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Plenarprotokoll 16/52 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 52. Sitzung Berlin, Freitag, den 22. September 2006 Inhalt: Absetzung des Tagesordnungspunktes 28 . . . Tagesordnungspunkt 22: Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, der FDP, der LINKEN und des BÜND- NISSES 90/DIE GRÜNEN: Annahme einer Vereinbarung zwischen dem Deutschen Bundestag und der Bundesregierung über die Zusammenarbeit in Angelegenheiten der Europäischen Union Drucksache 16/2620) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Roth (Heringen) (SPD) . . . . . . . . . . . Markus Löning (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Stübgen (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Alexander Ulrich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Günter Gloser, Staatsminister AA . . . . . . . . . Michael Link (Heilbronn) (FDP) . . . . . . . . . . Peter Hintze, Parl. Staatssekretär BMWi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Axel Schäfer (Bochum) (SPD) . . . . . . . . . . . . Dr. Diether Dehm (DIE LINKE) . . . . . . . . Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Thomas Silberhorn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 23: Antrag der Abgeordneten Hans-Kurt Hill, Eva Bulling-Schröter, Lutz Heilmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN: Energiepreiskontrolle sicherstellen (Drucksache 16/2505) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Oskar Lafontaine (DIE LINKE) . . . . . . . . . . Dagmar Wöhrl, Parl. Staats- sekretärin BMWi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gudrun Kopp (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) . . . . . Manfred Zöllmer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Oskar Lafontaine (DIE LINKE) . . . . . . . . Ulrich Maurer (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU) . . . . . . . . . Hans-Kurt Hill (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU) . . . . . . . . . Rolf Hempelmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Hans-Kurt Hill (DIE LINKE) . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 24: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Vertragsarztrechts und an- derer Gesetze (Vertragsarztrechtsände- rungsgesetz – VÄndG) (Drucksache 16/2474) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Marion Caspers-Merk, Parl. Staats- sekretärin BMG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Konrad Schily (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . 5053 A 5053 B 5053 B 5055 A 5055 D 5057 D 5059 B 5061 A 5062 C 5063 D 5065 C 5066 C 5066 D 5067 B 5068 D 5069 A 5070 C 5071 D 5073 B 5073 D 5075 B 5075 D 5076 B 5077 C 5079 C 5079 D 5080 A 5082 B 5083 B 5084 A 5085 B 5085 C 5086 B

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Plenarprotokoll 16/52

Deutscher BundestagStenografischer Bericht

52. Sitzung

Berlin, Freitag, den 22. September 2006

I n h a l t :

Absetzung des Tagesordnungspunktes 28 . . .

Tagesordnungspunkt 22:Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, derSPD, der FDP, der LINKEN und des BÜND-NISSES 90/DIE GRÜNEN: Annahme einerVereinbarung zwischen dem DeutschenBundestag und der Bundesregierung überdie Zusammenarbeit in Angelegenheitender Europäischen UnionDrucksache 16/2620) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .Michael Roth (Heringen) (SPD) . . . . . . . . . . .Markus Löning (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . .Michael Stübgen (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . .Alexander Ulrich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . .Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/

DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .Günter Gloser, Staatsminister AA . . . . . . . . .Michael Link (Heilbronn) (FDP) . . . . . . . . . .Peter Hintze, Parl. Staatssekretär

BMWi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .Axel Schäfer (Bochum) (SPD) . . . . . . . . . . . .

Dr. Diether Dehm (DIE LINKE) . . . . . . . .Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . .

Thomas Silberhorn (CDU/CSU) . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 23:Antrag der Abgeordneten Hans-Kurt Hill, EvaBulling-Schröter, Lutz Heilmann, weitererAbgeordneter und der Fraktion der LINKEN: Energiepreiskontrolle sicherstellen(Drucksache 16/2505) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

5053 A

5053 B5053 B5055 A5055 D5057 D

5059 B5061 A5062 C

5063 D5065 C5066 C5066 D5067 B

5068 D

Oskar Lafontaine (DIE LINKE) . . . . . . . . . .

Dagmar Wöhrl, Parl. Staats-sekretärin BMWi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Gudrun Kopp (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) . . . . .

Manfred Zöllmer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Oskar Lafontaine (DIE LINKE) . . . . . . . .

Ulrich Maurer (DIE LINKE) . . . . . . . . . . .

Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU) . . . . . . . . .

Hans-Kurt Hill (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . .

Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU) . . . . . . . . .

Rolf Hempelmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . .

Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) . . . . . . . . . . .

Hans-Kurt Hill (DIE LINKE) . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 24:

Erste Beratung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zurÄnderung des Vertragsarztrechts und an-derer Gesetze (Vertragsarztrechtsände-rungsgesetz – VÄndG)(Drucksache 16/2474) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Marion Caspers-Merk, Parl. Staats-sekretärin BMG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Konrad Schily (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . .

5069 A

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II Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 52. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. September 2006

Dr. Hans Georg Faust (CDU/CSU) . . . . . . . .

Frank Spieth (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Eike Hovermann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 25:

Bericht des Ausschusses für Bildung, For-schung und Technikfolgenabschätzung gemäߧ 56 a der Geschäftsordnung: Technikfolgen-abschätzung (TA) – TA-Projekt: Zukunfts-trends im Tourismus(Drucksache 16/478) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Marlene Mortler (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . .

Jens Ackermann (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Renate Gradistanac (SPD) . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . .

Undine Kurth (Quedlinburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 26:

Antrag der Abgeordneten Christine Scheel,Birgitt Bender, Ekin Deligöz, weiterer Abge-ordneter und der Fraktion des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN: Eckpunkte für einegerechte Reform der Erbschaft- undSchenkungsteuer(Drucksache 16/2076) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 27:

Antrag der Abgeordneten Gisela Piltz,Dr. Max Stadler, Patrick Döring, weitererAbgeordneter und der Fraktion der FDP: Ge-gen Geheimniskrämerei – Entscheidungen

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kommunaler Gesellschaften transparentgestalten(Drucksache 16/395) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Max Stadler (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Anlage 1

Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . .

Anlage 2

Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratungdes Antrags: Eckpunkte für eine gerechte Re-form der Erbschaft- und Schenkungsteuer(Tagesordnungspunkt 26) . . . . . . . . . . . . . . . .

Christian Freiherr von Stetten (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Florian Pronold (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Carl-Ludwig Thiele (FDP) . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) . . . . . . . . . . .

Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Anlage 3

Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratungdes Antrags: Gegen Geheimniskrämerei –Entscheidungen kommunaler Gesellschaftentransparent gestalten(Tagesordnungspunkt 27) . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Günter Krings (CDU/CSU) . . . . . . . . . . .

Klaus Uwe Benneter (SPD) . . . . . . . . . . . . . .

Katrin Kunert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . .

Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 52. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. September 2006 5053

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52. Sitzung

Berlin, Freitag, den 22. September 2006

Beginn: 11.00 Uhr

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die

Sitzung ist eröffnet.

Interfraktionell ist vereinbart worden, Punkt 28 – Be-ratung des Antrags der Fraktion Die Linke mit dem Titel„Für die unbeschränkte Geltung der Menschenrechte inDeutschland“ – von der Tagesordnung abzusetzen. SindSie mit dieser Vereinbarung einverstanden? – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf:

Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, der FDP, der LINKEN und desBÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN

Annahme einer Vereinbarung zwischen demDeutschen Bundestag und der Bundesregie-rung über die Zusammenarbeit in Angelegen-heiten der Europäischen Union

– Drucksache 16/2620 –

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. – Ichhöre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile dem KollegenMichael Roth, SPD-Fraktion, das Wort.

Michael Roth (Heringen) (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Man ist ja fast versucht, jeden der anwesenden Kollegenper Handschlag und mit Namen zu begrüßen.

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das geht dann aber von Ihrer Redezeit ab.

Michael Roth (Heringen) (SPD): Deswegen erspare ich mir das, Herr Präsident. – Ich

glaube nicht, dass dies der Bedeutung der heutigen De-batte gerecht wird. Bundestag und Bundesregierungschließen heute nämlich eine Vereinbarung über die Zu-sammenarbeit in Angelegenheiten der EuropäischenUnion, wie es etwas nüchtern heißt. Es geht dabei jedoch

weniger um rein organisatorische und technische Fragender europapolitischen Kooperation zwischen Parlamentund Regierung. Vielmehr wagen wir mit dieser Verein-barung mehr Parlamentarismus und Demokratie. DerBundestag kann zukünftig das Gesicht Europas stärkergestalten als jemals zuvor. Diese Vereinbarung ist längstüberfällig.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir alle, die sich mit Europa beschäftigen, spüren:Die Idee eines vereinigten Europas hat in den vergan-genen Jahren an Strahlkraft verloren, und zwar nicht nurbei den Bürgerinnen und Bürgern, den Medien und vie-len Organisationen, sondern auch bei uns: In allen Frak-tionen ist das Unbehagen gegenüber der europäischenIntegration gewachsen. Viele von uns schimpfen überden Bürokratiekoloss in Brüssel. Nicht wenige schüttelnden Kopf über die vermeintlich weltfremde europäischeGesetzgebungsmaschinerie. Immer mehr Kolleginnenund Kollegen bedauern den sinkenden Einfluss nationa-len Handelns. Viele sehen keine Spielräume mehr für ei-gene Akzente und Ideen, wenn es gilt, Richtlinien in na-tionales Recht umzusetzen. In den Augen einiger vonuns ist die EU nur noch ein Büttel der Globalisierungund nicht mehr das Instrument, um Globalisierung de-mokratisch und sozial zu gestalten.

Das ist eine ziemlich deprimierende Zustandsbe-schreibung. Ich halte diese Beschreibung aber für falsch.Auch wir Abgeordnete des Deutschen Bundestages sindEuropa. Wir sind Teil der europäischen Gesetzgebung.Wir vertreten die Bürgerinnen und Bürger Deutschlands,die auch Bürgerinnen und Bürger der EuropäischenUnion sind. Auch wir tragen in hohem Maße für diesesEuropa Verantwortung. Daher müssen wir Europa parla-mentarisieren. Wir müssen unser Parlament europäisie-ren.

Auf diesem Weg sind wir mit der Vereinbarung ge-meinsam einen großen Schritt vorangekommen.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP)

Redetext

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5054 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 52. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. September 2006

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Michael Roth (Heringen)

Auch das ist im parlamentarischen Alltag selten. Aber esist folgerichtig. Wenn Parlamentsrechte unmittelbar be-rührt sind, dann sollten die traditionellen Linien zwi-schen der Opposition einerseits und der Koalitionsmehr-heit andererseits verschwimmen.

Ich danke daher ausdrücklich den Kollegen RainderSteenblock, Markus Löning, Alexander Ulrich, ThomasSilberhorn, Michael Stübgen und Axel Schäfer. Ichdanke auch den Vertretern der Bundesregierung, Staats-minister Günter Gloser und Staatssekretär Peter Hintze,die für die Bundesregierung die Verhandlungen führten.Bei ihnen hat man das parlamentarische Herz noch sehrstark schlagen gehört; auch das hat sicherlich zum Erfolgder Beratungen beigetragen.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und derFDP – Zuruf von der CDU/CSU: Das dürfenSie jetzt nicht so betonen, sonst kriegen siedort Probleme!)

Dank gilt aber auch unseren Mitarbeiterinnen und Mitar-beitern, die im Hintergrund engagiert und hoch kompe-tent zum Erfolg beitrugen.

Der europäische Gesetzgebungsprozess ist bislangstark von der Exekutive geprägt; im Rat sitzen Ministe-rinnen und Minister. Unser Auftrag ist es, innerstaatlichderen Handeln zu kontrollieren und Einfluss auf die Ge-setzgebung zu nehmen. Zukünftig werden die Informa-tionsrechte des Bundestages erheblich ausgeweitet.Alle Bundestagsabgeordneten haben Zugang zu allenDokumenten und Berichten der EU-Kommission, desRates und der Bundesregierung. Endlich befinden wiruns mit dem Bundesrat auf einer Augenhöhe. Die imVerhältnis zum Bundestag bedenklich starke Position derLänderregierungen, zugrunde gelegt im Art. 23 Grund-gesetz, war, ist und bleibt für uns ein Ärgernis. Daran hatauch die Föderalismusreform substanziell nicht viel ge-ändert.

(Dr. Werner Hoyer [FDP]: Leider, leider!)

Im Bereich der originären Bundeszuständigkeiten– Außen-, Sicherheits-, Verteidigungs- und Handelspoli-tik – verfügen wir zukünftig über mehr Informationsrechteals der Bundesrat. Stellungnahmen des Bundestages wer-den verbindliche Grundlage für die Verhandlungen derBundesregierung im Rat. Abweichen kann die Bundes-regierung nur dann, wenn sie es mit außen- oder integra-tionspolitischen Gründen zu rechtfertigen vermag. DieBundesregierung ist verpflichtet, Rechenschaft gegen-über dem Bundestag abzulegen. Bei grundlegenden eu-ropäischen Weichenstellungen – Eröffnung von Bei-trittsverhandlungen, Vertragsänderungsverfahren – musssich die Bundesregierung um ein Einvernehmen mit demBundestag bemühen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, das gefällt nicht al-len. Einige Kommentatoren sprechen von neuer Blo-ckade in der Europapolitik. Ein vermessener Vorwurf!Kann man von Blockaden sprechen, wenn der Bundes-tag zu einer besseren Gesetzgebung beizutragen ver-sucht? Kann man von Blockaden sprechen, wenn wirnicht erst bei der Umsetzung von Richtlinien in nationa-les Recht, sondern schon bei deren Erarbeitung Einfluss

zu nehmen versuchen? Kann man von Blockaden spre-chen, wenn Abgeordnete die Europapolitik des Bundesauf ein breiteres Fundament stellen? Parlamente sindkein überflüssiges Beiwerk, kein Sahnehäubchen, son-dern das Fundament unserer Demokratie.

Die Beratungen über die Dienstleistungsrichtlinie zei-gen auf eindrucksvolle Weise, wie frühzeitige und um-fassende Mitwirkung von Abgeordneten zu bessererRechtsetzung führen kann. Lassen wir diesem Beispielweitere folgen!

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowiebei Abgeordneten der FDP und des BÜND-NISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wir übernehmen zukünftig verstärkt Verantwortung,liebe Kolleginnen und Kollegen. Die Schutzbehauptungeinzelner von uns, man habe nichts gewusst und nichtsgehört, gilt nicht länger. Diese Verantwortung verpflich-tet uns zu größerem Einsatz, größerer Aufmerksamkeit,größerer Sorgfalt und größerer Wertschätzung gegenüberden Europapolitikerinnen und -politikern im ganzenHause.

Europa darf auch nicht länger nur Angelegenheit derMitglieder des Europaausschusses sein. Wir brauchenden Sachverstand aller Fachpolitikerinnen und -politi-ker. Außerdem müssen dieser Vereinbarung weitereSchritte folgen: mehr europapolitische Kompetenz in derBundestagsverwaltung und in unseren Fraktionen, Än-derungen der Geschäftsordnung, die die Zusammenar-beit zwischen Fachausschüssen und EU-Ausschuss ver-bindlicher regeln, sowie ein Verbindungsbüro desBundestages in Brüssel, nicht in Konkurrenz, sondern inPartnerschaft zu unserer ständigen Vertretung der Bun-desrepublik. Dies sollten wir selbstbewusst nach außenvertreten; schließlich folgen wir damit dem Beispiel fastaller nationalen Parlamente in der Europäischen Union.

Wir brauchen eine noch engere Kooperation mitdem Europäischen Parlament in der Gesetzgebung.Wir alle wissen, wie schwierig es ist, einen kontinuierli-chen Kontakt zu unseren Kolleginnen und Kollegen imEuropäischen Parlament zu halten. Dennoch ist dies not-wendig, um die Rechtsetzung zu verbessern. Außerdembrauchen wir hier im Bundestag regelmäßigere Plenar-debatten zu aktuellen europapolitischen Projekten.

Wir brauchen schlussendlich eine EU-Verfassung.Wir brauchen eine europäische Verfassung, weil sie Eu-ropa handlungsfähiger und demokratischer macht undweil sie den nationalen Parlamenten weitere Mitwir-kungsrechte eröffnet.

Niemand von uns sollte sich der Illusion hingeben,dass auf einen Schlag alles besser wird. Aber es gilt nundie großartige Chance zu nutzen, die uns die zur Diskus-sion stehende Vereinbarung eröffnet. Auch wenn esheute nicht danach aussehen mag – wir beraten ja inüberschaubarer Runde –, könnte diese Vereinbarungdurchaus einen bedeutenden Platz im Geschichtsbuchdes Parlamentarismus in Europa finden. Allein, es liegtin unserer Hand.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

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Michael Roth (Heringen)

(Beifall im ganzen Hause)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort Kollegen Markus Löning, FDP-

Fraktion.

Markus Löning (FDP): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe

Kolleginnen und Kollegen! Ich habe mir als ersten Satzaufgeschrieben – so ähnlich hat es auch der KollegeRoth gerade formuliert –: Das wurde Zeit. Seit 1993existiert eine solche Vereinbarung zwischen Bundesratund Bundesregierung. Zwar möchte ich mich dem be-rechtigten Lob meiner Vorredner aus vollem Herzen an-schließen und hinzufügen, dass wir, die Opposition, vonden Koalitionsfraktionen und den Mitgliedern der Bun-desregierung, die das verhandelt haben, sehr fair behan-delt wurden. Dafür gebührt ihnen unser Dank, insbeson-dere den Herren mit den zwei Herzen in der Brust, HerrnGloser und Herrn Hintze.

(Beifall im ganzen Hause)

Dennoch möchte ich kritisch fragen – diese Fragestellt sich für mich leicht, weil ich dem Bundestag erstseit 2002 angehöre –, was mit den Kollegen eigentlichlos gewesen ist, die seit 1993 dabei sind und die gewussthaben, dass der Bundesrat und die Bundesregierung einesolche Vereinbarung beschlossen haben. Welches Selbst-verständnis hatte der Deutsche Bundestag in den letztenJahren? Wir, die Abgeordneten, sollten uns also nichtnur lobend äußern, sondern auch deutlich machen, dassso etwas nicht wieder passieren darf. Der Bundestagbraucht in Zukunft deutlich mehr Selbstbewusstsein.Das ist auch das richtige Stichwort im Hinblick auf dieseVereinbarung.

In der Substanz stimmen wir alle der Vereinbarungzu. Nun muss diese Vereinbarung aber auch umgesetztwerden. Dabei wird es verstärkt darauf ankommen, dassnicht nur wir als Fachabgeordnete, die Europapolitiker,uns damit beschäftigen, sondern dass auch in den Fach-bereichen und den Fachausschüssen – egal ob es nun dieBereiche Arbeit, Inneres, Justiz oder Finanzen sind; ichbegrüße es deshalb außerordentlich, dass die Bundesre-gierung mit einer ganzen Reihe von Fachministern ver-treten ist – an den europapolitischen Vorlagen zu einemZeitpunkt gearbeitet wird, zu dem wir noch Einflussnehmen können. Wir müssen unsere Arbeitsweise um-strukturieren und früher in die Prozesse eingreifen. Ichappelliere insbesondere an die Koalitionsabgeordneten:Haben Sie die Traute, der Bundesregierung zu sagen, inwelche Richtung sie marschieren soll! Es wird daraufankommen, liebe Kolleginnen und Kollegen von denKoalitionsfraktionen, dass Sie der Bundesregierung ge-gebenenfalls die Leviten lesen und sagen: Wir, die Parla-mentarier, bestehen darauf, dass es behandelt wird unddass ein bestimmter Beschluss gefasst wird. – Sie kön-nen sich darauf verlassen, dass wir, die Opposition, dasauf jeden Fall machen werden.

(Beifall bei der FDP)

Die große Chance der Vereinbarung besteht in zweiDingen. Zum einen wird das Demokratiedefizit in Eu-ropa ein Stück weit abgebaut. Wir haben immer beklagt,dass Europa zu undemokratisch ist und dass die Parla-mentarier zu wenige Mitspracherechte haben. Das än-dern wir mit dieser Vereinbarung. Die Parlamentarierkönnen wieder mitreden, und zwar dann, wenn sie dieEntscheidungen noch beeinflussen können.

Zum anderen versetzt uns die Vereinbarung in dieLage – das halte ich für fast noch wichtiger –, Debattenin Europa, die bislang mehr oder weniger unter Aus-schluss der nationalen Öffentlichkeit geführt werden, inden Fokus der nationalen Öffentlichkeit zu rücken. Wirkönnen Europaangelegenheiten im Deutschen Bundes-tag thematisieren und so die Aufmerksamkeit der deut-schen Bürger und der deutschen Medien darauf lenken.Wir können hier Europaangelegenheiten, über die bis-lang in Brüssel hinter verschlossenen Türen beratenwurde, thematisieren, und zwar zu einem Zeitpunkt, zudem wir noch Einfluss ausüben können.

Wir tragen eine große Verantwortung, das auch zutun. Nur wenn für die Bürger deutlich wird, dass wir zueinem Zeitpunkt mitreden können, zu dem noch ein Ein-greifen möglich ist, werden wir in der Lage sein, die Eu-ropamüdigkeit der Bürger zu bekämpfen und den Bür-gern zu zeigen, dass man bei Europa mitreden kann.Man kann es vielleicht auf folgenden Nenner bringen: Eswird unsere Aufgabe sein, anhand dieser Vereinbarungin den nächsten Jahren das Raumschiff Brüssel dazu zubringen, öfter hier in Berlin auf dem harten Boden derRealität zu landen und sich hier mit den Tatsachen vorOrt auseinander zu setzen. Ich glaube, das ist eine nichtzu unterschätzende Aufgabe, die in den nächsten Jahrenauf uns zukommt.

Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP und der SPD sowie beiAbgeordneten der LINKEN und des BÜND-NISSES 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort Kollegen Michael Stübgen, CDU/

CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Michael Stübgen (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Man kann mitBlick auf die nicht übermäßige Präsenz vielleicht auchformulieren, dass unsere Kolleginnen und Kollegen, diejetzt nicht hier sind, ein derartig fundamentales Ver-trauen in uns haben, dass sie wissen, dass wir das ver-nünftig und richtig hinbekommen, und sie sich denwichtigen tagespolitischen Aktivitäten widmen können.

(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Nein, die sind auf dem Weg nachHause! Es ist Freitag!)

Wenn wir diese Zusammenarbeitsvereinbarung, überdie wir jetzt beraten und die Gegenstand unseres Antrags

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Michael Stübgen

ist, verabschieden und wenn sie in Kraft tritt, ist das eineentscheidende Wegmarke in einem ungefähr 15 Jahrewährenden Prozess. Wir haben in Deutschland und in Eu-ropa mit der Ratifizierung des Maastrichter Vertrages1992 endgültig die Wende von Außenpolitik in Europa zueuropäischer Innenpolitik eingeleitet. Während des Zeit-raums der Ratifizierung des Maastrichter Vertrages hatsich der Bundesrat richtigerweise – darauf ist schon hin-gewiesen worden – umfassende Informations- und Mit-wirkungsrechte bei der europäischen Rechtsetzunggesichert. Der Bundestag hat sich damals bei der Ratifi-zierung des Maastrichter Vertrages – ich war damals nichtnur dabei, sondern auch Berichterstatter – deutlich weni-ger Informationsrechte und faktisch keine Mitwirkungs-rechte gesichert.

Man könnte lange darüber spekulieren, warum das soist und warum es fast 15 Jahre gedauert hat, bis wir eineZusammenarbeitsvereinbarung, die der des Bundesratesgleichwertig ist, abschließen konnten. Auf jeden Fallwar es so, dass dieses Thema in den Ausschüssen desBundestages immer wieder beraten worden ist. Das ge-schah aber nach dem klassischen Schnittmuster, das wirbei vielen wichtigen Themen kennen. So haben SPD-Fraktion und Grüne dieses Thema immer wieder aufge-griffen, aber sie haben 1999 gänzlich den Mut verloren,nachdrückliche Forderungen zu stellen. Ich muss zuge-ben, dass auch CDU/CSU und FDP diesen Mut, etwaszu fordern, erst 1999 gewonnen haben. Es ist nun einmaleinfacher, aus der Opposition heraus Forderungen zustellen, als wenn man Verantwortung in der Regierungs-koalition trägt. Ich sage das deshalb, weil ich unterstrei-chen möchte, von welch besonderer Bedeutung die Tat-sache ist, dass dieser Zusammenarbeitsvereinbarung, diewir heute beschließen, von allen Fraktionen dieses Hau-ses zugestimmt worden ist. Ich glaube, das ist ganz ent-scheidend für die Qualität dieser Vereinbarung.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)

Wir werden mit dieser Vereinbarung neue Wege inder Europapolitik und der Befassung mit Europapolitikin diesem Bundestag gehen. Wir werden in Zukunft einallumfassendes Informationsrecht für alle europäi-schen Belange haben. Wir werden alle Dokumente undBerichte der Gemeinschaftsorgane, der Kommission undihrer Dienststellen, des Rates und seiner Arbeitsgruppen,und auch die Dokumente der ständigen Vertretung inBrüssel zu allen europäischen Aktivitäten bekommen.Wir werden sie sehr frühzeitig bekommen, nämlich nachspätestens zehn Tagen. Sofern es sich um Rechtset-zungsakte handelt – das ist ein Punkt, der mir bei denVerhandlungen besonders wichtig war –, werden wir in-nerhalb dieser zehn Tage von der Bundesregierung eineumfassende Folgenabschätzung, eine Prüfung derRechtsgrundlage und eine Subsidiaritätsprüfung bekom-men. Das ist deshalb wichtig, weil wir im Gegensatzzum Bundesrat nicht die Expertise haben, das alles inunserem Haus mit unseren Referenten und Ausschuss-sekretariaten prüfen zu können. Wir werden in Zukunftdie Möglichkeit haben, auf die Expertise der Bundesre-gierung und ihrer Europaexperten zurückzugreifen. Es

ist wichtig, dass wir uns auch in diesem Fall umfassendinformieren können.

Es wird in einem zweiten Kernbereich eine entschei-dende Weichenstellung geben. Es geht um unsere Mit-wirkungsrechte. Jeder weiß, dass in Art. 23 Grundge-setz Mitwirkungsrechte für den Deutschen Bundestagdefiniert sind. Jeder von uns weiß auch, wie sie in denletzten 15 Jahren angewandt oder eher nicht angewandtworden sind. Wir schaffen mit dieser Vereinbarung nunKernbereiche, in denen der Deutsche Bundestag stärkerals bisher und eindeutiger als bisher bei der europäischenRechtsetzung mitwirken kann. Ich will kurz auf dreiKernbereiche eingehen.

Wenn der Deutsche Bundestag in Zukunft nachArt. 23 des Grundgesetzes einen Beschluss zu einemeuropäischen Rechtsetzungsvorhaben fasst, dann wirddieser Beschluss von der Bundesregierung nicht nur zuberücksichtigen sein, wie das bisher der Fall ist, sonderndieser Beschluss wird für die Bundesregierung eine ver-bindliche Grundlage für ihre Verhandlungen bei den eu-ropäischen Räten sein. Wir führen in diesem Zusammen-hang ein neues Instrument ein, das auf unsereBeschlussfassung folgt. Wenn die Bundesregierung beiihren Beratungen in den europäischen Räten die wesent-lichen Grundlagen unseres Beschlusses nicht umsetzenkann, was natürlich vorkommen kann, dann wird sie ei-nen Parlamentsvorbehalt einlegen und sich bemühen,vor der endgültigen Beschlussfassung im EuropäischenRat Einvernehmen mit dem Bundestag herzustellen. Dasheißt, wir werden in jedem Fall die Möglichkeit haben,uns mit den neuen Rahmenbedingungen hier im Bundes-tag zu befassen und uns eine eigene Meinung zu bilden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowiebei Abgeordneten der FDP und des BÜND-NISSES 90/DIE GRÜNEN)

Bei einem anderen Schwerpunkt geht es um, wie iches nenne, politisch schwerwiegende Rechtsetzungsvor-haben der Europäischen Union. Ein Beispiel ist die sogenannte Passerelle. Das heißt, der Europäische Ratkann einstimmig beschließen, dass in bestimmten Poli-tikbereichen der Europäischen Union nicht mehr Ein-stimmigkeit erforderlich ist, sondern die Mehrheitsent-scheidung genügt. Solche Entscheidungen sind politischdeutlich brisanter, als auch ich mir das vor 15 Jahrennoch vorgestellt habe, als dieses Verfahren eingeführtwurde. Es geht dabei nämlich darum, dass die Bundesre-publik Deutschland die Möglichkeit verliert, und zwarendgültig, in diesen Politikbereichen durch ein Veto ir-gendeine europäische Rechtsetzung, die dann ja auch fürDeutschland verbindlich ist, aufzuhalten.

Die Bundesregierung hatte auf der Grundlage der altenZusammenarbeitsvereinbarung bisher die Auffassung,dass es für diese Vorhaben keine besondere Informationdes Bundestages und auch kein Mitentscheidungsrechtdes Bundestages gebe, weil nämlich alle diese Möglich-keiten schon bei der Ratifizierung von europäischen Ver-trägen ziemlich genau festgelegt worden seien, allerdingspauschal. Wir legen in dieser Vereinbarung nun fest, dasses sich dann, wenn solche Vorhaben beraten werden, umVorhaben im Sinne dieser Vereinbarung handelt. Das

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heißt, wir werden allumfassende Informationsrechte unddie vollen Mitwirkungsrechte haben. Es wird eine öffent-liche Debatte dazu geben, sodass auch die Bürger vonsolch entscheidenden Vorhaben mehr erfahren.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP und der LINKEN)

In einem weiteren Bereich geht es darum, dass dieEuropäische Union bestimmte Beschlüsse fasst, der Eu-ropäische Rat zum Beispiel Beitrittsverhandlungen miteinem assoziierten Land oder Vertragsveränderungs-verhandlungen aufnimmt. Wir alle wissen, dass einesolche Entscheidung im Vorhinein viel wichtiger ist alsletztlich die Ratifizierung, bei der wir nur noch Ja oderNein sagen können und faktisch – jedenfalls in der Ko-alition – eigentlich gar nicht mehr Nein sagen können.Entscheidend ist, dass wir vor solchen Beschlüssen da-mit befasst werden.

