Deutsch Heft 27 Kinderund Jugendliteratur

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 5 Kinder- und Jugendliteratur im Deutschunterricht VON EMER O'SULLIVAN UND DIETMAR RÖSLER Kinderliteratur im Unterricht Deutsch als Fremdsprache? Da denkt man als erstes wohl an Bilder- und Kinderbücher in der Grundschule. Und bei Jugend- literatur an die Lektüre von Ado- leszenzromanen im gymnasia- len Unterricht. Damit sind die Einsatzmöglichkeiten von Kin- der- und Jugendliteratur aber keinesfalls erschöpft. Sie taucht in verschiedenen Lernsituationen auf, so gibt es z.B. auch Versuche, Kinderliteratur in den Unterricht mit Erwachsenen zu integrieren. Auch die  Aus wahl an T exten , die man verwen den kann, ist groß, auch wenn einem zuerst vor allem Erfolgs- autoren wie Christine Nöstlinger oder Klassiker wie Erich Kästner einfallen. Warum soll man überhaupt Kinder- und Jugendliteratur im Deutschunterricht verwenden? Im Bereich Deutsch als Fremd- sprache ist die Diskussion über das Für und Wider des Einsatzes von Jugendliteratur besonders  Anfa ng der 80er-Jahre in den Nie derla nden verstär kt geführt worden. Eine Arbeitsgruppe von Dozenten in Amsterdam entwickelte einen Baustein für ein Curriculum, bei dem die Hinwendung zur Jugend- literatur gesehen wurde als Gegenposition zu einem  V erständnis von kommunika- tiver Kompetenz, die den ästhe- tisch ktionalen Bereich zu ra- dikal an die Seite drängte. Die Jugendliteratur sollte dabei u.a. Lernziele wie Landeskunde, Ge- nussfähigkeit und Umgang mit Literatur fördern (vgl. Kast 1985). Eines der Hauptargumente gegen den Einsatz von Kinder- und Jugendliteratur im Fremdsprachen- unterricht kombiniert literaturkritische und zeitöko- nomische Momente. Wenn man im Unterricht ohnehin so wenig Zeit für literarische Texte hat, dann müsse man diese Zeit auf einen kanonisierten Text ver-  wen den und dürfe sie nicht mit einem ästhetisch evtl. minder-  wer tig en Text verschwenden. Da- gegen gehalten wird oft die so genannte doppelte Brückenfunktion von Kinder- und Jugendliteratur: Sie liefert zum einen einen Be- zug zur Erfahrungswelt der Jugendlichen und führt zum anderen als Einstiegsliteratur zur Lektüre ,wertvollerer‘ Literatur. So kann gerade Kinder- und Jugendliteratur in den ersten, zumeist lehrwerk- dominierten Lernjahren bereits als Ganzschrift ein- gesetzt werden. Was ist Kinder- und Jugendliteratur? Der deutsche Doppelbegriff „Kin- der- und Jugendliteratur“ (auf Englisch einfach children's litera- ture , auf Französisch littérature de jeunesse ) und das, was er bezeichnet, umfasst eine Adres- satengruppe vom Säugling bis hin zum jungen Erwachsenen und ein Korpus unter- schiedlicher Texte wie Bilderbücher für Kleinstkin- der, Erstlesebücher für Erstklässler, Lyriksammlun- gen für bereits literaturfähige Kinder und anspruchs- volle Adoleszenzromane. Das breite Spektrum der Kinder- und Jugendliteratur (KJL) mit ihren unterschiedlichen Gra- den an Komplexität und ästheti- schen Ansprüchen macht es pro- blematisch, von der Kinder- oder der Jugendliteratur oder gar von der Kinder- und Jugendliteratur zu sprechen und ihr als Gesamt- heit Charakteristika zuzuordnen, die nur einen Teil betreffen. Grob unterschieden wird in der Literatur-  wis sens chaf t zwis chen Kinder - und Jug endlektüre, also dem, was von Kindern und Jugendlichen tat- KINDER- UND JUGENDLITERATUR – EINE ÄSTHETISCH ,MINDERWERTIGE‘ LITERATUR? KINDER- UND JUGENDLITERATUR – „NUR“ EINE BRÜCKE ZU ,WERTVOLLER‘ LITERATUR ? GIBT ES DAS ÜBERHAUPT: DIE KINDER- UND JUGENDLITERATUR“?

