DESIGN FÜR ALLE - GUT LEBEN · 2015-06-26 · Parallel zur Weltleitmesse für Licht- und...
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1„NIEMAND WIRD ALLEIN GELASSEN.“Ein Blick hinter die Kulissen des DRK Flugdienstes. Einsatzstellenleiter Volkmar Schultz-Igast im Gespräch.
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ER 12DESIGN FÜR ALLE
Das Magazin ohne Altersbegrenzung
Neue Aussichten auf das Zusammen-leben von Menschen und Dingen.
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INHALTTITELTHEMADesign für alleNeue Aussichten auf das Zusammenleben von Menschen und Dingen.
„Du bist mir vielleicht ’ne Marke.“Demografie, Design und Selbstgestaltung.Alternde Menschen und schrumpfende Städte als Zu-kunftschancen. Zu Besuch bei Roland Günter.
INTERVIEW„Niemand wird allein gelassen.“Ein Blick hinter die Kulissen des DRK Flugdienstes.Einsatzstellenleiter Volkmar Schultz-Igast im Gespräch.
UNTERWEGSTurinEine Stadt im Wandel. Zu Besuch in der Hauptstadt des Piemont.
FRAU BECKMANN ERKLÄRT...Folge 12: „Vegan“
REZEPT UND RÄTSELBicerin
„NIEMAND WIRD ALLEIN GELASSEN.“Ein Blick hinter die Kulissen des DRK Flugdienstes. Einsatzstellenleiter Volkmar Schultz-Igast im Gespräch.
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DESIGN FÜR ALLE
Das Magazin ohne Altersbegrenzung
Neue Aussichten auf das Zusammen-leben von Menschen und Dingen.
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EDITORIALLiebe Leserinnen und Leser,
wir leben in einer gestalteten Welt. Unser Alltag ist geprägt
vom menschlichen Miteinander, aber auch von den Din-
gen, die uns umgeben – und die ihrerseits Einfluss nehmen
auf unser Zusammenleben. Insofern leben wir auch mit den
Dingen zusammen: mit Technik, unserer Kleidung, unserer
Wohnung und dem ganzen kleinen Universum von Dingen,
die uns nützen, die für uns ganz selbstverständlich sind,
oder zu denen wir eine ganz spezielle Beziehung haben.
Als die demografische Entwicklung vor einigen Jahren
begann, die Presse, die Nachrichtensendungen und Talk-
shows zu erobern, hatte die Wirtschaft gemeinsam mit Ih-
ren Marketingexperten, Designern und Produktentwicklern
eine Vision: Hier entstünde eine neue Zielgruppe, die nur
darauf warte, mit genau auf sie zugeschnittenen „Senioren-
produkten“ beglückt zu werden. Aber so einfach war die
Sache nicht. Die neue Konsumentengruppe war zwar we-
nig später da, aber gar nicht wirklich neu. Es waren diesel-
ben Menschen, die man seit Jahrzehnten als junge, dynami-
sche und trendsetzende Konsument/innen bestens im Blick
gehabt hatte – und die jetzt einfach nur älter wurden. Die
eigentlich einfach nur weiterleben wollten – genauso bunt,
vielfältig und individuell wie bisher. Und die vor allem eines
gar nicht mochten: auf ihr Alter angesprochen zu werden:
„Alt sind die Anderen.“
Auch in der Rotkreuzarbeit spielen „Dinge“ eine Rolle: Me-
dizintechnik, die Leben rettet, Fahrzeuge, Dienstkleidung,
aber auch der Handsender des Hausnotrufs oder das Not-
ruf-Handy des Mobilrufs, der Menschen miteinander ver-
bindet, wenn es darauf ankommt. Wie aber sollten diese
Dinge gestaltet sein, um für möglichst viele Menschen at-
traktiv zu sein? GUT LEBEN hat mit Experten gesprochen:
Design-Experten aus der jüngeren und der älteren Genera-
tion. Die Frage war: Kann und wird es in Zukunft so etwas
wie ein „demografiefestes“ Design geben? Mit zum Teil er-
staunlichen Ergebnissen: Ja – aber der Schlüssel liegt gerade
nicht in massenhaften altersspezifischen Spezialangeboten.
Sondern im DESIGN FÜR ALLE.
Auch diesmal freue ich mich über Ihre Reaktionen auf die-
se GUT LEBEN-Ausgabe – und wünsche Ihnen viel Freude
beim Lesen, Stöbern und Entdecken.
Ihr
Ralph Hoffert
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Klaus Vatter: Herr Knigge, Sie haben sich dem Thema
Design schon frühzeitig auf einem eher ungewöhnlichen
Weg genähert, nämlich über Fragen der Demografie und
des Alterns. Nun ist unsere Gesellschaft schon seit Jahren
dazu eingeladen, sich aus diesem Blickwinkel neu mit Fra-
gen der Lebensqualität und der Gestaltung unseres Alltags
zu befassen. Andererseits weckt das Thema Alter nicht
gerade spontane Begeisterung, verweist es doch auf ein
Szenario, das neben der Freude über die positive Progno-
se einer höheren Lebenserwartung auch Ängste auslöst.
Gewollt oder ungewollt ruft das Alter sowohl individuell
als auch gesellschaftlich einen Abwehrreflex hervor, der ei-
ner gewissen Tradition und Konvention der Verdrängung
verpflichtet ist. Wer sich dagegen mit den angenehmen,
in unserer Kultur sehr positiv aufgeladenen Begriffen der
Ästhetik, des Stils und mit der Gestaltung von Zukunft –
was Design ja immer auch ist – beschäftigt, kommt leider
(!) nicht unbedingt auf das Alter. Bei Ihnen ist das anders.
Wie kam es dazu?
Mathias Knigge: Man kommt üblicherweise nicht darauf,
gleichzeitig aber kann diese Blickperspektive kreativen Pro-
zessen der Entwicklung neuer Produkte viel mehr Qualität
geben. Weil wir, wenn wir uns, vermeintlich, um Schön-
heit zu produzieren, der immer rasanteren Geschwindigkeit
des Marktes mit seinen immer schnelleren Produktzyklen
anpassen, gewissermaßen auch unsere eigene Sinnkrise
mitproduzieren: Wofür das Ganze? Eine auf Quartalszyklen
ausgerichtete modische Gestaltungskultur wird als Selbst-
zweck schnell problematisch, gerade mit Blick auf den zu-
nehmenden Anspruch auf Nachhaltigkeit von Produkten,
auch im Sinne einer neuen globalen Verantwortung. Ich
Design und Demografie: Traditionell widmet sich GUT LEBEN in einer eigenen Rubrik DESIGN FÜR ALLE diesem Thema. Darin stellt
Mathias Knigge vom Hamburger Büro grauwert Produkte vor, die durch hohe Benutzerfreundlichkeit und gelungenes Design zu
mehr Lebensqualität im Alltag beitragen. Ausdrücklich definiert sich für ihn dabei „Demografiefestigkeit“ nicht durch eine exklusive
Ausrichtung auf bestimmte Alters- und Zielgruppen. Die Idee DESIGN FÜR ALLE setzt damit auch ein Zeichen in Sachen Inklusion.
Parallel zur Weltleitmesse für Licht- und Gebäudetechnik, „Light + Building 2014“, fand am 2. und 3. April im Congress Center der
Messe in Frankfurt am Main ein interdisziplinärer Kongress statt, auf dem Bau-, Wohnungs-, Immobilien-, Gesundheits- und Pfle-
gewirtschaft sich gemeinsam dem Thema „zukunft lebensräume“ widmeten. GUT LEBEN-Chefredakteur Klaus Vatter unterhielt sich
dort mit Mathias Knigge über Chancen, aber auch die Grenzen einer „Demografisierung des Designs“.
DESIGN FÜR ALLE.NEUE AUSSICHTEN AUF DAS ZUSAMMEN- LEBEN VON MENSCHEN UND DINGEN.
TITELTHEMA
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habe es oft als neue Qualität erlebt und auch genossen,
wenn im Design tatsächlich die Bedürfnisse des Menschen
der Ausgangspunkt waren, und zwar sehr basale, einfache,
alltägliche Bedürfnisse – womit eben nicht gemeint ist, je-
den Tag eine andere Farbe zu tragen. Der Grundgedanke,
Menschen wirklich beim Kleinen, aber Wesentlichen, also
dort, wo sie in ihrem Alltagsleben tatsächlich stehen, ab-
zuholen, gibt Designern ganz tolle Impulse. Immer bloß
an der Oberfläche anders als die Anderen sein zu müssen,
ist dann gar nicht mehr interessant. Schließlich sind solche
Produkte auch oft am Markt erfolgreicher, weil ihre Qualität
sich viel direkter und einfacher vermittelt. Ich würde mich
freuen, wenn wir hierin im Design einen tiefgreifenden Pro-
zess des Umdenkens erleben würden.
Klaus Vatter: Alles hat ja auch eine historische Dimension.
Würden Sie soweit gehen, hier einen gewissen Anknüp-
fungspunkt an die Aufbruchsphase des modernen Designs
vor dem 1. Weltkrieg, etwa im 1907 gegründeten Deut-
schen Werkbund, oder nach dem Krieg dann im Bauhaus zu
sehen? Damals ging es ja darum, angesichts der Möglich-
keiten industrieller Serienproduktion und der Entstehung ei-
nes Massenmarktes Kunst, Technik und Wirtschaft im Sinne
eines neuen Qualitätsanspruchs zusammenzuführen.
Mathias Knigge: Tatsächlich ist der Begriff der Massen
bzw. neuer Quantitäten eines bestimmten Konsumenten-
typs ein interessanter Ansatzpunkt. Ging es damals um
die neue Quantität der konsumbereiten Arbeiterschaft
und überhaupt breiter Bevölkerungsteile, die sich nun den
Kamm aus Bakelit – anstatt aus Horn – massenhaft leisten
konnte, geht es heute um die schlichte Frage: Wer sind
diese neuen Abnehmer-Gruppen am Markt heute? Hier
kommen wir dann unweigerlich auf die demografische
Entwicklung. Aktuelle Fragen des Designs knüpfen sich
zunehmend an die Frage, ob angesichts der äußerst er-
freulichen Tatsache, dass immer mehr Menschen alt und
auch sehr alt werden, unsere Produkte in den nächsten
Jahrzehnten noch massentauglich sein werden. Wie vor
gut hundert Jahren geht es dabei auch heute um Qua-
lität. Insbesondere schließen wir dabei bewusst an den
Anspruch etwa des Bauhauses an, die Sache mit einer ge-
wissen Vernunft anzugehen: Es gibt diese neuen Benutzer,
auf die wir uns einstellen müssen, und die wir, schon bei
der Entwicklung neuer Konzepte, einbinden müssen. Auf
der anderen Seite haben wir auch in der Emotionalisie-
rung von Produkten und Marken einen Hebel entdeckt,
der bespielt werden muss. Wir müssen heute auch hier
Anreize setzen, weil sonst Lösungen, die im Alter wirklich
nützen, den Markt gar nicht erreichen. Die Erfahrung zeigt
tatsächlich, dass niemand ein Produkt kauft, nur weil es
„hilft“. Es muss auch gut aussehen und vor allem stigmati-
sierungsfrei präsentiert werden.
