sinn. Er trennt sich von ihr nicht nur, was die Dogmen betrifft. Sondern viel tiefer. Für Jabès, der zugibt, erst sehr spät eine gewisse Zugehörigkeit zum Judaismus er-kannt zu haben, ist der Jude nur die Allegorie des Leidens: «Ihr seid alle Juden, die Antisemiten sogar, denn ihr wurdet für das Martyrium vor-bestimmt.« Hierauf sieht Jabès sich gezwungen, mit den Brüdern seiner Rasse und mit den Rabbinern sich auseinanderzusetzen, die jetzt nicht mehr imaginär sind. Alle werden ihm diesen Universalismus zum Vor-wurf machen, diesen Essentialismus, diesen trocknen Allegorismus; diese Neutralisierung des Ereignisses im Symbolischen und Imaginären. »Sich an mich wendend, sagten die Brüder meiner Rasse zu mir: 7 C f . be!sp!e!s\ve"so l.c Livre dt* l\tbse:::. i

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Du bist kein Jude. Du besuchst die Synagoge nicht . . .

Die Rabbiner, die du anführst, sind Schwätzer. Hat es sie jemals ge-geben? Und du hast dich an ihren frommen Reden unterhalten.« ... . .. »Du bist Jude für die Andern, nicht aber für uns.« »Sich an mich wendend, sagte der besonnenste meiner Brüder zu mir: >Keinen Unterschied mehr zwischen einem Juden und einen Nicht-Juden zu machen, heißt das nicht, schon nicht mehr Jude zu sein?' Sie aber fügten hinzu: >Die Brüderlichkeit besteht darin zu geben, zu geben, zu geben, du aber kannst nur das geben, was du bist.< /Mir mit der Faust an die Brust schlagend, dachte ich: / >Ich bin nichts. / Mein Kopf wurde abgeschlagen. / 1st ein Mensch nicht aber ein Mensch wert? / Und der Enthauptete, der Gläubige?'«

Jabès ist in diesem Zwiegespräch nicht Angeklagter, er trägt das Zwie-gespräch und die Infragestellung in sich. In diesem Nicht-Übereinstim-men mit sich selbst ist er mehr Jude und weniger Jude als der Jude. Es gibt aber vielleicht keine Selbstidentität des Juden. Jude wäre ein an-derer Name für diese Unmöglichkeit, ein Selbst zu sein. Der Jude ist gebrochen, er ist es zunächst zwischen diesen beiden Dimensionen des Schriftzeichens: der Allegorie und der Literalität. Seine Geschichte wäre nur eine empirische Geschichte unter anderen, wenn er sich in der Diffe-renz und der Literalität einrichtete und staatlich festsetzte. Er hätte überhaupt keine Geschichte, reibe er sich in der Algebra einer abstrak-ten Universalität auf.

Zwischen dem allzu lebendigen Fleisch des Ereignisses und der kalten Haut des Begriffs fließt der Sinn. Auf diese Weise geht er ins Buch über. Alles geht ins Buch über; alles geschieht im Buch. Alles wird dem Buch einwohnen müssen. Die Bücher ebenfalls. Deshalb ist das Buch niemals beendet. Es bleibt immer im Leiden und im Nachtlicht. — »Eine Lampe steht auf meinem Tisch und das Haus ist im Buch - Ich werde endlich das Haus bewohnen.«

- »Wo befindet sich das Buch? - Im Buch.«

. Jeder Austritt aus dem. Buch findet im Buch statt. Das Ende der Schrift befindet sich gewiß jenseits der Schrift: »Die Schrift, die sich in sich selbst ergießt, ist nur eine Äußerung der Verachtung.« Ist sie kein Zerreißen ihrer selbst in Richtung des Andern im Eingeständnis der unendlichen Trennung, ist sie Selbstergötzung, Lust am Schreiben um des Schreibens

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willen, Zufriedenstellung des Künstlers, dann zerstört sie sich selbst. Sie synkopiert sich in der Rundung des Eis und der Fülle des Identi-schen. Zwar heißt das Zum-Andern-gehen auch Selbstverneinung; und der Sinn entfremdet sich im Übergang der Schrift. Die Absicht über-trifft und entreißt sich ihrer selbst, um sich zu sagen. »Ich hasse, was schon gesagt wurde und in dem ich nicht mehr bin.« Zweifellos, und genauso wie das Ende der Schrift durch die Schrift geht, ist ihr Ursprung noch nicht im Buch. Der Schriftsteller, Erbauer und Wächter des Buches, steht am Eingang des Hauses. Der Schriftsteller ist ein Fährmann und sein Schicksal hat stets eine Eingangsbedeutung. »- Wer bist du? - Der Wächter des Hauses. - .. . Bist du im Buch? — Mein Platz ist an der Schwelle.«

Aber - und das ist der Grund der Dinge - die ganze Äußerlichkeit zum Buch, diese ganze Negativität des Buches geschieht im Buch. Man nennt den Austritt aus dem Buch, man nennt das Andere und die Schwelle im Buch. Das Andere und die Schwelle können nur geschrieben werden, und sich in ihm bekennen. Man verläßt das Buch nur im Buch, denn für Jabès ist das Buch nicht in der Welt, sondern die Welt ist im Buch.