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Kinder- und Jugendliteratur

im DeutschunterrichtVON EMER O'SULLIVAN UND DIETMAR RÖSLER

Kinderliteratur im UnterrichtDeutsch als Fremdsprache? Dadenkt man als erstes wohl anBilder- und Kinderbücher in derGrundschule. Und bei Jugend-

literatur an die Lektüre von Ado-leszenzromanen im gymnasia-len Unterricht. Damit sind dieEinsatzmöglichkeiten von Kin-der- und Jugendliteratur aber keinesfalls erschöpft.Sie taucht in verschiedenen Lernsituationen auf, sogibt es z.B. auch Versuche, Kinderliteratur in denUnterricht mit Erwachsenen zu integrieren. Auch die Auswahl an Texten, die man verwenden kann, istgroß, auch wenn einem zuerst vor allem Erfolgs-autoren wie Christine Nöstlinger oder Klassiker wie

Erich Kästner einfallen.Warum soll manüberhaupt Kinder-und Jugendliteraturim Deutschunterrichtverwenden?Im Bereich Deutsch als Fremd-sprache ist die Diskussion überdas Für und Wider des Einsatzesvon Jugendliteratur besonders Anfang der 80er-Jahre in den Niederlanden verstärkt

geführt worden. Eine Arbeitsgruppe von Dozentenin Amsterdam entwickelte einen Baustein für einCurriculum, bei dem die Hinwendung zur Jugend-literatur gesehen wurde als Gegenposition zu einem Verständnis von kommunika-tiver Kompetenz, die den ästhe-tisch fiktionalen Bereich zu ra-dikal an die Seite drängte. DieJugendliteratur sollte dabei u.a.Lernziele wie Landeskunde, Ge-nussfähigkeit und Umgang mit

Literatur fördern (vgl. Kast 1985).

Eines der Hauptargumente gegen den Einsatz vonKinder- und Jugendliteratur im Fremdsprachen-unterricht kombiniert literaturkritische und zeitöko-

nomische Momente. Wenn manim Unterricht ohnehin so wenigZeit für literarische Texte hat,dann müsse man diese Zeit auf einen kanonisierten Text ver-

 wenden und dürfe sie nicht miteinem ästhetisch evtl. minder- wertigen Text verschwenden. Da-gegen gehalten wird oft die so

genannte doppelte Brückenfunktion von Kinder-und Jugendliteratur: Sie liefert zum einen einen Be-zug zur Erfahrungswelt der Jugendlichen und führtzum anderen als Einstiegsliteratur zur Lektüre,wertvollerer‘ Literatur. So kann gerade Kinder- undJugendliteratur in den ersten, zumeist lehrwerk-dominierten Lernjahren bereits als Ganzschrift ein-

gesetzt werden.Was ist Kinder- undJugendliteratur?Der deutsche Doppelbegriff „Kin-der- und Jugendliteratur“ (auf Englisch einfach children's litera-

ture , auf Französisch littérature 

de jeunesse ) und das, was erbezeichnet, umfasst eine Adres-satengruppe vom Säugling bis

hin zum jungen Erwachsenen und ein Korpus unter-

schiedlicher Texte wie Bilderbücher für Kleinstkin-der, Erstlesebücher für Erstklässler, Lyriksammlun-gen für bereits literaturfähige Kinder und anspruchs-volle Adoleszenzromane. Das breite Spektrum der