Klaus Vatter: Ich sehe durchaus Anzeichen dafür, dass
das Problem der stigmatisierenden Nutzeransprache sich
inzwischen herumgesprochen hat. „Sie sind alt, schwach
und gebrechlich? Dann werden Sie unser Kunde!“ – dass
diese Botschaft wirklich alle in die Flucht treibt, ist ja ein-
leuchtend. Auch, dass es am besten ist, hochaltrigkeits-
sensible Produkte schon den 30- und 40-Jährigen zu ver-
kaufen. Aber wie kommuniziert man denn nun Angebote,
mit denen man heute gern alle erreichen will, all denen,
die für diesen Weg zu früh geboren wurden? Und die sich
damit auch schwertun – auch weil sie Werbung aus guten
Gründen prinzipiell kritisch sehen? Oder diejenigen, die
partout nicht einsehen wollen, dass die schnelllebige Par-
ty-Phase ihres Lebens einmal zu Ende geht? Wenn man in
der Werbebotschaft bewusst um die Hilfe-Funktion eines
Produkts herumredet, entspricht das ja genauso wenig
dem, was ältere, souveräne und kritische Verbraucher ver-
meintlich als gute Werbung akzeptieren könnten.
Mathias Knigge: Ich denke zunächst einmal, dass man
auch diejenigen, die sich noch gar nicht richtig auf das
Alter eingelassen haben, mit offenen Armen empfangen
muss. Egal, wie man dagegen ankämpft, das Alter ist Teil
des menschlichen Seins und des Lebensprozesses. In der
Jugend differenziert man sich gegenüber den noch Jünge-
ren. Man „ist schon groß“, kann schon mehr. Der Schnitt
kommt in den Fünfzigern. Man will partout nicht 60, 70,
80 werden, erst recht nicht erste Einschränkungen akzep-
tieren. Für Anbieter im Luxussegment ist das zumeist kein
Problem: Der Porsche Cayenne ist zweifellos bei älteren
Menschen nicht deshalb begehrt, weil er etwa explizit als
„Seniorenporsche“ beworben würde, sondern weil er mit
leichtem Ein- und Ausstieg durch breite und auch schwe-
re, aber mit spezieller technischer Hilfestellung leicht zu
schließende Türen und einer hohen, komfortablen Sitzpo-
sition ganz konkreten Bedürfnissen gerecht wird, ohne da-
durch das Markenprestige zu gefährden – oder die Nutzer
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solidester Ausführung anbieten – sie werden nicht gekauft,
wenn ich sie als Beweisstücke dafür, dass ich wackelig auf
den Beinen, also gebrechlich bin, emotional ablehne und
verweigere. Die Lösung kann nur darin bestehen, dass wir
diesen Qualitätsmaßstab von vornherein an alle neuen
Produkte anlegen. Bauen wir diese ab sofort in unsere Bä-
der ein, dann können wir die Vorteile ab heute, vor allem
aber auch im Alter, nutzen.
Klaus Vatter: Gab es in Ihrer Lebensgeschichte so etwas
wie Schlüsselerlebnisse oder -erfahrungen, die Sie für das
Thema des Alterns besonders sensibilisiert haben?
Mathias Knigge: An konkreten, einzelnen Situationen
lässt sich das nicht festmachen. Eher hing es wohl mit ei-
ner bestimmten Spannung und Unzufriedenheit während
meines ersten Studiums zusammen. Bevor ich zum De-
sign kam, studierte ich Maschinenbau. Dort machte ich
die Erfahrung, dass der Ingenieur dazu neigt und auch in
Studium und Beruf darauf programmiert wird, Problem-
stellungen immer weiter auf bestimmte Detailprobleme zu
reduzieren. Überspitzt ausgedrückt: Der typische Ingenieur
beschäftigt sich damit, die sprichwörtliche Schraubendre-
hung und -winkelung zur Befestigung eines Triebwerks
immer weiter zu optimieren, ohne dabei noch zu sehen,
dass das Triebwerk am falschen Flügel des Flugzeugs mon-
tiert wird. Er verliert also den Blick für das Ganze. Mich
hat es dagegen immer schon gereizt, Produkte vor dem
Hintergrund ihrer konkreten Lebenszusammenhänge, des
Miteinanders, der ganzen Komplexität der psychischen
und sozialen Szenarien ihrer Nutzung zu analysieren und
zu verbessern. Ich habe mich zunächst als Maschinenbau-
er auf so genannte „Mensch-Maschine-Systeme“ speziali-
siert, also so etwas wie „Interface-Gestaltung“. Das betraf
immerhin so etwas wie die Schnittstelle zwischen Technik
zu überfordern. Uns aber interessieren eher ganz einfache
und erschwingliche Alltagsprodukte, wie die Salatschleu-
der, die problemlos mit einer Hand bedient werden kann
– und dazu das passende Tablett, das man ohne Balance-
akte mit einer Hand sicher im Griff hat. Wenn man einmal
die Heterogenität und Individualität des Alterns akzeptiert,
weiß man, dass es kein Patentrezept für alle geben kann,
und dass 100-Jährige selbstverständlich ein Recht auf ein
maßgeschneidertes Produkt mit gutem Design haben.
Design sollte Menschen abholen, warum nicht am Ende
auch diejenigen, die sich zurückziehen wollen oder müs-
sen, die sich darauf einstellen, dass sie nicht auf einmal
wieder mehr können werden. Es gibt auch hier gute und
schlechte Wege. Wenn es gut geplant ist, mitsamt dem
Weg zum Bad, Steckdosen, Sensoren und Beleuchtung,
muss ein Zimmer nicht nach „Seniorenzimmer“ aussehen.
Und wer von seinem Bett aus dem Fenster schaut, kann
mit den Augen spazieren gehen.
Klaus Vatter: Liegt das Reizvolle und letztlich Beruhigen-
de an Ihrer Aufgabenstellung nicht eigentlich darin, dass
nichts, was älteren Menschen in punkto Handling und
Funktionalität entgegenkommt, Jüngeren zum Nachteil
gerät? Im Gegenteil: dass hier geradezu eine neue Pilot-
und Test-Zielgruppe entstanden ist, die dem Trend zu
mehr Nachhaltigkeit altersübergreifend Vorschub gibt –
nach dem Motto: Wenn ältere Menschen mit einem Pro-
dukt keine Bedienungsprobleme haben, kommen auch
alle anderen besser damit zurecht?
Mathias Knigge: Entscheidend ist wohl, dass – mit Aus-
nahme einiger ganz spezifischer Hilfsmittel – tatsächlich
das kalendarische Alter bei der Definition von Design-
qualität keine Rolle mehr spielen sollte. Der gewünschte
„demografiefeste“ Effekt würde im Idealfall einfach darin
bestehen, dass ich mit 30 oder mit 50 ein Produkt kaufe –
und mich mit 80 immer noch daran erfreue, dass es schön
ist und funktioniert. Jedes Unternehmen sollte sich daher
fragen: Was ist meine Zielgruppe heute – und wie wird
diese altern? Viele der über Jahrzehnte kultivierten Vorlie-
ben werden schlicht bleiben. Auch auf die Altersweisheit
kann man unter Umständen lange warten. Wer es sich im-
mer hat gut gehen lassen, wird davon auch im Alter nicht
abrücken. Wer immer auf Gadgets und Gimmicks, Effekte
und Oberflächliches hereingefallen ist, ebenso wenig. An
Produkte, die Stil, Geist und Wertigkeit ausstrahlen, habe
ich erst recht den Anspruch, mit ihnen alt werden zu kön-
nen. Sie dürfen nicht plötzlich die Tür vor mir zuschlagen:
Mit uns ist es vorbei. Anders herum: Wir können den zu-
sätzlichen Haltegriff in der Dusche oder die Handtuch-Hal-
testange, die auch mir selbst Halt gibt, noch so chic in
Eine Treppe, deren Beleuchtung den Benutzer „begleitet“.
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und Nutzer: in Form der „Benutzeroberfläche“. Mir ging
das aber nicht weit genug. Es ging nur um Technik, nicht
um Soziales. Im Designstudium war das anders.
Klaus Vatter: Und was unterschied dann den Designer
vom Ingenieur?
Mathias Knigge: Der Designer akzeptiert die Komplexi-
tät des Menschen, muss nicht immer das ganze Knäuel
entwirren, er lässt auch mal den einen oder anderen Kno-
ten einfach ungelöst und geht lieber noch einmal um das
Knäuel herum, betrachtet es von allen Seiten und findet
dann auch unorthodoxe, experimentelle Zugänge. Das
hat mich gereizt. Ich arbeitete dann im Rahmen des Pro-
jektes SENTHA (Seniorengerechte Technik im Häuslichen
Alltag). Dort ging es schon explizit um Demografie, aber
zunächst mit einer ganz klaren Zielvorgabe: Man wollte
den perfekten Senioren-Kühlschrank, das Senioren-Auto
und das Senioren-Handy. Diese Produkte würden dann, so
die Prognose, bestimmt sehr schnell den Markt erobern.
Wir haben das damals, auch gestützt durch Sozialwissen-
schaftler und viele qualitative und quantitative Befragun-
gen, korrigieren können. So entstanden ein neues Leitbild
und Produkthypothesen, die wir an konkreten Objekten in
sehr designorientierten Umgebungen wie Möbelmessen
überprüfen konnten. Das waren wichtige Erfahrungen.
Klaus Vatter: Gibt es neben den Gebrauchsgegenständen,
die sie hier präsentieren – den leicht und sicher zu hand-
habenden Gießkannen, Kochtöpfen, Eierbechern oder der
Salatschleuder und dem Tablett für den Einhandbetrieb
etc. (siehe S. 4 und 6) – auch größere „Gesamtkonzepte“,
die Sie beraten und betreuen? Gut gefallen hat mir die
Treppenbeleuchtung, die mit Hilfe von Sensoren immer
genau den Bereich beleuchtet, in dem der Treppenbenut-
zer sich gerade bewegt. (siehe unten)
Mathias Knigge: Das interessante daran ist: Das junge
Unternehmen interactive furniture baut mit diesen intel-
ligenten Treppenbeleuchtungen nicht nur auf Sicherheit
und Komfort, sondern macht das Treppensteigen zusätz-
lich attraktiver und interessanter. Auf- uns Abstieg werden
nicht nur leichter und sicherer, sondern zugleich fast zu
einer kleinen „Inzenierung“. Auch das ist in Zeiten barrie-
refreier Planungskonzepte ein wichtiger Aspekt. Inklusion
sollte nicht dazu führen, dass sich nun etwa auch sport-
liche und gesunde Hausbewohner grundsätzlich in den
Fahrstuhl locken lassen. Als komplexere Projekte würde ich
aktuell vor allem zwei Beispiele nennen: „cinema connect“
und „giro vitale“.
Klaus Vatter: „Cinema Connect“ – das klingt nach einem
Kulturangebot, weniger nach Produktdesign.