Hierzu wird geregelt, dass die Bundesregierung inZukunft vor Beginn von Beitritts- oder Vertragsverände-rungsverhandlungen versucht, Einvernehmen mit demBundestag herzustellen. Auch hierzu werden wir eineöffentliche Debatte haben. Hierüber können wir unsebenfalls eine Meinung bilden. Sowohl die Bundesregie-rung als auch wir werden der Öffentlichkeit gegenüberRechenschaft darüber ablegen müssen und können, wa-rum wir uns für oder gegen solche Entscheidungen aus-sprechen.

Diese Zusammenarbeitsvereinbarung wird fundamen-tale Auswirkungen auf unsere tägliche Arbeit, auf dieArbeit eines jeden Kollegen haben. Es wird sich zumBeispiel die Menge an Informationen, die uns zur Ver-fügung stehen, sehr stark verändern. Wir werden in Zu-kunft eine Informationsflut bekommen, die mir manch-mal schon Angst macht. Vor allen Dingen wird für unswichtig sein, dass wir in der Lage sind, die wirklichwichtigen und entscheidenden Informationen rechtzeitigherauszufiltern und mit ihnen zu arbeiten, um Einflussauf die europäische Rechtsetzung nehmen zu können.

Ich sage es unumwunden: Wir brauchen, und zwarmöglichst bald, eine Datenbank für diese Informatio-nen. Ich weiß, der Bundesrat hat viele Jahre an solch ei-ner Datenbank gearbeitet. Es handelt sich dabei auch umein sehr komplexes und kompliziertes Verfahren. Ichwill dazu nur sagen: Ich wünsche mir, dass wir es schaf-fen, gemeinsam mit dem Bundesrat kollegial solch eineDatenbank zu nutzen. Symbolisch ist das auch sehr ver-nünftig, weil wir beide ja die Verfassungsorgane sind,die über europäische Rechtsetzung mitentscheiden kön-nen.

(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Und es wäre besser, das nicht Parlakomzu überlassen!)

Es wird aber auch etwas Positives passieren. Ichglaube, fast jeder von Ihnen hat schon das frustrierendeErlebnis gehabt, dass man Berichterstatter für einenRichtlinienvorschlag der Europäischen Union gewordenist, sich dann intensiv damit beschäftigte, aber dann,wenn man aufs Datum schaute, oft merkte, dass dieRichtlinie zwei bis drei Jahre alt war und in den europäi-

schen Gremien schon längst umgesetzt worden war.Trotzdem wurde darüber beraten und man musste sich in-tensiv damit beschäftigen. Zum Schluss konnte man nurnoch mutig „Kenntnisnahme“ empfehlen. Diese frustrie-renden Erlebnisse werden der Vergangenheit angehören.

Wir sind jetzt in der Lage, uns bei Rechtsetzungsvor-haben zu einem sehr frühen Zeitpunkt in die Beratungeneinzumischen. Wir werden in der Lage sein, europäischeRechtsetzung mitzugestalten. Wir müssen dies aber auchtun.

(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Eben!)

Wenn wir uns in Zukunft nicht bewegen, wird sich auchin der Art und Weise der Behandlung der Europapolitiknichts ändern.

Das heißt, diese Zusammenarbeitsvereinbarung gibtuns die Möglichkeit, Europapolitik mitzugestalten. Un-sere Aufgabe ist es, dies dann auch zu tun. Wir werdenalso in Zukunft hoffentlich die Lust haben, europäischePolitik direkt mitzugestalten. Wir werden aber auch dieLast haben, dass sich das Ausmaß des Aufwands von je-dem Einzelnen von uns für die Beschäftigung mit euro-päischer Politik massiv ausweiten wird.

Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Nun hat Kollege Alexander Ulrich, Fraktion Die

Linke, das Wort.

(Beifall bei der LINKEN)

Alexander Ulrich (DIE LINKE): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine Vorredner haben darauf hingewiesen, dass dieAnwesenheit der Abgeordneten bei diesem doch wichti-gen Thema sehr bescheiden ist. Es steckt vielleicht aucheine gewisse Symbolik dahinter, dass mehr Zuschauer,die ich ganz herzlich begrüße, als Abgeordnete da sind.Es zeigt nämlich, dass scheinbar die Menschen in die-sem Land mehr Interesse an Europa haben, als der Bun-destag bisher an den Tag gelegt hat. Das zeigt mir aberauch – Herr Löning, auch Sie haben das ja kritisiert –,warum es so lange gedauert hat, bis es zu dieser Verein-barung gekommen ist.

(Markus Löning [FDP]: Weil wir beide nicht dabei waren!)

– Wir beide waren nicht dabei; da gebe ich Ihnen Recht. –Es ist aber auch wichtig, festzuhalten, dass mit dieserVereinbarung, die wir heute verabschieden, der Aufrufan uns alle ergeht, sie mit Leben zu erfüllen. Wir habenmonatelang um diesen interfraktionellen Antrag gerun-gen, über ihn verhandelt und auch gestritten. Es kommtjetzt wirklich darauf an, wie die einzelnen Abgeordnetendiese erweiterten Rechte des Bundestages wahrneh-men. Nur dann, wenn das geschieht, entfaltet diese Ver-einbarung eine langfristige Wirkung.

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Alexander Ulrich

Wir von der Fraktion Die Linke begrüßen die vorlie-gende Vereinbarung zwischen Bundestag und Bundesre-gierung zur Verbesserung der Europatauglichkeit diesesHauses. Es gibt jedoch – das ist angemerkt worden – be-reits seit 1993 eine ähnliche Vereinbarung zwischen Bun-desregierung und Länderregierungen. Der 15. DeutscheBundestag hatte bereits ein verstärktes Mitwirkungsrechtin EU-Angelegenheiten angemahnt. Wahrscheinlichmusste jedoch erst die Linke in den Bundestag einziehen– das ist jetzt etwas scherzhaft gemeint –, um den not-wendigen Rückenwind für das Gelingen dieser Vereinba-rung zu geben.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN –Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Den Scherz haben Sie jetzt aberauch selber gemerkt! – Volker Kauder [CDU/CSU]: Was trübt sich beim Kranken? A) derUrin, b) die Gedanken!)

Es ist gut, dass es in den Verhandlungen nicht um Par-tei- und Fraktionsinteressen ging, sondern uns dieRechte des Bundestages so wichtig waren, dass ein inter-fraktionelles Handeln möglich wurde.

Die Vereinbarung zwischen Bundestag und Bundesre-gierung ist ein zentraler Baustein für eine stärkere Einbe-ziehung des Bundestages in Fragen der Europapolitik.Der Auftrag des Grundgesetzes, das gesetzgeberischeHandeln der Bundesregierung im Europäischen Rat zulegitimieren, soll damit weitaus besser als bisher abgesi-chert werden.

Es geht nicht darum – darin sind sich alle Fraktioneneinig –, neue Blockaden in der Europapolitik zu errich-ten. Vielmehr geht es darum, die Europapolitik des Bun-des auf eine breitere Grundlage zu stellen und innerstaat-lich zu einer besseren Gesetzgebung der EuropäischenUnion beizutragen.

Was ist das Neue an der Vereinbarung? Die Informa-tionsrechte des Bundestages werden erheblich ausge-weitet, das heißt, die bisherige Informationspraxis wirdum schriftliche Berichte, Bewertungen und Folgenab-schätzungen ergänzt. Darüber hinaus geht eine Initiativeder Europäischen Kommission in dieselbe Richtung. Dienationalen Parlamente sollen und müssen stärker in dieKonzipierung und Durchführung der EU-Politik einge-bunden werden.

(Beifall bei der LINKEN)

Diese Einbeziehung des Bundestages ist wichtig und einFortschritt, gerade in Anbetracht der deutschen Ratsprä-sidentschaft, die auch eine Präsidentschaft des Bundes-tags sein sollte.

Neu ist außerdem, dass die Stellungnahmen, die dasParlament gemäß Art. 23 Grundgesetz abgeben kann,verbindliche Grundlage für die Verhandlungen der Bun-desregierung im Europäischen Rat sein werden. DieBundesregierung darf nur aus wichtigen außen- oder in-tegrationspolitischen Gründen von den Stellungnahmenabweichen. Der Bundestag wird somit zu einem neuen,besseren politischen Akteur in der europäischen Gesetz-

gebung und er wird bei Entscheidungen von grundlegen-der Bedeutung stärker einbezogen.

Die Bundesregierung ist nun verpflichtet, sich vor derEröffnung von Vertragsänderungsverfahren oder Beitrit-ten um Einvernehmen mit dem Parlament zu bemühen.Auch wenn ich nicht glaube, dass die Regierungsfraktio-nen ihre erweiterten Rechte immer und tatsächlich nut-zen werden, wird sich die Fraktion Die Linke auch wei-terhin aktiv in die Gestaltung der Europapolitikeinbringen.

(Beifall bei der LINKEN)

Um die Vorfeldbeobachtung in Brüssel zu gewährleis-ten, wird eine Vertretung des Bundestages in Brüsselerrichtet. Jede Fraktion wird Beschäftigte nach Brüsselentsenden. Vielen Dank auch an die Haushälter für diezusätzlichen finanziellen Mittel!

Verglichen mit anderen Mitgliedstaaten reagiertDeutschland auf die enorme Wichtigkeit der Europapoli-tik aber sehr spät. Wir gehören zu den Nachzüglern:Großbritannien, Schweden und Finnland verfügen be-reits seit Jahren über gut ausgebaute, effektive Struktu-ren in Brüssel. Ich möchte hier nur Dänemark erwähnen.Dort wurden die Beteiligungsrechte des Parlaments be-reits 1973 im Gesetz über den Beitritt zur EWG nieder-gelegt. Die Union der 25 – bald 27 – Mitgliedstaatenmuss handlungsfähig bleiben. Die Entfremdung der Bür-gerinnen und Bürger von Europa ist groß. Das zeigt sichnicht nur in der Ablehnung des Verfassungsvertrages inFrankreich und den Niederlanden.

Fakt ist, Europa geht in die falsche Richtung: wenigerfriedlich, weniger sozial und ohne grundlegende Demo-kratisierung. Mehr als 60 Prozent der Gesetzesinitiativenhaben ihren Ursprung in Brüssel. Dem deutschen Bürgerverbleiben maximal 40 Prozent an demokratischer Ein-flussnahme. Das Bundesverfassungsgericht hat in sei-ner berühmten Maastrichtentscheidung die besondereBedeutung der Parlamente der Mitgliedstaaten für diedemokratische Legitimation europäischer Politik hervor-gehoben – ich zitiere –:

Nimmt ein Verbund demokratischer Staaten hoheit-liche Aufgaben wahr und übt dazu hoheitliche Be-fugnisse aus, sind es zuvörderst die Staatsvölker derMitgliedstaaten, die dies über die nationalen Parla-mente demokratisch zu legitimieren haben.

Dem wird der Bundestag bisher nicht gerecht. Vielmehrwerden die Bürgerinnen und Bürger systematisch ent-mündigt und sie büßen politische Macht und Möglich-keiten ein.

Gerade die sozialen Bedürfnisse der europäischenBevölkerung werden ständig ignoriert. Als Beispielnenne ich bloß die Dienstleistungsrichtlinie, die dem So-zialdumping Tür und Tor öffnen wird. Im Europa der 25hat sich ein dramatisches Gefälle im Wohlstands- undwirtschaftlichen Entwicklungsniveau abgezeichnet. Ge-rade einmal die Hälfte der neuen Mitgliedstaaten erzieltein Bruttoinlandsprodukt pro Kopf von mehr als 50 Pro-zent des EU-15-Durchschnitts.

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(Markus Löning [FDP]: Aber die holen kräftig auf!)

Von einer Nachvollziehbarkeit der Entscheidungenauf europäischer Ebene ist man, vom derzeitigen Standaus gesehen, sehr weit entfernt. Für die Bürgerinnen undBürger existiert sie praktisch nicht. Die EU braucht einedemokratische und handlungsfähige Struktur, das bedeu-tet, sie braucht nicht mehr undurchschaubare bürokrati-sche Prozesse, sondern transparente, für jeden Bürgernachvollziehbare Entscheidungen.

Neben der verbesserten Beteiligung des Bundestagesmüssen wir bei wichtigen europäischen Fragen aberauch die Bevölkerung einbeziehen.

(Beifall bei der LINKEN)

Wir müssen beim Thema Europa mehr direkte Demokra-tie wagen und die Bevölkerung zum Beispiel über eineveränderte EU-Verfassung in einer Volksabstimmungentscheiden lassen.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Markus Löning [FDP])

Ich begrüße ausdrücklich, dass heute in der „FinancialTimes Deutschland“ steht: Merkel offen für geändertenEU-Vertrag. Ich wünsche mir, dass auch die anderenFraktionen im Europaausschuss sagen: Dieser EU-Ver-trag muss geändert werden; er muss dem Volk in einerVolksabstimmung vorgelegt werden.

(Beifall bei der LINKEN)

Wir, die Linke, fordern, die Politik der geschlossenenTüren zu beenden. Wer die europäische Krise beendenwill, muss die Angst vor den Bürgerinnen und Bürgernablegen. Wir brauchen ein europäisches Bewusstseinbei den Bürgerinnen und Bürgern.

Einen ersten kleinen Schritt in diese Richtung gehtder Deutsche Bundestag mit der heute zu beschließendenVereinbarung. Dies ist übrigens die erste und bisher ein-zige interfraktionelle parlamentarische Initiative in die-ser Legislaturperiode. Wir begrüßen diese Vereinbarungausdrücklich und bedanken uns für die konstruktive Zu-sammenarbeit mit den beteiligten Kolleginnen und Kol-legen aus den Fraktionen, in der Bundesregierung undaus der Verwaltung.

Vielen Dank.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-neten der CDU/CSU, der SPD und des BÜND-NISSES 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort Kollegen Rainder Steenblock,

Bündnis 90/Die Grünen.

Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!Heute ist ein guter Tag für die Demokratie in Deutsch-land. Denn wann haben wir in diesem Hohen Hauseschon einmal die Gelegenheit, neue Rechte, die sich das

Parlament gegen die Exekutive erkämpft hat, zu feiern?Das ist selten; ich weiß nicht, wie oft das in den letzten20 bis 30 Jahren vorgekommen ist.

Man kann die vorliegende Vereinbarung sicherlichnicht hoch genug einschätzen. Sie ist ein Lehrstück da-für, wie man demokratische Errungenschaften wie dieEntscheidungs-, Beteiligungs- und Informationsrechtefür die vom Volk direkt gewählten Abgeordneten veran-kern kann. Allerdings muss man ehrlicherweise zuge-ben, dass diese Vereinbarung nicht nur aus der Kraft desParlaments geboren wurde. Sie ist auch das Ergebnis ei-ner historischen Konstellation, bei der alle Fraktionensehr entschieden und engagiert in die gleiche Richtunggearbeitet haben.

Wie gesagt, die Situation, um zu dieser Vereinbarungzu kommen, war günstig: Die Unionsfraktion hatte sich,als sie noch in der Opposition war, in dieser Frage mit ei-nem Papier ausgesprochen weit aus dem Fenster gelehnt;das hätte sie in der Regierungsverantwortung nie ge-macht. Auch nach den Neuwahlen – die Entscheidungdes damaligen Kanzlers für Neuwahlen haben wir nichtunbedingt begrüßt – war den vier Mitgliedern des Euro-paausschusses, die an diesem Papier mitgearbeitet hattenund die dann in die Regierung wechselten, dieses Papiernoch im Kopf. Diese Situation mussten wir nutzen undwir haben sie genutzt. Dafür möchte ich mich bei denehemaligen Mitgliedern des Europaausschusses und jet-zigen Regierungsmitgliedern Günter Gloser, PeterAltmaier, Peter Hintze und Gerd Müller bedanken.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der SPD sowie bei Abgeordneten derCDU/CSU, der FDP und der LINKEN)

Nach meiner anderthalbjährigen Mitarbeit in der Fö-deralismuskommission und nach meiner Mitarbeit andieser Vereinbarung weiß ich, wie schwer es ist, Rechtevon Volksvertretern zu verankern, und wie weit wirschon auf dem Weg in eine Exekutivrepublik sind, inder es Parlamentarier schwer haben, auf Augenhöhe mitder Regierung zu sein.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, derSPD, der FDP und der LINKEN)

Lassen Sie uns diesen Erfolg als Beispiel dafür nehmen,wie wir unsere Rechte als Parlamentarier einfordernkönnen. Denn wir sind es, die vor den Bürgerinnen undBürgern für die getroffenen Entscheidungen gerade zustehen haben.

Eine Bemerkung zur Ausstattung der Abgeordne-ten, über die wir in letzter Zeit häufig diskutiert haben.Angesichts unserer Arbeit, die wir zu leisten haben, undangesichts der Informationspflichten, die durch dieseVereinbarung neu auf uns zukommen, müssen wir eineandere Mitarbeiterstruktur haben, um entscheidungsfä-hig zu sein.

Deshalb finde ich es richtig, wenn sich ein Parlament ausseiner Verantwortung heraus, begründete Entscheidun-gen zu fällen, die aufgrund von Sachkompetenz zustandekommen, in der Öffentlichkeit auch in diesen Fragen

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stark macht und sagt: Wir sind es, die hier die Entschei-dungen fällen und die Regierung kontrollieren. LassenSie uns da weitermachen!

(Beifall im ganzen Hause)

Die Einzelheiten der von uns getroffenen Vereinba-rung will ich, da Sie diese schon von meinen vier Vor-rednern gehört haben, nicht ein fünftes Mal erwähnen.Ich möchte vielmehr an fünf Punkten deutlich machen,was wir jetzt tun müssen, um diese Vereinbarung mit Le-ben zu erfüllen.

Der erste Punkt ist: Wir müssen die Debattenkultureuropäisieren. Die Europäische Union legt jedes Jahr imFrühjahr ein Strategieprogramm vor, in dem die langfris-tigen Strategien der Europäischen Union aufgezeigt wer-den. Ich bin sehr dafür, dass dieses Strategieprogrammeine Grundlage unserer europapolitischen Arbeit wirdund wir jedes Jahr im Frühjahr, wenn dieses Strate-gieprogramm der Europäischen Union veröffentlichtwird, im Deutschen Bundestag eine Debatte dazu führen,damit es nicht untergeht, sondern in den politischenRaum der nationalen Parlamente gehoben wird. Dashalte ich für ein wichtiges Moment, um handlungsfähigzu werden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, derSPD, der FDP und der LINKEN)

Der zweite Punkt betrifft das Legislativprogramm.Das Legislativprogramm, also die Gesetzgebungsvorha-ben der Europäischen Union, wird, ohne dass viele Fach-kollegen es merken – das ist kein Vorwurf; ich kenne dieArbeit in den Fachausschüssen gerade im Verkehrsbe-reich und im Finanzbereich aus eigener Erfahrung; ichweiß, wie man da mit Papier zugeschüttet wird –, immerim Spätherbst veröffentlicht. Ich bin sehr dafür, dass wirdieses Legislativprogramm ernsthaft durch alle Aus-schüsse jagen und sich die Fachleute aller Ausschüsse zudiesem Legislativprogramm der Europäischen Unionverhalten müssen, um dann nicht hinterher sagen zu kön-nen: Wir haben diese Vorlagen viel zu spät erhalten. Wirmüssen uns selber disziplinieren, diese Vorlagen ernstnehmen und rechtzeitig darüber diskutieren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, derSPD, der FDP und der LINKEN)

Der dritte Punkt, den ich vorschlagen möchte und derim Rahmen der Verhandlungen zwischen den Fraktionenschon zur Diskussion gestellt worden ist, ist die Einfüh-rung einer Europafragestunde. Das heißt, in bestimm-ten Abständen, zum Beispiel jedes Vierteljahr, soll dieRegierung der Bundesrepublik Deutschland ganz kon-zentriert zu europapolitischen Fragen befragt werden.Ich glaube, das wäre eine Möglichkeit, die europapoliti-schen Themen besser in unsere Arbeit zu integrieren undmit der Bundesregierung ad hoc in einen Dialog zu tre-ten. Der dritte Vorschlag, eine Europafragestunde einzu-führen, ist gut praktikabel. Diesen Vorschlag sollten wirzur Erhöhung unseres eigenen Informationsstandes ver-nünftigerweise rasch umsetzen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, derSPD, der FDP und der LINKEN)

Der vierte Punkt ist ein technischer, den wir klärenmüssen. Ziel ist – das begrüße ich sehr –, dass in derkonkreten Arbeit in den Fachausschüssen mehr überEuropa und europäische Vorhaben diskutiert wird. Wirmüssen sehen, wie wir in den Fachausschüssen vorgehen– in einigen Ausschüssen gibt es schon Unterausschüssezu europarechtlichen Fragen; ob das immer das besteMedium ist, um diese Fragen im Ausschuss zu behan-deln, müssen die Fachausschüsse sicherlich selber ent-scheiden; es ist auch darüber nachzudenken, ob festeTagesordnungspunkte zu europarechtlichen Fragen fest-gelegt werden –, um das, was wir hier erreicht haben,nicht versickern zu lassen. Denn das Schlimmste, waspassieren kann, ist – einige Kollegen haben das schonangesprochen –, dass wir zwar jetzt Rechte haben, wiraber nach einem Jahr oder nach zwei Jahren, wenn einkluger Journalist recherchiert haben wird, wie wir diesewahrgenommen haben, aufgrund dieser öffentlichen Re-cherchen feststellen müssen, dass wir von unseren Rech-ten zu wenig Gebrauch gemacht haben.

Deshalb stehen wir in der Verpflichtung, die Europa-arbeit insbesondere in die Ausschussarbeit zu implemen-tieren. Wir müssen dabei die Arbeit des Europaausschus-ses als Koordinationsgremium und die konkrete Arbeitin den Fachausschüssen neu justieren. Das ist ein ganzpraktischer Ansatz. Ich glaube, wenn wir keine guteKonstellation zwischen den Ausschüssen hinbekommen,sondern Hakeleien einbauen, dann werden wir es ehermit Konkurrenzsituationen zu tun haben, als dass wir inder Sache vorankommen.

Ein letzter Punkt; er ist vom Praktischen her der wich-tigste. Wir müssen unsere Bundestagsverwaltung in dieLage versetzen, dass sie uns in die Lage versetzt, ver-nünftige Arbeit zu machen.

Es wurden bereits viele Vorarbeiten geleistet, an de-nen auch die Fraktionen beteiligt waren. Herr Vizepräsi-dent, Sie haben in Ihrer Zeit als Bundestagspräsident imRahmen der Strukturierung der neuen Europaabteilungviele Erfahrungen gemacht. Dieses Vorhaben begleitenSie auch weiterhin.

Ich möchte mich an dieser Stelle sehr deutlich füreine möglichst wenig ausdifferenzierte Verwaltungs-struktur aussprechen. Es sollte vermieden werden – dasmöchte ich deutlich sagen –, dass einzelne Einheiten derVerwaltung gegeneinander arbeiten können. Das ist zwarkein großes, öffentliches Thema, aber eine Verwaltungs-struktur, die mit internen Abgrenzungsproblemen oderKompetenzrangeleien beschäftigt ist, kann uns in unse-rer Arbeit sehr stark behindern. In diesem Zusammen-hang ist auch die Integration des Brüsseler Büros einwichtiger Punkt.

Ich sage das zum Abschluss, weil ich den Verhand-lungsprozess mit Herzblut begleitet habe und davonüberzeugt bin, dass wir hierbei vorankommen müssen.Dieser Deutsche Bundestag hat diese Vereinbarung mei-ner Ansicht nach verdient, weil hier hoch kompetente

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Leute sitzen, die darauf warten, an die entscheidendenSchalthebel zu kommen, die inzwischen immer häufigerauf europäischer Ebene angesiedelt sind.

Solange das Europäische Parlament nicht die Mög-lichkeit hat, die demokratische Kontrolle in Gänze zurealisieren – wir Grünen haben das immer gefordert –, solange müssen die nationalen Parlamente sehr viel mehrArbeit übernehmen. Ich hoffe, dass wir das zusammenhinbekommen.

Diese Vereinbarung ist ein guter Ansatz zur Stärkungvon Parlamentsrechten und zur Stärkung der europäi-schen Arbeit. Dieser Deutsche Bundestag kann dadurchin Bezug auf die Lösung seiner Aufgaben zukunftsfähi-ger werden. Ich wünsche uns allen viel Erfolg dabei.

(Beifall im ganzen Hause)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Als nächster Redner hat Staatsminister Günter Gloser

das Wort.

Günter Gloser, Staatsminister im Auswärtigen Amt: Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Ungeachtet aller Erfolge in der Vergangenheitbefindet sich die Europäische Union – einige Redner ha-ben das bereits ausgeführt – in einer schwierigen Lage.An dieser Stelle wird immer an den Verfassungsprozessund an die in Frankreich und den Niederlanden geschei-terten Referenden erinnert. Niemand weiß genau, wiewir den ins Stocken gekommenen Prozess wieder inGang setzen können. Wir wissen aber, dass wir ihn wie-der in Gang setzen müssen. Die Akzeptanz der Europäi-schen Union in der Bevölkerung hat gelitten. Wenn mandiesen Zustand mit „Europaskepsis“ umschreibt, ist dasvielleicht nicht ganz treffend; es gibt verschiedenen Fa-cetten.

Wenige Monate vor dem 50. Jahrestag der RömischenVerträge möchte ich aber – auch wenn ich einige kriti-sche Bemerkungen gemacht habe – betonen, dass dieEuropäische Union eine einmalige Erfolgsgeschichte istund andere uns darum beneiden, dass wir es geschaffthaben, eine solche Europäische Union auf friedlichemWege zu gründen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich möchte – in einigen Reden klang es so, als wäreheute ein revolutionärer Tag – auf die Dinge eingehen,die angesprochen worden sind. Die Menschen in Europahaben gerade in den letzten Monaten verstanden, dass dieEuropäische Union und die von ihr erlassenen Regelun-gen sie unmittelbar betreffen. Das belegen die intensivenDiskussionen über die bereits genannte Dienstleistungs-richtlinie, die Gleichstellungsrichtlinie, die Hafenrichtli-nie oder über ein so großes Projekt wie die Erweiterungder Europäischen Union. Auch wenn die Debatten kon-trovers geführt wurden und an der EU Kritik geübt wurde– wer ist die EU? –, ist erfreulich, festzustellen, dass dieMenschen Europa wahrnehmen und über Europa disku-tieren. Wir müssen uns aber fragen – mit „wir“ meine ichdie Bundesregierung und uns Parlamentarier –, ob wir

nicht manchmal die falschen Botschaften gesetzt haben,ob wir nicht manche Gesetzgebungsinitiative durch eineoft sehr eingeschränkte Wahrnehmung diskreditiert ha-ben. Ich glaube, hier müssen wir behutsam vorgehen,wenn wir einen offenen Diskurs mit der Bevölkerungwollen.

Dieses neue, wenn auch häufig kritische Interesseder Bürger ist gut für die Europäische Union; denn eserzeugt einen Rechtfertigungsdruck, dem sich die Or-gane der Europäischen Union, aber auch wir, die Regie-rung und das Parlament, stellen müssen. Wir müssenrechtfertigen, warum wir einen Rechtsakt auf europäi-scher Ebene für notwendig halten. Wir müssen erklären,was das dem Bürger bringt. Wir müssen auch manchmalvermitteln, warum etwas im Interesse der EuropäischenUnion wichtig ist und warum man nicht nur an die Inte-ressen des eigenen Landes denken sollte.

Das kritische Interesse der Bürger verschafft uns auchdie Chance, die konkreten Vorteile der EuropäischenUnion und der von ihr geschaffenen Rechtsakte zu ver-mitteln. Die Gesetzgebung von Bund und Ländern – wirhaben das vorhin gehört – wird in wachsendem Maßevon Entscheidungen geprägt, die auf der Ebene der Eu-ropäischen Union getroffen werden. Gemeinsam mitdem Dreieck der europäischen Institutionen – Europäi-sches Parlament, Kommission und Rat in seiner gesetz-gebenden Funktion – bilden die nationalen Parlamente– davon bin ich felsenfest überzeugt – das demokratischeFundament der europäischen Bürger- und Staatenunion.

Nationale Parlamentarier müssen als Mitgestalter ei-nes Gesetzgebungsprozesses begriffen werden, der im-mer häufiger von Brüssel aus angestoßen wird. Es istvorhin selbstkritisch bespiegelt worden, warum es solange gedauert hat. Man muss an diesem Tag objektivsagen: Der Deutsche Bundestag verfügte bereits in derVergangenheit über einige Rechte, die aber nicht ent-sprechend ausgestaltet waren. Aufgrund der Defizite gabes Nachholbedarf. Deshalb gab es die breite Diskussionüber Möglichkeiten zu mehr Beteiligung. Diese nun er-zielte Vereinbarung wird die Europapolitik des Bundesauf eine breitere Grundlage stellen und zur besseren Ge-setzgebung der Europäischen Union beitragen.