Kinder- und Jugendliteratur (KJL)mit ihren unterschiedlichen Gra-den an Komplexität und ästheti-schen Ansprüchen macht es pro-blematisch, von der Kinder- oderder Jugendliteratur oder gar vonder Kinder- und Jugendliteratur

zu sprechen und ihr als Gesamt-heit Charakteristika zuzuordnen, die nur einen Teilbetreffen. Grob unterschieden wird in der Literatur- wissenschaft zwischen Kinder- und Jugendlektüre,also dem, was von Kindern und Jugendlichen tat-

KINDER- UNDJUGENDLITERATUR –EINE ÄSTHETISCH

,MINDERWERTIGE‘LITERATUR?

KINDER- UNDJUGENDLITERATUR –„NUR“ EINE BRÜCKEZU ,WERTVOLLER‘LITERATUR ?

GIBT ES DASÜBERHAUPT:„DIE KINDER- UNDJUGENDLITERATUR“?

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sächlich gelesen wird, und intentionaler und spezi-fischer KJL. Unter intentionaler KJL wird all daszusammengefasst, was Kinder und Jugendliche nachden Vorstellungen der Erwachsenen (Verleger, Kriti-ker, Lehrer, Eltern usw.) lesen sollten, die spezifischeKJL ist die von vornherein für Kinder- und / oder Ju-gendliche geschaffene Literatur (vgl. dazu „Das Aktuelle Fachlexikon“ auf S. 10/11).

Welche Texte sollten im Unterrichtvorkommen?Erich Kästners Emil und die Detektive , neben GrimmsMärchen, Struwwelpeter und Heidi einer der weni-gen deutschsprachigen Texte, die uneingeschränktzu den internationalen Klassikern der Kinder- undJugendliteratur gezählt werden, fand relativ schnell

im Deutschunterricht im Ausland Verwendung.Bereits 1932, also nur drei Jahre nach dem Erschei-nen des Originals, gab es in den USA eine Schul-ausgabe, komplett mit Vokabelliste, Übungen zu jedem Kapitel und einer Karte von Berlin (vgl. Stahl1985, 32). 1939, zu einem Zeitpunkt also, als Kästnerin Deutschland verboten war, lagen in sechs Län-dern deutschsprachige Schul- und Studienausga-ben vor. Eine ganze Schülergeneration lernte in den

USA, so die Kästner-Biografen im Jahre 1998, „mitKästner die Kultur eines Landes kennen, das sichgerade anschickte, die Welt in einen neuen Kriegzu stürzen“ (Görtz / Sarkowicz 1998, 217). Emilhatte aber nicht nur zur Zeit seiner Entstehung imDeutschunterricht im Ausland seinen Platz. Noch1982 stellte Bogaers für den Deutschunterricht anniederländischen Schulen fest: „Das große Rennenmacht nach wie vor Erich Kästner mit seinem Emilund die Detektive, das ... momentan seine 43. (!) Auflage erlebt hat“ (Bogaers 1982, 49 f.).

Bestimmte Texte scheinen immer wieder imUnterricht aufzutauchen, andere hingegen gar nicht.Das hat unterschiedliche Gründe. Zum einen be-stimmen die Vorstellungen von dem, was jungen Le-sern zugemutet werden kann, die Auswahl von Tex-

ten. Diese Vorstellungen beziehen sich etwa bei dermuttersprachlichen Lektüre auf die Form der Texte(welchen Grad an ,formaler Verspieltheit‘ kann einkindlicher Leser verkraften?) und auf die Inhalte (vgl.dazu ausführlicher O'Sullivan 2000). Bei der Lektüreim Fremdsprachenunterricht sind vor allem Sprach-niveau und Inhalt ausschlaggebend. Dass inhalts-bezogene Einschränkungen nicht nur auf alters-sondern auch auf kulturbedingten Vorstellungen

Kinder- und Jugendliteratur6

Das BilderbuchHrsg. von Doris Breitmoser. 11. Aufl. München: Arbeitskreis für

Jugendliteratur 1999.