»Die Welt existiert, weil das Buch existiert. . .« »Das Buch ist das Werk des Buches.« »... Das Buch vermehrt das Buch.« Sein heißt im Buch sein, auch wenn das Sein nicht jene Natur ist, die das Mittelalter oft das Buch Gottes genannt hat. Gott selbst entspringt im Buch, das somit den Menschen an Gott und das Sein an sich bindet. »Wenn Gott ist, dann weil er im Buche ist.« Jabès weiß, daß das Buch besetzt und gefährdet ist, daß seine »Antwort immer noch eine Frage ist, daß dieser Wohn-raum unaufhörlich gefährdet ist.« Das Buch kann aber nur durch das Nichts, das Nicht-Sein, den Nicht-Sinn bedroht werden. Käme die Be-drohung zum Sein, so wäre sie - wie das hier der Fall ist - eingestan-den, benannt und gemeistert. Sie wäre ein Teil des Hauses und des Buches.

Die ganze historische Unruhe, die ganze poetische Unruhe, die ganze jüdische Unruhe quälen also dieses Gedicht der nicht endenden Frage. Alle Behauptungen und alle Negationen, alle sich widersprechenden Fragen werden in ihr in der Einheit des Buches, in einer mit nichts ver-gleichbaren Logik, in der L O G I K aufgenommen. Man müßte hier in der Grammatik sagen. Diese Unruhe aber und dieser Krieg, diese Ent-fesselung aller Naturgewalten, ruht sie nicht auf dem friedlichen und

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stillschweigenden Grund einer Nicht-Frage? Ist das Schreiben der Frage r.i-.: aufgrund einer Entscheidung, durch einen Entschluß, der Anfang der Ruhe und der Antwort? Die erste Gewalt gegenüber der Frage? Die erste Krise und das erste Vergessen, der notwendige Beginn der Irre als Geschichte, das heißt als die Verbergung der Irre?. Die Nicht-Frage, von der wir sprechen, ist noch kein Dogma; das Glau-bensbekenntnis zum Buch kann, wie wir wissen, dem Glauben an die Bibel vorangehen. Es kann sie ebenfalls überleben. Die Nicht-Frage, • on der wir sprechen, ist die unangefochtene Gewißheit, daß das Sein elr.e Grammatik ist; und die Welt ein durchgängiges Kryptogramm,

mit Hilfe einer Einschreibung oder einer poetischen Entzifferung konstituiert werden muß; daß das Buch ursprünglich ist, dem Buch an-gehört, ehe es ist und ehe es zur Welt kommt, und nur geboren werden kann, indem es das Buch anläuft, nur sterben kann, indem es im Hin-blick auf das Buch scheitert; und daß das gelassene Ufer des Buches, immer Ankunft ist.

Xenn das Buch aber, in allen Bedeutungen dieses Wortes, nur eine Epoche des Seins wäre (endende Epoche, die im Licht ihres Todeskamp-f s oder im Nachlassen ihrer Umklammerung das Sein sehen ließe, und zit. wie die letzte Krankheit, wie die geschwätzige und eigensinnige Hvpermnesie gewisser Sterbender, die Bücher über das tote Buch ver-—ehren würde)? Wenn die Form des Buches nicht länger mehr das Modeil des Sinns wäre? Wenn das Sein radikal außerhalb des Buches, s_:îerhalb des Schriftzeichens wäre? Von einer Transzendenz, sie sich nicht mehr durch die Einschreibung und die Bezeichnung berühren ließe, die sich nicht auf der Seite niederließe und die sich vor allem vor ihr erheben würde? Wenn das Sein sich in den Büchern verlöre? Wenn z:c Bücher die Auflösung des Seins darstellten? Wenn sein Weltlichsein, fclr.e Präsenz, sein Seinssinn sich nur in der Unlesbarkeit, in der radi-kalen Unlesbarkeit enthüllte, die nicht die Komplizin einer verlorenen : der gesuchten Lesbarkeit, einer Seite wäre, die man noch in keine gött-liche Enzyklopädie eingebunden hätte? Wenn die Welt selbst, einem Ausdruck von Jaspers zufolge, nicht das Manuskript eines Anderen -'äre, sondern zunächst das Andere jedes möglichen Manuskriptes? Und - enn es immer zu früh wäre zu behaupten, »der Aufstand ist ein zer-knülltes Blatt im Papierkorb.. .«? Immer zu früh, um zu sagen, daß ü s Böse nur, infolge eines lapsus calami oder irgendeiner Kakogra-pfcie Gottes, unentzifferbar sei, und daß »unser Leben, im Bösen, die Cestait eines umgekehrten, ausgeschlossenen Schriftzeichens hat, weil es