Die Informations- und Beteiligungsrechte des Bun-destages sollen durch diese neue Vereinbarung ausge-weitet werden. Alle von Ihnen angemahnten Dokumenteund Berichte zu europäischen Aktivitäten, sowohl dieder Gemeinschaftsorgane Kommission und Rat als auchdie der Bundesregierung, insbesondere die der StändigenVertretung bei der Europäischen Union, werden demBundestag umfassend vermittelt. Daneben wird eineReihe von Unterrichtungsformen, die bereits Praxis sind,verbessert. Ich denke, diese Vereinbarung ist ein zentra-ler Baustein für die verbesserte Europatauglichkeit desBundestages. Aber gleichzeitig – das hat in den Ver-handlungen eine wesentliche Rolle gespielt – lässt dieseVereinbarung der Bundesregierung den nötigen Spiel-raum, den sie in den Verhandlungen in Brüssel braucht.Wenn man die Situation in der Anfangszeit mit der heu-tigen vergleicht, sieht man, dass sich vieles veränderthat.

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Staatsminister Günter Gloser

Ich bin der Überzeugung, dass diese Vereinbarunguns eine Chance bietet, die Legitimität europäischerRechtssetzung in Deutschland zu erhöhen. Ich möchtean dieser Stelle meinen ausdrücklichen Dank sagen andiejenigen, die für die Fraktionen verhandelt haben, aberauch an diejenigen, die ihnen zugearbeitet haben, dieauch uns in den Ressorts zugearbeitet haben. Das warenwichtige Beiträge. Ich danke auch dem Kollegen PeterHintze, der mit mir für die Bundesregierung diese Ver-handlungen geführt hat, und den anderen Kollegen in derRegierung, die uns im Hintergrund dabei unterstützt ha-ben. Ich kann Ihnen versichern: Es bleibt bei dem einenHerz. Aber ich glaube, man braucht Kopf und Herz, umdie Europapolitik voranzubringen. Ich finde es ange-sichts der Positionen, mit denen die Fraktionen in dieseDebatte gegangen sind – Rainder Steenblock hat daraufhingewiesen –, bemerkenswert, dass wir einen, so denkeich, guten Kompromiss gefunden haben.

Wir sollten aber nicht vergessen, dass der Verfas-sungsvertrag, den ich eingangs erwähnt habe, für dieweitere Einbindung der nationalen Parlamente wichtigist. Denn er ist ein wichtiger Schritt, um mehr und früherbeteiligt zu werden. Die Stärkung des Subsidiaritäts-prinzips war eine Intention der Bundesregierung. Siewar im Konvent wie auch auf der Regierungskonferenzein besonderes deutsches Anliegen. Nicht zuletzt wegender mit dem Vertrag in dieser Hinsicht erzielten Fort-schritte setzt sich die Bundesregierung dafür ein, die imeuropäischen Verfassungsvertrag gefundenen Lösungenzu erhalten.

Die Elemente des Verfassungsvertrages machen dieEuropäische Union – das ist immer kritisiert worden –gerade demokratischer. Sie machen sie handlungsfähi-ger, effizienter und transparenter. Genau damit erreichenwir das Ziel, Europa den Bürgerinnen und Bürgern näherzu bringen. Ich gehe gern darauf ein – das wird auch einThema der Präsidentschaft Deutschlands im nächstenJahr sein –, dass wir nicht nur fragen müssen: WelcheFolgen haben bestimmte Gesetzesinitiativen für den Be-reich Wirtschaft, für kleine und mittlere Unternehmen?Genauso wichtig ist natürlich die Frage: Welche sozialenFolgen hat eine Initiative? Ich denke, das hat die Vergan-genheit gezeigt.

Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ohne dassman jetzt das Primärrecht ändern müsste, ist die Kom-mission ohnehin bereits vom Europäischen Rat aufgefor-dert worden, die nationalen Parlamente frühzeitig einzu-beziehen. Wenn wir die Bürgerinnen und Bürger fürEuropa gewinnen möchten, sollte unser Ziel sein, dasssich jeder Europäer ganz selbstverständlich sowohl alsBürger seiner Stadt und seines Mitgliedstaats als auchals Bürger der Europäischen Union versteht. Ich bin– weil ich ja auch Parlamentarier bin – davon überzeugt,dass die nationalen Parlamente, vor allem der Bundes-tag, dazu einen wesentlichen Beitrag leisten können. Ichdenke, dass diese Vereinbarung die entsprechendenWerkzeuge liefert. Ich finde es gut, dass wir die Verein-barung wenige Wochen vor Beginn der deutschen Präsi-dentschaft in der Europäischen Union geschaffen haben;denn ich glaube, dass diese Präsidentschaft durch ein ak-tives Parlament begleitet werden muss.

Vielen Dank.

(Beifall im ganzen Hause)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort Kollegen Michael Link, FDP-

Fraktion.

(Beifall bei der FDP)

Michael Link (Heilbronn) (FDP): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!

Herr Staatsminister Gloser, ich würde nicht ganz so weitgehen, den heutigen Tag als revolutionär zu bezeichnen.Natürlich ist das ein guter Tag. Wir gehen nicht nur ei-nen Schritt in die richtige Richtung, sondern ich glaube,hier wurde die richtige Balance gefunden zwischen denMitwirkungsrechten des Bundestages einerseits und derBewahrung der Kernbereiche exekutiven Handelns an-dererseits, die – das verstehen auch wir als Parlament –natürlich sein müssen.

Es ist aber schon etwas anderes – das will ich einfachnoch einmal mit Blick auf die Öffentlichkeit sagen –, obes, wie im Grundgesetz, das ja bestehen bleibt, heißt, dieBundesregierung berücksichtigt bei ihren Verhandlun-gen die Stellungnahmen des Bundestages, oder ob es,wie jetzt in unserer Vereinbarung, heißt, die Stellungnah-men werden den Verhandlungen der Bundesregierungzugrunde gelegt. Das ist ein substanzieller Unterschiedund wir begrüßen die Formulierung in der Vereinbarung.Das ist genau die richtige Balance.

(Beifall bei der FDP und der LINKEN sowiebei Abgeordneten der CDU/CSU und derSPD)

Alle wichtigen Punkte sind hier bereits angesprochenworden. Ich will deshalb ein Beispiel nennen. Oft be-schworen wird ja das Demokratiedefizit in der Europäi-schen Union. Meine These ist: In keinem anderen Be-reich ist das Demokratiedefizit größer als beim EU-Haushalt. In keinem anderen Bereich haben wir gegen-wärtig so wenig Mitwirkungsrechte der nationalen Parla-mente. Wir werden es nächstes Jahr erleben. Denn imLaufe des nächsten Jahres soll uns die Ratifizierung desneuen Eigenmittelbeschlusses vorgelegt werden – einschwieriger Prozess –; der Beschluss soll aber bereits ab1. Januar 2007 gelten. Über welches Recht haben wir dawirklich noch substanziell mit zu entscheiden?

Umso wichtiger wird sein, dass wir im Vorhinein, vorden Ratsverhandlungen – das sage ich besonders mitBlick auf die Kollegen im Haushaltsausschuss –, tätigwerden. Wenn wir uns einmal vor Augen führen, um wieviel Geld es geht – jährlich über 22, 23 Milliarden Eurofür Deutschland – und für wie lange wir uns mit dem Ei-genmittelbeschluss völkerrechtlich verbindlich binden –für über sieben Jahre; das heißt, wir können danach nichtmehr darüber entscheiden –, dann können wir feststellen,dass es umso wichtiger ist, dass wir in Zukunft ein kla-res, deutliches Mitspracherecht bei der Formulierung derVerhandlungsposition der Bundesregierung haben,was dank dieser Vereinbarung der Fall ist.

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 52. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. September 2006 5063

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Michael Link (Heilbronn)

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der LINKEN)

Gleiches gilt übrigens auch für die – ich sage es ein-mal salopp – Schattenhaushalte – Europäischer Ent-wicklungsfonds, Globalisierungsfonds –, die jetzt anste-hen. Dort ist das Demokratiedefizit vielleicht nochgrößer als bei dem Haupthaushalt der EU; denn der wirdzumindest in der Öffentlichkeit besprochen. Beim Euro-päischen Entwicklungsfonds mit einem immensen Be-trag – gerade für die Bundesrepublik Deutschland gehtes da um sehr viel Geld; wir sind, für diejenigen, die esnoch nicht wissen, jetzt der größte Zahler im Europäi-schen Entwicklungsfonds; wir haben die Franzosenüberholt, sie liegen jetzt etwas hinter uns – ist das Demo-kratiedefizit noch größer. Dank der Vereinbarung kön-nen wir aber genau bei diesem Punkt in Zukunft vonsei-ten des Haushaltsausschusses und des Ausschusses fürwirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ganzkonkret vor den Ratsverhandlungen eingreifen. Das istein echter Fortschritt und deshalb ist das heute ein guterTag.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der LINKEN)

Zeitgleich zu der Vereinbarung, die wir heute be-schließen, läuft in der Europäischen Union – Staatsminis-ter Gloser hat es angesprochen – der Prozess der Verstär-kung und Verbesserung der Informierung der nationalenParlamente seitens der Kommission, Stichwort: Subsi-diaritätsprüfung, Subsidiaritätskontrolle. Unser Peti-tum – ich vermute, ich spreche da auch für viele Kollegenaus anderen Fraktionen – ist, dass wir dann unverzüglichVorlagen bekommen. Wichtig ist aber auch, dass danngeltendes Recht eingehalten wird, sprich: dass uns dieVorlagen auch in deutscher Sprache, der dritten Ar-beitssprache der Europäischen Kommission, zugestelltwerden. Hier muss die Bundesregierung dringend Druckausüben, dass das in Zukunft regelmäßig geschieht.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP, der CDU/CSU und der SPD)

Wenn die Subsidiaritätsprüfung tatsächlich erfolgt,wenn dieser Prozess einmal im Gange sein sollte, sei es– hoffentlich – mit einem Verfassungsvertrag, sei es miteinem gesonderten Protokoll, dann spätestens müssenwir hier im Hause beschließen, wer bei uns federführendfür diese Subsidiaritätsprüfung zuständig ist.

Mein Petitum und das meiner Fraktion ist: Die Fach-ausschüsse sollen für die Stellungnahmen zu themati-schen EU-Vorlagen zuständig sein. Aber die Federfüh-rung im Hinblick auf die Subsidiaritätsprüfung solltenaturgemäß beim Europaausschuss liegen. Das ist einwichtiger Punkt. Hier muss der Europaausschuss einesehr wichtige Verantwortung für das Gesamtparlamentwahrnehmen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Zu guter Letzt – Herr Präsident, ich komme langsamzum Schluss –: Es ist gut, dass wir neue Rechte bekom-men haben. Wir müssen von ihnen aber auch Gebrauch

machen können. Dazu gehört – Herr Steenblock und an-dere Kollegen haben das angesprochen – eine behutsameAusweitung der Personalkapazitäten beim Parlamentund bei der Kommission. Wenn das im Übersetzerstabbeschäftigte Personal etwas aufgestockt würde, damitdie Vorlagen auch in der dritten Arbeitssprache, inDeutsch, abgefasst werden können, hätte ich nichts da-gegen.

Das gilt – das mag Sie überraschen – übrigens auchfür die Bundesregierung. Unsere Zusammenarbeit imHaushaltsausschuss mit den Kollegen der Europaabtei-lung im BMF ist exzellent. Sie sind, was ihre Arbeitsbe-lastung angeht, am Limit. Wenn in Zukunft aufgrund derVereinbarung mit uns und angesichts des Informations-austausches zwischen Brüssel und den nationalen Parla-menten noch mehr Arbeit auf sie zukommt, dann könnensie das irgendwann nicht mehr bewältigen. Wir müssenuns trotz aller Sparzwänge darüber im Klaren sein: Wirmüssen die personellen Kapazitäten behutsam erweitern,damit wir das, was wir heute beschließen, mit Leben fül-len können.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordnetender CDU/CSU, der SPD, der LINKEN und desBÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

In den ersten Jahren, in denen diese neue Vereinba-rung angewandt wird, entscheidet sich, was sie wert ist.Nun kommt es auf uns an. Heute ist der Bundestag euro-papolitisch erwachsen geworden. Machen wir etwas da-raus!

(Beifall bei der FDP und der SPD sowie beiAbgeordneten der CDU/CSU, der LINKENund des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort dem Parlamentarischen Staatsse-

kretär Peter Hintze.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Peter Hintze, Parl. Staatssekretär beim Bundes-minister für Wirtschaft und Technologie:

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Stell dir vor, es geht um Europa, und keiner geht hin.Dann kommt Europa zu dir und du darfst dich nicht be-schweren, wenn dir eine Richtlinie nicht passt.

(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Das ist wahr!)

Das gilt nicht für die Anwesenden. In der Kirche ist eszwar immer so, dass die Anwesenden für diejenigen, dienicht kommen, kritisiert werden. Aber ich glaube, dassdie Zahl der hier Anwesenden entgegengesetzt propor-tional zur Bedeutung dessen ist, worüber wir heute spre-chen und was wir mit unserem Votum ausdrücklich un-terstreichen werden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Heute ist ein guter Tag für die Demokratie und ein guterTag für das Parlament.

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5064 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 52. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. September 2006

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Parl. Staatssekretär Peter Hintze

Die Bundesregierung, getragen von der großen Koali-tion, hat mit dem Bundestag eine große Kooperation inallen Europafragen vereinbart, und das ist gut so. Kol-lege Steenblock hat in seiner Rede, der ich mit Freudezugehört habe, ein gewisses Erstaunen darüber zumAusdruck gebracht, dass die Unionsfraktion das, was siein der Opposition gesagt hat, in der Regierung tatsäch-lich verwirklicht. Dieses Erstaunen dürfen Sie gerne insLand tragen. Das ist nämlich ein Grundsatz, der uns be-stimmt: In der Opposition wie in der Regierung redenwir gleich.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP – Lachen bei Abgeordneten desBÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – JürgenTrittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da ister einmal gelobt worden und schon wird erübermütig! – Michael Roth [Heringen] [SPD]:Nicht ganz so übermütig, Herr Kollege! –Markus Löning [FDP]: Herr Hintze, daranwerden wir Sie bei Gelegenheit erinnern! War-ten Sie es ab!)

Es würde dem Parlament gut anstehen, wenn das gene-rell so wäre.

(Markus Löning [FDP]: Herr Hintze, weiß das auch die Kanzlerin? – Heiterkeit)

– Absolut, Kollege Löning. Da Sie vorhin selbst gesagthaben, dass Sie zwar noch jung, aber voller Freude dabeisind, weise ich Sie darauf hin: Die Bundeskanzlerin hatdie Initiative der Opposition zur Stärkung der Mitwir-kungsrechte des Parlaments vorangetrieben. Als Verant-wortliche auf Unionsseite hat sie darauf gedrungen, dassdieses Vorhaben in den Koalitionsvertrag aufgenommenwird. Das haben wir im Parlament umgesetzt. Daraufkönnen wir gemeinsam stolz sein.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der LINKEN)

In der Tat werden nicht zuletzt die Rechte der Oppo-sition gestärkt. Das war damals unser Anliegen. Das istauch richtig. Regierungsfraktionen haben immer mehrinformelle Kontakte. Da es um eine sehr wichtige Fragegeht, wollten wir allerdings, dass das gesamte Parla-ment, Regierung und Opposition, die Chance hat, an die-sem europäischen Prozess mitzuwirken, und wir wolltendafür sorgen, dass es über alle für seine Mitwirkung rele-vanten Informationen verfügt. Denn es ist unbefriedi-gend – das haben alle Redner gesagt –, wenn wir hierohnmächtig Richtlinien in nationales Recht umsetzenmüssen und nicht politisch beraten, wenn es in Brüsselum die Erstellung, um die Weichenstellung, um dieGrundsätze dieser Richtlinien geht. Das wollen wir ge-meinsam ändern.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Eben hat ein Redner von „Doppelherz“ gesprochen.Ich glaube, damit meinte er nicht Gloser im AuswärtigenAmt und Hintze im Wirtschaftsministerium, sondern da-hinter steckte etwas die Sorge, dass nach Karl Marx dasSein allzu sehr das Bewusstsein bestimmt – mit diesemVorwurf mussten wir ja die ganzen Verhandlungen über

leben – und dass wir den Wechsel auf die Regierungs-bank nicht ohne Schaden für unser parlamentarischesHerz verkraftet hätten.

(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich glaube, das Ergebnis beweist, dass wir unser parla-mentarisches Herz auch auf der Regierungsbank behal-ten haben, auch wenn der eine oder andere Kollege – einprominenter sitzt in Reihe eins vorne rechts –

(Thomas Silberhorn [CDU/CSU]: Das werde ich noch erläutern!)

der Auffassung ist, man hätte noch mehr realisieren kön-nen, und auf andere Länder verweist.

Deshalb will ich gleich vorwegnehmen: Wir haben inunserer Vereinbarung die Grenzen, die das Grundgesetzhier setzt, wirklich parlamentsfreundlich – der FDP-Kol-lege hat das eben in seinem Beitrag auch so ausgedrückt –,bis zum äußersten Rand, ausgefüllt. Die Wünsche, diewir als Opposition geäußert haben, die über diesen Randhinausgehen, hätten eine Änderung des Grundgesetzesvorausgesetzt. Möglicherweise wird diese Debatte ein-mal kommen; aber im Rahmen der verfassungsmäßigenOrdnung, die wir jetzt haben und innerhalb derer sichunsere Vereinbarung zu bewegen hat, sind wir eng anden Rand gegangen und haben eine parlamentsfreundli-che, ja die parlamentsfreundlichste Regelung überhauptgeschaffen.

Ich will noch etwas Inhaltliches ansprechen. Mancheverweisen auf Skandinavien, dort sei es noch besser, weildas Parlament die Regierung fesseln, binden könne.Doch wir wollten eine Regelung, die die Europafähigkeitdes Bundestages stärkt und gleichzeitig die Handlungsfä-higkeit Deutschlands in Brüssel in vollem Umfange si-chert. Das unterscheidet uns vielleicht. Deutschland hatein großes Gewicht und eine große Verantwortung, dasswir uns diese Handlungsfähigkeit erhalten. Es ist im eu-ropäischen Rechtsetzungsprozess unmöglich, gefesseltam Tisch zu sitzen – so kann man keine Kompromisseschließen, so kann man keine Lösungen finden.

(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Die dänischen Kollegen!)

– Ehemalige Minister nicken aus der ersten Reihe derOpposition. Ich freue mich, Herr Trittin, dass Sie dieseErkenntnis aus der Regierung in die Opposition mitge-nommen haben; das ist sehr schön. Wir haben das Ganzeja auch gemeinsam vereinbart. Deswegen glaube ich,dass wir insgesamt eine sehr kluge Regelung gefundenhaben.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

Ausgangspunkt des heutigen Tages war das Ja desBundestages zur europäischen Verfassung. Damals ha-ben wir mit breiter Mehrheit – alle Fraktionen, die hierim Parlament vertreten waren – Ja zu ihr gesagt. Ich darfherzlich bitten, sich nicht von einer Falschüberschrift inder „Financial Times Deutschland“, die schon durch denText unmittelbar darunter nicht gedeckt ist, einreden zu

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Parl. Staatssekretär Peter Hintze

lassen, wir hätten hier einen Kurswechsel vorgenom-men. Der Deutsche Bundestag hat klar Ja zum europäi-schen Verfassungsvertrag gesagt. Ich glaube, es steht unsgut an, auch heute klar Ja zu diesem gemeinsamen Pro-jekt zu sagen, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowiebei Abgeordneten der FDP und des BÜND-NISSES 90/DIE GRÜNEN – AlexanderUlrich [DIE LINKE]: Da sagen wir Nein!)

Denn diese europäische Verfassung bringt, was so vieleMenschen sich wünschen: mehr Transparenz, mehr Effi-zienz und auch mehr Demokratie in Europa.

Es stimmt: Die Skepsis ist auch gestiegen; eine Lang-zeitstudie der Stiftung „Wissenschaft und Politik“ zeigtdas. Interessant ist: Die Zahl derer, die Ja zu Europa sa-gen, ist gleich geblieben. Die Zahl derer, die Nein sagen,ist gestiegen. Wo kommt das her? Es kommt aus demgroßen Bereich der Bürger, die sich bisher in permissiverEnthaltung geübt haben, sich also wohlwollend nicht da-rum gekümmert haben, weil sie meinten: Es wird schonrichtig sein, wie es läuft. – Bei ihnen besteht heute grö-ßere Skepsis. Diese können wir nur überwinden, wennwir die europäischen Entscheidungsprozesse transparen-ter machen. Denn wir brauchen eher mehr als wenigerEuropa. Die Bürger wissen in ihrem Herzen auch, dassdie Europäische Union die einzig tragfähige Antwort aufdie Herausforderungen der Globalisierung ist.

Mit der Vereinbarung, die wir heute getroffen haben,schreiben wir einen ganz kleinen Abschnitt im Buch dereuropäischen Geschichte fort, nämlich den Abschnittüber die Parlamentarisierung der Entscheidungspro-zesse in der Europäischen Union. Das steht dem Bundes-tag gut an. Ich bedanke mich bei allen, die daran mitge-wirkt haben. Den Politikern ist gedankt worden. Ich willnun auch den Mitarbeitern danken

(Michael Roth [Heringen] [SPD]: Denen habe ich auch gedankt!)

und pars pro toto Christoph Thum von der SPD nennen,der Mitarbeiter der ersten Stunde war, damals, als schonböse Schatten über der rot-grünen Regierung hingen, imMai des Jahres 2005.

(Heiterkeit bei der CDU/CSU)

Die SPD hat damals gedacht: Wer weiß, wofür das gutist, wir sollten uns jetzt schon einmal ein bisschen vorbe-reiten. – Es sah damals ja so aus, dass Sie vielleicht inder Opposition landen würden. Wir dachten: Wer weiß,wofür das gut ist, wir wissen ja auch nicht, ob wir in dieRegierung kommen. – Wir haben dann gemeinsam etwasGutes daraus gemacht.

Das schöne griechische Wort Krise bedeutet ja imGrunde Frage bzw. Anfrage. Wir haben die Frage positivbeantwortet und etwas Gutes aus der Krise gemacht.Lassen Sie uns das gemeinsam nutzen!

Schönen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDPund dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowiedes Abg. Alexander Ulrich [DIE LINKE])

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich erteile Kollegen Axel Schäfer, SPD-Fraktion, das

Wort.

Axel Schäfer (Bochum) (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eu-

ropapolitik ist auch Parteipolitik. Deshalb wird es geradein der Diskussion, die wir jetzt zusammengefasst voran-gebracht haben, darauf ankommen, dass wir in Zukunftauch die parteipolitischen Unterschiede in der Europapo-litik deutlich machen. Nur damit bringen wir Europaauch inhaltlich ein Stück voran.

Gleichzeitig ist Europa unser gemeinsames Anliegen.Deshalb war es so wichtig, dass es gelungen ist, sowohldie Fraktionen der Regierungskoalition als auch alleFraktionen der Opposition für diese Vereinbarung zu ge-winnen. Das ist in diesem Parlament nicht alltäglich unddas kann auch gar nicht alltäglich sein. Weil es aber soetwas Besonderes ist, sollten wir dieses Besondere hierauch einmal ganz besonders unterstreichen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetender CDU/CSU, der FDP, der LINKEN und desBÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Es bleibt unsere Aufgabe, das Parlament gemeinsamzu europäisieren; denn eines ist auch wahr: Diese Ver-einbarung ist nicht das Ergebnis der bereits vollzogenenEuropäisierung des Parlaments und der großen Fort-schritte, die über 600 Abgeordnete und alle Ausschüsseerreicht haben, sondern ein Stück weit das Ergebnis des-sen, dass der Europaausschuss als Leitwolf bzw. -wöl-fin vorangegangen ist. Auch das gehört dazu. Jetzt wirdes darauf ankommen, dass die anderen nicht nur ein Ru-del sind, sondern dass es zu einer gemeinsamen Kraftan-strengung all derjenigen kommt, die hier Verantwortungtragen. Deshalb sollten wir das an dieser Stelle noch ein-mal ganz deutlich unterstreichen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Das ist in der Praxis ja auch schon ein Stück weit ge-lungen. Wir haben in einer wichtigen Frage gesagt, waswir wollen, was wir also von der Regierung im Rat er-warten. Um die Positionierung des Deutschen Bundesta-ges in Europafragen vor allen Dingen gegenüber derBundesregierung geht es ja. Ich erinnere hier an dieGrundrechteagentur, die neu eingerichtet werden soll.Durch eine gemeinsame Position ist es uns gelungen, dieKanzlerin und den Außenminister im Rat darauf festzu-legen, dass diese Agentur nicht einfach durchgewunkenwird – mit einer Struktur, von der wir nicht sicher wis-sen, ob sie etwas bringt –, sondern dass an dieser Stelleweiterhin kritisch gearbeitet wird, bevor die Umsetzungerfolgt. Das ist ein Erfolg des Bundestages, zu dem esaufgrund eines gewandelten Bewusstseins und einer ver-besserten Handlungsfähigkeit gekommen ist.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Kolleginnen und Kollegen, es gehört auch zu denWahrheiten dieser geschlossenen Vereinbarung, dasshier eine Reihe von lang gedienten Kolleginnen und

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Axel Schäfer (Bochum)

Kollegen am Ende gesagt haben, dass sie sich eigentlichmehr hätten vorstellen können. Na ja, denen muss mansagen, dass sie jetzt seit 25 oder 30 Jahren dabei sindund wissen müssten, dass man es sich nicht so leicht ma-chen kann. Andere haben – ebenfalls parteiübergreifend;manche davon in großer Verantwortung – gesagt: Wennich hier hätte entscheiden können, dann hätte ich euch,dem Europaausschuss bzw. dem Parlament, bezüglichder Europäisierung nicht so starke Rechte zugestanden. –Auch dies zeigt, woran wir noch ein Stück mehr arbeitenmüssen. Das sollte uns eine zusätzliche Motivation fürdie Überzeugungsarbeit sein; denn die Arbeit leisten wirweiterhin hier. Auch wenn wir uns deutlicher in Rich-tung Brüssel positionieren: Wir positionieren und kon-trollieren vor allen Dingen die Bundesregierung und wirwollen sie auch zu einer Reihe von Dingen verpflichten.Ich glaube, das ist auch richtig so.

Was wir voranbringen wollen, ist eine Europäisie-rung. Europäisierung bedeutet immer auch Parlamentari-sierung und Parlamentarisierung geht nur mit Demokra-tisierung. Die Kollegen von der Linksfraktion habenangesprochen, dass zur Demokratisierung auch die di-rekte Demokratie gehört. Ich bin sehr dafür und ichglaube, es gibt auch hier in diesem Hause eine Mehrheitdafür, dass wir in Konsequenz dieser Diskussion wiederdie Debatte darüber aufgreifen, wie wir über das Instru-ment der Volksinitiative, des Volksbegehrens und desVolksentscheids mehr direkte Demokratie in Ergänzungder repräsentativen Demokratie einführen können.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)

– Gerade weil ich jetzt Beifall von der ganz linken Seitedes Hauses bekomme, möchte ich deutlich machen, dassein wichtiger Impuls, dies umzusetzen, die europäischeVerfassung ist. Sie nimmt Elemente der direkten Demo-kratie in ganz Europa auf. Man kann aber nicht mehr di-rekte Demokratie in Deutschland fordern, wenn mangleichzeitig eine europäische Verfassung mit mehr direk-ter Demokratie ablehnt. Das passt nicht zusammen, liebeKolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das Wichtigste aber ist: Lasst uns bei all den Diskus-sionen über die Instrumente, die wir in Zukunft habenwerden und die wir verbessert nutzen wollen, immerauch über die Inhalte reden. Unser Ziel ist es, in diesemgemeinsamen Europa besser und erfolgreicher für denFrieden einzutreten und mehr für soziale Gerechtigkeitund die Schaffung von Arbeitsplätzen zu tun. Wir wollenBildung und Forschung voranbringen –

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Dehm?

Axel Schäfer (Bochum) (SPD): – wenn ich den Satz beendet habe – und den Nationa-

lismus bekämpfen.

Jetzt habe ich meinen Satz beendet. Bitte, KollegeDehm.

Dr. Diether Dehm (DIE LINKE): Es scheint heute ein revolutionärer Tag zu sein, weil

sich Konsense andeuten, die gar nicht absehbar waren.

Grund unserer Ablehnung des Verfassungsvertrageswaren nicht die plebiszitären Elemente. Können wir unsgemeinsam darauf einigen, den Verfassungsvertrag, wiees jetzt auch Frau Merkel sagt – so die „Financial TimesDeutschland“ von heute –, gründlich zu ändern, die Arti-kel des Grundgesetzes, die in dem europäischen Verfas-sungsvertrag nicht genügend berücksichtigt sind, dieSozialbindung des Eigentums und das Angriffskriegs-verbot, darin aufzunehmen und diese Verfassung dannunserer deutschen Bevölkerung zur Abstimmung zu stel-len?

(Beifall bei der LINKEN)

Axel Schäfer (Bochum) (SPD): Lieber Kollege Dehm, diese Verfassung wurde ge-

meinsam von Abgeordneten und Regierungsvertreternauch dieses Parlaments sowie des Europäischen Parla-ments und der Kommission auf der Basis einer Überein-kunft von 28 Ländern erreicht; das ist eine gute Grund-lage. Sie gilt es jetzt zu beschließen und umzusetzen.Wir müssen also dafür werben, dafür Mehrheiten zu be-kommen. Ich möchte Sie an unserer Seite haben, wennwir hier über mehr Demokratisierung durch das Grund-gesetz reden. Zunächst aber müssen Sie mit uns gemein-sam für Mehrheiten für diese europäische Verfassungwerben. Darin wollen wir Sie überzeugen; wir setzen be-stimmte Hoffnungen darauf.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Kollege Schäfer, gestatten Sie noch eine Zwischen-

frage, diesmal des Kollegen Seifert, auch Fraktion DieLinke?

Axel Schäfer (Bochum) (SPD): Ja, die gestatte ich.

Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE): Lieber Herr Kollege Schäfer, ist Ihnen vielleicht ent-

gangen, dass wir die europäische Verfassung nicht we-gen der plebiszitären Elemente, sondern wegen ihrerAusrichtung auf Militarisierung, das heißt: den Zwangzur Aufrüstung, und wegen der ausdrücklichen Festle-gung auf ein neoliberales Wirtschaftskonzept abgelehnthaben?

(Zuruf von der CDU/CSU): Schon wieder die-ses Klischee!)

Axel Schäfer (Bochum) (SPD): Erstens. Es gibt in der europäischen Verfassung, die

wir gemeinsam wollen, überhaupt keine Festlegung aufAufrüstung. Das muss man einfach einmal feststellen.

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Axel Schäfer (Bochum)

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Zweitens. Wir sind für eine soziale Marktwirtschaftund eine Sozialpflichtigkeit des Eigentums. Ich bin auchsehr dafür, dass man den Kapitalismus kritisiert, wo erbestimmte Auswüchse angenommen hat. Das allerdingshat mit den Festlegungen in der europäischen Verfassungnichts zu tun, lieber Kollege.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

Ein Letztes: Wir wollen Europa weiter verbessern,weil wir in allen Ländern gegen einen zum Teil wachsen-den Nationalismus kämpfen. Das gehört zur gemeinsa-men europäischen Identität. Unsere gemeinsame Identitätist das Gegenbild zum Nationalismus. Das wichtigsteInteresse, das wir als Nationalstaaten haben – in Deutsch-land wie in Frankreich, in Polen wie in Großbritannienund allen anderen Ländern –, ist die europäische Eini-gung. Mit dieser gemeinsamen Vereinbarung kommenwir diesem Ziel einen großen Schritt näher. Ich danke al-len, die daran mitgewirkt haben.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowiebei Abgeordneten der FDP, der LINKEN unddes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich erteile Kollegen Thomas Silberhorn, CDU/CSU-

Fraktion, das Wort.

Thomas Silberhorn (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich reihe

mich heute gerne ein in den fraktionsübergreifendenKonsens in diesem Hause. Die Vereinbarung zwischenBundestag und Bundesregierung über die Zusammenar-beit in EU-Angelegenheiten ist ein erkennbarer Fort-schritt auf unserem Weg, europäischen Angelegenheitenin Deutschland mehr Gewicht zu verleihen. Dieser Wegführt über die Beteiligung des Deutschen Bundestageszu unserem Ziel, mehr Verständnis und Akzeptanz füreuropäische Politik zu gewinnen, aber auch dazu, die Le-gitimationsbasis europäischer Entscheidungen zu stär-ken, indem in jedem Mitgliedstaat die nationalen Parla-mente intensiv damit befasst werden.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Die Vereinbarung, die wir heute beschließen, bringteine erhebliche Ausweitung der Unterrichtungspflich-ten der Bundesregierung mit sich. Dass es mehr als fünf-zig Jahre europäischer Integration bedurfte, um so weitzu kommen, ist nicht unbedingt ein Ruhmesblatt. Aberumso mehr freut es mich, dass wir es sind, die diesenFortschritt erreicht haben.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Wir ziehen damit in Bezug auf die Unterrichtung desParlamentes mit dem Bundesrat gleich und können zu-versichtlich sein, dass die Zeit der Vergangenheit ange-

hört, als wir von den Länderregierungen oft besser unter-richtet wurden als von der eigenen Bundesregierung.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Allerdings trifft dieser Fortschritt, dass wir mit demBundesrat gleichziehen, nur auf die Unterrichtung zu.Fraglich ist, was künftig mit Stellungnahmen des Bun-destages über die bloße Unterrichtung durch die Bundes-regierung hinaus passiert. Immerhin haben wir die Bun-desregierung dazu verpflichten können, dass sie künftigRechenschaft darüber ablegen muss, inwieweit eine Stel-lungnahme des Bundestages in den europäischen Gre-mien umgesetzt werden konnte. Aber es bleibt dabei,dass Stellungnahmen des Bundestages von der Bundes-regierung nicht beachtet, sondern nur zur Kenntnis ge-nommen werden müssen. Kern des Problems ist Art. 23des Grundgesetzes; das wurde bereits angesprochen.

Ich will in diesem Zusammenhang darauf hinweisen,dass es in einer Reihe von Mitgliedstaaten der Europäi-schen Union wesentlich weiter gehende Mitwirkungs-rechte gibt, als wir sie heute beschließen. Man mussdazu nicht einmal auf die skandinavischen Staaten ver-weisen, lieber Kollege Hintze. Niemand von uns hat ge-fordert, das skandinavische Modell in Deutschland ein-zuführen. Warum wir uns allerdings nicht getraut haben,das österreichische Modell zu probieren, das dort seitvielen Jahren reibungslos funktioniert, konnte mir bis-lang niemand erklären.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN)

Es bleibt also das Problem, dass Art. 23 des Grundge-setzes unsere Handlungsmöglichkeiten etwas beschränkt.Auch nach der Föderalismusreform ist das die mit Ab-stand unübersichtlichste Vorschrift des Grundgesetzes,die noch dazu in ihren praktischen Konsequenzen be-scheidene Auswirkungen zeitigt. Ob und wann wir erneutdarüber diskutieren müssen, hängt nach meiner festenÜberzeugung vom Verhalten der Bundesregierung ab.

Wir werden die Bundesregierung daran messen müs-sen, wie sie künftig mit unseren Stellungnahmen um-geht, und müssen erwarten können, dass sich die Bun-desregierung ernsthaft darum bemüht, unsere Positionenin den europäischen Gremien tatsächlich umzusetzen.Dazu ist es – dieser Hinweis sei mir gestattet – nicht im-mer erforderlich, im Ministerrat Mehrheiten zu organi-sieren. Es gibt auch Gelegenheiten, wo es genügt, seinePosition zu markieren.

Ich darf daran erinnern, dass der Europaausschuss desBundestages eine einvernehmliche Haltung zur europäi-schen Grundrechteagentur kommuniziert hat. Wir ha-ben das höflich – nicht in Form einer Stellungnahme,sondern eines Briefwechsels – getan. Ich möchte aberauch darum bitten, dass die Bundesregierung dieses Vo-tum sehr ernst nimmt. Wir werden genau darauf achten,ob sich die Bundesregierung unserer ablehnenden Hal-tung anschließt, und zwar nicht, weil wir etwas gegen ei-nen effektiven Grundrechtsschutz hätten, sondern weilich persönlich davon überzeugt bin, dass es besser wäre,den europäischen Menschenrechtsgerichtshof zu stärken,

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Thomas Silberhorn

als eine neue Behörde zu gründen, in der Beamte schöneBerichte schreiben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowiebei Abgeordneten der FDP, des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN)

Ich wünsche mir, dass die Bundesregierung künftigauch bei europäischen Vorlagen den Bundestag in einerForm beteiligt, wie wir es von den nationalen Gesetzge-bungsvorhaben gewohnt sind. Niemand hindert die Bun-desregierung daran – zum Teil wird es schon praktiziert –,Berichterstattergespräche zu organisieren. Es sollten allezuständigen Kollegen aus den Ausschüssen die Gelegen-heit erhalten, mit den Beamten, die für die Bundesregie-rung in Brüssel verhandeln, eine europäische Initiativezu erörtern. Ich glaube, dass wir es mit einem solchenModell versuchen sollten. Ich sehe darin auch eine Gele-genheit, den Parlamentarischen Staatssekretären dieseAufgabe mit zu übertragen. Es gibt hin und wieder Dis-kussionen über den Aufgabenbereich der Parlamentari-schen Staatssekretäre. Es wäre für sie eine vornehmeAufgabe, Berichterstattergespräche zu europäischenVorlagen zwischen Regierung und Ministerialbeamtenauf der einen Seite und den Mitgliedern dieses Hausesauf der anderen Seite zu organisieren.

(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)

Auch der Deutsche Bundestag wird seine Arbeits-weise ändern müssen. Wir müssen uns bei europäischenVorhaben auch am Fahrplan der Europäischen Unionorientieren. Wir müssen viel stärker als bisher Netz-werke in die europäischen Institutionen hinein knüpfen,aber auch zu unseren Kollegen aus den anderen Mit-gliedstaaten. Außerdem wird es künftig viel stärker Auf-gabe jedes einzelnen Abgeordneten sein – dies war esauch bisher schon –, die europäischen Implikationen sei-nes Fachbereiches zu berücksichtigen und tatsächlichmit zu bearbeiten.

Durch die Vereinbarung, die wir heute beschließen,werden wir auch ein Stück weit in Mitverantwortung fürdas genommen, was die Bundesregierung in Brüssel mitberät und mit beschließt. Ich plädiere dafür, dass wir unsbei EU-Vorhaben auf die vorbereitenden Akte konzen-trieren – auf Weißbücher, auf Grünbücher, auf das Jah-resarbeitsprogramm der Kommission, auf die Legislativ-pläne –, damit wir schon im Vorfeld über das orientiertsind, was auf europäischer Ebene geplant ist, und recht-zeitig eingreifen können. Allerdings werden wir, liebeKolleginnen und Kollegen, selbst wenn wir das tun, im-mer dann, wenn es um eine förmliche Stellungnahmedes Bundestages geht, vor dem Problem stehen, dass dieBundesregierung schon zwei, drei Jahre in Expertenrun-den verhandelt und man uns dann vonseiten der Ministe-rialbeamten vorhält: Jetzt kommt Ihr Abgeordneten? Wirsitzen doch schon zwei Jahre daran!

Dazu gehört meines Erachtens auch die Bereitschaftdes Parlaments einschließlich der Regierungsfraktionen,die Kontrollfunktion des Bundestages gegenüber derBundesregierung sehr ernsthaft wahrzunehmen und sichbei Bedarf einzuschalten.

(Beifall bei der LINKEN)

Lassen Sie mich noch einen europäischen Aspekt an-fügen: Wir sind von der Europäischen Kommission ein-geladen, unsere Stellungnahmen auch direkt an dieKommission zu richten. Ich wünsche mir, dass wir dieKommission dazu verpflichten, uns auch wirklich zuantworten,

(Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN und beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

denn ich möchte doch, dass ein nationales Parlament,das einen förmlichen Beschluss fasst, nicht wie ein x-be-liebiger Lobbyverband behandelt wird.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU undbei der LINKEN – Jürgen Trittin [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Herr Pischetsriederbekommt immer Antwort!)

Ich glaube, dass wir die konkrete Chance haben, imZuge der Diskussion über den europäischen Verfas-sungsvertrag auch noch einmal über den Frühwarnme-chanismus zu diskutieren und ihn vielleicht zu vereinfa-chen, aber auch, ihn um den Punkt zu ergänzen, dass dieKommission uns Antwort geben muss, wenn wir uns alsParlament an sie wenden.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall im ganzen Hause)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich schließe die Aussprache. – Wir kommen zur Ab-

stimmung über den von den Fraktionen der CDU/CSU,der SPD, der FDP, der Linken und des Bündnisses 90/Die Grünen eingebrachten Antrag zur Annahme einerVereinbarung zwischen dem Deutschen Bundestag undder Bundesregierung über die Zusammenarbeit in Ange-legenheiten der Europäischen Union. Wer stimmt für denAntrag auf Drucksache 16/2620? – Wer stimmt dage-gen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist einstimmig ange-nommen.

(Beifall im ganzen Hause)

Ich rufe nunmehr Tagesordnungspunkt 23 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-Kurt Hill, Eva Bulling-Schröter, Lutz Heilmann,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LIN-KEN

Energiepreiskontrolle sicherstellen

– Drucksache 16/2505 – Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und VerbraucherschutzAusschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. – Ichhöre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Meine Herren, ich würde Sie gerne veranlassen, demkommenden Redner die Chance zu geben, zum Pult zukommen und dann Gehör zu finden. – Ich eröffne die

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Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse

Aussprache und erteile Kollegen Oskar Lafontaine,Fraktion Die Linke, das Wort.

(Beifall bei der LINKEN)

Oskar Lafontaine (DIE LINKE): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Die Entwicklung der Energiepreise ist ein für dieBevölkerung erstrangiges Thema. Die Energiepreise ha-ben sich in den letzten Jahren enorm nach oben bewegt;dabei denke ich natürlich auch an die Veränderungennach unten, die wir derzeit in einem Segment sehen.Aber insgesamt kann gesagt werden, dass sich die Ener-giepreise in den letzten Jahren sehr stark erhöht haben.

Es gibt den Satz, dass die Energiepreise für die Bevöl-kerung eine ähnliche Bedeutung haben wie die Brot-preise. Man muss diesen Vergleich nicht unbedingt über-nehmen. Aber dass die Energiepreise für die sozialeSituation vieler Menschen in Deutschland eine großeBedeutung haben, ist, glaube ich, in diesem Hause völligunstreitig.

(Beifall bei der LINKEN)

In diesem Zusammenhang erinnere ich insbesonderean die Entwicklung der Löhne der großen Mehrheit derBevölkerung sowie an die Situation vieler Rentnerinnenund Rentner. Die Reallöhne sind seit zehn Jahren prak-tisch nicht mehr gestiegen. Auch in letzter Zeit hat sichkaum etwas entscheidend verbessert. Ich erinnere desWeiteren an die Situation derjenigen, die soziale Leis-tungen empfangen, beispielsweise ALG-II-Empfänge-rinnen und -Empfänger, der Alleinerziehenden sowie derRentnerinnen und Rentner mit geringem Einkommen,die der Entwicklung der Energiepreise, insbesondere derStrom- und Gaspreise, vielleicht noch viel hilfloser aus-geliefert sind als der Durchschnittshaushalt. Wenn mansich die Zahlen vor Augen führt, dann stellt man fest,dass die Energiepreissteigerungen im letzten Jahr diePrivathaushalte mit 8 Milliarden Euro zusätzlich belastethaben. Alles, was man bislang abschätzen kann, deutetdarauf hin, dass sich diese Entwicklung fortsetzen wird.

Mittlerweile geht es nicht mehr in erster Linie umökologische Belange. Vielmehr verschiebt sich der Ak-zent zunehmend auf das Soziale.

Ich möchte darauf hinweisen, dass wir vor fast zehnJahren – deshalb habe ich meine Fraktion gebeten, heutedas Wort ergreifen zu dürfen – einen anderen Ansatz hat-ten. Wir wollten über die Energiepreise den Energiever-brauch steuern. Diese ökologische Abgaben- und Steu-erreform wurde 1998 auf den Weg gebracht. Damals wardie Situation aber völlig anders. Die Energiepreise stag-nierten eine gewisse Zeit und waren auf einem niedrige-ren Niveau. Bereits 1998 – damals regierte Rot-Grün –,als wir über den Ansatz beraten haben, über die Energie-preise den Energieverbrauch zu steuern, habe ich interndarauf hingewiesen, dass es wünschenswert wäre, Vor-sorge für den Fall zu treffen, dass die Energiepreiseenorm steigen und in sozialer Hinsicht für eine ganzeReihe von Haushalten zum Problem werden könnten.Ich konnte mich damals mit diesem Anliegen nichtdurchsetzen. Es ging vor allen Dingen darum, den Ge-

setzentwurf sehr zügig zu verabschieden. Gleichwohlglaube ich, dass die intellektuelle Redlichkeit gebietet,darauf hinzuweisen, dass der damalige Ansatz, denEnergieverbrauch über quasi staatlich verordnete Preis-steigerungen zu steuern, ganz anders war, auch wenn esAusnahmen, beispielsweise für die Industrie – darüberwurde heftig diskutiert –, gab.

Dann kam der Ansatz – er wurde hauptsächlich vonder rechten Seite dieses Hauses befürwortet –, die Ener-giepreise über eine so genannte Deregulierung zu steu-ern bzw. zu senken, damit sie international konkurrenz-fähig würden. Es gab sicherlich gute Argumente dafür.Auf den ersten Blick ist der Ansatz, dass mehr Wettbe-werb zu niedrigeren Preisen und zu günstigeren Angebo-ten für die Verbraucher führt, nicht ohne weiteres vonder Hand zu weisen. Mittlerweile sieht man aber, dassdie Deregulierung nicht zu den gewünschten Ergebnis-sen geführt hat. Das müssen auch die Befürworter derDeregulierung akzeptieren. Heute stellt sich die Frage,warum die Deregulierung nicht zu den gewünschten Er-gebnissen geführt hat. Man muss den Begriff „Deregu-lierung“ hinterfragen und sich klar machen, was damitgemeint ist. Es gibt Leute, die Deregulierung mit einerGesetzlosenwirtschaft, mit einer völlig dereguliertenWirtschaft gleichsetzen. Ich möchte in diesem Zusam-menhang darauf hinweisen, dass dort, wo keine Gesetzewirken, der Preisgestaltung und damit auch der Gewinn-gestaltung keine Grenzen gesetzt sind. Ich bin der Mei-nung, dass eine solche Situation im Energiesektor, insbe-sondere im Strom- und Gasbereich, in Deutschlandeingetreten ist. Daher ist es erfreulich, dass überall da-rüber nachgedacht wird, was zu tun ist, um die Preisewieder in den Griff zu bekommen.

Ich will die Debatte auf keinen Fall kontrovers füh-ren; das brächte gar nichts. Vielmehr will ich begrüßen,dass überall nach Wegen gesucht wird, den Preisanstiegeinzudämmen. So lese ich beispielsweise, dass das Wirt-schaftsministerium über das Kartellrecht tätig werdenwill. Es ist im Sinne der Verbraucher, wenn es gelingt,mittels des Kartellrechts eine Preissenkung vorzuneh-men. Ich habe mit Freude zur Kenntnis genommen– darauf habe ich bereits in der letzten Haushaltsdebattehingewiesen –, dass einige Bundesländer – unabhängigvon der jeweiligen parteipolitischen Ausrichtung derLandesregierung – daran denken, die Gültigkeitsdauerder Preisgenehmigung zu verlängern, die in der Hoff-nung auf die preissenkende Wirkung der Deregulierungaußer Kraft gesetzt worden ist. Aber wir können bislangnicht feststellen, dass die Deregulierung gegriffen hat.

Wir sind vielmehr in der Situation, dass die deutschenStrom- und Gaspreise mit an der Spitze in der Europäi-schen Union liegen. Das ist nicht nur eine soziale Frage,sondern auch eine ökonomische Frage und somit für dierechte Seite dieses Hauses ein Anlass, etwas zu tun. Esist nicht nur die Stahlindustrie, die sich zur Wehr setzt,und es ist nicht nur beispielsweise die schwedische In-dustrie insgesamt, die sich dafür ausspricht, die Strom-preise zu reregulieren und in diesem Sektor aus Wettbe-werbsgründen wieder die öffentliche Verantwortungeinzuführen, sondern es sind auch viele kleine Betriebe,

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Oskar Lafontaine

die von dieser Preisentwicklung in erheblichem Umfangnegativ betroffen sind.

(Beifall bei der LINKEN)

Es ist überhaupt keine Frage, dass hier etwas gesche-hen muss. Wir glauben nicht, dass die monopolartigeStruktur kurzfristig verändert werden kann, bei allen An-sätzen, die ich hier vorgetragen habe. Wir glauben, dassdie Länderregierungen Recht haben, die die Preisregu-lierung wieder einführen und die Höhe der Energiepreisewieder der öffentlichen Kontrolle unterwerfen wollen.

(Beifall bei der LINKEN)

Deshalb haben wir unseren Antrag vorgelegt. Dabeimöchte ich durchaus aufgrund meiner eigenen Erfahrun-gen sagen, dass es nicht unbedingt so sein muss wie bis-her, dass ein oder zwei Beamte in den Länderregierun-gen für die Energiepreisaufsicht zuständig sind. Diesführt nämlich zu einer sehr starken Nähe der zuständigenBeamten zu den jeweiligen Regionalunternehmen unddazu, dass die Energiepreisaufsicht nicht unbedingt invollem Umfang funktioniert. Ich möchte sehr wohl dafürplädieren, dass man so etwas wie eine parlamentari-sche Kontrolle und eine Verbraucherkontrolle schafft,die beispielsweise in Großbritannien, wie in unseremAntrag ausgeführt, eingeführt worden ist und große Wir-kung hat. Parlamentarische Kontrolle und Verbraucher-kontrolle, das wäre mehr Demokratie im Sinne dessen,was wir seit vielen Jahren angeregt haben.

(Beifall bei der LINKEN)

Es kann auf jeden Fall nicht akzeptiert werden – dasmöchte ich hier noch einmal sagen –, dass die Energie-wirtschaft sagt: Wenn ihr zu solch abstrusen Forderun-gen kommt, wieder verstärkt die Preise zu kontrollieren,dann investieren wir nicht mehr in Deutschland. – Dasist für mich ein Eklat und zeigt, dass sich dort teilweisemonopolartige Strukturen herausgebildet haben, wobeidie Monopole nicht mehr bereit sind, sich parlamentari-scher Kontrolle zu unterwerfen. Aber genau das mussunser Anliegen sein.

(Beifall bei der LINKEN)

Wenn es ein Argument gibt, so vorzugehen, dann dasArgument, dass Energieunternehmen in nicht zu über-bietender Selbstherrlichkeit sagen: Das lassen wir unsnicht bieten. Wenn ihr das macht, dann investieren wirnur noch im Ausland.

Im Übrigen glaube ich, dass sehr wohl Investitionender Energiewirtschaft in die Modernisierung des Net-zes angeregt werden müssten. Wir schlagen alternativvor, die Netze in öffentliche Verantwortung zu überfüh-ren, weil das Ganze – siehe andere Länder – sonst über-haupt nicht funktioniert.

(Beifall bei der LINKEN)

Wir haben unseren Antrag vorgelegt, weil wir glau-ben, dass wir nicht länger tatenlos zusehen können. Wirgreifen alle Ansätze auf, die hier vorgetragen wordensind. Entscheidend ist aber die Zeit. Die Zeit sollte unsveranlassen, einen Ansatz zu suchen, der möglichstschnell realisiert werden kann. Vielleicht ist der von

meiner Fraktion vorgeschlagene Ansatz der Preiskon-trolle der beste Ansatz; denn wenn wir einen Zugriff aufdie Preise haben, können wir Auswüchse und Abzocke,die wir in der letzten Zeit erlebt haben, wirklich stoppen.Ein letzter Satz noch: Wenn Vorstandsmitglieder von re-gionalen Energieversorgern sagen, sie brauchten eineUmsatzrendite – ich bitte Sie, darüber einmal nachzu-denken – von 15 Prozent – ich schaue jetzt einen an, derweiß, wen ich meine –, dann ist für das Parlament wirk-lich die Zeit gekommen, einzugreifen; denn Umsatzren-diten von 15 Prozent sind schlicht und einfach Abzockeund Wucher.

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort der Parlamentarischen Staatssek-

retärin Dagmar Wöhrl.

Dagmar Wöhrl, Parl. Staatssekretärin beim Bundes-minister für Wirtschaft und Technologie:

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Ich glaube, wir werden heute eine Debatte überdie Energiepreise führen, in der wir nicht sehr viel Dis-sens haben werden. Wir wissen, dass EnergiepolitikWirtschaftspolitik ist. Deswegen ist es für die Bundesre-gierung sehr wichtig, wettbewerbsfähige Energie-preise zu bekommen. Wir wissen um die Problematikder steigenden Strompreise. Wir wissen, was diese vorallem für die stromintensive Industrie und ihre Wettbe-werbsfähigkeit bedeuten. Das betrifft vor allem denWettbewerb mit den Industrien der Nachbarstaaten.

Wir wissen, dass für die Bürger vor Ort die Schmerz-grenze hinsichtlich der Preise erreicht ist.

Ohne Zweifel sind wir bei der Regulierung imMonopolbereich, beim Netz, im letzten Jahr gut voran-gekommen. Inzwischen liegen die ersten Genehmi-gungsbescheide der Bundesnetzagentur und der Landes-regulierungsbehörden vor. Wie wir gesehen haben,führen sie überwiegend zu einer substanziellen Sen-kung der Netzentgelte.

Eines muss uns in diesem Zusammenhang aber klarsein: Auch wenn wir eine Senkung der beantragtenNetzentgelte erreichen, wird das hinsichtlich der Strom-preise vor Ort nicht den gewünschten Erfolg bringen.Bei der Kundengruppe der privaten Haushalte machtdies nämlich nur einen ganz geringen Anteil aus.

Wenn wir hinsichtlich der Netzentgelte regulieren,dürfen wir aber nicht nur die Kostensenkung im Blickhaben, sondern wir müssen auch beachten: Wir wollenVersorgungsqualität. Wir wollen Versorgungssicherheit.Sichere Netze kosten nun einmal etwas. Sichere Netzebekommt man nicht umsonst.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Bei allen Diskussionen um die Beibehaltung vonPreiskontrollen oder sogar die Einführung neuer Preis-kontrollen sollten wir eines nicht aus dem Blick verlie-

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Parl. Staatssekretärin Dagmar Wöhrl

ren: Die effektivste Form der Preiskontrolle ist immernoch ein funktionierender Wettbewerb.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD –Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Aber nichtim Monopol!)

Die Frage für uns ist: Wie schaffen wir es, im Strom-und auch im Gasbereich zu einer höheren Wettbe-werbsintensität zu kommen? Druck auf die Preise wirdam besten dadurch gewährleistet, dass neue Anbieter inden Markt eintreten.

(Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der LINKEN: Woher sollen die kommen?)

Die Bürger sind mündig. Die Bürger werden durch ihrVerhalten entscheiden. Sie haben zukünftig mehr Wahl-freiheit. Danach wird sich die Preisobergrenze bestim-men. Schon jetzt besteht die Möglichkeit, den Lieferan-ten zu wechseln. Leider nehmen die Bürger sie nochnicht so wahr. Es muss in diesem Zusammenhang viel-leicht noch mehr Aufklärungsarbeit geleistet werden.Heute Nachmittag liegen im Bundesrat Verordnungenauf dem Tisch, in denen es noch einmal um Vereinbarun-gen zum Lieferantenwechsel geht. Wir brauchen auchfür die Haushaltskunden vor Ort ein größeres Angebotan Lieferanten. Das heißt, wir brauchen neue Erzeuger,mehr Erzeuger, unabhängige Erzeuger.

(Hans-Kurt Hill [DIE LINKE]: 80 Prozent derKernkraftwerke gehören den Monopolisten!Woher soll der Wettbewerb kommen?)

– Wenn Sie mich weiterreden lassen, gebe ich Ihnen dieAntwort darauf.

Wir haben ein Problem, die Marktzugangsbarrie-ren. Die Frage ist: Wie erreichen wir es, für neue Anbie-ter einen diskriminierungsfreien Zugang zu schaffen, so-dass auch investiert wird? Ein Investor, der einKraftwerk baut, muss nachher auch die Möglichkeit ha-ben, sich an das Netz anzuschließen. Hier sind wir alsGesetzgeber gefordert. Wir werden die Rechtsverord-nung noch in diesem Jahr auf den Weg bringen, um mehrRechtssicherheit für einen solchen Kraftwerksbauer zuschaffen. Wir brauchen in diesem Bereich grünes Lichtfür neue Kraftwerksinvestitionen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Wir wissen, dass die meisten Maßnahmen, die schonauf den Weg gebracht worden sind oder die im Ministe-rium erst noch angedacht werden, nicht von heute aufmorgen wirken können. Es gibt zu wenig Anbieter. Aufdem Gasmarkt erscheinen zurzeit überhaupt keine neuenAnbieter. Wenn man sich auf der einen Seite die Groß-handelspreise und auf der anderen Seite die Stromerzeu-gungspreise anschaut, wird natürlich augenfällig – dasind wir wieder einer Meinung –, dass es dazwischen ei-nen sehr großen Abstand gibt. Die Frage ist also: Wieverhindern wir, dass die wenigen Anbieter ihre dominie-rende Marktstellung, die unstrittig vorhanden ist, ausnut-zen?

Wir wollen dem Kartellamt befristet ein Instrumen-tarium an die Hand geben – Sie haben es schon ange-

sprochen, Herr Lafontaine –, um die Missbrauchsauf-sicht zukünftig effizienter zu gestalten.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg.Manfred Zöllmer [SPD] und des Abg. Hans-Kurt Hill [DIE LINKE])

Mit der Erleichterung beim Nachweis von Preismiss-brauch und mit der Beweislastumkehr zuungunsten derEnergieversorgungsunternehmen geben wir dem Kartell-amt ein gutes Instrumentarium an die Hand. Diesessollte nicht als staatliche Kontrolle angesehen werden,sondern als effektives Instrumentarium.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich will noch einen weiteren Punkt ansprechen: Wirbrauchen dringend – das wird auch ein wichtiges Anlie-gen während unserer Ratspräsidentschaft sein – einenverbesserten grenzüberschreitenden Stromaustausch.Die EU-Kommission hat schon die ersten Maßnahmeneingeleitet; allerdings muss die Integration des Energie-sektors in den Binnenmarkt noch viel schneller vorange-hen. Zugleich sind wir selber gefordert, hier die gesetzli-chen Möglichkeiten zu schaffen, damit die geplantenInfrastrukturmaßnahmen in Zukunft schneller umgesetztwerden können.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Siemich zum Schluss zusammenfassend sagen: Wir habeneine Reihe von Maßnahmen eingeleitet, von denen dieIndustrie – ich nenne als ein Beispiel die Härtefallrege-lungen –, aber auch die privaten Verbraucher vor Ortprofitieren werden. Wir prüfen darüber hinaus, ob in Zu-kunft gewisse Anlaufstellen für die Verbraucher geschaf-fen werden sollen. Die Engländer haben dafür ein schö-nes Wort: Consumer Watchdogs. Es handelt sich umAnlaufstellen für die Menschen vor Ort, wohin die Bür-ger mit ihren Sorgen und Beschwerden hinsichtlich ihrerEnergierechnung gehen können und sich Rat holen kön-nen.