Ausführliche Rezensionen von mehr als 300 empfehlenswerten

aktuellen Bilderbüchern zu Themen wie: Kinderalltag, Frage nach

der eigenen Identität, Begegnung mit fremden Kulturen und

vergangenen Zeiten. Jeweils mit Illustrationsbeispiel. Mit Register.

Das KinderbuchHrsg. von Doris Breitmoser. 4. Aufl. München: Arbeitskreis für

Jugendliteratur 2000.

Ausführliche Rezensionen von mehr als 300 empfehlenswerten

aktuellen Kinderbüchern mit Titelabbildungen in den Rubriken:

Bücher für Leseanfänger, Alltagsgeschichten, Gedichte, Märchen,

Klassiker, Sachbücher, Fantastisches, Abenteuer oder Comics.

Mit Personen-, Titel- und Schlagwortregister.

Das JugendbuchHrsg. von Doris Breitmoser. München: Arbeitskreis für Jugend-

literatur 2001.

Ausführliche Rezensionen von mehr als 150 empfehlenswerten

aktuellen Titeln für Jugendliche von 12 bis 16 – darunter auch

solche, die nicht explizit als Jugendliteratur deklariert sind.

Fremde WeltenHrsg. vom Kinderbuchfonds Baobab. 14. Aufl. Basel: Kinder-

buchfonds Baobab 2001.

Ein Katalog mit rund 250 empfehlenswerten Kinder- und

Jugendbüchern zu den Themen: Afrika, Asien, Lateinamerika,

außereuropäische ethnische Minderheiten und Rassismus. Mit

Empfehlungen zum Lesealter und zum Einsatz in der Praxis.

Grünbuch der Kinder- und Jugendmedien 4.Hrsg. von Bulletin Jugend und Literatur. Hamburg: Eulenhof

2000

Nachschlagewerk mit rund 2 000 neuen Kinder- und Jugend-

büchern nach Altersgruppen sortiert mit Coverabbildungen und

erläuternden Texten. Mit Autoren-, Illustratoren-, Sachtitel- und

Schlagwortregister und mit Verlagsadressbuch.

Kommentierte Verzeichnisse von Kinder- und Jugendbüchern

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von Akzeptabilität beruhen, istgerade bei dem Beispiel im Bei-trag von Hanne Geist in diesemHeft – Benjamin Leberts Crazy –zu bedenken, der wegen seinerexpliziten Behandlung von Ju-gendsexualität in vielen Ländernden Weg in die Schule nicht fin-den würde.

Zum anderen gehört die Beschäftigung mit Kin-der- und Jugendliteratur meist nicht zur Ausbildungzukünftiger Fremdsprachenlehrer und -lehrerinnen,die Kenntnisse von Texten bleiben, wenn nicht inEigeninitiative erweitert, beschränkt auf das, wasman selbst als Kind kennen

gelernt hat – und das sind meistdie Klassiker, ergänzt um ei-nige wenige Texte, die neu insBewusstsein des Lesepublikumsdrängen. Im Kasten auf S. 6 sinddie wichtigsten Quellen, bei denen man sich über dieBreite des Angebots an aktueller deutschsprachigerKinder- und Jugendliteratur informieren kann, zu-sammengestellt.

Nach welchen Kriterien sollte man Texteauswählen?Zu den Kriterien, nach denen man geeignete Texteauswählen sollte, gehört für Krumm (2001, 26), „dasssie für die unterschiedlichen Interessen und Erfah-rungen der Schülerinnen und Schüler Anknüp-fungspunkte bieten“ und dass sie darüber hinauseine „gezielte Überforderung“ der Lernenden dar-stellen, keine frustrierende Überforderung, son-dern eine, die Neugier und Entdeckerlust entstehenlässt. Zu den Kriterien, die Burwitz-Melzer für die Auswahl von Kinderbüchern für den Englischun-terricht an deutschen Grundschulen anführt, ge-

hören der Bezug zum Lernzielinterkulturelle Kommunikationund die Wahl solcher Texte, „diedas Lernziel der langsamen Pro-gression berücksichtigen undallmählich alle vier Fertigkeitenauch schon im Grundschuleng-lisch ansprechen und schulen“(Burwitz-Melzer, 2000, 13). Auch soll der Text demLehrer selbst gefallen, denn er muss schließlich mitihm umgehen.