Mathias Knigge: Tatsächlich geht es um mehr Teilhabe
an Kultur. Der Name ist übrigens nur ein erster Arbeitstitel,
es wird nicht nur um Kino gehen. Die Firma Sennheiser,
bekannt für Audio-Produkte wie Kopfhörer, Mikrofone,
aber auch Hörgeräte, reagiert damit auf eine interessan-
te Problemstellung: Viele Menschen mit eingeschränktem
Seh- oder Hörvermögen nehmen nicht oder nur selten in
Form von Kino-, Theater- oder Opernbesuchen am kul-
turellen Leben teil. Zum einen, weil die Bereitstellung
unterstützender Inhalte – z. B. Audiobeschreibungen, Un-
tertitel oder Übersetzungen in Zeichensprache – für die
Betreiber mit hohem technischen und personellen Auf-
wand verbunden ist und daher schlicht kaum stattfindet.
Zum anderen aber auch, weil die allzu sichtbare Nutzung
solcher spezieller Unterstützungsangebote oft zu stigma-
tisierenden und folglich unangenehmen Situationen für
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die Betroffenen führt. „Cinema Connect“ löst die Proble-
matik beider Seiten gleichermaßen elegant: Zusatzinhalte
werden während der Vorführung direkt an eine spezielle,
barrierefreie und kostenlose App auf dem Smartphone des
Besuchers gesendet. Der Kulturveranstalter stellt hierzu le-
diglich einen Streaming-Server zur Verfügung; das eigene,
gewohnte Endgerät bringt der Besucher hingegen selbst
in die Veranstaltung mit. Die App eröffnet die Möglich-
keit, Untertitel oder Übersetzungen auf dem (natürlich
während der Vorstellung abgedunkelten) Bildschirm zu
verfolgen oder über Kopfhörer zusätzliche Kommentare
oder eine verstärkte Audiospur anzuhören. Im Zeichen
des DESIGN FÜR ALLE ist eine solche App im Übrigen
auch für andere Zielgruppen interessant: So können für
Kino-Puristen problemlos Tonspuren in der Originalspra-
che bereitgestellt werden, und zukünftige Versionen der
App werden gar das Smartphone-Display in eine „zweite
Kinoleinwand“ – „Second Screen“ – verwandeln können,
die alles Wissenswerte zu dem einblendet, was sich gerade
auf der „ersten“ Leinwand abspielt.
Klaus Vatter: Und „Giro Vitale“? Damit kommen Sie ja
eindeutig italienisch daher, und zudem – „sportlich“?
Mathias Knigge: Ja, durchaus. Der mediterrane Klang des
Markennamens ist sicher nicht zufällig gewählt. Es geht,
kurz gesagt, um ein Angebot, sich auf ganz ungezwun-
gene Weise im Freien aufzuhalten und sich zu bewegen
– aber nicht verbissen und schwitzend, sondern eher
„mediterran“ gelassen und kommunikativ. Die Nachbarin
kann sich einfach mit ihren Einkäufen danebensetzen und
ein Schwätzchen halten. Fitness wird zum ganz selbstver-
ständlichen Begleiteffekt. Nach anfänglichen Verunglimp-
fungen als „Seniorenspielplatz“ ist Giro Vitale eine unserer
Erfolgsgeschichten. Denn hier senkt gutes Design wirklich
viele Schwellenängste auf den Nullpunkt – wenn es nicht
irgendwo zwischen zwei Stadtteilen neben eine Groß-
tankstelle platziert wird! Das aus qualitativ hochwertigen
Bewegungsgeräten bestehende Programm wird bereits an
über 100 Standorten in Deutschland und im europäischen
Ausland genutzt – und hat uns den Internationalen De-
sign-Preis des Landes Baden-Württemberg eingebracht.
Klaus Vatter: Herr Knigge, ich danke Ihnen für das Gespräch.
Mehr zum Thema im Web unter:
www.grauwert.info
Fotos: Bewegung fördern statt fordern – Balancebalken mit Haltestange, Armtrainer und
Radtrainer / RuheBank für das Beintraining.
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Aktivierender Hausbesuch.Lange gut leben.
Beweglichkeit erhalten – Stürze verhindern.
Regelmäßige und gezielte Bewegungsübungenzu Hause leisten einen wertvollen Beitrag, umAltersprozesse zu verzögern und die Lebens-qualität im Alltag zu erhalten. Und ein Schwätz-chen gehört natürlich auch dazu.
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Ihre Ansprechpartnerin im DRK-Kreisverband Mannheim: Miriam Moos, Tel. 06201 – 48937 14E-mail: [email protected]
AH_A4_4c_Mannheim_q8_A4_4c_im Anschnitt 26.05.14 14:19 Seite 1
Hausnotruf.Lange gut leben.Infos bundesweit und kostenfrei:
08000 365 000
„Da sind wir uns einig!“Meine Mutter will ihre Unabhängigkeit,ich will ihre Sicherheit.
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Demografie, Design und Selbstgestaltung.
Bei aller Liebe zum demografiefesten Design: Der Begriff
des Designs hat neben dem Flair des Kreativen etwas In-
flationäres und Geschäftstüchtiges an sich. Warum klingt
„Selbst-Gestaltung“ eigentlich so viel sympathischer als
„Selbst-Design“? Schwingt dabei bereits das ungute Gefühl
mit, dass wir alle im Getöse der Marketing-Spektakel „in
eigener Sache“ dazu gezwungen sein könnten, die Unan-
tastbarkeit unserer Würde gegenüber dem Prinzip der (ei-
genen) Marktfähigkeit verteidigen zu müssen?
Man wird zum Bild, das man von sich macht. – Ein solcher
Satz, ursprünglich auf visuelle Erscheinungsbilder von Un-
ternehmen gemünzt, mahnt heute zum lifestyle. Vor über
30 Jahren diagnostizierte der französische Philosoph und
Historiker Michel Foucault: „Der moderne Mensch wird
zum Unternehmer seines eigenen Lebens.“ Dies bezog er
ausdrücklich auch auf das Körperliche: Ist unsere eigene äu-
ßere Gestalt zu einer Art sozialer Währung geworden, dann
wird die Selbst-Gestaltung als Arbeit am Leib zu einer lebens-
langen Pflichtaufgabe. Unverdächtige und angenehme
Eigenschaften und Ziele wie die Erhaltung von Schönheit
und Vitalität stehen, sobald sie uns als Norm entgegentre-
ten, der unbefangenen Vorfreude auf kommende Lebens-
jahrzehnte schnell im Wege. Die Sache endet in Überlis-
tungs- und Verhinderungsstrategien gegen das Alter(n). Der
umfangreiche, daher vielleicht zu selten gelesene Sechste
Altenbericht der Bundesregierung (2010) mit dem Schwer-
punkt „Altersbilder in der Gesellschaft“ gab sich in dieser
Frage erstaunlich unverbrämt: „Das 20. Jahrhundert hat
zahlreiche Möglichkeiten dafür entwickelt, dass Junge wie
Ältere dem neuen Körperideal entsprechen können. Die so
genannte Schönheitschirurgie findet heute trotz zunehmen-
der Akzeptanz die geringste Anwendung. In weitaus höhe-
rem Maße setzen die Menschen auf Sport und Gymnastik,
während Mode und Maske eindeutig dominieren.“
Nun aber Vorsicht! – Nähern wir uns gerade selbst dem
Design-Begriff in allzu oberflächlicher Weise? Muss dieser
womöglich einfach nur weiterhin vor dem Missverständnis
geschützt werden, für schmucke und schmückende Fas-
saden und Oberflächen zuständig zu sein? Otl Eicher, der
Schöpfer der Sport-Piktogramme der Olympiade 1972 in
München und Mitbegünder der Hochschule für Gestaltung
in Ulm, hat die holzschnittartige Unterschätzung der Rolle
des Designers einmal ganz lapidar beschrieben: „Wenn ein
Unternehmen ein Produkt entwickelt hat oder eine Serviceleis-
tung anbieten kann, wird zu guter letzt ein Designer hinzu-
gezogen, die Sache zu verschönern.“ Natürlich sieht sich die
Designer-Zunft von diesem wenig schmeichelnden Status
des Warendekorateurs und bloßen Erfüllungsgehilfen längst
emanzipiert. Ist doch das Design gar für „das Allerheiligste“
zuständig: für Identität. Und dabei geht es nicht lediglich
um Menschen, sondern um „höhere Wesen“ des Mark-
tes: um Marken. Das Design ist in dieser Funktion selbst
zu einer Sparte der „Kreativwirtschaft“ geworden – nicht
unähnlich der Kunst, die sich ebenfalls als „Markt“ oder
„Betrieb“ definiert sieht. Den Marken stehen allerdings –
„DU BIST MIR VIELLEICHT NE MARKE…“
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glücklicherweise – weiterhin beide Wege zum Scheitern
offen: ihre Identität unzureichend durch gutes Design
sichtbar zu machen, oder, Identität durch Design ersetzen
zu wollen. Aktuelle Kongresse über das vermeintlich ange-
messene Theoriedesign für eine nachhaltige Zukunft stim-
men allerdings nachdenklich: Neigt das kritische Denken
bereits höchstselbst dazu, sich auf Oberflächenkosmetik
einzulassen? Böser und persönlicher gefragt: Geht es auch
hier um Karrieredesign statt um Selbst-Gestaltung? Sollten
wir in zehn Jahren nicht mehr nur über Kreativwirtschaft
und Kulturwirtschaft, sondern genauso selbstverständlich
auch über „Politikwirtschaft“, „Religionswirtschaft“ oder,
warum nicht, „Philosophiewirtschaft“ reden, wird uns das
wahrscheinlich auch nicht mehr auffallen…
Unübersehbar erleben Demografiethemen eine mediale
Konjunktur. Alle Generationen reden plötzlich über das Al-
ter. Allerdings gruppieren sich die Botschaften immer wie-
der gern zu einem populären Dreiklang individueller wie
kollektiver Angst- und Frustszenarien: Demenz – Pflege-
notstand – Fitnessappelle. Angesichts der recht einseitigen
Programmierung unserer Altersbilder auf körperliche, wirt-
schaftliche und gesundheitsdisziplinarische Belastungen
und Überforderungen tun sich die „gewonnenen Jahre“
merkwürdig schwer damit, als das zu erscheinen, was sie
ja unzweifelbar sind: positive Zukunftsperspektiven. Ganz
im Gegenteil. Geht es nach der in populären Talkshows
vorherrschenden Bilanzanalyse des Alters, erscheint die re-
ale Steigerung der Zahl der Lebensjahre, also das Mehr an
Leben selbst, paradoxerweise eher auf der Soll- als auf der
Haben-Seite. Obwohl das Alter lebenslang keinerlei Kon-
kurrenz – na ja: außer den Tod – zu fürchten hat, liegt es
nicht hoch im Kurs. Womit bewiesen wäre, dass wir hier
endgültig auch an die Grenzen eines alles ökonomisieren-
den Jargons stoßen. Bleischwer scheint demografisch ge-
färbte Krisenstimmung über der deutschen Öffentlichkeit
zu liegen. Aber es gibt sie immer noch: die Freiheit zur
alter(n)sfrohen, aber resistenten Gegenrede.
Alternde Menschen und schrumpfende Städte als Zukunftschancen. Zu Besuch bei Roland Günter.
Wir besuchen Professor Dr. Roland Günter in Oberhau-
sen-Eisenheim. Er wohnt hier mit seiner Ehefrau Janne, einer
Pionierin der mündlich überlieferten Geschichtschreibung
(Oral History) in Deutschland. Sie bewohnen ein typisches
Haus der historischen Arbeitersiedlung, an deren Rettung,
Erhaltung und Belebung sie beide seit Anfang der 70er Jah-
re maßgeblichen Anteil hatten. 1974 sind sie mit der gan-
zen Familie hier eingezogen.