All diese Maßnahmen, die wir planen, verfolgen einübergeordnetes Ziel, nämlich das Ziel der Schaffung ei-ner größeren Wettbewerbslandschaft, die uns allen einesichere und günstige Energieversorgung garantiert.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort Kollegin Gudrun Kopp, FDP-

Fraktion.

(Beifall bei der FDP)

Gudrun Kopp (FDP): Herr Präsident! Sehr geehrte Herren und Damen! Der

Antrag der Linken fordert eine Preiskontrolle, und zwareine dauerhafte. Ich glaube, dabei geht es insbesondereum die Frage, ob und wie viele Interventionsmechanis-men der Staat in einer freien Marktwirtschaft etablierendarf. Es stimmt nicht, dass wir zügellosen Wettbewerbpropagieren. Nein, Herr Lafontaine, Sie wissen sehr ge-nau, dass wir einen durch Gesetze und Regeln geordneten

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Gudrun Kopp

Wettbewerb in Deutschland und keinen zügellosen wün-schen. Im Kern geht es bei Ihrem Antrag um die Frage:Wettbewerb oder Sozialismus? Ich glaube, dass die Ant-wort sehr leicht ist.

(Beifall bei der FDP – Lachen bei der SPD und der LINKEN)

Ich werde Ihnen ein Beispiel nennen: Herr Lafontainehat davon gesprochen, dass es im Energiebereich einedauerhafte Preiskontrolle geben solle und das Verfü-gungsrecht über Energie so ähnlich wie das Recht aufBrötchen anzusehen sei. Das ist genau der Punkt: WennSie wollen, dass im Energiebereich dauerhaft vom StaatPreise vorgegeben werden sollen, dann müsste das auchfür das Grundnahrungsmittel Brot bzw. für Brötchen gel-ten. Aber auch die Grundnahrungsmittel unterliegen beiuns dem freien Wettbewerb.

(Hans-Kurt Hill [DIE LINKE]: Aber die kannman sich noch leisten! – Gegenruf des Abg.Rainer Brüderle [FDP]: Hören Sie einmal zu!Dann lernen Sie etwas!)

– Ja, und auch wir wollen, dass sich alle Menschen Ener-gie leisten können. Das ist gar keine Frage. Dafür möch-ten wir aber den Wettbewerb fördern.

Der Wettbewerb ist im Moment eingeschränkt; das istgar keine Frage. Es gibt eine Marktkonzentration undwir sind hier nicht auf dem richtigen Weg. Deshalb ha-ben wir auch Ja zu einer Regulierungsphase gesagt.Diese musste sein und sie läuft ja im Augenblick. Sie istallerdings bis zum Sommer des kommenden Jahres be-fristet. Bis dahin, wenn dieser Phase der nächste Schrittfolgt, nämlich die Anreizregulierung, ist unser An-spruch, dafür zu sorgen, dass Markt und Wettbewerbgreifen und Kostensenkungen möglich werden.

(Hans-Kurt Hill [DIE LINKE]: Die Menschen müssen aber in diesem Winter heizen!)

Wir sind gegen staatliche Dauerinterventionen und füreinen freiheitlichen Ansatz.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Bundeswirtschaftsminister Glos hat gesagt: Wir müs-sen uns die gesamte Kostenstruktur anschauen und müs-sen überprüfen, an welcher Stelle Kosten- und Preis-senkungen realisierbar sind. Das ist richtig. Allerdingsmuss man an diesem Punkt sehen, dass 75 Prozent derTarifkundenpreise bereits festgelegt sind. Der eine Teildieser Kosten ist staatlich verursacht, wie Steuern undAbgaben. Hinzu kommt staatlicherseits die Mehrwert-steuererhöhung. Sie ist politisch gewollt, nämlich vonder Mehrheit dieses Hauses. Der andere Teil dieser Kos-ten – etwa 30 Prozent der Tarifkundenpreise – ist regu-liert: die Netzkosten. Es bleibt eine Marge von25 Prozent. Einige meinen, wir müssten weiter an dieserSchraube drehen.

Natürlich gibt es in diesem Bereich Oligopolgewinne.Aber es ist wichtig, dass wir gerade dort Wettbewerb er-möglichen, damit neue Anbieter überhaupt die Chance

haben, denjenigen, die den Markt derzeit beherrschen– sie haben sehr hohe Margen –, Konkurrenz zu machen.

(Beifall bei der LINKEN)

Das wäre der richtige Ansatz.

Ich kann Ihnen nur sagen: Es gibt sehr viele neueEnergieanbieter, die verzweifelt sind, weil sie keineMöglichkeit finden, in den Markt einzutreten.

(Hans-Kurt Hill [DIE LINKE]: In die Netze zu kommen, das ist das zweite Problem!)

– Keine Frage; das ist völlig richtig. Wir müssen diesesGrundproblem lösen und einen diskriminierungsfreienNetzzugang gewährleisten. Wir sind im Moment aufdem Weg, dies zu tun.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

Wir müssen uns die selbst verursachten Kosten, Steu-ern und Abgaben anschauen. Da müssen wir ansetzen.Ich sage Ihnen eins, Frau Wöhrl: Wir als Liberale kön-nen zum Beispiel nicht verstehen, dass Sie nicht das ent-sprechende Instrument nutzen, um staatlich verursachteKosten zu senken. Warum befürworten Sie nicht, dasswenigstens 10 Prozent der CO2-Zertifikate versteigertwerden können, damit man mit den Erlösen zum Bei-spiel die Stromsteuer senken kann? Das wäre ein guterAnsatz.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordnetender LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

An diesem Punkt bewegen Sie sich aber leider nicht unddas finde ich sehr bedauerlich.

Minister Glos hat gesagt, er wolle das Kartellrechtdahin gehend ändern, dass die Missbrauchsaufsicht er-leichtert wird. Auch das scheint ein richtiger Weg zusein – auch wir möchten keinen Missbrauch –; wir ken-nen die genaue Ausformulierung noch nicht. FrauWöhrl, Teil zwei einer solchen Missbrauchsaufsicht– Teil eins betrifft das Recht – sollte eine entsprechendePersonalausstattung des Bundeskartellamtes regeln.Ohne sie wird es nicht möglich sein, die Missbrauchs-kontrolle tatsächlich so durchzuführen, wie es eigentlichnötig wäre. Daher möchte ich hier an die Bundesregie-rung appellieren, das Personal zu verstärken. Im Übri-gen, es rechnet sich, weil das Bundeskartellamt Bußgel-der einnimmt, wodurch Kosten gesenkt werden können.

Wichtig ist – das ist eben schon angesprochen wor-den –, bei der strikten Regulierung die Grenzkuppelstel-len in Europa zu bedenken. Diese Stellen sind eine ArtFlaschenhals. Wenn wir auf dem deutschen Markt neueAnbieter haben möchten – daran arbeiten wir sehr ver-zweifelt –, dann müssen wir Anreize für eine Beseiti-gung dieser Engpässe schaffen.

Ich habe Ihnen eben gesagt, dass es wichtig ist, dassder Staat die Stromkosten, für die er selbst verantwort-lich ist – über 40 Prozent –, senkt. Ich möchte noch et-was hinzufügen. Wir müssen uns natürlich fragen, wiewir dafür sorgen können, dass Energie auch künftig kos-tengünstig ist. Ich kann Ihnen nicht vorenthalten, kritisch

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Gudrun Kopp

anzumerken, dass eine Entscheidung über den künftigenEnergiemix dringend erforderlich ist. Die kostengünstigeund klimaschonende Stromproduktion aus Kernkraftdarf nicht einfach beendet werden.

(Widerspruch bei der SPD – Hans-Kurt Hill[DIE LINKE]: In Baden-Württemberg sind dieStrompreise am höchsten!)

Wir müssen die Laufzeiten der Kernkraftwerke vielmehrverlängern. Über diese Frage schwelt ein dauerhafterStreit in der Koalition; das wissen wir. Dieser Streitmuss, wie meine Fraktion hofft, zugunsten eines breitaufgestellten Energiemixes beendet werden.

Wir wollen, dass zukünftig in neueste Technologienfür Kohle- und Gaskraftwerke investiert wird. Dabeimuss auch der Klimaschutz berücksichtigt werden. Da-für müssen wir Investitionsanreize schaffen. Das setztaber voraus, dass die Politik den notwendigen Rahmensetzt. Ich sage es noch einmal, Frau Wöhrl: Es ist kata-strophal, dass die Bundesregierung bis heute kein Ener-gieprogramm vorgelegt hat.

(Beifall bei der FDP)

Der gesamte Rahmen muss abgesteckt werden: Wo-hin wollen Sie? Welche Ziele haben Sie? Das Ener-gieprogramm sollte nicht erst Ende 2007, also nach Endeder deutschen EU-Ratspräsidentschaft vorgelegt werden,sondern schon jetzt. Für den deutschen Energiemarkt isteine solche Orientierung absolut notwendig.

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der

Kollegin Bulling-Schröter von der Linksfraktion?

Gudrun Kopp (FDP): Ja, gerne.

Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Danke schön, Frau Kollegin Kopp. – Sie haben über

eine zukünftige Verlängerung der Laufzeiten für AKWsgesprochen. Ihre Fraktion wünscht sich das. Sie haben indiesem Zusammenhang über Möglichkeiten gesprochen,Energie günstiger zu produzieren. Ich denke, darin liegtein großer Widerspruch. Denn nach wie vor sind dieAKWs nicht oder nur zu einem kleinen Teil haftpflicht-versichert. Sie wissen das sicher. Eine Enquete-Kommis-sion hat die tatsächlichen Kosten berechnet. Diese liegensehr viel höher als der Anteil, der in den Strompreisenfür AKW-Strom enthalten ist.

Ich denke – auch Sie fordern das –, dass die Kosten indie Preise einfließen müssen. Es sollte nicht so sein, dassGewinne privatisiert und Verluste sozialisiert werden. Ir-gendwann müssen – das sagt auch Ihr umweltpolitischerSprecher Herr Kauch – diese Kosten in die Preise ein-fließen. Wie stehen Sie dazu?

Gudrun Kopp (FDP): Frau Kollegin, es ist richtig, dass anfallende Kosten

einkalkuliert werden müssen. Das werden sie auch.Denn die Kosten für die Versicherung werden von den

Unternehmen übernommen. Aber bei den kerntechnolo-gischen Anlagen gibt es eine Versicherungshöchst-grenze. Diese Grenze, die es weltweit gibt, existiert auchfür andere Anlagen, beispielsweise für Chemieanlagen.Die Unternehmen müssen sich aufgrund des internatio-nalen Wettbewerbs im Hinblick auf vertragliche Verein-barungen so positionieren, dass ihre Wettbewerbsfähig-keit gewährleistet ist. Versicherungsschutz besteht alsound die Kosten dafür sind entsprechend berücksichtigt.

Zum Schluss habe ich eine Bitte an das Wirtschafts-ministerium. Ich finde es ganz erfreulich, dass Bundes-wirtschaftsminister Glos jetzt in die Offensive gegangenist und erklärt hat, dass er sich ganz massiv dafür einset-zen wird, am Standort Deutschland mehr Wettbewerb imEnergiebereich zu ermöglichen. Störend ist allerdings,dass es innerhalb der Koalition einen Streit – dieserStreit dringt auch nach außen – zwischen dem Bun-desumweltminister und dem Bundeswirtschaftsministergibt. Ich wünsche mir, dass es gelingt – auch die Kanzle-rin ist hierbei gefordert –, in Deutschland die Weichen inRichtung einer vernünftigen Wettbewerbspolitik zu stel-len. Es darf nicht sein, dass beim Energiegipfel HerrGabriel möglicherweise die Chance nutzt, immer mehrZuständigkeiten für die deutsche Energiepolitik an sichzu ziehen. Das würde in der Öffentlichkeit zu Irritatio-nen führen.

Letztlich muss es auch möglich sein, endlich eineEntscheidung über den Standort eines Endlagers fürAtommüll zu treffen. Wir dürfen solche Entscheidungennicht weiter vor uns herschieben.

Es gibt viel zu tun. Der Gipfel wird nicht viel bringen.Wahrscheinlich wird er nicht mehr sein als eine Ge-sprächsrunde, die nicht wirklich zu Ergebnissen führenwird. Es sollte aber vor allen Dingen darum gehen, dieenergieintensiven Unternehmen in Deutschland, die im-merhin 600 000 Arbeitsplätze unterhalten, tatsächlicham Standort Deutschland zu halten, damit wir auch inZukunft diese Arbeitsplätze und unseren wirtschaftli-chen Wohlstand –

Vizepräsidentin Petra Pau: Frau Kollegin Kopp, Sie müssen bitte zum Schluss

kommen.

Gudrun Kopp (FDP): – im europäischen und internationalen Wettbewerb

bewahren können.

Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP)

Vizepräsidentin Petra Pau: Für die SPD-Fraktion hat das Wort der Kollege

Manfred Zöllmer.

Manfred Zöllmer (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Vor kurzem mussten die Verbraucherinnen und Verbrau-cher wieder einmal lesen, dass die Stromversorger zu Be-ginn des kommenden Jahres Preiserhöhungen angekündigt

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Manfred Zöllmer

haben. Die Schmerzgrenze ist für die Verbraucherinnenund Verbraucher und die Wirtschaft längst überschritten.Blickt man in aktuelle Statistiken, so ist festzustellen,dass manche Anbieter in Deutschland die Strompreiseseit dem Jahr 2000 um mehr als 50 Prozent angehobenhaben. Auch Preiserhöhungen um 30 Prozent sind keineSeltenheit.

Dabei reden wir nicht über marginale Belastungenoder über ein paar Euro mehr oder weniger pro Monat,die die Verbraucherinnen und Verbraucher gut tragenkönnen. Millionen Haushalte in Deutschland bekommendurch die ständigen Energiepreiserhöhungen handfesteProbleme. Mehr als 5 Millionen Haushalte in Deutsch-land müssen laut Armutsbericht der Bundesregierungmit einem Nettoeinkommen zwischen 500 und 900 Euromonatlich auskommen. Weitere Preiserhöhungen sind dakaum verkraftbar. Zu Recht hat der Bund der Energie-verbraucher darauf hingewiesen, dass nach der Miete dieEnergiekosten bei einem steigenden prozentualen Anteilzum zweitgrößten Ausgabeposten vieler Haushalte wer-den. Bei weiteren drastischen Erhöhungen sind die Ener-giekosten in naher Zukunft für viele Menschen in diesemLand kaum mehr zu tragen.

Dabei stehen den Verbraucherinnen und Verbrauchernin Anbetracht der Marktsituation kaum Optionen zurVerfügung, an diesen finanziellen Belastungen etwas än-dern zu können. Das, was an individueller Einsparmög-lichkeit zur Verfügung steht, wird von vielen Verbrau-cherinnen und Verbrauchern bereits genutzt. Trotz allerneuen Geräte, die uns insbesondere die Kommunika-tionstechnologie ins Haus gebracht hat, ist der Verbrauchje Haushalt in den letzten zehn Jahren um etwa 8 Prozentgestiegen.

Das eigentliche Problem liegt in der Tat an dem zugeringen Wettbewerb im Energiesektor, der den Ver-braucherinnen und Verbrauchern kaum Wahlmöglichkei-ten lässt. Derzeit werden 80 Prozent des Energiemarktesvon nur vier Firmen dominiert. Wir haben es hier mit ei-nem monopolistisch oder oligopolistisch strukturiertenMarkt zu tun.

(Beifall bei der LINKEN)

– Zu Ihren Forderungen komme ich gleich.

(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Wir können trotzdem klatschen!)

– Das ist auch in Ordnung. Das ist die Situation.

Es gibt ein gutes Beispiel dafür, wie der Weg vomMonopol hin zu einem Wettbewerbsmarkt erfolgreichbeschritten werden kann: Das ist der Telekommunika-tionsmarkt. Bereits kurz nach Einführung des Wettbe-werbs sind die Preise auf diesem Markt drastisch gefal-len. Die Verbraucherinnen und Verbraucher zahlen heutefür ein inländisches Ferngespräch nur noch 5 Prozentdes Betrages, den man vor Jahren dafür zahlen musste.Ich weiß, dass der Telekommunikationsmarkt und derGas- und Strommarkt nicht das Gleiche sind. Die Situa-tion auf diesen Märkten ist unterschiedlich. Aber diesesBeispiel zeigt: Durch eine gute Regulierung und mit zu-nehmendem Wettbewerb werden auch die Verbrauche-

rinnen und Verbraucher von sinkenden Preisen profitie-ren.

Wer Verbraucherinteressen auf diesen Märkten imBlickfeld hat, darf jedoch nicht nur auf den Preisschauen. Neben günstigen Preisen muss aus Verbrau-chersicht auch die Versorgungssicherheit gewährleis-tet sein. Der deutsche Verbraucher sitzt pro Jahr imDurchschnitt 23 Minuten wegen Stromausfalls im Dun-keln.

Die Netzqualität in Deutschland muss auch in Zu-kunft so gut sein, dass der Inhalt von Tiefkühltruhennicht durch längere Stromausfälle verdorben wird unddie Menschen nicht längere Zeit im Dunkeln sitzen. Al-lein ein niedriger Preis kann uns nicht glücklich machen.Eine gute Verbraucherpolitik muss günstige Preise undVersorgungssicherheit miteinander verbinden. Deshalbbrauchen wir politische Rahmenbedingungen, die beidessicherstellen.

(Hans-Kurt Hill [DIE LINKE]: Zum Beispiel Emissionshandel! Versteigerungen!)

Es bleibt richtig, die Regulierung der Energienetzedurch die Bundesnetzagentur durchführen zu lassen. Al-lein die Regulierungsentscheidungen der Bundesnetz-agentur aus den letzten Tagen führten dazu, dass dieNetzentgelte bei der EnBW Regional AG in Stuttgartzum 1. September um 14 Prozent gekürzt wurden unddie Netzentgelte bei der Vattenfall Europe AG in Berlinund Hamburg um 15 Prozent gesenkt werden. Nach ei-ner Modellrechnung der Bundesnetzagentur können dieKürzungen einen durchschnittlichen Haushaltskunden inStuttgart um rund 37 Euro entlasten. Für Berlin undHamburg werden die durchschnittlichen Einsparmög-lichkeiten mit circa 31 Euro bzw. 47 Euro angegeben.Wichtig bleibt, dass die Unternehmen die Senkung derNetznutzungsgebühren an die Haushalte weitergeben.Das ist ein ganz entscheidender Punkt.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Aber auch bei der Netzregulierung darf die Bundes-netzagentur das Kind nicht mit dem Bade ausschütten.Kleine Stadtwerke, deren Kosten schon heute unterhalbder durchschnittlichen Kosten vergleichbarer Unterneh-men liegen, dürfen nicht weiter geknebelt werden. Ichweiß, wovon ich spreche.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Langfristig würden nur die großen Anbieter profitieren,wenn viele kleine Stadtwerke in ihrer ökonomischenExistenz bedroht wären und am Markt nicht weiterma-chen könnten.

(Hans-Kurt Hill [DIE LINKE]: Dann sollteman einmal einen kommunalen Finanzaus-gleich herstellen!)

– Keine Sorge, wir kümmern uns um diese Problematik.Da können Sie sicher sein. Dieser Hinweis macht einesdeutlich: In diesem Zusammenhang gibt es keine einfa-chen Lösungen. Das, was Sie mit Ihrem Antrag fordern,nämlich eine Verlängerung der Preisgenehmigung, istschon gar keine einfache Lösung.

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Manfred Zöllmer

(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Hoch kompliziert!)

Die nordrhein-westfälische WirtschaftsministerinThoben hat die gleiche Forderung erhoben. Am Mitt-woch, den 30. August, hat die „Financial TimesDeutschland“ unter der Überschrift „Stromriesen begrü-ßen Preisaufsicht“ Folgendes geschrieben:

Die Forderung der nordrhein-westfälischen Wirt-schaftsministerin Christa Thoben (CDU) nach einerVerlängerung der staatlichen Aufsicht über denStrompreis ist bei den Stromkonzernen inoffiziellauf große Zustimmung gestoßen.

„Preisaufsicht ist klasse“, hieß es am Dienstag beiden Versorgern hinter vorgehaltener Hand. „Sie istein staatlich beglaubigtes Gütesiegel und schütztuns vor Vorwürfen, dass wir unsere Preise unge-bührlich anheben“, so ein Energie-Manager, dernicht namentlich genannt werden wollte.

(Hans-Kurt Hill [DIE LINKE]: Warum hat er seinen Namen nicht genannt?)

Sie sehen also: Sie sind mit Ihrer Forderung auf demHolzweg. Eine Wiederbelebung der BundestarifordnungElektrizität über das Auslaufen im nächsten Jahr hinausist der falsche Weg.

Lieber Kollege Lafontaine, Sie haben eben ausge-führt, dass man mit einer Verlängerung der Bundestarif-ordnung Elektrizität in der Lage sei, die – so haben Siedas genannt – „Abzocke“ wie in der Vergangenheit zuverhindern. Diese Aussage ist Folge eines Trugschlus-ses: Bisher gilt diese Genehmigungspflicht; die Pro-bleme, über die wir sprechen, haben wir aber jetzt. Siemachen einen Denkfehler. Sie sollten über Ihre Forde-rung einmal nachdenken. Sie gaukeln den Verbrauche-rinnen und Verbrauchern etwas vor, was Sie nicht errei-chen können. Sinkende Preise erreichen wir nur durcheinen funktionierenden Wettbewerb. Dafür müssen wirdie Rahmenbedingungen verbessern.

Vizepräsidentin Petra Pau: Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen

Lafontaine?

Manfred Zöllmer (SPD): Aber ja.

Vizepräsidentin Petra Pau: Bitte.

Oskar Lafontaine (DIE LINKE): Ich wollte Sie nur fragen, ob Sie zur Kenntnis genom-

men haben, dass ich vorgetragen habe, dass die bisherigePraxis nicht funktioniert. Das weiß ich, weil ich sie jah-relang verantwortet habe. Daher habe ich vorgeschlagen,eine parlamentarische Kontrolle vorzusehen. Haben Sieferner zur Kenntnis genommen, dass ich auf die erfolg-reiche Praxis in Großbritannien verwiesen habe? Wennwir schon diskutieren, bitte ich darum, die Argumente,

die der andere anführt, aufzunehmen, sonst ist es näm-lich keine Debatte.

Manfred Zöllmer (SPD): Aber gerne, Herr Kollege Lafontaine. Ich gebe Ihnen

nur den Hinweis, die Anträge Ihrer Fraktion vorher et-was genauer zu lesen. Ich darf einmal Ihren Antrag zitie-ren. Dort heißt es auf der zweiten Seite:

Der Deutsche Bundestag fordert deshalb die Bun-desregierung auf,

– die Preiskontrolle nach § 12 BOTElt über den30. Juni 2007 hinaus beizubehalten …

Das ist die Forderung Ihrer Fraktion. Dazu habe ichmich eben geäußert.

(Oskar Lafontaine [DIE LINKE]: Sie habenmich angesprochen und gehört, was ich gesagthabe!)

Dazu gilt das, was ich gesagt habe.

(Zuruf des Abg. Oskar Lafontaine [DIE LINKE])

– Das ist, denke ich, völlig klar.

Im Zweifel hilft ein genauer Blick in den Antrag, denSie selbst gestellt haben.

Vizepräsidentin Petra Pau: Kollege Zöllmer, der Kollege Maurer möchte Ihnen

mit einer Zwischenfrage eine Verlängerung Ihrer Rede-zeit ermöglichen. Lassen Sie das zu?

Manfred Zöllmer (SPD): So viel Großzügigkeit bin ich gar nicht gewohnt.

Aber er darf natürlich eine Zwischenfrage stellen.

Ulrich Maurer (DIE LINKE): Herzlichen Dank, Herr Kollege. – Ich habe die

schlichte Frage an Sie, wie Sie die von Ihnen angekün-digte Absenkung der Preise um 37 Euro für den durch-schnittlichen Haushaltskunden im Gebiet der EnBWdurchsetzen werden.

(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist eine sehr gute Frage!)

Manfred Zöllmer (SPD): Die geltenden Gesetze versetzen die Bundesnetzagen-

tur in die Lage, die Netzentgelte entsprechend festzuset-zen.

(Ulrich Maurer [DIE LINKE]: Ja!)

Das ist das eine. Auf der anderen Seite gibt es eine öffent-liche Diskussion und einen sehr starken und sehr massi-ven Druck der Verbraucherinnen und Verbraucher inRichtung Stromkonzerne. Ich kann das nur begrüßen. EinBeispiel ist der Gassektor. Dort gab es viele tausend Kla-gen von Verbraucherinnen und Verbrauchern unter Bezugauf die Billigkeitsklausel. Es kam zu sehr interessantenGerichtsurteilen, in denen vielen Verbraucherinnen und

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Manfred Zöllmer

Verbrauchern Recht gegeben wurde. Das heißt, auch inder jetzigen Situation gibt es für die Verbraucherinnenund Verbraucher durchaus Möglichkeiten, sich gegeneine unverschämte Abzocke – wenn es sie gibt – zu weh-ren.

Zusätzlich – das ist ganz wichtig – brauchen wir eineStärkung des Wettbewerbs bei Erzeugung und Vertriebund damit einen diskriminierungsfreien Netzzugangfür neue Kraftwerke. Wir brauchen Investitionen inneue Kraftwerke. Das ist aus Verbrauchersicht völlig un-verzichtbar. Es gibt eine Reihe von Neubauprojekten.Diese müssen vorangetrieben werden. Wir brauchen eineNetzanschlussverordnung, die es möglich macht, zu ver-besserten Angeboten zu kommen. Wir diskutieren imMoment über ein Infrastrukturplanungsbeschleuni-gungsgesetz. Auch hier müssen die Weichen so gestelltwerden, dass die Angebotsseite ihr Angebot erhöhenkann.

Ich begrüße, was der Bundeswirtschaftsminister imZusammenhang mit der GWB-Novelle angekündigt hat.Ich glaube, das ist der richtige Weg, um die Miss-brauchsaufsicht zu verschärfen. Das ist die Alternativezur Kontrolle. Sie muss verschärft werden. Wir braucheneine Beweislastumkehr und müssen das Wettbewerbs-recht zeitgemäß mit dem notwendigen Biss versehen.Das Ministerium ist hier auf einem sehr guten Weg.

Sie fordern im Übrigen in Ihrem Antrag einen Strom-sozialtarif. Ich fand das sehr interessant. Warum fordernSie eigentlich Sozialpreise nur für Strom, warum nichtauch für Benzin, Brötchen oder Jeans?

(Hans-Kurt Hill [DIE LINKE]: Sie werdenIhre Heizkostenrechnung zahlen können, aberdie armen Haushalte können das nicht, und derWinter wird schlimm!)

Überlegen Sie doch einfach einmal, was Sie uns hier mitIhrem Antrag vorlegen. Das, was Sie hier dargestellt ha-ben, ist nicht der richtige Weg. Wir müssen den Weg desWettbewerbs beschreiten. Er wird den Verbraucherinnenund Verbrauchern auf Dauer sinkende Preise bescheren.Das ist der richtige Weg.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Vizepräsidentin Petra Pau: Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kol-

legin Höhn das Wort.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN)

Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wir sprechen heute über ein reales Problem. Viele Haus-halte sind in der Tat total erschrocken, wenn sie ihreStrom- oder Gasrechnung bekommen. Es gibt vieleHaushalte, für die das eine enorme soziale Belastung ist.Das betrifft übrigens nicht nur Privathaushalte, sondernauch Gewerbebetriebe.

(Gudrun Kopp [FDP]: Ja!)

Wir haben hier jetzt über die privaten Haushalte gespro-chen. Wir müssen aber auch über die kleinen und mittel-ständischen Betriebe reden, für die die Energiekostenimmer dramatischer werden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Wer istschuld daran? – Gudrun Kopp [FDP]: Selbst-verständlich!)

– Da Sie die Mehrwertsteuer erhöhen wollen, müssenwir über Schuld nicht mehr reden. Durch die Erhöhungder Mehrwertsteuer kommt auf einen Vierpersonenhaus-halt eine Belastung von 100 Euro pro Jahr zu,

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Beifall bei der LINKEN)

und zwar ohne dass Sie das Geld in die Sozialsystemestecken, wie wir es gemacht haben. An dieser Stelleseien Sie also ganz still und tun Sie Buße.

Wir müssen, meine Damen und Herren, klar sehen:Was sind die Gründe dafür, dass die Preise steigen? Dererste Grund ist in der Tat, dass Gas und Öl knapper wer-den. Vor zwei Tagen hat die Börse gejubelt, dass der Öl-preis etwas gesunken ist und das Öl nur noch 60 Dollarpro Barrel gekostet hat. Aber man muss auch sehen, dassdas Barrel Ende 2001 20 Dollar gekostet hat, dass derPreis sich also mittlerweile verdreifacht hat. Das hängtauch mit den knapper werdenden Ressourcen zusam-men. Darauf kann man nur reagieren, indem man mehrauf erneuerbare Energien, Energieeinsparung und Ener-gieeffizienz setzt. Das ist ein ganz notwendiger undwichtiger Schritt.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN)

Der zweite Grund für die enorm gestiegenen Energie-preise ist – das hat auch die Linke aufgegriffen –, dassdie Energiekonzerne ihre Macht am Markt missbrau-chen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)

Momentan werden die Verbraucherinnen und Verbrau-cher mit den hohen Energiepreisen wirklich abgezockt.Wir können es nicht mehr akzeptieren, dass auf der einenSeite die Energiepreise ins Unendliche steigen und aufder anderen Seite die Gewinne der Energieunternehmenin Milliardenhöhe steigen. Das darf man nicht akzeptie-ren, meine Damen und Herren; denn diese Unternehmenmachen Gewinne auf Kosten der Verbraucherinnen undVerbraucher.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)

Es ist richtig, auf Wettbewerb zu setzen; keine Frage.Aber genauso muss gefragt werden: Was machen wir, so-lange es keinen Wettbewerb gibt? Da müssen wir uns dieeinzelnen Punkte genau vornehmen. Einen dieser Punktehaben Sie, Frau Kopp, doch angesprochen, nämlich dieEmissionszertifikate. Ich halte es für eine absolute Un-

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Bärbel Höhn

verschämtheit, dass Unternehmen Emissionszertifikate,die sie umsonst von der Bundesregierung bekommen, inihre Bilanzen und damit den Verbrauchern und Kundenin Rechnung stellen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)

Wir reden hierbei über keine Kleinigkeit, sondern über5 Milliarden Euro pro Jahr. Rechnen Sie einmal aus, wasdas pro Kopf der Bevölkerung bedeutet: Jeder Mensch inder Bundesrepublik Deutschland muss durchschnittlich60 Euro pro Jahr bezahlen, nur weil die UnternehmenKosten in ihre Bilanzen stellen, die sie gar nicht haben.Das ist eine absolute Unverschämtheit, mit der wir end-lich Schluss machen müssen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)

Bei einem Vierpersonenhaushalt reden wir hier immer-hin über 240 Euro pro Jahr. Wenn er um diese Kostenentlastet werden könnte, wäre das eine Menge für jedenHaushalt.