Die Texte sollten also zu den Schülern und denLernzielen passen. Im Zusammenhang mit der Aus- wahl der Texte wird jedoch auch immer wieder eineFrage gestellt, die sich situationsunabhängig auf dieTextbeschaffenheit bezieht, die Frage nach dem

Einsatz von originalen oderadaptierten Texten.

Originaltext oderAdaption? Adaptionen gibt es in verschie-denen Formen. Zum einenkann der Originaltext beibehal-ten, aber mit Hilfe von Wort-

schatzhinweisen und mit landeskundlichen Erläute-rungen erschlossen werden, zum anderen könnenPassagen des Textes gestrichen oder evtentuell auchals so genannte vereinfachte Fassung umformuliert werden. All diese Varianten können jeweils noch mitmethodischen Vorschlägen versehen sein, im ein-

fachsten Fall begleitet von Fra-

gen zum Text oder Leitfragenzum Thema. Die meisten Fremd-sprachen-Verlage haben eineReihe mit vereinfachten Lektü-ren im Programm. Eher unge-

 wöhnlich ist es, wenn die Autoren ihre eigenen Tex-te für die Deutschlernenden adaptieren wie in einerReihe, die vom Goethe-Institut Inter Nationes her-ausgegeben wird (siehe S. 49 in diesem Heft). EinBeispiel dafür ist die von Christine Nöstlinger selbstvorgenommene Vereinfachung Die Ilse ist weg , wobei

die Autorin in einem Interview angibt, sie habe die Vereinfachung übernommen, da ihr das immer nochlieber sei, als wenn es jemand anders tue. Auch kön-ne sie als Autorin „selber dazu erfinden“ (Jenkins1994, 22). Während ihr selbst die adaptierte Fassungeher entschärft vorgekommen ist, kann man fest-halten, dass auch adaptierte Textfassungen in ande-ren kulturellen Kontexten höchst provokativ seinkönnen.

Der Einsatz von Adaptionen ist umstritten. Ineiner Formulierung wie der von Rönnqvist / Sell

(1994, 64), für sie kämen nur„unshortened texts to whichnothing has been done toreduce the pleasure of reading“als Lesetexte für ihre finnischenLerner in Frage, schwingt die Annahme mit, bearbeitete Tex-te verlören automatisch an

Qualität und näherten sich der ,Lehrbuchsprache‘ an– ein Begriff, der nicht einfach auf die in Lehrbüchernverwendete Sprache referiert, sondern, negativ kon-

notiert, den so bezeichneten Texten Authentizitätund Qualität abspricht. Wenn es Adaptionen nichtgelingt, die Merkmale eines Originaltextes beizube-halten, dann ist diese Ablehnung zweifelsohneangebracht. Wenn es ihnen allerdings gelingt, die

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WAS WISSENLEHRERINNEN UNDLEHRER ÜBER

KINDER- UNDJUGENDLITERATUR?

ABER WELCHETEXTE FÜR WEN ?

SIND ORIGINAL-TEXTE NICHTAUF JEDEN FALLZU SCHWER ?

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Textqualität beizubehalten, dannist es wohl sinnvoller, die Fragenach dem Einsatz von Adaptio-nen lerner- und lernzielabhän-gig zu diskutieren: Für welcheGruppe von Lernenden mit welchen Sprachlernvoraussetzungen, auf welchemSprachstand, mit welchen Lernzielen usw. ist welcheFassung welcher Texte die angemessene Herausfor-derung?