Der emeritierte Hochschullehrer, Kunst- und Kulturhistori-
ker, Denkmalpfleger und Schriftsteller Roland Günter hat
nicht nur als amtierender Vorsitzender des Deutschen Werk-
bunds Nordrhein-Westfalen die Wege und Irrwege, die „gro-
ßen Würfe“ und die Katastrophen im Bereich von Architek-
tur und Planung, Design und Stadt-Kultur über Jahrzehnte
kritisch begleitet – auch mit Gegenvorschlägen. Sein mehr-
fach aufgelegtes Buch „Im Tal der Könige. Ein Handbuch
für Reisen an Emscher, Rhein und Ruhr“ gilt nicht nur in der
Region als Bestseller und Klassiker. Als Chronist des Werk-
bunds, Kolumnist und Autor von Reisebüchern und Fach-
publikationen, darüberhinaus als streitbarer Verfasser recht
expliziter „Anklageschriften“ – vor allem gegen Auswüchse
technokratischer Stadtzerstörung – und unermüdlicher, vi-
sionärer Gegenvorschläge hat er dabei immer wieder auch
provoziert, oder wie man hier sagt, „angeeckt“: Er hat also
Dinge und Köpfe in Bewegung gesetzt.
Das manifestiert sich endgültig in seiner Rolle als Initiator
und Berater von rund 140 Bürgerinitiativen sowie unzäh-
ligen Denkmalschutz-, Stadtentwicklungs- und Kultur-
projekten. Im Schulterschluss mit Weggefährten wie dem
damaligen Landesminister Christoph Zöpel und dem
Geschäftsführer der Internationalen Bauausstellung Em-
scher Park (1989-1999), Karl Ganser, hat er den Begriff
der Industriekultur geprägt. Dieser Begriff hat einer Region
mit über fünf Millionen Einwohnern als positives Marken-
zeichen nicht erst seit dem Kulturhauptstadtjahr 2010 zu
unverwechselbaren Szenerien, Perspektiven und letztlich
zu einem neuen Selbstbewusstsein verholfen. Kurz gesagt:
Mit den sowohl schöpferischen als auch zerstörerischen
Reibungsprozessen zwischen Altem und Neuem ist Roland
Günter bestens vertraut.
Wahrscheinlich liegt genau hierin die Ursache dafür, dass
dem engagierten Gelehrten auch an seinen zwei weiteren
Wohnsitzen – im toskanischen Anghiari, wo er seit 2006
Ehrenbürger ist, und in Amsterdam – die aktuellen Versuche
eines Aufwiegelns der Generationen gegeneinander völlig
© x
flick
rx /
flick
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Foto links: Roland Günter im Garten seiner Bibliothek, dem „Tonino-Guerra-Park“
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zuwider ist: „Das ist eine dumme Mode. Je mehr Unsinn
dazu in den Medien verbreitet wird, desto weiter entfernt
man sich von der Wahrheit. Wer die Bevölkerungsprog-
nosen aus den 60er und 70er Jahren kennt, weiß, was die
heute vielzitierten Langzeitvorhersagen sind: reine Kaffee-
satzleserei. Die demografischen Horrorszenarien werden
schlicht herbeigeredet. Ich frage mich als Historiker: Haben
das andere Zeiten auch so gemacht?“
Für Roland Günter ist die Region an Ruhr und Emscher ein
interessantes Anschauungsbeispiel. „Nehmen wir einmal
Nordrhein-Westfalen in den letzten 150 Jahren: Wir haben
hier eine riesige Zuwanderung gehabt. Die Wellen waren
gigantisch. Wir hatten damit auch jede Menge Probleme.
Die Lösungen haben wir nun aber vergessen, weil die Sa-
che anscheinend doch ganz gut ausgegangen ist. Eigent-
lich müssten wir hier das, was man früher Überbevölkerung
genannt hat, ja in besonderem Maße vorfinden. Da stellt
sich die Frage: Warum erscheint es eigentlich als ein Prob-
lem, wenn es nun wieder ein paar weniger werden?“ – Es
wäre wahrscheinlich tatsächlich keins. Aber es ist politisch
gewollt, dass das demografische Schrumpfen der Städte au-
tomatisch ein finanzielles nach sich zieht. Die Höhe der Lan-
deszuweisungen und Hilfen aus dem kommunalen Finanz-
ausgleich wird schlicht nach Einwohnerzahl berechnet. Da
ist es kein Wunder, dass demografische Daten überbewertet
werden – was vielerorts in einen unsinnigen Wettlauf zum
Beispiel bei der Ausweisung neuer Baugebiete ausartet. Eine
Ausrichtung der Finanzflüsse nach dem tatsächlichen, auch
qualitativen Bedarf bei den kommunalen Aufgaben wäre si-
cher sinnvoller. 120.000 zufriedene Einwohner stehen jeder
Stadt besser zu Gesicht als 150.000 unzufriedene. Ohnehin
war „Bevölkerungspolitik“ immer eher eine Domäne tota-
litärer Systeme – und ist in Deutschland durch die NS-Ver-
gangenheit endgültig und vollständig kompromittiert.
Bereits 2005 hat Roland Günter gemeinsam mit dem Öko-
nomen Stephan A. Vogelskamp unter dem Buchtitel „Das
süße Leben“ einen „neuen Blick auf das Alter und die Chan-
cen schrumpfender Städte“ geworfen. Das Fazit lautete da-
mals: „Schrumpfen und Altern bieten ganz viele Chancen. Es
kommt jetzt darauf an, etwas daraus zu machen. Die Stadt
gehört auch den Menschen, die darin alt sind.“
Knapp zehn Jahre später hat er eine Reihe entgegengesetz-
ter Erfahrungen gemacht, die ihn kein Blatt vor den Mund
nehmen lassen: „Oft ungewollt haben Armutsberichte und
Sozialraumanalysen mit ihren Zahlen zu Überalterung, Ar-
mut und Bildungsferne auch den fatalen Effekt, ohnehin
stigmatisierte Quartiere endgültig den Medien, sozial und
kulturell ,weniger sensiblen‘ Investoren und beflissenen Pla-
nern zum Fraß vorzuwerfen.“
„Zum Vorwurf meines Alters verweigere ich die Aussage.“
Vor einigen Wochen hatte Roland Günter Besuch von ei-
nem Vertreter seines Telefon- und Internetanbieters. Als
erstes wurde er nach seinem Alter gefragt. „Das war keine
gute Idee“, schmunzelt er. „Noch schlechter war die Reak-
tion auf meine Verweigerung einer Altersangabe: ,Ich sei
ja wohl von vorgestern‘. Ich habe dem jungen Mann ganz
freundlich geantwortet, er möge doch bitte seinem Chef
ausrichten: Ich gebe Ihnen gern die anderen Daten meines
Passes. Damit können Sie mich viel besser identifizieren als
ausgerechnet anhand meines Geburtsdatums. Und wenn
Sie darauf bestehen, kann ich ja eines erfinden – damit Ihre
Akten wieder stimmen.“ Die bornierte Vorstellung, nichts
mache uns älter als ein lang zurückliegendes Geburtsdatum,
hat im Hause Günter keine Chance: „Ich bin jetzt soundso
alt – was sollen diese Alterszahlen in Geständnisform, diese
Überbewertungen von Jubiläen? Es gibt gute Jubiläen, aber
die eigenen Geburtstage gehören nicht dazu. Ein 250jäh-
riges Jubiläum ist ein Anlass zum Nachdenken, aber mei-
nen eigenen Geburtstag vergesse ich doch am liebsten. Da
wird sonst eine Vergleichbarkeit erzwungen, die immer auf
Stereotype hinausläuft. ,Vergreisen‘ ist im Deutschen ein
Schimpfwort. Wir verwenden freigiebig und scheinobjektiv
Schimpfworte und behaupten damit eine Wahrheit. Übri-
gens: Es soll Menschen geben, die mit 30 schon vergreist
sind – sogar in der Zukunftsbranche Telekommunikation.“
Ein staatlich und medial verordnetes schlechtes Gewissen
älterer Menschen als Kostenverursacher und Leistungsemp-
fänger ist dem angriffslustigen Professor ein Greuel. Seine
Altersphilosophie hebt derartig repressive Denkmuster be-
wusst und gründlich aus den Angeln: „Natürlich kannst du
ein volles Leben erst haben, wenn du von der Arbeit freige-
stellt bist. Das ist etwas Herrliches, Phantastisches. Wenn je-
mand arbeiten will, sollte er dies selbstverständlich auch tun
können. Auch wenn niemand so viel einzahlen kann, dass er
dann noch dreißig, vierzig Jahre davon leben könnte. Aber
es gibt immer mehr Produktivität, Automatisierung, Reich-
tum der Gesellschaft. Eine steuerfinanzierte Bezuschussung
der Rente ist daher nur konsequent. Ein wirtschaftlich er-
folgreicher, demokratisch verfasster Kulturstaat darf sich kei-
ne Armut leisten, schon gar keine Kinder- und Altersarmut.
Man muss hier zu viel radikaleren Ansichten, Standpunkten
und Haltungen kommen. Und nicht ständig Ansprüche in
Frage stellen – das heißt: Millionen von Älterwerdenden mit
dramatisierenden volkswirtschaftlichen Modellrechnungen
unter Druck setzen. Das ist – und macht doch nur krank.“
13
Die zauberhaftesten Dinge entstehen aus genauem Nachdenken über ihren Nutzen.