Es gibt in diesem Land mittlerweile eine Menge Ver-braucherinnen und Verbraucher, die sich wehren. Einehalbe Million Menschen klagt inzwischen dagegen, dieGaspreiserhöhung, die ihnen ins Haus geschickt wordenist, zahlen zu müssen. Das finde ich richtig, meine Da-men und Herren. Wir sollten sie unterstützen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)

Diese halbe Million Menschen gewinnt übrigens jedenProzess. Warum? Weil die Richter anerkennen, dass wirmomentan keinen Wettbewerb haben und dass eine An-gemessenheit dieser Preiserhöhungen, solange die Un-ternehmen nicht darlegen, wie die Mehrkosten entstan-den sind, nicht gegeben ist.

Deshalb müssen wir alles tun, um hier zu einer Ände-rung zu kommen. Ich habe eben die Emissionszertifikateangesprochen. Ich finde es gut, was die Bundesregierungjetzt erwägt, nämlich die Missbrauchsaufsicht, die Ände-rung des Kartellrechts. Es ist richtig, dahin zu kommen.Genauso richtig ist aber, den Verbrauchern über das Ver-bandsklagerecht mehr Möglichkeiten zu geben, für ihreRechte einzutreten und ihren Strom zu angemessenenPreisen beziehen zu können.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN)

Der entscheidende Punkt ist aber, dass wir endlich dieTrennung von Netz und Betrieb erreichen müssen.

(Beifall des Abg. Dr. Diether Dehm [DIE LINKE])

Was wir im Energiebereich haben, ist eine absolute Un-verschämtheit. Vergleichbar wäre es, wenn ein Teil derAutobahnen VW, ein Teil Opel und ein Teil Ford gehörteund Daimler – vielleicht auch umgekehrt – hohe Kostenzahlen müsste, wenn dessen Fahrzeuge auf diesen Auto-bahnen fahren wollten. Das darf nicht sein.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)

Wir müssen die Trennung von Netz und Betrieb hinbe-kommen. Das gilt übrigens auch bei der Bahn. Wer will,dass die Preise im Gleichgewicht bleiben, der muss fürdie Trennung von Netz und Betrieb sorgen.

Vielen Dank, meine Damen und Herren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der LINKEN – Hans-Kurt Hill [DIELINKE]: Wir müssen dafür sorgen, dass dieBahn staatlich bleibt!)

Vizepräsidentin Petra Pau: Für die Unionsfraktion spricht nun der Kollege

Dr. Joachim Pfeiffer.

Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Ich glaube, es wäre ganz sinnvoll, in dieser De-batte mit Fakten zu argumentieren und die Historie zubeleuchten, bevor man das Kind mit dem Bade ausschüt-tet. Der Wettbewerb und die Liberalisierung, die imJahre 1998 von der damaligen unionsgeführten Bundes-regierung zusammen mit der FDP eingeleitet wurden,haben dazu geführt, dass es bis heute zu Liberalisie-rungs- und Rationalisierungseffekten in einer Größen-ordnung von ungefähr 8,5 Milliarden Euro gekommenist.

(Hans-Kurt Hill [DIE LINKE]: Bei wem?)

– Im Erzeugungsbereich, in dem Überkapazitäten undIneffizienzen beseitigt wurden. – Im Gegenzug wurdenim selben Zeitraum zusätzliche staatliche Belastungen inHöhe von 12 Milliarden Euro induziert.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Liebe Frau Höhn, ich muss schon sagen: Es ist ziem-lich populistisch und dummdreist, wenn Sie sich hier alsVorkämpferin gegen hohe Strompreise darstellen, ob-wohl Sie selbst zu verantworten haben, dass diese staat-lich administrierte Belastung von 1998 bis 2005 von2 Milliarden Euro auf 12 Milliarden Euro gestiegen ist.Das ist die Faktenlage.

Vizepräsidentin Petra Pau: Kollege Pfeiffer, gestatten Sie eine Zwischenfrage der

Kollegin Höhn?

Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU): Sie hatte gerade Zeit für ihre Ausführungen. Nein.

(Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Aha! Weil Sie nicht argumentie-ren wollen!)

Was ist passiert? Die Staatsquote ist von 25 Prozentauf derzeit über 40 Prozent gestiegen.

(Dr. Max Stadler [FDP]: Aha!)

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Im Hinblick auf die Strompreise, die die Haushalte zuzahlen haben – davon haben Sie gesprochen –, beträgtdie Staatsquote weit mehr als 40 Prozent. Das ist der do-minierende Faktor.

(Gudrun Kopp [FDP]: Richtig! Plus Mehr-wertsteuererhöhung!)

Das kann man nicht nur auf die Monopole oder Oli-gopole, auf die ich gleich eingehe, schieben. Wir solltenuns vielmehr an die eigene Nase fassen und überlegen,welche Ursachen die hohen Strompreise wirklich haben.An dieser Stelle können Sie sich nicht exkulpieren.

(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:Sie trauen sich ja noch nicht einmal, Fragenzuzulassen!)

Ich nenne nur folgende Stichworte: Ökosteuer aufStrom, Erneuerbare-Energien-Gesetz, Kraft-Wärme-Kopplung, Konzessionsabgabe und Emissionshandel;auch beim Emissionshandel zeigen sich inzwischen dieAuswirkungen der Regelungen, die Ihr Kollege Trittineingeführt hat.

(Beifall bei der CDU/CSU – Gudrun Kopp[FDP]: Die Mehrwertsteuererhöhung nichtvergessen! – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Lassen Sie mich doch meineFrage stellen, wenn Sie sich trauen, zu argu-mentieren!)

Die aktuelle Lage sieht also wie folgt aus: Über40 Prozent sind staatlich induziert, weitere 35 Prozentsind Netznutzungsentgelte.

Es besteht in der Tat ein natürliches Monopol. DieVerbändevereinbarung hat nicht funktioniert. Der Son-derweg, den wir auf europäischer Ebene beschritten ha-ben, wurde nicht goutiert. Deshalb haben wir im letztenJahr mit der Novellierung des Energiewirtschaftsgeset-zes die Grundlage geschaffen, dass durch eine Regulie-rung dieses Monopolmarktes Wettbewerb initiiert undsimuliert wird, zunächst durch eine direkte Kostenregu-lierung und ab dem Jahre 2008 durch eine Anreizregu-lierung, die dazu führen wird, dass die Monopolrenditenin diesem Bereich nicht mehr so stark wie bisher zumTragen kommen. Preisdämpfend sind in diesem Zusam-menhang auch die Entscheidungen der Bundesnetzagen-tur, die aus meiner Sicht einen wirklich guten Job macht.Ihre Entscheidungen gehen in die richtige Richtung.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Zum Thema Wettbewerb. Es ist völlig richtig, dass esnicht gelungen ist, die Stromerzeugungskapazitäten von1998 bis heute im nötigen Umfang zu diversifizieren undden Wettbewerb zu beleben. Gegenwärtig befinden sichin diesem Wettbewerbsbereich immer noch, entweder di-rekt oder indirekt, 80 bis 90 Prozent der Stromerzeugungin der Hand der vier großen Unternehmen. Das kannselbstverständlich zu Marktmissbrauch führen. DieseDeterminante macht weniger als 20 Prozent aus; beimRest handelt es sich zum Beispiel um Bereiche wie denVertrieb, in denen der Wettbewerb nicht funktioniert hat.

Unser Schluss ist ein anderer als der des Antragstel-lers: Obwohl der Wettbewerb im Moment noch nichtrichtig funktioniert, wollen wir ihn nicht sofort wiederabschaffen und durch staatliche Reglementierungen er-setzen,

(Dr. Martina Krogmann [CDU/CSU]: Ein gro-ßer Fehler wäre das!)

die dann das Gegenteil dessen, was wir wollen, bewirkenwürden. Wir wollen dafür sorgen, dass der Wettbewerbfunktioniert.

(Dr. Martina Krogmann [CDU/CSU]: Genau!)

Wie können wir es schaffen, dass der Wettbewerbfunktioniert? Die Frau Staatssekretärin hat es ausgeführt:In der Tat besteht sofortiger Handlungsbedarf. Wir den-ken, dass eine marktkonforme, verbesserte Missbrauchs-kontrolle – die Instrumente wurden genannt – der rich-tige Ansatz ist,

(Beifall bei der CDU/CSU)

nicht etwa die Verlängerung der Tarifpreisgenehmigung,durch die wir im Erzeugungsbereich reglementierend indie Preisbildung eingreifen würden.

Damit aber nicht genug, es gibt noch andere Dinge,die wir tun können. Ich sage ganz klar: Für uns ist dieGrenze der Belastbarkeit erreicht, was die staatlicheReglementierung und die staatlichen Abgaben anbe-langt. Daran müssen wir denken, wenn wir nächstes Jahran die Novellierung des Erneuerbare-Energien-Gesetzesgehen.

(Hans-Kurt Hill [DIE LINKE]: Darauf habeich gewartet! Wie viel Prozent sind das? SagenSie doch mal die Zahl! Gerade einmal 5 Pro-zent!)

Daran müssen wir denken, wenn wir an die Novellierungdes Kraft-Wärme-Kopplungsgesetzes gehen, daran müs-sen wir denken, wenn wir das Stromsteuergesetz weiter-entwickeln. Deshalb müssen wir darüber nachdenken, obwir beim Emissionshandel, beim NAP II, die richtigenInstrumente zum Einsatz bringen; dort haben wir dieStellgrößen in der Hand. Der Staat hat seinen Beitrag zuleisten, damit es bei den Energiepreisen mehr Wettbe-werb gibt.

Wir müssen des Weiteren dafür sorgen – das kannnicht nur die Bundesnetzagentur machen, da sind auchwir entsprechend gefordert –, dass der Markt bezüglichHandel und Liberalisierung funktioniert, und zwar nichtnur auf Deutschland beschränkt. Wir brauchen einenfunktionierenden europäischen Markt für Strom und fürGas. Für Strom haben wir eine Börse; sie muss mit wei-terer Liquidität versorgt werden. Wir brauchen so etwasauch für Gas. Im Oktober wird die Strombörse EEXauch den Handel mit Gas aufnehmen, was mit Sicherheitzu höherer Transparenz führen wird.

Wir brauchen eine Verbesserung der Interkonnektoren– der Übergangsstellen, der Kuppelstellen – für Strombzw. Gas ins europäische Ausland, damit der Wettbe-werb auf dem Markt besser funktioniert und wir mehrLiquidität bekommen.

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Dr. Joachim Pfeiffer

Die Bundesnetzagentur hat diese Woche in der Um-setzung des Energiewirtschaftsgesetzes den wichtigenSchritt getan, die Ausschreibungsbedingungen für dieRegelenergie in Form der Minutenreserve festzulegen.Andere werden entsprechend folgen. Wir müssen hierdie Effizienzen stärken; auch das wird preisdämpfendwirken.

Wir müssen vor allem darauf hinwirken, dass derNetzzugang für neue Anbieter verbessert wird; da sindwir im Erzeugungsbereich an der richtigen Stelle. Wirmüssen dafür sorgen, dass neue Anbieter in den Markteintreten. Das können dezentrale sein wie Stadtwerke,die im Übrigen auch Angst haben um die Monopolren-diten, die sie für die Nutzung ihrer Netze einstreichen.Mir ist es egal, ob es ein privates oder ein öffentlichesUnternehmen ist, das die Monopolrendite verdient – eineMonopolrendite ist nie der richtige Weg. Deshalb müs-sen auch durch die Regulierung der Netznutzungsent-gelte entsprechende Effizienzreserven gehoben werden.Die Stadtwerke haben aber auch Chancen: durch die de-zentrale Erzeugung von Strom, sei es durch erneuerbareEnergien oder durch konventionelle, sowie durch denAusbau der Kraft-Wärme-Kopplung. Auch ausländi-sche Anbieter sind herzlich eingeladen, als Wettbewer-ber einzusteigen. Das führt zu einer Intensivierung desWettbewerbs. Wir müssen sicherstellen, dass diesenneuen Anbietern der Netzzugang ermöglicht wird.

Vizepräsidentin Petra Pau: Kollege Pfeiffer, gestatten Sie eine Zwischenfrage der

Kollegin Bulling-Schröter?

Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU): Nein. – Wir müssen den Netzzugang verbessern. Es

ist nicht akzeptabel, dass neue Anbieter über Jahre hin-weg mit fragwürdigen Argumenten am Netzzugang ge-hindert werden.

(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Souverän!)

Insofern will ich zusammenfassen: Es nützt nichts,das Kind mit dem Bade auszuschütten und in blindenAktionismus zu verfallen, vielmehr brauchen wir ein dif-ferenziertes Vorgehen. Wir müssen dort, wo wir handelnkönnen als Staat, das heißt, bei den Steuern und Abga-ben und bei der Missbrauchsaufsicht, im Erzeugungsbe-reich, unsere Hausaufgaben machen. Wir müssen dieBedingungen des Marktes so gestalten, dass Wettbewer-ber in den Markt eintreten können. Hinzu kommen mussaber, dass die Kunden die Souveränität zeigen, den An-bieter zu wechseln. Viel zu wenige wechseln ihren Gas-oder Stromanbieter. Auch das führt zu einer Verschlep-pung des Wettbewerbes.

Wenn diese Dinge auf die Schiene gebracht sind, wer-den wir im Ergebnis nicht nur die Strom- und Gaspreisestabilisieren können, sondern zudem Effizienzgewinneerzielen. Wir werden für den Verbraucher etwas tun undwir werden für die Wirtschaft etwas tun, indem wir dieWettbewerbsfähigkeit erhöhen, aber bitte mit marktwirt-schaftlichen Instrumenten und nicht mit staatlichem Di-rigismus.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege

Hill.

Hans-Kurt Hill (DIE LINKE): Herr Dr. Pfeiffer, gestatten Sie mir kurz folgende An-

merkung: Sie haben eben ganz klar und deutlich gesagt,dass Sie dagegen sind, die Staatsquote beim Strom-preis weiter zu erhöhen. Sie erhöhen die Staatsquote al-lerdings dadurch, dass Sie die Mehrwertsteuer erhöhen.Das ist doch wohl richtig.

Da Sie eben die erneuerbaren Energien angesprochenhaben, möchte ich hiermit festhalten: Die Kosten für dieerneuerbaren Energien machen gerade einmal 5 Prozentdes Strompreises aus. Sie erhöhen die Mehrwertsteueraber um 3 Prozentpunkte. Ich finde, das muss hier in derÖffentlichkeit einmal ganz klar gesagt werden. Es wirdder Eindruck erweckt, als ob die erneuerbaren EnergienSchuld daran tragen, dass die Strompreise so hoch sind.Das ist schlichtweg falsch. Das ist das falsche Signal.Wir brauchen die erneuerbaren Energien,

(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

damit wir in Zukunft günstig Strom produzieren und unsvon Uran, Erdöl und Gas unabhängig machen können.

Danke.

(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Petra Pau: Kollege Pfeiffer, möchten Sie reagieren?

Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU): Herr Kollege Hill, ich habe doch überhaupt nicht ge-

gen die erneuerbaren Energien gesprochen. Hätten Siemir zugehört,

(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hören Sie sich selbst zu!)

dann wüssten Sie, dass ich gesagt habe, dass über40 Prozent staatlich induziert sind. Hier sind die Öko-steuer auf Strom, die im Wesentlichen unseren grünenFreunden zu verdanken ist,

(Dr. Rainer Wend [SPD]: Uns auch!)

die KWK, die erneuerbaren Energien, die Konzessions-abgabe und die Mehrwertsteuer zu nennen. Dies führtdazu, dass heute über 40 Prozent des Strompreises staat-lich induziert sind. Das ist der Sachverhalt und das kön-nen wir auch nicht auf andere abwälzen.

Ich habe gesagt, dass für mich das Ende der Belast-barkeit erreicht ist. Im Hinblick auf die vorhandenenStellgrößen müssen wir darüber nachdenken, wie wirhier zu Entlastungen kommen können und wie wir es auf

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Dr. Joachim Pfeiffer

jeden Fall schaffen, die Kosten nicht weiter zu erhöhen.Das habe ich gesagt und das ist überhaupt kein Wider-spruch.

(Beifall bei der CDU/CSU – Bärbel Höhn[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie erhöhenaber trotzdem! Zwischen Reden und Handelnist ein Unterschied bei Ihnen! In Ungarn wirdgerade einer entlassen, weil er lügt! Passen Sieauf, was Sie sagen!)

Vizepräsidentin Petra Pau: Für die SPD-Fraktion spricht nun der Kollege Rolf

Hempelmann.

Rolf Hempelmann (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-

gen! Man sieht, dass diese Debatte die Gemüter bewegt.Es ist ja auch ein wichtiges Thema und das Problem, dasdem Antrag und dieser Debatte zugrunde liegt, ist auchnicht zu leugnen. Das ist übrigens ähnlich wie bei dergestrigen Debatte zum FDP-Antrag, mit dem sie sich aufdas Bundeskartellamt bezog.

Wir befinden uns in der Tat in einer Situation ständigsteigender Energiepreise. Frau Höhn hat eben daraufhingewiesen: Es ist nicht nur der Strompreis, sondern essind die Energiepreise. Offenbar ist es für uns leichter,eine Kostensteigerung beim Benzin, Heizöl oder Gas zuakzeptieren, weil hier die Entwicklung der Kosten fürdie Primärenergie natürlich sehr viel stärker nachvoll-ziehbar ist als beim Strom, wo dies nur indirekt der Fallist und es lediglich um einen Kostenbestandteil geht.

Ich will das jetzt aber nicht relativieren. Auch die Stei-gerung der Strompreise um 30 Prozent seit 1998 – beimHeizöl waren es zum Beispiel 200 Prozent – ist eine Be-lastung für die privaten Haushalte und für das Gewerbe.Es ist selbstverständlich, dass wir uns Gedanken darübermachen müssen, wie wir auf diesem Gebiet erfolgreicherwerden, als wir es in der Vergangenheit waren.

Ich sage gleich vorweg: Nach meiner Auffassungkann es nicht der richtige Weg sein, die staatliche Preis-kontrolle auf Dauer beizubehalten, sondern der richtigeWeg kann nur sein, bei der Schaffung von mehr Wettbe-werb zügig voranzuschreiten.

Wir sollten in diesem Zusammenhang übrigens nichtso tun, als würden wir hier bei null anfangen. Das kannweder im Interesse der FDP, die gestern einen Antrag ge-stellt hat, noch der Grünen, die sich in dieser Debattedurchaus unterstützend in Richtung des Antrages geäu-ßert haben, noch im Interesse der Fraktionen der Regie-rungskoalition sein; denn mit dem Energiewirtschaftsge-setz haben wir im letzten Jahr gemeinsam einen ganzwichtigen Schritt getan.

Ich glaube, man muss einmal festhalten, dass damitletztlich alle vier im Vermittlungsausschuss die Basis da-für geschaffen haben, dass wir zumindest in einem wich-tigen Teilbereich, den wir nicht geringreden sollten,nämlich im Bereich der Netze, Wettbewerb oder zu-mindest wettbewerbsähnliche Situationen in einem na-türlichen Monopol schaffen. Wir sind auf diesem Weg

vorangekommen. Die ersten Bescheide der Bundesnetz-agentur liegen vor; einige Redner haben das heute er-wähnt. Es ist zu zum Teil drastischen Senkungen derNetzentgelte gekommen, und zwar bei kleinen genausowie bei großen Anbietern.

Die Reaktionen zeigen, dass die Unternehmen einigeSchwierigkeiten haben, sich an diese neue Situation zugewöhnen. Im Fall von Vattenfall ist es aber tatsächlichzu Preissenkungen gekommen. Der jüngste Bericht derBundesnetzagentur, den ich zur Lektüre empfehle, zeigt,wie sich die Senkungen der Netzentgelte auf die Strom-preise der anderen, auch großen Anbieter auswirken. Dagibt es komplizierte Verrechnungen zu beachten. LesenSie sich den Bericht einmal durch! Das würde auch dieFrage beantworten, die gerade gestellt wurde: Wie ist ei-gentlich sichergestellt, dass sich diese Entwicklung amEnde auch im Strompreis abbildet?

Wir waren auf diesem Weg erfolgreich; es ist zu sin-kenden Netzentgelten gekommen. Wir erwarten nun vonder Bundesnetzagentur, dass sie für alle Anbieter einendiskriminierungsfreien Netzzugang durchsetzt. Ich binder festen Überzeugung, dass dies letztlich auch Auswir-kungen auf die Stromerzeugung haben wird. Ein diskri-minierungsfreier Netzzugang bewirkt, dass ein Anbietermit einem günstigeren Angebot bis zum Endkundendurchdringen kann. Damit wird Druck auf die Konkur-renz, also die anderen Anbieter, erzeugt.

Das reicht natürlich bei weitem nicht. Die Parlamen-tarische Staatssekretärin beim Bundeswirtschaftsminis-ter hat bereits deutlich gemacht, dass wir darüber hinauseine Kraftwerksanschlussverordnung benötigen. Wirstehen in der Situation – das haben wir uns auch ge-wünscht –, dass es sehr viele Interessenten gibt, die inDeutschland Kraftwerke bauen wollen; das sind großewie kleine, etablierte wie neue Anbieter. Der Gedankeder Nichtdiskriminierung beinhaltet, dass weder die al-ten noch die neuen, weder die großen noch die kleinenAnbieter zu diskriminieren sind. Wir müssen uns viel-mehr wünschen, dass alle, die in Deutschland Kraft-werke bauen wollen, auch die Gelegenheit dazu bekom-men.

Wir sollten uns hier von der Vokabel „Überkapazität“trennen, Herr Dr. Pfeiffer. Dieser Begriff stammt aus derZeit vor der Liberalisierung und kommt eher aus demBereich der Versorgungsunternehmen. Wir sollten einInteresse daran haben, dass das Angebot am Markt höherist als die Nachfrage, weil das letztlich einen heilsamenDruck auch auf die Erzeugerpreise ausübt.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Insofern ist es wichtig, die Rahmenbedingungen so zusetzen, dass wir ein möglichst großes Angebot bekom-men, also möglichst viele neue Kraftwerke.

Ein Instrument in diesem Zusammenhang ist dieKraftwerksanschlussverordnung. Sie kann kurzfristigaber nur sicherstellen, dass die vorhandenen Netzkapazi-täten so auf die Anbieter, die mit neuen Kraftwerken aufdiesen Markt wollen, verteilt werden, dass dem Ge-sichtspunkt der Nichtdiskriminierung Rechnung getra-

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Rolf Hempelmann

gen wird, dass also zum Beispiel ein Unternehmen, des-sen Schwestergesellschaft das örtliche Netz betreibt,keinen entsprechenden Vorzug hat. Ich denke, dass wiralle daran interessiert sind, diese Verordnung möglichstschnell auf den Tisch zu bekommen, um hier vorwärts zukommen.

Ich glaube, dass mit dieser Verordnung noch etwasgeleistet werden muss: Die Bundesnetzagentur mussmit einem zusätzlichen Instrumentarium ausgestattetwerden. Es muss sichergestellt sein – zum Teil ist das inden Instrumenten enthalten –, dass sie da, wo sie Eng-pässe feststellt, die ein Hindernis dafür sind, dass Anbie-ter mit neuen Kraftwerken auf den Markt kommen, auchdie Möglichkeit hat, über eine Engpassbewirtschaftungentsprechende Vorgaben zu machen. Aus den Erkennt-nissen dieser Engpassbewirtschaftung muss sie dann Lö-sungen zur Beseitigung der Engpässe herauskristallisie-ren, und zwar in einer möglichst marktgerechten Form,die keinen Investitionsdirigismus bedeutet. Wenn wirdas erreichen – wenn also das Netz sukzessive mit demKraftwerkspark wächst –, dann haben wir die großeChance, dass jede Kilowattstunde aus neu gebauten An-lagen das Angebot nachhaltig vergrößert.

Wir haben nichts davon, wenn neue Kraftwerke ge-baut werden, aber nur ein Teil davon ans Netz kommtoder, falls sie alle ans Netz kommen, nicht in voller Ka-pazität laufen können, weil Netzbarrieren – möglicher-weise nicht nur im unmittelbaren Umfeld des Kraftwer-kes, sondern insgesamt im deutschen oder europäischenNetz – den Stromfluss behindern.

(Hans-Kurt Hill [DIE LINKE]: Sprechen Sie auch von Windkraft?)

– Ich spreche in der Tat auch von der Windkraft. Auchihr sollte ein diskriminierungsfreier Zugang gewährtwerden. Das gilt insgesamt für die erneuerbaren Ener-gien genauso wie für alle anderen Komponenten imKraftwerksmix.

Wir waren beim Thema Kraftwerksanschlussverord-nung. Wir müssen in diesem Zusammenhang auch se-hen, dass sich die Welt verändert hat. Wir müssen dieneue Situation im Blick behalten, das heißt die Verände-rungen, die sich durch das Unbundling – also die Ent-flechtung bzw. die Trennung zwischen Netzbetreiberund Kraftwerk – ergeben haben.

Wie war es früher? Früher waren innerhalb eines Ge-bietsmonopols Netz und Kraftwerke in einer Hand. DerBetreiber hat selbst geplant, wie er seinen Kraftwerk-spark weiterentwickelt und was am Netz verändert wer-den muss.

Diese Situation gibt es heute nicht mehr, zum einenaufgrund der Entflechtung, zum anderen aus einemzweiten Grund: Strom wird nicht mehr nur innerhalb ei-ner bestimmten Region um das jeweilige Kraftwerk ge-liefert, sondern auch deutschland- oder möglicherweisesogar europaweit. Der Strom wird zudem an der Börsegehandelt. Vor diesem Hintergrund müssen alle Instru-mente, die wir entwickeln, letztlich zum einen börsen-tauglich und zum anderen europatauglich sein. Auch indiesem Zusammenhang muss man bezweifeln, ob eine

Fortsetzung der Preiskontrolle – wie von den Linken ge-fordert – das richtige europa- und börsentaugliche In-strument ist.

Ich halte es für lohnenswerter, die Aufmerksamkeitauf die Vorschläge zur Verbesserung der Möglichkeitendes Bundeskartellamts zur Feststellung des Missbrauchseiner marktbeherrschenden Stellung zu richten, die ausdem Bundeswirtschaftsministerium angekündigt wordensind. Es ist interessant, dass sich das Bundeskartellamtseit etwa einem Dreivierteljahr mit der Einpreisung kos-tenlos erhaltener Zertifikate befasst, ohne bisher zu ei-nem Ergebnis gekommen zu sein. Zwar haben Anhö-rungen stattgefunden und im Wirtschaftsausschusswurde zu dem Thema Bericht erstattet, aber das Bundes-kartellamt sieht sich offenbar nicht in der Lage, denMissbrauch einer marktbeherrschenden Stellung jus-tiziabel festzustellen.

Das kann unterschiedliche Gründe haben. Es kanndaran liegen, dass es keinen Missbrauch einer marktbe-herrschenden Stellung gibt. Das muss man jedenfallszunächst einmal objektiv als eine Möglichkeit berück-sichtigen. Es kann schließlich sein, dass dies im Emis-sionshandel systemimmanent vorgesehen ist. Wenn manaber davon ausgeht, dass Ansätze von Missbrauch er-kennbar sind, dann fehlt offenbar das Instrumentarium,dies den betreffenden Marktakteuren nachzuweisen. Wirwarten darauf, dass uns das Bundeswirtschaftsministe-rium entsprechende Regelungen vorlegt, durch die dieMissbrauchsaufsicht gestärkt wird.

Allerdings meine auch ich – das wurde eben bereitsgesagt –, dass man das Kind nicht mit dem Bade aus-schütten sollte. Wir wollen nicht die Verlagerung derPreisaufsicht von der einen auf die andere Behörde,nämlich auf das Bundeskartellamt. Die bloße Feststel-lung einer überhöhten Marge – das ist im Übrigen inrechtlicher Hinsicht ein wenig konkreter Begriff – wirdsicherlich nicht ausreichen, um den Missbrauch einermarktbeherrschenden Stellung festzustellen. Meines Er-achtens benötigen wir hier in der Tat zielführendere Vor-schläge aus dem Wirtschaftsministerium.

Ebenso müssen wir vermeiden, dass es am Ende einenWettlauf zwischen zwei Regulierungsbehörden gibt,zwischen der Bundesnetzagentur auf der einen und demBundeskartellamt auf der anderen Seite. Die Zuständig-keiten müssen aufeinander abgestimmt werden. Es mussdeutlich werden, dass die Arbeit der einen Behörde, diesich immerhin mit einem Drittel des Strompreises be-fasst, mit der der anderen kompatibel ist.