Für welche Lerngegenstände undFertigkeiten sind welche Gattungen ambesten geeignet?Diese Frage lässt sich generell überhaupt nicht undkonkret nur im Hinblick auf bestimmte Lernziele

und Lernende beantworten. Dieverschiedenen Gattungen findetman in praxisbezogenen Publi-kationen sehr unterschiedlicheingesetzt. Lieder, Reime undBilderbücher trifft man natür-lich besonders häufig in derGrundschule, aber ihr Einsatzbleibt keinesfalls auf diesenSchultyp beschränkt. Adoles-zenzromane sind in den letzten zehn Jahren vor-

 wiegend in thematischer Nähe zu den BereichenIdentitätssuche und multikulturelle Lebensweltenbehandelt worden.

Die unterschiedlichen kinderliterarischen Text-sorten sind im Unterricht in sehr verschiedenenLehr- und Lernkontexten eingesetzt worden (vgl. alsausführlichen Überblick O'Sullivan / Rösler 2002).Dabei dominiert der handlungs- und produktions-orientierte Ansatz der Fremdsprachendidaktik.

So findet man den Bereich „Didaktik des Lesens“häufig unterteilt nach Tätigkeiten vor dem Lesen, während des Lesens und nach dem Lesen. Zu den Aktivitäten vor dem Lesen gehören u.a. die Arbeit mitzum Text passenden visuellen Medien, die Arbeit an Wortfeldern und Schlüsselwörtern z.B. durch Asso-ziogramme, die Aktivierung von Vorwissen und die Auseinandersetzung z.B. mit Überschriften undParatexten. Zu den Tätigkeiten beim eigentlichen 

Lesen gehören beliebte Aktivitäten wie das Zusam-menbasteln auseinandergeschnittener Textteile, die Vervollständigung eines vorgegebenen Textanfangs,das Lesen von Auszügen mit der Aufforderung zur Weiterentwicklung und zur Hypothesenbildung, das

Füllen von Lücken, die Dokumentation des eigenenLesens z.B. in einem Lesetagebuch oder auch die Verarbeitung des ersten Leseeindrucks z.B. durch einStandbild. Nach dem Lesen kommen die Verfahrenzur kreativen Aneignung und Verarbeitung ins Spiel

 wie z.B. die Fortführung vonElementen, die im Text nurangedeutet sind, der Wechselder Erzählperspektive oder auchder Wechsel von Medien undTextsorten und die Entwicklung

inhaltlicher Alternativen oder sogar alternativerTexte. Diese Techniken, die ausführlich u.a. vonCaspari 1995 beschrieben worden sind, diskutiertKoppensteiner (2001, 55-86) für den Bereich Deutschals Fremdsprache und versucht, sie für die Arbeitmit Christine Nöstlingers Maikäfer flieg zu konkre-tisieren.

Bei aller Begeisterung für den produktions- undhandlungsorientierten Unterricht sollte man jedochnicht vergessen, dass auch kinder- und jugend-

literarische Texte literarischeTexte sind und dass deshalb einesogenannte Sprungbrett-Didak-tik, eine Herangehensweise, diedie literarischen Texte lediglichals Stichwort- oder Faktenliefe-ranten für landeskundliche The-men oder als Übungsanlässefür sprachliche Lernbereichebetrachtet, zu kurz greift.

Überblick über die Beiträge in diesem HeftDie Vielfalt der Möglichkeiten, Kinder- und Jugend-literatur im Unterricht Deutsch als Fremdspracheeinzusetzen, zeigt sich auch in den Beiträgen diesesHeftes.

Lenc̀́ová beschäftigt sich mit der Verwendung vonGedichten im Unterricht. Sie versucht, durch denEinsatz von Ausdrucksmitteln wie Zeichnungeneinen Übergang von der Textrezeption zur Textpro-duktion zu finden. Am Beispiel der Arbeit mit aus-gewählten Gedichten wird dokumentiert, wie

Schüler produktiv mit ihnen umgehen können.