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vom Buch der Bücher nicht gelesen werden kann«? Und wenn der Tod sich nicht selbst in das Buch einschreiben ließe, in das, wie man weiß, der Gott der Juden jedes Jahr nur die Namen derer einschreibt, die leben dürfen? Und wenn die tote Seele immer mehr oder weniger etwas anderes wäre als der tote Buchstabe jedenfalls, der immer wieder zum Leben erweckt werden kann? Wenn das Buch nur das sicherste Ver-gessen des Todes wäre? Die Verbergung einer älteren oder jüngeren Schrift, von anderem Alter als das Buch, als die Grammatik und alles das, was sich darin unter dem Namen des Sinns des Seins ankündigt? Einer noch nicht lesbaren Schrift?

Die radikale Unlesbarkeit, von der wir sprechen, ist nicht die Irratio-nalität, der verzweifelte Unsinn, all das, was die Angst vor dem Un-verständlichen und Unlogischen hervorbringen kann. Eine derartige Auslegung - oder Bestimmung - des Unlesbaren gehört schon dem Buch an, ist schon in die Möglichkeit des Bandes eingewickelt. Die originäre Unlesbarkeit ist nicht ein einfaches Moment, das dem Buch, der Ver-nunft oder dem Logos innerlich wäre; es ist ebensowenig ihr Gegen-teil, weil sie infolge ihrer Inkommensurabilität kein Symmetrieverhält-nis mit ihnen aufrechterhält. Früher als das Buch (in einem nicht chro-nologischen Sinn), ist sie daher die Möglichkeit des Buches selbst und in ihm, der späteren und eventuellen Opposition von »Rationalismus« und »Irrationalismus«. Das Sein, das sich im Unlesbaren ankündigt, ist jenseits dieser Kategorien; weil sich schreibend, jenseits seines Eigen-namens.

Wenn diese Fragen auch nicht in le Livre des questions gestellt werden, so wäre es doch lächerlich, Jabès daraus einen Vorwurf zu machen. Diese Fragen können nur im literarischen Akt schlafen, der ihres Lebens und ihrer Lethargie zugleich bedarf. Die Schrift würde an der reinen Wachsamkeit genauso zugrundegehen wie an der einfachen Auslöschung der Frage. Heißt schreiben nicht auch noch die Ontologie und Gram-matik vermischen? Jene Grammatik, in die sich immer noch alle Dislo-kationen der toten Syntax, alle Aggressionen der Rede gegen die Sprache, alle Infragestellungen des Schriftzeichens selbst niederschrei-ben? Die an die Literatur gerichteten geschriebenen Fragen, alle Folte-rungen, denen sie ausgesetzt wird, werden von ihr fortwährend umge-formt, geschwächt und vergessen; durch sie werden sie zu Modifikatio-nen ihrer selbst und in ihr selbst, Abtötungen, das heißt wie immer Listen des Lebens. Das Leben negiert sich selbst in der Literatur, um besser überleben zu können. Um besser zu sein. Es negiert sich so wenig,

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wie es sich bejaht: es verschiebt und schreibt sich als »différence«. Die Bücher sind stets Bücher des Lebens (ihr Archetyp wäre das Buch des Lebens, das der Gott der Juden führt) oder des Überlebens (ihr Arche-typ wären die Todesbücher, die die Ägypter führten). Wenn M. Blan-chot sdireibt: »Ist der Mensch zu einer radikalen Interrogation fähig, das heißt letztlich, ist der Mensch zur Literatur fähig}«, so könnte man ebensogut sagen, ausgehend von einer gewissen Vorstellung über das Leben: »unfähig«, ein übers andere Mal. Es sei denn, man nähme an, die reine Literatur sei die Nicht-Literatur oder der Tod selbst. Die Frage über den Ursprung des Buches, die absolute Interrogation, die Interrogation aller möglichen Interrogationen, die »Interrogation Gottes«, wird nie irgendeinem Buch angehören. Es sei denn, sie vergäße sidi in der Artikulation ihrer Erinnerung selbst, in der Zeit der Inter-rogation, in der Zeit und in der Tradition ihres Satzes; es sei denn, daß die Selbsterinnerung, die Syntax, die sie an sich bindet, nur eine ver-kleidete Bejahung aus ihr machte. Ein Buch der Frage schon, das sich von seinem Ursprung entfernte.