Es muss auch klar sein, dass es zwischen beiden Be-hörden keinen Wettlauf um den möglichst niedrigenPreis, um den billigen Jakob geben darf – es ist nicht vonder Hand zu weisen, dass auch so etwas passieren kann –;denn eines ist ebenfalls klar: Wir brauchen im Bereichdes Stroms genauso wie in anderen Bereichen hohe Qua-lität. Hohe Qualität kostet etwas. Sie hat auch etwas mitInvestitionen zu tun. Deswegen muss die Bundesnetz-agentur bei ihrem Tun diesen Aspekt ebenfalls immermit im Blick haben, aber eben auch das Bundeskartell-amt, wenn es entsprechend ausgestattet ist.

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Rolf Hempelmann

Wir wollen den Ausbau der Netze, wir wollen denAusbau des Kraftwerkparks. Dazu bedarf es eines an-ständigen Investitionsklimas. Damit rede ich nicht den-jenigen das Wort, die sozusagen wie der pawlowscheHund reflexartig immer dann, wenn sich die Politik äu-ßert, davon sprechen, sie stellten die Investitionen ein.Aber umgekehrt müssen Investitionen natürlich auch amKapitalmarkt durchsetzbar sein. Dafür muss man Kre-dite aufnehmen können. Das hat etwas mit den in Zu-kunft zu erwartenden Strompreisen und der zu erwarten-den Rendite zu tun. Deswegen muss sowohl die Arbeitder Bundesnetzagentur als auch die des Bundeskartell-amts immer beides im Blick haben: einen fairen Preisgenauso wie eine möglichst hohe Qualität.

Dies zeigt, dass die Aufgabe durchaus anspruchsvollist und dass es sich verbietet, den Bürgerinnen und Bür-gern vorzugaukeln, es gäbe einfache Lösungen. Dieseeinfachen Lösungen gibt es nicht. Es gibt auch nicht dieschnelle Lösung, auch nicht in Form einer Preiskon-trolle.

Vizepräsidentin Petra Pau: Kollege Hempelmann, Sie müssen zum Schluss kom-

men.

Rolf Hempelmann (SPD): Lassen Sie uns deswegen die Arbeit der Bundesnetz-

agentur unterstützend begleiten und die Vorschläge desBundeswirtschaftsministeriums, bezogen auf das Bun-deskartellamt, möglichst bald zur Kenntnis nehmen.Darüber sollten wir dann sachgerecht diskutieren.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Petra Pau: Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun der

Kollege Hans-Josef Fell das Wort.

Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen

und Kollegen! Meine Damen und Herren! Der Antragder Linken und die heutige Debatte um die Energiepreis-kontrolle kreisen um einen sehr wichtigen Teilaspekt fürStrom- und Gaspreise. Zu Recht wird auf das Missver-hältnis zwischen explodierenden Gewinnen der vier gro-ßen Konzerne und ihren zunehmenden Tarifsteigerungs-wünschen hingewiesen.

Kollegin Höhn hat bereits auf viele Wettbewerbsmaß-nahmen hingewiesen; ich will sie nicht wiederholen.Auch im Antrag der Linken steht sicherlich viel Wichti-ges. Aber ich weise auch darauf hin, dass derjenige, derniedrigere Verbraucherpreise will und die Gewinne vonGroßen schröpfen will, aufpassen muss, dass mit diesenMaßnahmen nicht auch Stadtwerke und neue Energiean-bieter getroffen werden. Hierauf müssen wir vorsorglichachten.

Auch andere Vorschläge, beispielsweise die Tarifauf-sicht der Länder zu verlängern, wie sie von Bundes-

minister Glos vor kurzem vorgetragen wurden, greifenzu kurz. Zum einen haben die Tarifaufsichten der Länderin den letzten Jahren die Preissteigerungen nicht verhin-dern können; so scharf scheint dieses Instrument dochnicht zu sein. Übrigens ist bezeichnend, dass gerade Mi-nisterpräsident Stoiber hierbei Bundesminister Glos inden Rücken fällt. Er hat in dieser Woche dessen Vor-schläge abgelehnt und stattdessen eine Selbstverpflich-tung mit den Konzernen vereinbart. Das mag gut sein,aber wir wüssten schon gern, was die CSU wirklich will.

Wer tatsächlich Verbraucherschutz und zukünftig be-zahlbare Energiepreise haben will, muss die Ursachender Strompreissteigerung und der Energiepreissteige-rung tiefgründiger hinterfragen. Begründet werden dievielen Strompreiserhöhungsanträge auch mit gestiege-nen Beschaffungskosten. Tatsächlich sind seit 1999 dieWeltmarktpreise drastisch gestiegen. So hat sich derPreis für Kohle auf über 60 US-Dollar je Tonne bereitsverdoppelt und der Preis für ein Barrel Erdöl seit 1998auf 60 US-Dollar verfünffacht. Der Preis für Erdgas istin Europa seit 1999 verdreifacht worden; in Großbritan-nien und den USA, wo man sehr viel auf Erdgas setzt,hat er sich sogar vervierfacht. Der Preis für Uran, FrauKopp, hat sich seit 1999 ebenfalls verfünffacht; er be-trägt jetzt 100 US-Dollar je Kilogramm.

Wer zukünftig bezahlbare Energiepreise haben will,muss aus der Nutzung der fossilen und der atomarenEnergien aussteigen. Dies ist die entscheidende Strate-gie.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Herr Pfeiffer, Sie haben gesagt, die beantragtenStrompreiserhöhungen seien korrekt, weil ökologischeMaßnahmen zu einem zunehmend höheren Strompreisführten. Darüber kann ich nur den Kopf schütteln. Wenndie Verbraucherinnen und Verbraucher endlich die vielenpersönlichen Energieeinsparmöglichkeiten nutzten,könnten sie ihre Stromrechnung drastisch senken.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Natürlich kommen durch die Förderung der erneuer-baren Energien über die im EEG festgelegte UmlageMehrkosten auf die Stromkunden zu. Aber zum einensind diese Mehrkosten sehr gering. Zum anderen sind siebereits gesunken, und zwar – hören Sie gut zu, HerrDr. Pfeiffer – von 0,54 Cent pro Kilowattstunde im Jahr2005 auf hochgerechnet 0,50 Cent in diesem Jahr, unddas trotz gestiegener Mengen eingespeisten Stroms. Wirsehen allerdings – genauso wie die große Koalition – dieNotwendigkeit, der Bundesnetzagentur die Möglichkeitzur Kontrolle zu geben, damit keine überhöhten Ge-winne mit der Umlage erzielt werden. Das ist in der No-velle des EEG, die wir nächste Woche beschließen wer-den, gut geregelt.

Die Behauptung der Konzerne in ihren Anträgen aufStrompreiserhöhung, dass Mehrkosten für erneuerbareEnergien aufgebracht werden müssten – hören Sie gutzu, Herr Dr. Pfeiffer –, fallen wie ein Kartenhaus zusam-men. Das Hamburgische Welt-Wirtschafts-Archiv hat in

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Hans-Josef Fell

einer Studie nachgewiesen, dass die Einspeisung vonWindstrom bereits die Stromkosten senkt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der SPD sowie bei Abgeordneten derLINKEN)

Nach Berechnungen des BWE auf der Basis dieser Stu-die gibt es durch die Einspeisung von Windstrom Strom-kosteneinsparungen in Höhe von 1 Milliarde Euro imJahr. In einer Eon-Studie wird sogar von dreimal so ho-hen Einsparungen ausgegangen. Damit sind die Spar-effekte, die sich insbesondere für die energieintensivenIndustriebetriebe positiv auswirken, höher als die Aus-gaben für die Windenergieförderung nach dem EEG. Dasganze Gerede von teueren erneuerbaren Energien ist alsofalsch und entbehrt jeder Grundlage.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der SPD sowie bei Abgeordneten derLINKEN)

Übrigens beginnen solche Effekte bereits bei anderenerneuerbaren Energien zu wirken. In diesem Sommerwar der angeblich so sündhaft teure Fotovoltaikstrom ander Börse kurzzeitig billiger als der Strom aus Kernener-gie.

Vizepräsidentin Petra Pau: Kollege Fell, die Auswertung dieser Studie müssen

wir leider auf später verschieben.

Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich komme zum Schluss.

Frau Kopp, Sie haben Recht: Wir müssen alles tun,um die Strompreise zu senken. Helfen Sie mit, dass wirvollständig auf erneuerbare Energien umsteigen und dieEnergieeinsparpotenziale nutzen! Das ist in Zukunft dieentscheidende Möglichkeit, bezahlbare Energiepreise– auch für die sozial Schwachen – herbeizuführen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Vizepräsidentin Petra Pau: Als letzter Redner in dieser Debatte hat der Kollege

Dr. Georg Nüßlein für die Unionsfraktion das Wort.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen!

Meine Herren! Wir wollen mehr Wettbewerb im Strom-bereich. Dem stehen die natürlichen Monopole im Netz-bereich entgegen. Deshalb müssen wir eine Netzentgelt-regulierung praktizieren, was wir momentan tun. Dasist aber nicht, wie heute manchmal der Eindruck erwecktwurde, das Ende eines Prozesses, sondern der Anfang,die Voraussetzung für einen chancengleichen Zugang zuden Netzen und damit für den von uns angestrebtenWettbewerb.

Herr Kollege Fell, Sie haben in einem Punkt Recht:Wir müssen bei diesem Prozess sehr genau darauf ach-

ten, dass effiziente Stadtwerke und Mittelständler nichtbürokratisch erwürgt werden. Schließlich brauchen wirnoch Teilnehmer, die an dem von uns angestrebten Wett-bewerb partizipieren.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg.Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN])

Ich bin dankbar für das, was Frau StaatssekretärinWöhrl in der heutigen Debatte gesagt hat. Weil sie deneben beschriebenen Zusammenhang sieht, hat sie davorgewarnt, zu erwarten, dass eine Netzentgeltregulierungper se eine Strompreisverbilligung bringt. Vielmehr isteine solche Regulierung erst die Voraussetzung für mehrWettbewerb und eine marktwirtschaftliche Entwicklung.

Wenn wir dabei sind, der Ehrlichkeit und Offenheitdie Ehre zu geben, dann muss man das wiederholen, washier verschiedentlich angeklungen ist. Die Politik desStaates hat in entscheidender Weise zur Verteuerung derStrompreise beigetragen. Seit 1998 hat sich die Staatslastverfünffacht. 40 Prozent der Stromrechnung unsererHaushalte sind staatliche Abgaben. Übrigens – auchdas räumen wir von der Union ein – entfällt der kleinsteTeil davon auf die Förderung der erneuerbaren Energien.Es sind 2 Prozent, nicht 5 Prozent. Wenn Sie sich schonfür das Thema einsetzen, dann bleiben Sie bei den richti-gen Zahlen. Dann wird manche Diskussion einfacher.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

An der Stelle – da lassen wir uns nichts in die Schuheschieben – ist der Koalitionsvertrag völlig klar. Wir ste-hen zu den erneuerbaren Energien und wir werden,wie es im EEG steht, im Herbst 2007 überprüfen, wiedas im Detail aussieht. Vorher darüber zu diskutieren, istaus meiner Sicht nicht richtig bzw. nicht angemessen,auch nicht im Sinne der Investoren.

Sie fragen, was mit dem Rest geschieht. Ich sage derEhrlichkeit halber, dass der Rest im Staatshaushalt ver-schwindet. Das mag der eine oder andere bedauern, aberdie Realität ist so, wie sie ist. Der Staatshaushalt istschwierig. Wir sind noch nicht am Ende des Sanierungs-prozesses. Wir haben zwar die Nettoneuverschuldunghalbiert, aber wir sind noch nicht in der komfortablenLage, dass wir jetzt schon über neue Subventionen oderüber Steuersenkungen reden können. Ich sage das denselbst ernannten Verbraucherschützern – Frau Höhn istleider nicht mehr da –, die früher für die ideologisch be-dingte Verteuerung eingetreten sind und jetzt in der De-batte „Haltet den Dieb!“ rufen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Die Problematik für die Haushalte und für die Wirt-schaft wurde aus meiner Sicht heute ausreichend erläu-tert. Auf die Frage, was zu tun ist, erleben wir bei denLinken – aber nicht nur links, sondern insgesamt inDeutschland – einen beliebten Reflex, nämlich den Ruf:Der Staat muss das jetzt richten. Ich stelle eine Frage.Wir haben derzeit und noch bis zum 1. Juli 2007 einestaatliche Kontrolle der Preise.

(Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE]: Die Sie auslaufen lassen wollen!)

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Dr. Georg Nüßlein

Was hat sich denn getan? Wir beklagen auf der einenSeite den Anstieg der Strompreise und die staatlicheKontrolle und Sie sagen, ein Mittel dagegen sei die Fort-führung der staatlichen Kontrolle. Das kann doch nichtsein. Das ist vollkommen unlogisch.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wenn wir die Preiskontrolle aufrechterhalten, dann ge-hen auch die sonstigen Maßnahmen, über die wir heutediskutiert haben, zum Beispiel die, die das Kartellrechtund die von Ihnen angesprochene Billigkeitskontrollenach dem BGB betreffen, in weiten Teilen ins Leere,weil die Preise staatlich genehmigt sind. Wo soll derMissbrauch herkommen? Es gibt doch ein staatlichesZertifikat für diese Preise.

Vizepräsidentin Petra Pau: Kollege Nüßlein, gestatten Sie eine Zwischenfrage

des Kollegen Hill?

Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): Ja.

Hans-Kurt Hill (DIE LINKE): Vielen Dank, Herr Kollege Nüßlein. – Es ist doch

festzustellen, dass sich der staatliche Anteil am Strom-preis in den letzten zwei Jahren nicht erhöht hat. Das be-deutet, dass der Wunsch nach Regulierung vonseiten derLänder nicht daraus resultiert, dass sich die Staatsquoteerhöht hat, sondern daraus, dass die Gewinne der Kon-zerne ins Unermessliche gestiegen sind und die Kunden– sprich: die Haushalte – nicht mehr in der Lage sind, diemomentanen Preise zu bezahlen. Ich frage Sie: Wenn dieStaatsquote nicht gesunken ist, dann hat das doch bisherfunktioniert und wird vielleicht auch in der Zukunftfunktionieren?

Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): Wenn Sie sich anschauen, dass sich insbesondere im

Emissionshandel Gewinne der Stromversorger durch dieEinrechnung von Opportunitätskosten ergeben, dann ha-ben Sie in dem Punkt zwar Recht, aber die Maßnahmeist die falsche. Wir müssen uns dann überlegen, wie wirmit dem Emissionshandel umgehen. Ich sage Ihnen auchehrlich: Wer für das Instrument des Emissionshandelseintritt, nämlich die Internalisierung externer Kosten, dermuss mit einem Preisanstieg rechnen. Darum geht esletztendlich. Es wird gesagt: Die haben die Zertifikatekostenlos bekommen. – Das ist richtig. Aber die Einprei-sung gelingt nur auf Märkten, auf denen entsprechendePreise letztlich auch durchsetzbar sind. In einem Markt,in dem der Wettbewerb funktioniert, sähe die Situationanders aus. Deshalb wollen wir Wettbewerb erreichenund auf diese Art und Weise das Thema angehen. Wirwollen nicht staatlich genehmigte Preise oder gar nochstaatlich genehmigte Gewinne einführen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir wollen natürlich nicht so weit gehen, wie derKollege Lafontaine heute angeregt hat, und auch nochdie Netze verstaatlichen. Es wäre viel gewonnen, wenn

Sie, meine Damen und Herren, von diesen alten Kamel-len abrücken würden.

(Dr. Martina Krogmann [CDU/CSU]: Immer diese Staatsgläubigkeit!)

Sie müssen doch sehen, dass der Sozialismus gescheitertist. Wenn Sie mal so weit wären, könnten wir miteinan-der vielleicht einen sinnvolleren Dialog führen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Gudrun Kopp [FDP])

Betrachten wir das Problem abschließend noch ein-mal von einer anderen Seite. Wenden wir uns der Rolledes Staates zu. 40 Prozent des Preises sind staatlich be-dingt. Das setzen ohnehin wir hier fest – übrigens zumNachteil der Verbraucherinnen und Verbraucher.

(Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Das ist nicht zum Nachteil der Verbrau-cher!)

32 Prozent entfallen auf die Netzentgelte. Das läuft überdie Regulierungsbehörde. Also sind schon gut 70 Pro-zent staatlich festgelegt. Für den Rest, die Erzeugung,haben wir eine Börse. Im Hinblick darauf kann man na-türlich sagen: Dort spielen die großen vier eine entspre-chende Rolle; sie können sich parallel verhalten.

(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Was Sie sa-gen, ist reine Ideologie!)

– Nein! – Die Realität sieht aber anders aus. Die Realitätsieht doch so aus: Es gibt 150 Marktteilnehmer dort. Ander Börse gibt es eine hohe Liquidität. Der Preis an die-ser Börse liegt im europäischen Mittel. Sie haben haltkeine Ahnung von Börse und Markt, Herr Kollege.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Es wäre völlig falsch, auf der einen Seite für Wettbe-werb zu sorgen und auf der anderen Seite dann das, waswirklich Markt ausmacht, nämlich eine Börse, wiederstaatlich zu kontrollieren und die Ergebnisse zu revidie-ren. Das ist der falsche Ansatz.

(Beifall der Abg. Dr. Martina Krogmann [CDU/CSU])

Zum Vertrieb sage ich Ihnen: Man wird am Schlusseine gewisse Marge brauchen, weil man sonst keineWettbewerber findet. Wer soll denn in einen Markt ein-treten, auf dem Preis und Kosten gleich hoch sind?

(Dr. Martina Krogmann [CDU/CSU]: Und es sich nicht lohnt!)

Welche Motivation soll da vorhanden sein? Auch das istMarktwirtschaft. Sie werden das nie lernen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –Dr. Martina Krogmann [CDU/CSU]: Markt-wirtschaft hat die PDS noch nie verstanden!)

Vizepräsidentin Petra Pau: Kollege Nüßlein, Sie haben offensichtlich eine sehr

anregende Wirkung in Bezug auf Zwischenfragen. Las-sen Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Hill zu?

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 52. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. September 2006 5085

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Vizepräsidentin Petra Pau

(Zurufe von der CDU/CSU: Nein! – Ute Kumpf [SPD]: Wir wollen nach Hause!)

– Das entscheidet der Redner.

Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): Ich hätte es gern getan. Wir klären das anschließend.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Was wir statt Regulierung über das ohnehin geboteneMaß hinaus brauchen, ist: Effizienzsteigerung, moderneTechnik, um den Verbrauch zu reduzieren, standortver-trägliche Ausgestaltung des Emissionshandels. Darübermüssen wir uns unterhalten. Auch über das Thema Ver-steigerung kann man aus meiner Sicht diskutieren. Wirbrauchen einen wohl ausgewogenen Energiemix, beidem es von der Wirtschaftlichkeit auf der einen Seite bishin zur Umweltverträglichkeit auf der anderen Seitegeht, bei dem es von den erneuerbaren Energien auf dereinen Seite bis hin zur Kernkraft auf der anderen Seitegeht. Wir brauchen vor allem mehr Wettbewerb, euro-päisch, national und getragen von den Verbraucherinnenund Verbrauchern, die leider noch nicht in dem Maß be-reit sind, ihre Anbieter zu wechseln. Nur 2 Prozent ha-ben bisher von der Möglichkeit Gebrauch gemacht. Ichwürde mir wünschen, dass da Bewegung ins Spielkommt.

Abschließend: Der Kompromiss in Bayern, der überden 1. Juli 2007 hinausreicht, hat deutlich gezeigt, dassman einiges bewegen kann, und zwar nicht nur auf einergesetzlichen Basis, sondern auch in einem vernünftigenDialog. Den wünsche ich uns energiepolitisch intern ge-nauso wie draußen mit den Anbietern.

Vielen herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD – Rolf Hempelmann [SPD]: Einbisschen Folklore am Schluss musste sein!)

Vizepräsidentin Petra Pau: Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 16/2505 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungso beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-rung des Vertragsarztrechts und anderer Ge-setze (Vertragsarztrechtsänderungsgesetz –VÄndG)

– Drucksache 16/2474 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit (f)Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Auch dazuhöre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlos-sen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Parla-mentarische Staatssekretärin Marion Caspers-Merk.

Marion Caspers-Merk, Parl. Staatssekretärin bei derBundesministerin für Gesundheit:

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wir haben heute in Berlin die Situation, dass Ärzte undÄrztefunktionäre hier demonstrieren und gleichzeitigwir ein Gesetz beraten, das die Situation der ärztlichenVersorgung in Deutschland deutlich verbessern wird.

Wir haben Vorschläge aufgegriffen, die schon langeim Raum standen, und diese in das Gesetzgebungsver-fahren eingebracht. Es ist leider so, dass im Bereich derGesundheitspolitik Streitfragen stärker wahrgenommenwerden als die Fragen, über die man sich einig ist. Wirsind uns in diesem Haus darüber einig, dass das ärztlicheBerufsrecht entschlackt, verändert und an neue Heraus-forderungen angepasst werden muss. Wir sind uns indiesem Haus auch darüber einig, dass es Sinn macht,dass die ärztlichen Tätigkeitsfelder so neu gestaltet bzw.verändert werden, dass zum Beispiel Ärzte auch als An-gestellte beruflich tätig sein können, dass Ärzte Zweit-praxen eröffnen dürfen und dass mehr Flexibilität in dasSystem der Niederlassungen gebracht wird.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wir haben heute in Deutschland keine generelle Un-terversorgung mit ärztlichen Leistungen, sondern wir ha-ben gleichzeitig Überversorgung und Unterversorgung.So steht beispielsweise in Berlin ein Vertragsarzt für dieBehandlung von 531 Einwohnern zur Verfügung, inBrandenburg dagegen muss ein Vertragsarzt 825 Patien-tinnen und Patienten betreuen. Konkret heißt das: EineUnterversorgung haben wir in den ostdeutschen Ländernsowie in den ländlichen Gebieten, mittlerweile im Wes-ten wie im Osten. Eine Überversorgung haben wir in fastallen Universitätsstädten und in den Ballungszentren;hier ist eine Maximalversorgung gegeben. Verantwort-lich dafür ist zum einen das ärztliche Berufsrecht, dasflexible Lösungen eher verhindert hat, zum anderenmangelt es aber auch an finanziellen Anreizen. DiesesProblem werden wir nach Verabschiedung des Vertrags-arztrechtsänderungsgesetzes sehr beherzt angehen.

Wir werden nun das ärztliche Berufsrecht deutlichentschlacken. Wir wollen einen Internisten aus Schöne-berg nicht zwingen, nach Rathenow umzuziehen.

(Dr. Margrit Spielmann [SPD]: Aber schön ist es dort!)

Aber dieses Gesetz ermöglicht es ihm künftig, beispiels-weise in Rathenow eine Zweitpraxis zu gründen. Es wirddafür sorgen, dass künftig Kooperationen möglich wer-den, und es macht es für Ärzte leichter, andere Ärzte an-zustellen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

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Parl. Staatssekretärin Marion Caspers-Merk

Wir brauchen Berufsausübungsgemeinschaften zwi-schen allen zur vertragsärztlichen Versorgung zugelasse-nen Leistungserbringern. Dazu ist es Ärztinnen und Ärz-ten in Zukunft gestattet, auch über die bisherigeAltersgrenze hinaus in von Unterversorgung bedrohtenRegionen zu praktizieren.

In einem weiteren Schritt wird die Koalition die ärzt-liche Gebührenordnung reformieren. Danach wird eskünftig möglich sein, regionale Zu- und Abschläge zugewähren. Auch dies wird dazu beitragen, dass sich fürÄrztinnen und Ärzte in Zukunft die Niederlassung inländlichen Räumen wieder mehr lohnt.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Ein weiterer Aspekt ist mir besonders wichtig: DasGesetz beseitigt auch die bestehenden Einkommensun-terschiede zwischen Ost und West, insbesondere in dreiBereichen: bei den privatärztlichen und zahnärztlichenLeistungen sowie bei freiberuflichen Hebammen.

(Beifall der Abg. Dr. Margrit Spielmann [SPD])

Es trägt somit ein Stück zu einem einheitlichen Einkom-mensniveau in Deutschland bei und sorgt so für mehrGerechtigkeit. Angesichts der Herausforderungen derZukunft, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist es nämlichnotwendig, diese Unterschiede in der gesundheitli-chen Versorgung zu beseitigen. Es kann nämlich, wennwir ein hohes Niveau bei der Versorgung haben wollen,nicht angehen, dass wir solche sehr großen Unterschiedeweiterhin tolerieren.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Sie nicht zu tolerieren, ist, glaube ich, ein Stück Solidari-tät, aber auch ein Stück Qualität. Es wird dazu führen,dass wir ärztliche Leistungen für diejenigen Menschen,die sie brauchen, auf jeden Fall wieder zugänglich ma-chen.

Mit diesem Gesetz gehen wir in die richtige Richtung.Ich wünsche mir sehr, dass bei allem Dissens und trotzaller Diskussionen auch zur Kenntnis genommen wird,dass diese Koalition handelt. Sie hat es in Bezug auf dasVertragsarztrecht bereits getan. Vielleicht wird auch ein-mal mehr über positive Aspekte im Gesundheitswesenberichtet, auch wenn die Medien natürlich eher an derSkandalisierung anderer Dinge interessiert sind. LassenSie uns zu unserer eigentlichen Aufgabe zurückfinden:Gesundheit für alle in der Bundesrepublik Deutschland.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Petra Pau: Für die FDP-Fraktion spricht nun der Kollege

Dr. Konrad Schily.

Dr. Konrad Schily (FDP): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich

glaube, dass dieser Gesetzentwurf ein Schritt in die rich-tige Richtung ist; aber ich habe meine Zweifel daran,dass die darin enthaltenen zahlreichen Regelungen ziel-führend sind.

Auch angesichts der heute schon angesprochenenÄrzteproteste – dabei geht es wirklich um Grundsätzli-ches, um Existenzen – sollen und wollen wir den Gedan-ken der Subsidiarität noch stärker in den Vordergrund rü-cken.

(Beifall bei der FDP)

Wir haben zahlenmäßig überversorgte und wir habenzahlenmäßig unterversorgte Gebiete. Aber ob das in derWirklichkeit immer so ist, ob diese Gebiete also tatsäch-lich unterversorgt oder überversorgt sind, das weiß manleider eben immer nur vor Ort. Ich bin immer noch An-fänger in diesem Parlament: Ich habe mit Erstaunen ge-sehen, dass dieser Gesetzentwurf 43 Seiten hat.

(Ute Kumpf [SPD]: Der große Bruder kann es erklären!)

Nicht alles ist für jemanden, der nur Arzt und kein Juristist, ganz verständlich. Wir sollten in der Ausschussarbeitdarauf hinwirken, möglichst viel Verantwortung vor Ortanzusiedeln.

Ein Arzt kann mit 58 Jahren befähigt sein; er muss esnicht. Er kann auch mit 68 Jahren ausgesprochen befä-higt sein; er muss es nicht. Ich kann eine solche Angele-genheit nicht generell regeln. Das kann nur eine Verant-wortungsgemeinschaft vor Ort. Deswegen muss manvon einer Regelung von oben Abstand nehmen, großzü-gig sein und ein bisschen Freiheit wagen: Die Verant-wortung sollte vor Ort getragen werden; dort sollte dieQualitätskontrolle stattfinden. Wir haben – noch – Kas-senärztliche Vereinigungen. Die dort Beschäftigten müs-sen die Verantwortung übernehmen.

(Beifall bei der FDP)

Ich denke, es ist etwas Richtiges und Wichtiges ange-stoßen worden. Ich hoffe, dass dieses Gesetzeswerk ver-schlankt wird, dass wir mit weniger Paragrafen und mitweniger Verweisen auskommen, dass es so formuliertwird, dass man es auch vor Ort verstehen kann und dassman nicht in langen Auslegungsdebatten verharrt.

Ich weiß, dass die Kompetenten nicht immer begierignach der Verantwortung sind. Man delegiert gern zurück,lässt es die anderen entscheiden und freut sich, wenn derGesetzgeber entschieden hat; schließlich war man esdann nicht selbst, also die Personen vor Ort oder die ei-gene Gruppe, sondern der Gesetzgeber. Der Gesetzgebersollte die Personen vor Ort darauf aufmerksam machen,dass sie die Kompetenten sind und daher geeignetersind, die Verantwortung zu tragen. Insofern hoffe ich,dass die Beratungen dieses Gesetzes eine Verschlankungbewirken, die Subsidiarität fördern und daher die ärztli-che Versorgung sichern und verbessern helfen. Ich freuemich auf die Beratungen.

(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Dr. Harald Terpe [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Vizepräsidentin Petra Pau: Für die Unionsfraktion spricht nun der Kollege

Dr. Hans Georg Faust.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

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Dr. Hans Georg Faust (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Vertragsarztrechtsänderungsgesetz – das klingt kompli-ziert und trocken, es wird am Freitagnachmittag behan-delt, dieses Thema ist nur etwas für Spezialisten.

Weit gefehlt! Dass sich heute in Berlin erneut Tau-sende von Ärzten zum Protest versammeln, hat auch vielmit dem zu tun, was wir endlich mit diesem Gesetz ver-ändern. Wir sollten und wir werden die Sorgen und Nöteder Ärzte ernst nehmen, genauso wie wir uns um eineflächendeckende Versorgung durch Krankenhäuser undum die Arbeits- und Rahmenbedingungen für die Kran-kenkassen kümmern. Aber im Mittelpunkt unserer Be-mühungen steht der Patient, der kranke Mensch.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP und der LINKEN)

Dieser wird in der gesundheitspolitischen Diskussionnur allzu leicht vergessen.