 Auch im Beitrag von Whiteman stehen Kinderge-dichte im Zentrum ihrer Überlegungen. Bei ihrenLernenden handelt es sich allerdings um jugendli-che und junge Erwachsene an den Highschools undUniversitäten in den Vereinigten Staaten. Für White-man ist der Einsatz von Kinderliteratur wichtig, umeine ästhetische Komponente in den stärker alltags-orientierten Unterricht zu bringen, um die Emotio-nalität der Lernenden anzusprechen und um echte

Kommunikation im Klassenzimmer entstehen zulassen, da die Lernenden selbst über die Texte dis-kutieren, statt Lehrbuchrollen zu übernehmen. Außerdem, so die Autorin, sei durch die Auseinan-dersetzung mit den kinderliterarischen Texten eine

Kinder- und Jugendliteratur8

VEREINFACHTETEXTE – IST DASDIE LÖSUNG ?

UND DASLITERARISCHE –BLEIBT ES BEIALLEDEM NICHTAUF DER STRECKE ?

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Förderung von Lernerautonomie und Sprachfreudemöglich. Konkret beschreibt Whiteman Unterrichtmit Lernenden, die die ersten sechs Kapitel des Lehr- werks Themen neu  absolviert hatten, also noch Anfänger sind.

Studierende sind auch die Zielgruppe im Beitragvon Purnomowulan . Diese studieren an der Univer-sität in Bandung in Indonesien Deutsch. Sie be-schreibt den unterschiedlichen Einsatz von Bilder-büchern während des gesamten Studiums, wobeilandeskundliche Aspekte den Schwerpunkt ihrerÜberlegungen ausmachen. Im ersten Semester, alsobei direkten Anfängern, sollen die KinderbücherSprachangst abbauen, Spaß am Lesen erzeugen undvor allem im Landeskundeunterricht Illustrations-

material liefern, mit dem parallel zu einer Landes-kundevorlesung ein sinnlicher Eindruck von der Vielfalt des deutschsprachigen Raums vermittelt werden kann. Ausgewählt wurden zwanzig unter-schiedliche deutschsprachige Bücher, die vom zwei-ten Semester an auch in ihrer textgestalterischenDimension stärker in den Unterricht einfließen unddurch globales Lesen zur Erarbeitung von Informa-tionen herangezogen werden. Während in dieserPhase ästhetische Aspekte der Texte in den Hinter-grund rücken und die Bilderbücher lediglich als

Sprungbrett für die Erarbeitung landeskundlicherInformationen genutzt werden, dienen sie im drit-ten und vierten Semester zur Erarbeitung vonSprachgefühl und werden zur interkulturellen Sen-sibilisierung und zur Anleitung zum kreativenSchreiben herangezogen.

In den drei folgenden Beiträgen stellen die Auto-rinnen unterschiedliche Konzepte für die Arbeit mitGanzschriften im Deutschunterricht vor.

Erich Kästners Roman Das fliegende Klassenzim-

mer stellt Feld-Knapp in den Mittelpunkt ihrer Über-legungen. Sie möchte die Schüler dazu befähigen,sich frei in einem längeren fremdsprachigen Text zuorientieren und aufgrund der Leseerlebnisse Rezep-tionsgespräche zu führen. Für ihre Arbeit an einemBudapester Gymnasium wählte sie gerade diesenText, weil sie ihn für inhaltlich relevant und im Ver-lauf handlungsreich hielt, so dass die Lernenden beiihrer Lektüre auf mehrere Höhe- und Wendepunktetreffen könnten. Auch biete der Roman sowohlMöglichkeiten für die Identifizierung als auch die

Distanzierung und könne so von Schülern in die-sem Alter angenommen werden. Der Beitrag doku-mentiert ausgewählte Stundenentwürfe, die auchauf den Umgang mit anderen Ganzschriften bezo-gen werden können.