„Ich bin sicher keiner, dem man nachsagt, dass er nur im
Nutzen hängenbleibt.“ Roland Günter hat vor allem in Ita-
lien bei seinem Freund Tonino Guerra (siehe oben) die po-
etischen Qualitäten der alltäglichen Dinge kennengelernt –
auch in ihrem ironischen Spiel mit der Befreiung von ihrem
Nutzen. „Ich würde aber jedem, der mir mit Kreativität und
Gestaltung kommt, erst einmal raten, sich sehr genau an-
zuschauen, was Nutzen ist. Dann kann man darüber nach-
denken, ob man den Nutzen verbessern, Dinge anfassbarer
machen kann. Das ist auch ein ästhetisches Phänomen. Wir
haben uns angewöhnt, Ästhetik auf das zu beziehen, was
man nicht im banalen, alltäglichen Rahmen erwartet. Aber
eine Tasse beziehe ich direkt auf meine Körperlichkeit. Wie
geht die Tasse mit sensibelsten Körperteilen um: meinen
Lippen? Aus der Tasse trinke ich Kaffee oder Tee, Wasser
trinkt man nicht aus einer Tasse. Es gibt viele Dimensio-
nen des Nutzens. Erst
wenn ich all diese ver-
schiedenen Dinge zu-
sammendenke, kom-
me ich am Ende zur
Ästhetik.“
Nicht zufällig hat der
Werkbund-Mann ein
Beispiel aus der Bau-
haus-Tradition vor Au-
gen bzw. auf den Lip-
pen: „Trinkgläser von
Wilhelm Wagenfeld
lassen sofort den Wein
assoziieren – und dann schmecken. Deshalb sind diese Glä-
ser so gut: Weil dahinter komplexes Denken steht, das sich
dann aber wieder auf das Wesentliche bezieht.“ Roland
Günter schaut gern auf alltägliche Details. „Wie hell ist es an
einer Bushaltestelle, kann ich den Fahrplan entziffern? Wie
gut signalisieren mir die Leuchttafeln am Bus den Zielort?“
Auch wo barrierefreie Zugänge zum neuen Standard wer-
den, hat Roland Günter etwas gegen ein einfaches „Ent-
weder-Oder“. Er plädiert für ein „Und…und“: „Ich kämpfe
nicht nur für Fahrstühle und Rampen, sondern auch für
den Erhalt von Treppen. Die Abschaffung der Treppen
wäre – nicht nur aus Gründen der Sicherheit im Notfall –
ein Irrsinn.“ (siehe auch S. 4 oben) Seine Argumente sind
nicht historisch oder theoretisch, sondern pragmatisch und
ganz persönlich: „Ich brauche die Treppe jeden Morgen,
um meinen Kreislauf in Gang zu bringen, abends gehe ich
noch ein paar Mal rauf und runter. In unserer Amsterdamer
Wohnung haben wir eine Teppe, die steil ist wie eine Hüh-
nerleiter. Das ist eine Herausforderung. Aber diese Treppe
bin ich noch nie gedankenlos heruntergegangen. Sie for-
dert Respekt und Konzentration. Auch darin liegt eine Qua-
lität. Gefährlicher sind kleine, versteckte Schwellen und
Kanten, die zur Unterschätzung oder Nichtbeachtung ein-
laden. In gewisser Weise ist dort die Sturzgefahr größer.“
Auch in einem weiteren Punkt harmoniert er mit den Über-
legungen von Mathias Knigge (S. 4–8) : „Ich muss nicht
den besonderen Wert eines Produkts dadurch nachweisen,
dass es altersgerecht ist, sondern dass es allen nutzt.“ –
Und wie sollten Designer und nachhaltig denkende Anbie-
ter im Jahre 2014 auf alte und junge Menschen zugehen?
Roland Günter antwortet, indem er Fragen stellt: „Was ist
der Reichtum dieser Menschen? Wie kann man ihnen ent-
gegenkommen? Ist man bereit, dabei auch ihre Unperfekt-
heit und Störungen, ihren Eigensinn und ihre Vorbehalte
zu berücksichtigen – und zu mögen? Dann hat man gewis-
se Chancen, ihnen etwas Nützliches anzubieten. Etwas, das
sie zugleich als schön und vernünftig empfinden – und das
sie mit Vergnügen zu einem Teil ihres Lebens machen.“
Mehr von und über Roland Günter:
www.roland-guenter-werke.de
www.deutscher-werkbund.de
Tonino Guerra. Mitten in Zeiten des Aufeinander-treffens länger lebender Menschen und kurzlebiger
Produkte wurde der 2012 verstorbene preisgekrönte Schriftsteller und Drehbuchautor für Roland Günter
zu einer nachhaltigen Inspirationsquelle: „Tonino hat über Jahrzehnte mit Regie-Legenden wie Fellini und Antonioni, aber auch mit den Taviani-Brüdern, Rosi, Tarkovskij und Arghelopoulos zusammengearbeitet.
1996 ist es mir gelungen, ihn nach Eisenheim zu ho-len.“ Mit dem Dichter kam dessen – in einem verlasse-nen Flusstal zwischen dem Appenin und Rimini zuerst realisierte – Idee „Poetischer Orte“ nach Deutschland:
von dem (hierdurch neu entdeckten) Flüsschen Ma-recchia an die (gerade neu erfundene) Emscher.
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WENN DER TRAUMURLAUB ZUM TRAUMA WIRD.
Die Welt ist kleiner geworden. Die Risiken nicht. Reisende
bleiben verletzliche Wesen, wo immer sie auch unterwegs
sind. Man kann Urlaub vom Alltagsstress machen, aber
nicht von der eigenen, vorbelasteten Gesundheit. Gegen
plötzliche Tabubrüche der Natur und der Umwelt, des Zu-
falls und des eigenen Körpers gibt es wohl kein verlässli-
ches Rezept – selbst für sportliche, üppig privatversicherte
Multimillionäre nicht.
Tourismusunternehmen tun ihr Bestes. Aber sie können
nur relative Sicherheit bieten: innerhalb von geplanten
Strukturen, Angeboten und Szenarien, was dann oft auf
Kosten authentischer Erlebnisse und Erfahrungen des Rei-
senden mit dem Land geht, in dem er zu Gast ist.
Ein akuter, schwerer Notfall kann die heilste All-Inclusive-
Welt am Urlaubsort vollständig aus den Angeln heben.
Ob Unfall, Schlaganfall, Naturkatastrophen, kriminelle
Übergriffe oder eine Tropenkrankheit – stößt uns etwas
zu, gibt es nur einen Gedanken: So schnell wie möglich
nach Hause – und dann sofort in die besten Hände! Genau
dies übernehmen aber die gesetzlichen Krankenkassen in
Deutschland nicht. Eine Rückholung auf eigene Kosten
kann das erlittene Unglück vollends zum Fiasko machen.
Bei fernen Reisezielen und komplexen Krankheitsbildern
sind 50.000 Euro und mehr für einen solchen Rücktrans-
port eine realistische Größenordnung.
Der DRK Flugdienst. Das Angebot.Der Flugdienst des DRK hat vor diesem Hintergrund ein
Angebot entwickelt, das weit darüber hinausgeht, Not lei-
denden Touristen mittels professioneller Logistik Flügel zu
verleihen. Der eigentliche Patienten-Rücktransport ist nur
eine Komponente im Rahmen einer vielschichtigen Auf-
gabenstellung. Beginnend mit der ersten Kontaktaufnah-
me wird ein Prozess in Gang gesetzt, der nicht weniger
umfasst als ein hoch qualifiziertes, ganz auf den Einzel-
fall zugeschnittenes Krisenmanagement – unter Nutzung
weltweiter Netzwerke. Der Clou: In vielen DRK-Verbänden
ist dieser Service in Form einer Versicherung im Mitglieds-
beitrag enthalten. So wird die Rotkreuz-Mitgliedschaft in
Zeiten weltweiter Mobilität zu einem echten Sicherheits-
vorteil. Und das nicht nur für Touristen, sondern für Men-
schen jeden Alters, die viel unterwegs sind: die zeitweilig
im Ausland arbeiten, im Alter den Winter im Süden ver-
bringen – oder einfach die Welt für sich entdecken wollen.
Trotz aller Risiken. Denn eines steht schließlich fest: „Zu
Hause zu bleiben ist auch keine Lösung.“
„Beam mich ’rauf, Scotty“ funktioniert nicht.
Science-Fiction-Logistik à la „Star Trek“ ist natürlich auch
unter dem weltweit für Rettung stehenden Zeichen des
Roten Kreuzes nicht abrufbar. GUT LEBEN wollte einmal
wissen, was unter dem Zeichen der Organisation, die wie
keine andere in Sachen Patientenrückholung global ver-
netzt agiert, heute technisch und menschlich möglich ist.
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Volkmar Schultz-Igast ist Einsatzstellenleiter in der Zen-
trale des DRK Flugdienstes. Der in Lüneburg geborene und in
Bayern aufgewachsene Rotkreuzler aus Überzeugung ist
nach diversen internationalen Sanitätseinsätzen in Kriegs-
und Katastrophengebieten über das Bayerische Rote Kreuz
zum Flugdienst gekommen. GUT LEBEN-Chefredakteur Klaus
Vatter besuchte ihn an seiner Wirkungsstätte, in der
Haupt-Einsatzzentrale in Düsseldorf.
GUT LEBEN: Was ist aus Ihrer Sicht das Besondere an Ihrer
Aufgabe? Wodurch unterscheidet sich Ihr Job nicht nur von
anderen Berufsfeldern, sondern auch innerhalb des DRK?
Volkmar Schultz-Igast: Durch die Herausforderung, dass
jeder Tag anders ist. Und dass man am Ende des Tages
wirklich sagen kann: Wir haben Menschen helfen kön-
nen. Das wird nie zur Routine. Dazu gehört leider auch,
dass nicht immer alles zur vollsten Zufriedenheit unserer
Kunden – und als solche betrachten wir unsere Patientin-
nen und Patienten – ausgehen kann. In jedem einzelnen
Fall gibt es neben dem Gesundheitszustand des Patien-
ten viele weitere Komponenten, die wir nicht beeinflus-
sen können: die Infrastruktur des Landes, das dortige Ge-
sundheitssystem, der behandelnde Arzt, seine fachlichen
Voraussetzungen und technischen Möglichkeiten, nicht
zuletzt seine Sprache. Beim Patienten kommt die subjekti-
ve Befindlichkeit hinzu: Notfallsituationen sind immer Aus-
nahmezustände. Jeder Patient verhält sich anders, manch-
mal auch überraschend und irrational. Schon durch einen
abgerissenen Fingernagel, der sich entzündet hat, kann
der exotische Urlaubsort subjektiv plötzlich insgesamt als
bedrohlich empfunden werden. Das meine ich gar nicht
despektierlich. Aber der Rotkreuz-Grundgedanke, dass al-
lein das Maß der individuellen Not die Prioritäten setzt,
gilt natürlich auch bei uns. Speziell wenn am Urlaubsort
keine adäquate Behandlung einer schweren Erkrankung
erfolgen kann und eine langwierige Diagnostik und The-
rapie erforderlich ist, stehen der Rücktransport und die
Behandlung am Heimatort immer an erster Stelle. Gleich-
zeitig aber geht es um viele Details im Umfeld: Wie kön-
nen mitgereiste Angehörige, zum Beispiel Kinder, betreut
werden? Und wie kommen alle, die sich zu Hause Sorgen
machen, überhaupt an Informationen über den Gesund-
heitszustand Ihrer Lieben, die in Südafrika, Vietnam oder
Mallorca einen Unfall hatten? Für uns ist es immer wich-
tig, allen Betroffenen zu vermitteln, dass sie nicht alleine
sind. Wir schalten, wenn möglich, deutschsprachige Ärz-
te ein. Wir bleiben hartnäckig, um alle Informationen zu
bekommen. Dann leiten wir die entsprechenden Maß-
nahmen ein. Was uns in diesem Ablauf komplett von den
Leitstellen unserer Rettungsdienste unterscheidet, ist ganz
einfach: Wir betreuen und begleiten Patienten über Tage,
Wochen oder auch Monate – und nicht nur während des
Transports.
GUT LEBEN: Wenn Sie einmal zurückdenken: Welche be-
sonderen Fälle kommen Ihnen dann zuerst in den Sinn?
Volkmar Schultz-Igast: Nun, was wirklich haften bleibt,
sind Fälle, die uns über längere Zeit beschäftigt haben,
was dann eine ganz besondere Intensität im direkten Um-
gang mit Patienten, Angehörigen und anderen Beteilig-
ten mit sich brachte. Es geht ja um Menschenleben, um
Grenzsituationen und Gratwanderungen. Ich denke da an
einen Patienten, der in einer Klinik in den USA lag. Of-
fenbar ausgelöst durch eine Hirnblutung, zeigte er die
Symptome eines Locked-in-Syndroms. Er wirkte äußerlich
komatös, reagierte nicht einmal mit Augenbewegungen,
aber seine Hirnströme signalisierten, dass er etwas wahr-
nahm. Seine Tochter – 21 Jahre und Halbwaise – ist sofort
„NIEMAND WIRD ALLEIN GELASSEN.“EIN BLICK HINTER DIE KULISSEN DES DRK FLUGDIENSTES.