Müßte man folglich, damit Gott wirklich, wie Jabès sagt, »eine Inter-rogation Gottes sei«, nicht noch eine letzte Behauptung in eine Frage überführen? Die Literatur wäre dann vielleicht nur noch die schlaf-wandlerische Verschiebung dieser Frage: »>Es gibt das Buch Gottes, mit dessen Hilfe Gott sich selbst befragt, und es gibt das Buch des Menschen, das demjenigen Gottes nachgebildet ist.<

Rabbi Rida.«

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Gewalt und Metaphysik E S S A Y ÜBER DAS D E N K E N E M M A N U E L L E V I N A S ' 1

» H e b r a i s m and H e l l e n i s m , - b e t w e e n these t w o points

of in f luence m o v e s our w o r l d . A t one t ime it fee ls

more p o w e r f u l l y the a t t r a c t i o n of one of them, a t

another t ime of. the o t h e r ; a n d it ought to be, t h o u g h

it n e v e r is, e v e n l y a n d h a p p i l y b a l a n c e d b e t w e e n

them.«

M a t t h e w A r n o l d , Culture and anarchy, C a m b r i d g e

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O b d i e P h i l o s o p h i e se i t g e s t e r n t o t se i , s e i t H e g e l o d e r M a r x , N i e t z s c h e

o d e r H e i d e g g e r - u n d d i e P h i l o s o p h i e m ü ß t e n o c h d e m S i n n i h r e s

T o d e s n a c h i r r e n - , o d e r o b s i e i m m e r s c h o n a u s d i e s e m W i s s e n u m i h r e n

T o d g e l e b t h a b e , w a s s ich s t i l l s c h w e i g e n d i m S c h a t t e n z u e r k e n n e n g i b t ,

d e n g e r a d e j e n e R e d e w i r f t , d i e d i e philosophia perennis verkündete;

o b s i e eines Tages, in d e r G e s c h i c h t e g e s t o r b e n se i , o d e r i m m e r s c h o n

i m T o d e s k a m p f u n d a u s d e r g e w a l t s a m e n ' Ö f f n u n g d e r G e s c h i c h t e g e -

l e b t h a b e , i n d e m s i e g e w a l t s a m i h r e M ö g l i c h k e i t d e r N i c h t - P h i l o s o p h i e ,

i h r e m e n t g e g e n s t e h e n d e n G r u n d , i h r e r V e r g a n g e n h e i t o d e r i h r e r F a k -

t i z i t ä t , i h r e m T o d u n d i h r e m U r s p r u n g e n t r i ß ; o b d a s D e n k e n j e n s e i t s

v o n d i e s e m T o d o d e r d i e s e r S t e r b l i c h k e i t d e r P h i l o s o p h i e , u n d v i e l -

le icht s o g a r d a n k i h r e r , e i n e Z u k u n f t h a b e , o d e r , w i e m a n h e u t e s a g t ,

n o c h g ä n z l i c h a u s s t ü n d e , a u f g r u n d d e s s e n , w a s s ich i n d e r P h i l o s o p h i e

1 E. Levinas, Théorie de l'intuition dans la phénoménologie de Husserl, ï . A u f l . Paris :23c:; 2. A u f l . 1963; De l'existence à l'existant, Fontaine 1947 ; Le temps et l'autre, :n: - L e choix, le Monde, L'Existence« (Cahiers du collège philosophique, Arthaud

En découvrant l'existence. Avec Husserl et Heidegger, Paris 1949; Totalité et iaßni, Essai sur l'extériorité, Den H a a g 1 9 6 1 ; Difficile Liberté, Essais sur le judaisme, Paris 1963.

werden uns hier ebenfalls auf verschiedene Aufsätze beziehen, die wir im jeweili-gen Augenblick angeben werden. Die Hauptwerke bezeidincn wir mittels folgender Abkürzungen: Théorie de l'intuition...: T H I ; De l'existence à l'existant: E E ; Le 7imps et L'Autre: T A ; En découvrant l'existence: E D E ; Totalité et Infini: T I ; Dijfi-

Liberté: D L .

Z'.rscr Essay war schon geschrieben, als zwei wichtige Texte von Emmanuel Levinas "ächicncn: La Trace de l'Autre, in: Tijdschrifl voor Filosofie, Sept. 1963, und La Signification et le Sens, in: Revue de métaphysique et de morale, 1964, Nr . 2. Wir ^.nnen uns hier leider nur sehr kurz auf sie beziehen.

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