Ebenfalls einen Roman, allerdings einen aktuellen,Crazy von Benjamin Lebert, der als Jugendlektüre giltund aufgrund seiner sexuellen Explizitheit nicht fürden Deutschunterricht an allen Orten geeignet sein wird, nimmt Geist  zum Anlass, den Umgang mitGanzschriften im Unterricht zu diskutieren. Be-schrieben werden Aufgabenstellungen zur Förde-rung unterschiedlicher Lesestrategien und verschie-dene produktions- und handlungsorientierte Vorge-hensweisen, wobei besonders die Einstiegsphaseausführlich behandelt wird.

Handlungs- und produktionsorientiert ist auchder Unterrichtsablauf, den Monika Bischof in ihremBeitrag schildert. Der Text, den sie behandelt, gehörtzur kleinen Gruppe der für fremdsprachliche Leser

von den Originalautoren selbst adaptierten Romane.Ihre schüleraktivierenden Aufgaben stellt Bischof am Beispiel der Lektüre von Bernhard Hagemanns Johnny schweigt  vor, einem Buch, das das über-angepasste Verhalten von Eltern beim Schüleraus-tausch auf den Arm nimmt und sich gut als leb-hafter Auslöser für ein interkulturelles Gesprächverwenden lässt.

Literaturverzeichnis:Bogaers, Maurice: Kästner – und kein Ende? Zur Position der Jugendlitera-

tur im Deutschunterricht an niederländischen Schulen. INFORMATIO-NEN JUGENDLITERATUR UND MEDIEN, 1 / 1982, 48-51.

Burwitz-Melzer, Eva: Literatur (nicht nur) für Kinder. Studienbrief Litera-turwissenschaft/Fachdidaktik Englisch. (= Fernstudium Fremdsprachenin Grund- und Hauptschulen, Universität Koblenz-Landau). Koblenz-Landau 2000.

Caspari, Daniela: Kreative Verfahren im fremdsprachlichen Literatur-unterricht. Berlin: Berliner Institut für Lehrerfort und -weiterbildungund Schulentwicklung 1995.

Görtz, Franz Josef / Sarkowicz, Hans: Erich Kästner. Eine Biographie. UnterMitarbeit von Anja Johann. München: Piper 1998.

Jenkins, Eva-Maria: Christine Nöstlinger im Gespräch. In: FREMDSPRACHEDEUTSCH, 11 / 1994, 14-21.

Kast, Bernd: Jugendliteratur im kommunikativen Deutschunterricht. Berlinusw.: Langenscheidt 1985.

Koppensteiner, Jürgen: Literatur im DaF-Unterricht. Eine Einführung inproduktiv-kreative Techniken. Wien: öbv und htp 2001.

Krumm, Hans-Jürgen: „Please, lies!“ Hat Literatur einen Platz in der gegen- wärtigen Diskussion über das Lehren und Lernen von Fremdsprachen?1000 und 1 Buch , 1 / 2001, 24-28.

O'Sullivan, Emer: Kinderliterarische Komparatistik. Heidelberg: Universi-tätsverlag C. Winter 2000.

O'Sullivan, Emer / Rösler, Dietmar: Fremdsprachenlernen und Kinder- undJugendliteratur. Eine kritische Bestandsaufnahme. In: ZEITSCHRIFTFÜR FREMDSPRACHENFORSCHUNG 13 / 2002, 1, 63-111.

Rönnqvist, Lilian / Sell, Roger D.: Teenage books in foreign language edu-cation for the middle school. In: Sell, Roger D. (Hrsg.): Literature through-out foreign language education. Åbo: Åbo Akademi University 1994,58-106.

Stahl, J. D.: Cross-cultural Perceptions: Images of Germany in America andof America in Germany Conveyed By Children's and Youth Literature.Phaedrus 11 / 1985, 25-37.