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zu ihm geflogen. Zunächst hatten wir nur Telefonkontakt,
haben dann aber einen Mitarbeiter dorthin geschickt. Wir
konnten sogar eine Familie aus dem Bekanntenkreis des
Vaters ausfindig machen, die sich vor Ort in den USA um
die Tochter gekümmert hat. Es war eine große Heraus-
forderung, diese Situation menschlich zu begleiten. Was
sage ich jemandem am Telefon, über den Atlantik hinweg,
wenn es darum geht, unter solchen Umständen die Gerä-
te auf der Intensivstation abzuschalten? Unsere DRK-Ärzte
haben den Fall intensiv begleitet – aber wir dürfen auf die-
ser Ebene nicht intervenieren. Deutsche Ärzte werden in
den USA nicht anerkannt. Als dann die Tochter schließlich
eingewilligt hatte, die Geräte abzuschalten, passierte ge-
nau das, womit niemand in der Ärzteschaft der Klinik ge-
rechnet hatte: Der Vater atmete einfach weiter! Nachdem
sich sein Zustand stabil hielt, haben wir ihn dann in einer
Lufthansa-Maschine mit PTC (Patient Transport Compart-
ment) transportieren können. Das ist eine Art Intensivme-
dizin-Zelle, für die einige Sitze in einem Interkontinental-Jet
kurzfristig ausgebaut werden. Ein PTC bietet Platz für eine
Patientenliege, zwei Sitze für den behandelnden Arzt und
eine Lufthansa Begleitperson sowie intensivmedizinisches
Equipment, Verbrauchsmaterial und Medikamente. Die
Lufthansa bietet als einzige Airline das PTC ausschließlich
auf Linienflügen an, wodurch Zwischenlandungen entfal-
len. Wir brachten den Patienten ins Heidelberger Uni-Kli-
nikum. Er hat überlebt. Und ist dann tatsächsich auch aus
dem Koma erwacht. Nach unseren Informationen ging es
ihm zuletzt immer besser.
GUT LEBEN: Und wie sieht ein eher „typisches“ Ein-
satz-Szenario aus – vielleicht aus der Sicht eines Touristen?
Volkmar Schultz-Igast: Was wir oft erleben: Menschen,
die sich vor einer Stunde noch in ihrer behüteten Reise-
gruppe in einer perfekt organisierten, deutschsprachigen
Hotelanlage befanden, sind plötzlich in einer anderen
Welt. Stellen Sie sich vor, Sie fahren zu einem Tauchur-
laub nach Hurghada am Roten Meer. Alles läuft perfekt.
Dann aber rutschen Sie am Swimming-Pool aus, brechen
sich den Arm. Sie landen im örtlichen Militärkrankenhaus,
unter ägyptischen Patienten und Ärzten, von denen viel-
leicht nur zwei Englisch sprechen. Die Welt bricht dann
zusammen. Dort helfen wir zunächst dadurch, dass wir
unserem Mitglied und Kunden das Gefühl geben: Mein
Rotes Kreuz, das sich mit solchen Situationen auskennt,
ist für mich da. Experten, die zwar nicht zaubern können,
aber sich darum kümmern, dass ich versorgt werde, eine
vernünftige Diagnostik bekomme – und dann, wenn sie
wissen, was mit mir los ist, die weiteren Schritte einleiten.
GUT LEBEN: Welchen Anteil an Ihrer Arbeit hat die Be-
treuung von Angehörigen?
Volkmar Schultz-Igast: Das ist ein wichtiger Aspekt. Bei
neunzig Prozent der Fälle nehmen uns die Angehörigen
mehr in Anspruch als der Patient selbst. Viele haben ein
hohes Anspruchsdenken: „Meinem Partner muss sofort
geholfen werden…“ Erwartungen sind oft unrealistisch.
Viele glauben, wir landen innerhalb kürzester Zeit auf dem
nächstgelegenen Flughafen und bringen sie sofort nach
Hause. Meist sind es Angehörige, die drängen – oder auch
drohen, mit Anwälten oder der Presse. Der Patient selbst
ist dagegen meistens zufrieden, sobald er sich medizinisch
gut versorgt fühlt. Auch wenn die Voraussetzungen in je-
dem Land anders sind.
GUT LEBEN: Einige der Lieblingsreiseländer der Deut-
schen sind Verlierer der Eurokrise. Wie macht sich das in
der medizinischen Versorgung bemerkbar?
Volkmar Schultz-Igast: Nun, einerseits haben wir in den
Mittelmeerländern, speziell auf den Balearen und den
Kanarischen Inseln, viele deutschsprachige Ärzte, die als
unsere lokalen Partner fungieren. Es gibt viele deutsch-
sprachige Ärztehäuser, wo den Patienten auch schon bei
Kleinigkeiten geholfen wird. Andererseits erleben wir lei-
der in Südeuropa dramatische Verschlechterungen durch
die Wirtschaftskrise. Dort gibt es zum Teil massive Proble-
me in der medizinischen Infrastruktur. Ein Beispiel: Sie sind
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auf einer griechischen Insel, ihnen passiert etwas, und sie
müssen ins Krankenhaus. Dort stellen Sie fest, das es nichts
zu essen gibt, da die Küche geschlossen wurde. Im ersten
Schritt finden wir dann oft eine Lösung mit der Reiselei-
tung und der Hotelküche. Selbst Medikamente müssen
Angehörige in der Apotheke kaufen und ins Krankenhaus
bringen. Das Krankenhaus bekommt keine Medikamente
mehr, denn das staatliche Gesundheitssystem zahlt nicht.
Um dies aus Sicht eines Rotkreuzlers, der immer das Maß
der Not vor Ort im Blick haben muss, einmal zu sagen: Lei-
der ist es so, dass die Milliarden aus den EU-Rettungsfonds
nicht für die Durchschnittsbürger in den betroffenen Kri-
senländern, die ja auch krank werden, bestimmt sind.
In Zeiten, in denen die Kollegen vom Spanischen Roten
Kreuz massiv Lebensmittel aus Notprogrammen des IKRK
(Internationales Komitee vom Roten Kreuz) an die eigene
Bevölkerung ausgeben und das Griechische Rote Kreuz
seine Rechnungen für Blutkonserven nicht bezahlen kann,
liegt es nicht im Sinne des DRK-Flugdienstes, nun auch
noch deutsche Touristen – zumal DRK-Mitglieder – zu ver-
schrecken. Besorgniserregend ist übrigens weltweit, dass
Patienten unter dem immensen wirtschaftlichen Druck auf
die Krankenhäuser endgültig zum Wirtschaftsfaktor wer-
den. Bei Privatpatienten bekommen wir oft nur schlep-
pend Auskünfte. Jeder weitere Tag ist für die notleidende
Klinik ein Segen. Dies ist unseren Kunden, die nach Hause
wollen, natürlich schwer zu vermitteln.
GUT LEBEN: Steht der Wunsch, nach Hause zu kommen,
bei Ihren Kunden immer an erster Stelle?
Volkmar Schultz-Igast: Nein, es gibt auch Gründe, gar
nicht sofort nach Deutschland zurück zu wollen. Viele älte-
re Mitbürger – wir nennen Sie gern Zugvögel – verbringen
als Rentner die Zeit von November bis April im Süden,
gern vor allem am Mittelmeer. Viele Hotels haben sich auf
diese Klientel spezialisiert – und stellen zum Winter sogar
Pflegepersonal ein. Oft hören wir, dort sei die Verpflegung
besonders gut, besser als im Pflegeheim. So macht sich
die demografische Entwicklung in Deutschland auf den
Kanaren und Balearen bemerkbar: Im Sommer kommt die
Jugend zum Feiern – im Winter die Älteren. Übrigens neh-
men unsere Zugvögel oft gern drei Wochen Krankenhaus
vor Ort in Kauf, um danach wieder in die gewohnte Ho-
tel-Umgebung und den gewachsenen winterlichen Freun-
deskreis zurückzukehren.
GUT LEBEN: Kann ein solcher Krankenhausaufenthalt
„unter Einheimischen“ eventuell auch etwas Gutes bewir-
ken – z. B. Brücken zur dortigen Bevölkerung bauen?
Volkmar Schultz-Igast: Ja, durchaus. Wir haben immer
wieder Patienten, die nach ihrem Krankenhausaufenthalt
sagen: Nun sehe ich vieles aus einem anderen Blickwinkel.
Natürlich lernt man sich ganz neu kennen und baut bei-
derseits viele Vorurteile ab, wenn man für einige Zeit ein
Krankenzimmer teilt.
GUT LEBEN: Zum Schluss eine Frage an den „Touristen“
Volkmar Schultz-Igast: Welche Präferenzen setzen Sie heu-
te persönlich – nach all Ihren Erfahrungen – bei der Ur-
laubsplanung? Sind Traumziele des Ferntourismus für Sie
ein Thema?
Volkmar Schultz-Igast: Ich persönlich mute mir ausge-
sprochen gerne zu, den oft gehörten Vorsatz, „das Land
und die Leute kennen zu lernen“, auch wirklich in die Tat
umzusetzen. Das ist im Rahmen eines All-Inclusive-Aufent-
halts in einer komplett durchorganisierten, nach außen ab-
geschotteten Hotelanlage nicht möglich. Davon haben im
Übrigen auch das Reiseland und seine Kultur nichts. Dem
Touristen wird eine heile Welt vorgegaukelt. Schon weni-
ge Meter hinter dem Zaun der Ferienanlage sieht es dann
meistens anders aus. Aber die Reiseanbieter haben damit
Erfolg. Der Massen- und Ferntourismus hat sich zu einer
weltweiten Leitindustrie entwickelt. Im Jahre 2013 verreis-
ten auf unserem Planeten über eine Milliarde Menschen.
Dass in unserer Arbeit auch unangenehme Kehrseiten die-
ses globalen Tourismus-Booms zum Vorschein kommen,
kann kaum überraschen. Also kann ich eigentlich nur einen
persönlichen Tipp geben: Vielleicht lohnt es sich ja, vor
dem nächsten Urlaub noch einmal über einige besonde-
re Risiken bestimmter Reiseziele nachzudenken. Und zwar
gerade dann, wenn das luxuriöse Resort in einem armen
Entwicklungsland so verlockend preisgünstig ist!
GUT LEBEN: Herr Schultz-Igast, ich danke Ihnen für das
Gespräch.
17Weitere Informationen unter: www.drkflugdienst.de
18
Wieder einmal nähert sich GUT LEBEN einer europäischen
Stadt, die nicht unter den Top 10 der Ziele von Städterei-
sen steht, aber in ganz Europa doch „irgendwie“ bekannt ist.
Und das gilt für die Metropole des Piemont nicht erst seit der
Winter-Olympiade 2006 oder den fußballerischen Großtaten
und Krisen von Juventus. Christlich Gesinnte denken vielleicht
an die berühmte „Sindone di Torino“, das Turiner Grabtuch
– oder an Don Bosco, den Schutzpatron der Jugend und der
Jugendseelsorger.
Wer die Aromen des süßen Lebens und die Eleganz und Üp-
pigkeit der piemontesischen Gastronomiekultur liebt, wird
sie in Turin finden – und jede Diät abbrechen. Hier fehlt der
Raum für Details. Mindestens zwei hier beheimatete Welt-
marken seien aber genannt, die den Beginn und das Ende
jedes guten Menüs begleiten können – und zugleich die die-
ser Stadt eigene Geschäftstüchtigkeit unter Beweis stellen: der
Aperitiv und der „Caffè“ aus den Häusern der Vermouth-Le-
gende „Martini & Rossi“ und des Kaffee-Veredlers „Lavazza“.
Für die Italiener ist Turin untrennbar mit entscheidenden
Phasen ihrer Geschichte verknüpft: weniger wegen ihrer
römischen Fundamente als wegen der üppigen Paläste
und Gärten der Herzöge von Savoyen. Deren bekanntester
Spross, König Viktor Emanuel II., machte seine Residenz-
stadt in den Jahren 1861–65 zur ersten Hauptstadt des
neu gegründeten Staates Italien. Barock und Risorgimento
prägen das historische Zentrum Turins bis heute in beein-
druckender Weise, nicht zuletzt durch die Kilometer lan-
gen, monumentalen Arkadengänge. Seitdem der Autover-
kehr aus dem Kern des centro storico verbannt wurde, fällt
es zudem viel leichter, gedanklich in das monumentale
Stadtbild zu Zeiten von illustren Turin-Besuchern wie dem
Philosophen Friedrich Nietzsche oder dem Maler Giorgio
de Chirico einzutauchen.
Doch kommen wir zum eigentlichen Alleinstellungsmerk-
mal Turins. Anders als Venedig, Florenz oder auch Rom
arbeitete Turin im 20. Jahrhundert erfolgreich an seinem
neuen, modernen Mythos: als Industriestandort von Welt-
rang. Aus diesem Blickwinkel steht es dann nicht in einer
Reihe mit den größten europäischen Metropolen, sondern
mit Auto-Städten wie Detroit und Wolfsburg. Die bekann-
teste Marke Turins lautet „Fabbrica Italiana Automobili To-
rino S.p.A.“, kurz: FIAT. Die Helden des Industriezeitalters
in und um Turin tragen klangvolle, automobilaffine Na-
men wie Agnelli, Pininfarina, Bertone oder Giugiaro.
Giorgetto Giugiaro und zwei seiner Traumwagen aus den 60ern: der Maserati Ghibli von 1966 (oben) und der Iso Grifo von 1963.
Die Marke Giugiaro steht auch für Hochgeschwindigkeitszüge (Frecciargento), Kameras (Nikon), Waschmaschinen, Reifen, Möbel und vieles mehr. Jüngst errang man den Red Dot Design Award 2014 – mit einem Traktor: dem Lamborghini Nitro.
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UNTERWEGSDas Wahrzeichen Turins,
die Mole Antonelliana, war zunächst als Synagoge
geplant. Sie wuchs nach 26 Jahren Bauzeit zum mit
167,5 Metern höchsten Zie-gelsteingebäude der Welt.
Heute befindet sich hier das Nationale Filmmuseum.
TURIN.
19
„Giorgetto“
Wer teutonische Überlegenheitsposen liebt, mag die wirt-
schaftliche Lage Italiens am aktuellen Aus für die traditions-
reiche Design-Marke Bertone festmachen. Der langjährige
VW-Chef und heutige Aufsichtsratsvorsitzende Ferdinand
Piëch dürfte dabei zurückhaltender sein. Piëch hat seine
Karriere im Sommer 1972 als junger Praktikant bei Italde-
sign-Giugiaro S.p.A. unter „Giorgetto“ Giugiaro in Turin
gestartet. Letzterer hatte zunächst bei Bertone, dann im
eigenen Unternehmen für automobile Extravaganzen der
60er und 70er Jahre gesorgt. Zu Ikonen wurden z. B. der
Ferrari 250 GT (1960, da war Giorgetto gerade 21), der Iso
Grifo (1963), der Maserati Ghibli (1966), der Lotus Esprit
(1972) oder der BMW M1 (1978). Schon kurz nach Piëchs
Zeit in Turin entstand dann eine der wirtschaftlich folgen-
reichsten deutsch-italienischen Kooperationen überhaupt:
Giugiaro wurde als Designer zum Vater der VW-Modelle
Passat (1973), Golf und Scirocco (1974). Die Liste weiterer
Erfolge ist lang. Genannt seien nur die Fiat-Modelle Panda,
Uno, Croma, Ritmo, Punto und Bravo, aber nicht zuletzt
auch der Mini von BMW. Seit 2010 hält die Audi-Tochter
Lamborghini gut 90 Prozent an ItalDesign Giugiaro S.p.A.
– man ist also unter dem Dach des Volkswagen-Konzerns
angekommen.
Lingotto
Anfang der 80er Jahre stand Turin vor großen Herausfor-
derungen. 1980 hatte es, nach der Ankündigung der Ent-
lassung von 14.000 Fiat-Beschäftigten, einen 35-tägigen
Streik gegeben, dessen Ende einen historischen Wende-
punkt markierte. Der so genannte „Marsch der 40.000“,
eine Demonstration von Fiat-Angestellten, Meistern und
Vorarbeitern für die Beendigung des Streiks der Arbeiter,
entschied nicht nur diesen Arbeitskampf, sondern machte
sichtbar, dass sich mit der Auflösung der traditionellen In-
teressen und Rollen der Akteure ein tiefgreifender Wandel
ankündigte. Es gibt einen Ort, an dem dieser bis heute
spürbare Transformationsprozess eingeleitet wurde, und
wo er nach wie vor sichtbar wird: Das Gebäude des Lin-
gotto-Werkes und das umgebende, gleichnamige Quar-
tier. Nach sechzig Jahren ununterbrochener Produktion
– mit Fließbändern auf fünf Etagen – ging die zur Zeit
ihrer Gründung größte und modernste Automobilfabrik
der Welt 1982 in den Ruhestand und zog um in das neue
Fiat-Werk Mirafiori. Für Fiat und die Stadt Turin stellte sich
eine spannende Frage: Was tun – mit einem gigantischen
Baukörper von fünfhundert Metern Länge, fünf Stockwer-
ken und der legendären Auto-Teststrecke („la pista“) mit
Steilkurven auf dem Gebäudedach? Anders ausgedrückt:
mit dem Mythos italienischen Industriekulturerbes, beste-
hend aus einer halben Million ungenutzter Quadratmeter.
1984 wurden 20 namhafte Architekten aufgefordert, Vor-
schläge zur Neugestaltung zu präsentieren. Den Zuschlag
erhielt das Büro von Renzo Piano. Der Genuese hatte be-
reits in der 70er Jahren zusammen mit dem Briten Richard
Rogers das „Beaubourg“ geschaffen, jene provokative
und höchst umstrittene „fröhliche Stadtmaschine“ im
Herzen von Paris, die das Centre Pompidou beherbergt.
Schon hier hatte Piano von einem „phantastischen Schiff
im Trockendock“ gesprochen. In Turin wartete nun ein
noch gewaltigerer Ozeanriese auf ihn. Später erinnerte er
sich: „Bei FIAT schwankte man zwischen Begeisterung und
Ratlosigkeit.“ Sein Credo richtete sich von Anfang an auf
ein Ziel, das weit über die Umgestaltung und Umnutzung
eines historischen Gebäudes hinausging: die Arbeit an ei-
ner neuen Identität für die gesamte Stadt. „Turin – das
bedeutet Wissenschaft, Technologie, Industrie, kurz: eine
Kultur des Machens. Doch bis gestern war dieses Machen
ein bloßes Produzieren, und das reicht heute nicht mehr.
Also ging es darum, den Übergang von einer Kultur der
Produktion zu einer Kultur des Austauschs in die Wege zu
leiten. Turins Ruhm sollte sich nicht länger nur auf ein ma-
terielles Produkt – das Auto – gründen, sondern auch auf
das immaterielle, das in ihm enthalten ist: das Wissen.“
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Der Golf I. Im Juni 2013 lief das 30-millionste Exemplar in der 7. Generation in Wolfsburg vom Band.
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Das Lingotto-Werk erschien ihm damit „zugleich das Em-
blem des Willens und der Angst, sich vom Image einer
Arbeiterstadt zu befreien.“
Entstanden ist so eine architektonische Multifunktions-Ma-
schine für das 21. Jahrhundert, die sich gleichwohl zum
Respekt vor der eigenen Historie verpflichtet sieht. Neben
Büros für Dienstleistungsunternehmen, Forschungs- und
Technologieeinrichtungen und einem Kultur- und Messe-
zentrum mit Konzerthalle finden Besucher unter anderem
ein Fünf-Sterne-Hotel, ein Multplexkino und das unver-
meidliche Shopping-Center. Zur Winterolympiade 2006
war hier das Pressezentrum eingerichtet. Wo aber kann
man als Besucher noch etwas davon erfahren und aufneh-
men, was Renzo Piano einmal von „seinem“ Lingotto ge-
fordert hatte: Freude auszustrahlen – übrigens auch mit
der Begründung, dass „dieser Ort aufgrund seiner Funkti-
on in der Vergangenheit immer als streng und ein wenig
als Strafe wahrgenommen“ worden war?
Der GUT LEBEN-Tipp: die Pinacoteca Giovanni e Marella Agnelli.
Man folgt einfach den dezenten Hinweisschildern. Auf
dem Gebäudedach, innerhalb des Ovals der Teststrecke,
erhebt sich seit 2002 auf vier Trägern ein wiederum von
Piano entworfener, silberfarbener Gebäudekubus. Hierü-
ber spannt sich ein weit überstehendes Lamellendach –
wie ein „fliegender Teppich“. In diesem „scrigno“, was
auf Deutsch „Juwelenkästchen“ oder „Schatztruhe“ be-
deutet, haben der charismatische, aber auch umstrittene
Fiat-Boss Gianni Agnelli (1921-2003) und seine Ehefrau
Marella einen Teil ihrer privaten Gemäldesammlung der
Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Es handelt sich um 23
Gemälde und zwei Skulpturen. Hat man das Glück, nicht
zu viele Gleichgesinnte anzutreffen, entsteht hier tatsäch-
sich ein wenig „Privatatmosphäre“. Die übersichtliche
Anzahl und die ungewöhnliche Zusammenstellung der
durchweg hochrangigen Exponate aus drei Jahrhunderten
– von Canaletto und Tiepolo über Renoir und Manet bis zu
Picasso, Modigliani und dem offenbar besonders verehr-
ten Hanri Matisse, der allein mit sieben Werken vertreten
ist – lassen wenig akademische oder museale Stimmung
aufkommen. Hier präsentiert sich eine Industrieepoche
inmitten ihres vormals lärmenden Getriebes im bildungs-
bürgerlichen Flüsterton.
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Foto links: Blick aus dem üppig begrünten Innenhof hinauf zur „Schatztruhe“ des Ehepaars Agnelli.
Foto des Lingotto-Werkes 1928. Die Systematik dahinter: Materialien und Bauteile wurden mit dem Zug im Erdgeschoss angeliefert. Die
Fahrzeuge wurden dann auf fünf Etagen zusammengebaut und verlie-ßen nach einer Testfahrt auf der 1,4 km langen „pista“ das Werk.
21
Unterhalb, auf der Eingangsebene, finden Wechselausstel-
lungen statt. Von hier aus und vom Treppenaufgang hat
man dann endlich die Gelegenheit, die Dimensionen, die
Ästhetik und die Skurrilität dieses einmaligen Orts zu erfas-
sen. Mit etwas Glück gelangt man sogar auf die Teststre-
cke selbst, die von den Turinern für einige Zeit naheliegen-
derweise gern als Joggingstrecke benutzt wurde. Neben
dem Blick über die Stadt und auf die Alpen beeindrucken
der Garten in einem der Innenhöfe mit inzwischen hoch
aufgewachsenen mediterranen Bäume und Pflanzen –
und, als Kontrapunkt zum silbernen Kubus der Pinacoteca:
„La Bolla“ (die Blase), ein Konferenzraum, der über einem
der Höfe wie die Kommandostation eines gigantischen
Raumschiffes schwebt und dabei zugleich eine Balance
zur Plattform eines Hubschrauberlandeplatzes herstellt.
(s. linke Seite unten)
Besuch bei einer alten Dame.
Die alte Dame Turins hat es in sich. Sie nennt sich trotzig
und unbeirrt, in über 2.000 Jahre altem, monumentalem
Latein: „Juventus“ – Jugend. Umfragen der letzten Jahre
zufolge sind über 20 Prozent aller Italiener „Juve“-Fans.
Weltweit sollen gar über 200 Millionen Menschen Anhän-
ger des Fußballvereins sein.
An dieser Stelle soll nicht auf die sportlichen Erfolge oder
die bekannten Tragödien und Skandale der alten Dame
eingegangen werden. Es bleibt die Erinnerung an die vie-
len Toten der Katastrophe im Heysel-Stadion 1985. 32 der
39 Toten waren italienische Tifosi. – Immerhin eine kleine
Kuriosität sei doch noch erwähnt: Eine seiner vielen Meis-
terschaftstrophäen hat der Verein all seinen bekannten
Konkurrenten in Italien voraus. Sie steht ganz klein und
unscheinbar in der Pokalsammlung im Juventus-Museum
der neuen Arena: die Meisterschaft in der Serie B der Sai-
son 2006/07, der Zweiten Italienischen Liga. Hintergrund:
Am 2. Mai 2006 wurde der größte Fußballskandal in der
Geschichte Italiens aufgedeckt. Die Sportzeitung La Gaz-
zetta dello Sport publizierte Protokolle abgehörter Telefo-
nate der Turiner Staatsanwaltschaft. Sie begründeten den
Verdacht, dass Juve-Manager Luciano Moggi in der Saison
2004/05 Begegnungen in der Serie A unter Mitwirken ver-
schiedener Schieds- und Linienrichter manipuliert hatte.
Gerichtsverfahren folgten. Schließlich akzeptierte Juventus
das zweitinstanzliche Urteil, das einen Zwangsabstieg in
die Serie B und Strafpunkte für den dortigen Saison-Start
verhängte. Ergebnis war die oben genannte Trophäe, der
Wiederaufstieg und Platz drei in der Serie A in der Fol-
gesaison.
Schließen wir also diesen Bericht über eine reichlich ita-
lienische Stadt mitten im Wandel von einer Industrieme-
tropole zu einer Stadt der Kultur, des Wissens, der Inno-
vation und des Tourismus mit fast poetischen Gedanken.
Der erste verdankt sich einer prominent platzierten Tafel
im Juve-Museum. Dort heißt es unter dem Titel „La Ju-
ventus in letteratura“, Juventus sei, gemäß der Definitio-
nen von Schriftstellern und Dichtern, „ein grundlegendes
Element der Gegenwartskultur“, eine „Sprache“ – und
schließlich „die allwöchentliche Wiederentdeckung der
Kindheit“. Hierin ist Juventus vielleicht ganz Turin und
Turin ganz Italien. Selbstverständlich als Teil Europas –
und nicht als der unwichtigste. Denn in einem wird es
hoffentlich immer ein Vorbild bleiben: „Ohne seine au-
ßergewöhnlichen Fehler würde der Italiener heute nicht
existieren, und das wäre sehr schade. Die Natur, oder
wenn wir so wollen, die Zivilisation, hat dem Italiener
eine große Aufgabe gestellt: zu überleben. Er erfüllt sie
voll und ganz, seit Jahrhunderten, mit einem Einsatz,
der das Vergnügen nicht ausschließt.“ (Ennio Flaiano)
Die Aussagen Renzo Pianos wurden zitiert nach: R. Piano, Mein Architektur-Logbuch, Ostfildern-Ruit 1997
links: Monumentales und Nostalgisches im Juventus-Museum
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Meine Enkelin und meine Nachbarin mit dem Biola-
den sind eingefleischte Vegetarier. Ihr neues Lieblings-
thema: vegane Ernährung. Also kein Fleisch und Fisch,
aber auch keine Milch, kein Ei, kein Honig. „Veganes“
begegnet mir seitdem überall: in Kochshows im Fern-
sehen, in Illustrierten beim Frisör – und, halten Sie
sich fest: im Supermarkt, als Tofu-Burger und veganes
Würstchen (ich meine nicht den smarten Filialleiter)!
Es ist toll, wenn unser Essen gesünder wird. Ich quäle
auch keine Tiere. Legebatterien, Fleisch- und Wurstfa-
briken mit hohem Medikamentenverbrauch und steu-
erflüchtigen Managern lehne ich ab. Aber wenn ich
auf meinem Balkon sitze, eine Wespe sich auf meinem
Pflaumenkuchen niederlässt und ihre Kolleginnen zum
Kaffeekränzchen einlädt, dann finde ich es beruhigend,
dass eine Rentnerin mit einer Fliegenklatsche für eine
ausgewachsene Wespe tödlich sein kann. Ich habe al-
lerdings beim Waffenkauf die Klatsche in Froschoptik
hängenlassen und ein neutrales Design gewählt. Man
ist ja kein Unmensch. Aber deshalb gleich Veganerin
werden? Meine Rindsrouladen sind nun einmal legen-
där. Nehmen Sie‘s mir nicht übel. Ich bin und bleibe
halt eine fleischfressende Pflanze.
FRAU BECKMANN ERKLÄRT...Gertrud Beckmann, 88, Krankenschwester, seit 1943 im
Roten Kreuz, unter anderem über ihre Kinder und Enkel in
ständigem Kontakt mit der „Szene“, ist für GUT LEBEN als
„Trend-Scout“ unentbehrlich.
Was ist „amtlich“ und „hip“? Sie hilft unseren Leserinnen
und Lesern weiter. Wenn Sie also ein aktuelles Modewort, das
neueste Computerspiel Ihres Enkels oder das Navi-System in
der Mittelkonsole der Limousine Ihres Neffen verstehen wol-
len – schreiben Sie an die Redaktion. (Anschrift siehe unten!)
Frau Beckmann erklärt es – auf ihre Weise.
IMPRESSUMFolge 12
„VEGAN“Ralph Hoffert
Gartenstraße 56, 45699 Herten, Deutschland
www.magazin-gut-leben.de
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Gerichtsstr. 5, 46236 Bottrop, Deutschland
www.vatter-vatter.de
Klaus Vatter
Mathias Knigge
Arnd Vatter
Arnd Vatter, Carina Trapp, Stefan Freund
kallejipp/photocase.com
Vatter + Vatter
Agentur für Werbung & Kommunikation
Herausgeber:
Redaktion:
Verantwortlich:
Weitere Mitarbeit:
Art-Director:
Grafik:
Titel:
Produktions-
management:
In diesem, wie in allen Texten dieser Ausgabe, ist bei allei-
niger grammatikalischer Verwendung der männlichen Form
jeweils auch die weibliche mit gleicher inhaltlicher Gewich-
tung gemeint. Nachdruck, Aufnahme in Online-Dienste
und Internet sowie Vervielfältigung auf Datenträgern sämt-
licher Beiträge nur nach vorheriger schriftlicher Genehmi-
gung des Herausgebers.
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REZEPTDie klassische Turiner Kaffeespezialität:
BICERIN.
Schritt 1Die Sahne mit den Quirlen des Handrührgeräts steif schlagen. Die Schokolade grob hacken
und mit der Milch und dem Zucker in einem Topf erhitzen. Dabei rühren, bis sich die Schoko-
lade aufgelöst hat. Weiter köcheln lassen, bis die Schokomilch leicht schaumig wird.
Schritt 2Die Schokomilch in die Gläser füllen. Dann den Kaffee über einen Löffelrücken vorsichtig da-
zugießen, damit sich die Flüssigkeiten nicht ganz vermischen und noch als einzelne Schichten
zu erkennen sind. Zuletzt die Sahne daraufsetzen und sofort servieren.
eine derGezeiten
mexika-nischeHafen-stadt
bevorafrika-nischerStrom
mit Me-tallbol-zen be-festigen
Schiffs-vorder-teil
Auswir-kung,Ergebnis
griechi-scheGöttin
spanisch:Hurra!,Los!, Auf!
wurzel-loseSporen-pflanze
weib-lichesMärchen-wesen
Turiner Kaffee-kreation
basch-kirischeHaupt-stadt
Wink,Hinweis
viert-größte Stadt Italiens
Kultbaudt.Schrift-steller(Karl)
ehe-ma-lige Fiat-Fa-brik
franzö-sisch:und
ohneInhalt
Roll-körper
kaumhörbar,fastlautlos
Dring-lich-keits-vermerk
ein Bildländ-lichenFriedens
engl.: Gestal-tung
Gewinn,Aus-beute
Ärger,Wut
persönl.Fürwort(zweitePerson)
schwererSturm Enterich Ölbaum-
frucht
Pferde-renn-bahn beiLondon
schott.Stam-mes-verband
Musik-stück(ital.)
eiförmigRoll- undEiskunst-lauffigur
Töpfer-material
wert-vollesMöbel-holz
griechi-scherBuch-stabe
Form der Ernäh-rung
Musik-zeichen
Gebirgs-mulde
portugie-sischerSeefahrer(Vasco da)
Zimmer-winkel
Kfz-ZeichenOlden-burg
fremd-länd. An-ziehungs-kraft
US-Nach-richten-sender(Abk.)
ring-förmigeKorallen-insel
franz.weib-licherArtikel
Abkür-zung fürvor allem
künst-licherWasser-lauf
Pflan-zenteilzur Ver-mehrung
RÄTSEL
Zutaten:
· 125 g kalte Sahne
· 60 g Zartbitterschokolade
· 200 ml Milch
· 2 TL Zucker
· 2 Tässchen Espresso
© A
nu&
Ana
nt /
flic
kr.c
om
Der „Bicerin“ ist eine Spezialität aus Turin, die es bereits
seit dem 18. Jahrhundert gibt. Es besteht aus einem Teil
Espresso und einem Teil heißer Schokolade. Getoppt
wird das Ganze mit einer Haube aus Schlagsahne. Ein
Bicerin ersetzt eigentlich jedes „Dolce“, das italienische
Dessert. Das Original gibt‘s im „Caffè al Bicerin“, Piazza
della Consolata, Turin.
Zubereitung
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