Im Vertragsarztrechtsänderungsgesetz geht es ganzentscheidend um den Patienten. In seiner Not wendet ersich nicht an die Politik, nicht an die Krankenkasse undauch nicht an die Verbraucherberatung. Nein, er wendetsich in seiner Not an seinen Arzt. Die Arzt-Patienten-Be-ziehung ist die wichtigste Beziehung in unserem Ge-sundheitssystem und diese müssen wir schützen: schüt-zen vor allzu starker Reglementierung durch die Politik,schützen auch vor bürokratischen Eingriffen durch dieKrankenkassen, schützen aber auch dann, wenn dieseenge Beziehung materiell ausgenutzt wird.

Die Rahmenbedingungen für diese enge, sensible Be-ziehung sind in Deutschland nach wie vor gut. Wir las-sen sie uns auch nicht schlechtreden.

(Beifall der Abg. Dr. Martina Krogmann [CDU/CSU])

Insbesondere die Erreichbarkeit und der Zugang zu denLeistungen des Gesundheitssystems werden in der Wis-senschaft übereinstimmend gelobt. Wer über Wartezei-ten in deutschen Arztpraxen klagt, sollte sich einmal dieWartelisten im europäischen Ausland, insbesondere imsozialen Skandinavien, anschauen.

Die medizinische, die ärztliche Versorgung ist auf ho-hem Niveau. Zunehmend sind die Leistungen der Haus-und Fachärzte qualitätsgesichert, und das Tag und Nacht.Flächendeckend sind Vertragsärzte auch zu ungünstigenZeiten im Einsatz. Das Notarztsystem in Deutschlandsucht international seinesgleichen.

Wie steht es um den anderen Partner in der Arzt-Patienten-Beziehung, den Arzt? Über 12 000 deutscheÄrzte arbeiten nach teurer staatlicher Ausbildung imAusland; immer mehr ausscheidende Hausärzte, diekeine Praxisnachfolger finden; immer mehr junge Medi-zinerinnen und Mediziner, die nicht in den eigentlichenArztberuf gehen: Das muss uns zum Nachdenken brin-gen und zum Handeln zwingen.

Die Fragen der Vergütung sollen im Rahmen der an-stehenden Gesundheitsreform gelöst werden. Hier müs-sen wir von den Budgets weg und hin zu vereinbarten

Leistungsvolumina in Menge und Preis, die auch beiMehrleistungen Kostendeckung zulassen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

So wenig wie der Arzt mit seiner Arbeitskraft und sei-nem Vermögen für Mehrleistungen haften darf, so wenigdürfen vermeidbare Leistungsausweitungen das Gesamt-system belasten. Hier sind wir aufgefordert, vernünftigeRahmenbedingungen zu schaffen und zusammen mit derÄrzteschaft selbststeuernde Mechanismen zu entwi-ckeln.

Die Debatte darüber, ob Ärzte zu viel, zu wenig oderrichtig verdienen, halte ich für höchst überflüssig. Auchdie Erkenntnis darüber, dass das Durchschnittsjahresein-kommen von Ärzten vor Steuern bei 80 000 Euro liegt,hilft uns hier nicht weiter. Es gibt die gut verdienendenSpezialisten in modern ausgestatteten Gemeinschafts-praxen in Großstädten. Es gibt Ärztinnen und Ärzte infamiliärer Tradition in den alten Bundesländern, die dieschuldenfreie Praxisimmobilie über Generationen wei-tergeben, einen treuen Patientenstamm haben und fest-stellen, dass ihr Einkommen zwar rückläufig, aber nochhinreichend ist.

Es gibt aber eine zunehmende Zahl von Ärzten, vor-nehmlich in den neuen Bundesländern, die sich bei derPraxisniederlassung hoch verschuldet haben, die in dendünn besiedelten Gebieten im häufigen Bereitschafts-dienst große Strecken fahren müssen, keinen Privat-patienten in ihrer Kartei haben und denen beim Gedan-ken an ihre Altersversorgung schlecht wird.

(Beifall des Abg. Dr. Harald Terpe [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN] – Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: So ist es!)

Unter den Ärzten, die heute in Berlin demonstrieren, fin-den sich sicher alle Gruppen, am wenigsten aber die vonmir zuerst genannte.

Mit dem Vertragsarztrechtsänderungsgesetz lösen wirdie Finanzprobleme der Ärzteschaft nicht. Wir gehenaber – das ist bei Gesetzgebungsverfahren sicher unge-wöhnlich – Hand in Hand mit der Ärzteschaft eine ent-scheidende Verbesserung der Rahmenbedingungen an.Insbesondere der 107. Deutsche Ärztetag in Bremen hatberufsrechtliche Grundlagen geliefert, die wir nun inGesetzesform gießen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Endlich können Ärzte ohne Begrenzung andere Ärzteanstellen, endlich können Ärzte neben ihrer Vertrags-arzttätigkeit auch als angestellte Ärzte im Krankenhausarbeiten und endlich dürfen sie auch außerhalb ihres Sit-zes an weiteren Orten vertragsärztlich tätig sein.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Diese Möglichkeiten sind gar nicht hoch genug einzu-schätzen.

Die von mir angesprochenen Versorgungsdefizite ineinzelnen Regionen Deutschlands sollen zum einendurch zusätzliche Vergütungsanreize und zum anderen

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Dr. Hans Georg Faust

durch die Aufhebung der Altersgrenze für Ärzte in un-terversorgten Gebieten beseitigt werden.

(Beifall der Abg. Dr. Margrit Spielmann [SPD])

Wenn in einem eng umgrenzten Gebiet örtlich Versor-gungsprobleme bestehen, obwohl regional eine ausrei-chende Versorgung gegeben ist, dann kann in Zukunftauch hierauf flexibel reagiert werden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Zwei wichtige Punkte des Vertragsarztrechtsände-rungsgesetzes möchte ich noch ansprechen. Der einePunkt ist die Verbesserung der Rechte der Patientenver-treter in den Selbstverwaltungsgremien auf Bundes- undLandesebene, wobei hier zusätzlich die Finanzierung derPatientenbeteiligung verbessert wird. Der andere wich-tige Punkt ist die Erleichterung bei der Einziehung derPraxisgebühr. Das bisher aufwendige und teure Rechts-verfahren wird so vereinfacht, wie es auch in anderenLebensbereichen bei säumigen Zahlern üblich ist.

Gerade die Erleichterung bei der Einziehung der Pra-xisgebühr zeigt die Probleme auf, die Ärzte neben Hono-rarsorgen und verkrusteten Strukturen noch haben: Dassind die Probleme mit der Bürokratie. Da hilft das Ver-tragsarztrechtsänderungsgesetz ein wenig weiter. Ich er-hoffe mir aber vieles vom anstehenden Gesundheitsre-formgesetz.

Nun kann man den Wert von Disease-Management-Programmen sicher nicht am Dokumentationsaufwandfestmachen. Wenn aber nach der Statistik einer von fünfausgefüllten Bögen von den Krankenkassen wegen Do-kumentationsmängeln zurückgewiesen wird, dann er-höht sich der bürokratische Aufwand für die Ärzteenorm. Weniger Bögen von weniger Krankenkassen, Zu-rücksendungen nur bei Inplausibilitäten, mehr gesunderMenschenverstand und weniger Behördenmentalitätwürden aus meiner Sicht entscheidend weiterhelfen.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Alles in allem wird mit dem Vertragsarztrechtsände-rungsgesetz berechtigten Forderungen der ÄrzteschaftRechnung getragen. Mit der anstehenden Gesundheitsre-form gehen wir die Ablösung der Budgets und die Erfül-lung der Forderungen nach einer angemessenen Hono-rierung in Euro und Cent an und verlieren die Sorgenüber eine überbordende Bürokratie nicht aus dem Blick.

Den in Berlin demonstrierenden ärztlichen Kollegenmöchte ich sagen: Wir haben Verständnis für ihre be-rechtigten Anliegen. Das Verhältnis Arzt – Patient ist einhohes Gut und verdient jeden Schutz. Aber Gesundheits-politik ist mehr als das Durchsetzen von Einzelinteres-sen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD –Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Das sollte sich mal die Koalition hinterdie Ohren schreiben!)

Neben dem Recht auf Demonstration auf dem Gendar-menmarkt sehe ich als ärztlicher Kollege die deutschen

Ärzte in der Pflicht, im Interesse ihrer Patienten den Dia-log mit der Politik, mit uns, fortzusetzen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Vizepräsidentin Petra Pau: Nun spricht für die Fraktion Die Linke der Kollege

Frank Spieth.

(Beifall bei der LINKEN)

Frank Spieth (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr

Dr. Faust, weiten Teilen Ihrer Aussagen kann ich zustim-men. Den heute protestierenden Ärzten sollten wir ange-sichts ihrer Bereitschaft, sich mit dem Gesundheits-reformgesetz kritisch auseinander zu setzen, und derDiskussion über die Frage, ob das Vertrauensverhältniszwischen Arzt und Patient und umgekehrt nicht allmäh-lich zerstört wird, sagen, dass ihre Kritik berechtigt istund es in der Tat darauf ankommt, Positionen zu bezie-hen.

Allerdings möchte ich an dieser Stelle auch daraufhinweisen, dass sich der Bundesverband der Hausärztean diesem Protest ausdrücklich nicht beteiligt, weil ersagt: Wir als Hausärzte und als Ärzte insgesamt müssenmehr tun, als nur auf unsere Vergütung zu schauen. Wirtragen eine Gesamtverantwortung in diesem System. –Deshalb möchte ich hier die Gelegenheit nutzen, denÄrzten zu sagen: Mehr Ethik und nicht nur Monetik! Dassehen viele Ärzte ebenso.

Nun zum Vertragsarztrechtsänderungsgesetz. Mit die-sem Gesetz der Bundesregierung soll eine Abmilderungdrohender hausärztlicher Unterversorgung – um diegeht es im Wesentlichen – erreicht werden. Frau Staats-sekretärin, wir unterstützen dieses Anliegen. Wir unter-stützen zudem wesentliche Teile der Vorschläge, die indiesem Gesetz enthalten sind. Unsere Fragen zielen aberdarüber hinaus. Wir haben im Rahmen der Selbstbefas-sung von Sachverständigen in Bezug auf die Unterver-sorgungsproblematik die Befürchtung gehört, dass dasnicht ausreicht. Diese Befürchtung teilen wir. Es geht inder Tat um die Frage, ob wir nur mithilfe von Anreizsys-temen erreichen können, dass Ärzte sich künftig instrukturschwachen Regionen, zum Beispiel in der Eifel,im Thüringer Wald oder im Bayerischen Wald, nieder-lassen.

(Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Im Ostseeraum!)

– Auch im Ostseeraum. Das Problem ist überall das glei-che. Ich könnte Ihnen Beispiele aus Thüringen nennen,wo wir über Jahre hinweg mit ganz extremen Anreizsys-temen versucht haben, Ärzte anzusiedeln, es aber nichtgeschafft haben.

(Jens Spahn [CDU/CSU]: Was sind denn extreme Anreizsysteme?)

Deshalb muss tatsächlich darüber nachgedacht wer-den, ob wir neben den Anreiz- und Bonussystemen auchMalussysteme einführen. Ganz konkret heißt das, dasswir in der Debatte über dieses Gesetz darüber nachden-

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Frank Spieth

ken müssen, ob wir Abschläge erheben, wenn Ärzte inGebieten zugelassen werden, in denen Überversorgungherrscht. Diese Mittel könnten in einem Fonds gesam-melt werden, sodass wir mit diesen Geldern in den Ge-bieten, in denen ein Mangel an Ärzten herrscht, einewirksame, zusätzliche Unterstützung leisten könnten.

Ein weiterer Punkt wird meine Kollegen von der FDP,insbesondere Herrn Dr. Schily, nicht begeistern: Wirmüssen darüber nachdenken, ob wir Ärzten abverlangen,sich zunächst in unterversorgten Gebieten für fünf Jahreniederzulassen. Vielleicht müssen wir ein solches neuesSteuerungsinstrument einführen. Ich glaube, eine De-batte darüber wäre des Schweißes der Edlen wert. VieleExperten sagen, dass dies sehr vernünftig wäre.

Wir dürfen nicht nur liberalisieren, sondern müssenauch regulierend in den Prozess eingreifen. Dadurchwollen wir nicht zwangsläufig mehr Bürokratie auf-bauen, sondern wir wollen im Sinne der Menschen han-deln, die einen Anspruch auf ärztliche Versorgung ha-ben.

Ich komme zum Schluss. Im Gesetzgebungsverfahrenwerden wir darüber diskutieren, wie wir den Menschen,die in den unterversorgten Gebieten tage- oder sogar wo-chenlang auf eine hausärztliche Leistung warten, helfenkönnen. Im Namen meiner Fraktion biete ich dabei jedeUnterstützung an.

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsidentin Petra Pau: Für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen hat

der Kollege Dr. Harald Terpe das Wort.

Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich

möchte zu Beginn die Pauschalpolemik nach dem Motto„Mehr Ethik statt Monetik“ zurückweisen. Das bin ichmeinen ärztlichen Kolleginnen und Kollegen einfachschuldig.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, derSPD und der FDP)

Dem sperrigen Wort „Vertragsarztrechtsänderungsge-setz“ ist nicht auf Anhieb anzumerken, dass es dabei umLiberalisierung und Flexibilisierung geht. Wer wünschtesich nicht eine Zunahme von Freiheit? Ich jedenfallskenne in meinem Bundesland Mecklenburg-Vorpom-mern und in Brandenburg eine Reihe von Vertragsärzten,die sich gerne von zunehmend erforderlicher Mehrarbeitund existenzgefährdender Unterfinanzierung befreienwürden.

Ich denke – das ist schon gesagt worden –, dass derGesetzentwurf eine Reihe sinnvoller Regelungen ent-hält. An einer entscheidenden Stelle versagt der Gesetz-entwurf aber: Er geht nicht mit der Einführung einer leis-tungsgerechten Vergütung einher; die ist leider auf2009 verschoben worden. Ich denke, es wäre besser,wenn das Hand in Hand ginge mit den gesetzlichen Re-gelungen, die jetzt in Bezug auf die Liberalisierung ge-

troffen werden. Natürlich ist es zu begrüßen, wenngesetzgeberisch auf inhaltlich begründete neue Versor-gungsformen und veränderte Bedingungen im Gesund-heitswesen reagiert wird, zumal in diesem Fall durch dieGremien der ärztlichen Selbstverwaltung eine komfor-table Vorarbeit geleistet wurde. Ich bezweifle aber, dassdie Idee, Filialpraxen in unbegrenzter Zahl und räumlichunbegrenzt zu betreiben, zielführend ist. Das ist eine Re-gelung, die noch über die Zweigpraxenregelung derSelbstverwaltung hinausgeht. Die Versorgungslücke –Stichwort: Hausarztmangel im Osten – wird sich meinerMeinung nach damit vermutlich nicht schließen lassen,sondern es könnte sich eher noch ein Einfallstor für ver-zerrten oder unlauteren Wettbewerb ergeben.

Prinzipiell kann ich die Kritik der Bundesärztekam-mer verstehen. Sie sagt, dass der Gesetzentwurf in derjetzt vorliegenden Fassung mit der berufsrechtlichen Re-gelung, die in der Vergangenheit auch in die Landesge-setzgebung Einzug gehalten hat, noch nicht kompatibelist. Da ist sicherlich noch einiges zu tun.

Es wird immer wieder argumentiert – auch im Zu-sammenhang mit dem vorliegenden Gesetzentwurf –,dass mehr Wettbewerb ins System soll. Aus ärztlicherSicht ist der Wettbewerb um die beste Qualität zu präfe-rieren. Ich wage die These, dass das Vertragsarztsystemin marktwirtschaftlicher Hinsicht nur einem einge-schränkten Wettbewerb unterliegen kann – das hängt mitden regionalen Unterschieden zusammen, die schon an-gesprochen wurden –, es sei denn, es werden Wettbe-werbsverzerrungen in Kauf genommen.

In diesem Zusammenhang muss über die Regelungendes Gesetzentwurfs zu den Medizinischen Versor-gungszentren noch diskutiert werden, insbesondereüber die Nachbesetzungsregelungen und die Unklarhei-ten hinsichtlich der Finanzierung.

Lassen Sie mich zum Abschluss noch darauf hinwei-sen, dass ich persönlich kein Verständnis dafür habe,wenn fast 16 Jahre nach der Vollendung der deutschenEinheit immer noch an dem Grundsatz „Gleicher Lohnfür gleiche Arbeit“ gerüttelt wird.

(Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Richtig!)

Ich kann daher nicht nachvollziehen, warum Sie mit Ih-rem Gesetzentwurf die ostdeutschen Zahnärzte weiterbenachteiligen wollen. In dieser Frage waren wir mitdem Gesundheitsmodernisierungsgesetz schon weiter.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie bei Abgeordneten der FDP und der LIN-KEN)

Sie sehen, es gibt bei diesem Gesetzentwurf reichlichDiskussionsbedarf.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Petra Pau: Als letzter Redner in dieser Debatte hat der Kollege

Eike Hovermann für die SPD-Fraktion das Wort.

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5090 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 52. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. September 2006

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Eike Hovermann (SPD): Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!

Als Erstes eine Replik auf Herrn Dr. Terpe und HerrnSpieth. Ich glaube, wir sollten die unselige Diskussion„Ethik statt Monetik“ fallen lassen. Es geht um ein aus-gewogenes Verhältnis zwischen Ethik und Monetik.Ethik ohne Monetik ist überhaupt nicht vorstellbar. Dieseunselige Debatte führen wir schon seit Jahrzehnten.

Herr Dr. Faust hat als Hintergrund dieses Gesetzesden 107. Ärztetag erwähnt. Die bisherigen berufsrecht-lichen Regelungen zu verändern, ist völlig richtig. Sehrwesentlich war auf diesem Ärztekongress natürlich auchdie Debatte über den § 140, die integrierte Versorgung,um die elendige Versäulung zwischen den Versorgungs-ebenen endgültig zu überwinden. Darin liegen nämlicherhebliche strukturelle Probleme. Wir werden sehen, obdas gelingt.

Wir werden mit dem Gesetz sicherlich vieles errei-chen. Das Gesetz ist uneingeschränkt zu begrüßen und inseinem Vollzug natürlich immer wieder zu begleiten, weiles sich, Herr Dr. Terpe, wie bei den DRGs um ein lernen-des System handelt. Man muss einmal schauen, wenn dasGesetz in die Realität umgesetzt worden ist, wie sich dieRealität entlang des Gesetzes entwickeln wird.

Sie haben mit Recht den KBV-Vorschlag aufgenom-men, das Missverhältnis zwischen Unterversorgung undÜberversorgung durch Zu- und Abschläge zu regulie-ren. Doch dafür, Herr Spieth, muss auch die Monetikstimmen. Das heißt, wenn Sie ein Verhältnis zwischenAbschlägen und Zuschlägen schaffen, muss man genü-gend Spielräume haben, um das so zu gestalten, dass esnicht zu einem Kampf zwischen denen, die einen Zu-schlag erhalten, und denen, die einen Abschlag erhalten,kommt.

Natürlich vereinfacht das Gesetz die Gründung vonMedizinischen Versorgungszentren. Laut Kassenärzt-licher Bundesvereinigung – es liegt eine gute Sammlungvon Charts vor – hat es da erhebliches Wachstum gege-ben. Noch ist das Verhältnis zwischen Gründungen imländlichen Bereich und denen in den Ballungszentren re-lativ ausgewogen. Es wird allerdings auf die Fragen an-kommen – hier komme ich auf Ethik und Monetik zu-rück –, wo es in Zukunft Steigerungsraten geben wird, inwelcher Rechtsform dies stattfindet und wer Geld zurVerfügung stellt. Denn das wird sehr teuer.

Herr Schily, um offen auf einen Punkt einzugehen,der mich sehr interessiert hat: Man kann als Arzt sowohlmit 58 als auch mit 68 Jahren befähigt sein; wahrschein-lich gilt das für Politiker, Klempner und Tankstellenwär-ter ebenso. Nur, wenn das Gesetz keine Rahmenrege-lungen vorgibt, wer entscheidet dann eigentlich über dieFrage der Befähigung? Sonst heißt es möglicherweise:Du musst jetzt raus aus deiner Praxis, du bist nicht befä-higt. – Dazu muss es Klarstellungen geben, die, vermuteich, von der KV nicht so gerne gegeben würden; deshalbmuss der Gesetzgeber sie liefern. Dergleichen muss indas Vertragsarztrechtsänderungsgesetz, kurz VÄG ge-nannt, in Zukunft eingeflochten werden.

Vieles ist schon angesprochen worden; ich will dasnicht alles wiederholen. Ich weiß nicht, ob die Verlänge-

rung der Anschubfinanzierung für die integrierte Versor-gung schon angesprochen worden ist. Das ist sinnvoll.Natürlich steht hier, Herr Dr. Faust, der Patient im Mit-telpunkt. Aber es muss wohl in Zukunft auch nochschärfere Regelungen in Bezug auf die Frage geben, waseine echte integrierte Versorgung ist und was eine Ver-sorgung ist, die sich nur integriert nennt, aber nicht inte-griert gemacht wird.

(Beifall des Abg. Dr. Hans Georg Faust [CDU/CSU] und des Abg. Dr. Harald Terpe [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN])

All diese Schritte, die mit diesem Gesetzentwurf in-tendiert sind, sind uneingeschränkt begrüßenswert.Gleichwohl gilt zu bedenken, was der Jurist einen Ver-fassungswunsch nennt, der oft in einem Missverhältniszur Verfassungsrealität steht. – Die Präsidentin mahntschon. – Wir werden sehen, wie die Umsetzung, die vonder Finanzierung abhängt, vonstatten geht. Beim Fondsgibt es, jenseits des heroischen und evidenzbasiertenKampfes um den Einbezug des „s“, noch viele wichtigeFragen, zum Beispiel bezüglich der 1-Prozent-Ober-grenze. Ich bin dennoch guten Mutes, dass wir im Laufeder Diskussion über dieses Gesetz diese und andere Fra-gen beantworten werden. Ich bitte Sie zuzustimmen.

Vielen Dank fürs Zuhören und einen schönen Tagnoch.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowiebei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

Vizepräsidentin Petra Pau: Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-wurfs auf Drucksache 16/2474 an die in der Tagesord-nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt esdazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf:

Beratung des Berichts des Ausschusses für Bil-dung, Forschung und Technikfolgenabschätzung(18. Ausschuss) gemäß § 56 a der Geschäftsord-nung

Technikfolgenabschätzung (TA)

TA-Projekt: Zukunftstrends im Tourismus

– Drucksache 16/478 – Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Tourismus (f)Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft und VerbraucherschutzAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und TechnikfolgenabschätzungAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss für Kultur und Medien

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Vizepräsidentin Petra Pau

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist fürdiese Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt esdazu Widerspruch? – Ich höre keinen. Dann ist das sobeschlossen.

Die Kollegin Marlene Mortler hat für die Unionsfrak-tion das Wort.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Marlene Mortler (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und

Herren! Dass es Tourismus gibt, dass wir in Urlaub fah-ren, dass wir auf Geschäftsreisen unterwegs sind, ist fürviele Menschen in unserem Land selbstverständlich.Welche Bedeutung der Tourismus hat, was wirklich da-hintersteckt, ist allerdings den wenigsten Menschen be-wusst. Deshalb bin ich froh und dankbar, dass wir alsKoalitionsfraktionen uns entschieden haben, diese De-batte, auch wenn es Freitagnachmittag ist, zu führen undüber den Tourismus und die TAB-Studie, um die esheute geht, zu sprechen.

Meine Damen und Herren, kein Geringerer als Zu-kunftsforscher Opaschowski hat es auf den Punkt ge-bracht. Er sagt: Die Freizeitwirtschaft ist so wichtig,dass ich sie in der Rolle einer Leitökonomie sehe. – Inder Tat, die Wachstumsraten in der Freizeitwirtschaftliegen weit über denen der Gesamtwirtschaft. Damitwird die Freizeitwirtschaft die Lokomotive sein, die dieWirtschaft des 21. Jahrhunderts antreibt.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Der Tourismus hat sich in den letzten zehn Jahrenweltweit rasant entwickelt. Während noch vor zehn Jah-ren 540 Millionen Menschen unterwegs waren, sind esheute bereits über 808 Millionen Menschen. Dieser Auf-wärtstrend scheint ungebrochen. Der World Travel andTourism Council hat von einem Umsatz in der Reise-branche von über 1,5 Billionen US-Dollar gesprochen.Das heißt, jeder zehnte US-Dollar wird im Bereich Rei-sen ausgegeben. Diese Zahlen machen die volkswirt-schaftliche Bedeutung des Tourismus deutlich. Ich sehees als unsere Aufgabe der Zukunft an, da nicht nur mit-zuspielen, sondern weiterhin in der Spitze zu sein undden Stürmer zu spielen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Der Tourismusmarkt ist ein Wachstumsmarkt. Fastalle europäischen Volkswirtschaften profitieren von ihm.Allein in Europa gibt es in diesem Bereich 25 MillionenArbeitsplätze. Auf Deutschland heruntergebrochen ent-spricht das 2,8 Millionen Menschen, die in diesem Be-reich arbeiten. Das klingt nicht gerade weltbewegend.Aber für mich ist die Tatsache entscheidend, dass Ar-beitsplätze im Tourismus nicht exportierbar sind.

Lassen Sie mich im Zusammenhang mit der Situationin Deutschland einen Blick in die Gegenwart bzw. in diejüngste Vergangenheit werfen: Womit haben wir uns inden letzten drei Monaten beschäftigt? Wir hatten eintraumhaftes Incoming. Das heißt, es sind sehr viele Men-schen aus dem Ausland zur Fußballweltmeisterschaftnach Deutschland gekommen. Unser Ziel war, Deutsch-

land als ein weltoffenes und gastfreundliches Land zupräsentieren. Ich danke an dieser Stelle allen, die dazuihren Beitrag geleistet haben.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Allen voran danke ich der Deutschen Zentrale fürTourismus, die eine sehr bedeutende Rolle spielte. Ge-nauso wichtig ist mir, darauf hinzuweisen, dass wir er-neut 25 Millionen Euro in den Bundeshaushalt einge-stellt haben, um im Ausland und im Inland weiterhinnachhaltig für unseren Tourismusstandort werben zukönnen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Es ist keine Selbstverständlichkeit, dass wir in diesemJahr zum ersten Mal die Grenze von 52 Millionen Über-nachtungen überschreiten werden, allein was die interna-tionalen Übernachtungen betrifft. Es ist auch keineSelbstverständlichkeit, dass das so bleibt. Deshalb wardas Motto der Fußball-WM „Die Welt zu Gast beiFreunden“ sehr wichtig.

Welche Schlussfolgerungen können wir heute ziehen?Es wurde professionell vorgegangen. Die DZT – ichhabe sie erwähnt – und viele andere waren daran betei-ligt. Die Fußball-WM hat dem Image unseres Landes ei-nen zusätzlichen Schub gegeben. Das hat, was die touris-tische Nachfrage betrifft, eine Langzeitwirkung.

(Ute Kumpf [SPD]: Das wird sich noch zei-gen!)

Im Rahmen der Fußballweltmeisterschaft haben über90 Prozent der Menschen gesagt, dass sie Deutschlandweiterempfehlen wollen. Das ist, wie ich finde, eine tolleZahl. Aber ich betone: Wir dürfen uns nicht auf diesenLorbeeren ausruhen. Wir müssen immer wieder überle-gen: Wo stehen wir und wo stehen die anderen? Gibt esbei uns Defizite? Wo müssen wir hin und wo wollen wirhin? Denn der internationale Markt schläft nicht.

Es waren aber nicht nur die sportlichen Ereignisse,die unser Land vorangebracht haben. In der TAB-Studiewird auch darauf hingewiesen, welche Vorteile dieEU-Osterweiterung unserem Land bringt. Ich finde estoll und bemerkenswert, dass die TAB-Studie, die DZTund eine Studie der Fachhochschule Worms zum glei-chen Ergebnis kommen: Wenn wir unsere Chancen imTourismus nutzen, wird Deutschland Reiseland Nummereins für die osteuropäischen Länder. Wir werden vonein-ander profitieren.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)

Es ist sicherlich die räumliche Nähe, die für uns spricht,aber auch das gute Image, das wir uns in den letzten Mo-naten aufgebaut haben. Nutzen wir also diese Möglich-keiten!

Ein Manko besteht sicherlich bei der Verkehrsinfra-struktur; hier gibt es Defizite. Wir müssen dringend un-sere Hausaufgaben machen bei den Verkehrsverbindun-gen nach Osten, die wir in den Bundesverkehrswegeplanaufgenommen haben. Aber auch die osteuropäischen

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Marlene Mortler

Staaten müssen beherzt ihre Infrastruktur modernisierenund erweitern. Ich bin persönlich fest überzeugt davon,dass wir den stärkeren Tourismus, der sich hier entwi-ckeln soll und auch wird, nicht alleine den Billigfliegernüberlassen können und überlassen sollten.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Die Tourismusbranche befindet sich im Umbruch.Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass sich bewährteGeschäftsmodelle nicht mehr bewähren. Sie müssen aufden Prüfstand, weil sich das Kundenverhalten geänderthat. Wir müssen auch feststellen, dass die Nachfrage er-heblich von der Qualität abhängt. Die Kundenzufrieden-heit lässt sich dabei nicht einfach mit den vergebenenSternen gleichsetzen.

Ich habe vom Umbruch gesprochen, von der Entwick-lung unserer Gesellschaft. Hier spielt die Demografieeine wichtige Rolle. Den großen Einfluss des demogra-fischen Wandels auf den Tourismus wollen wir am25. Oktober in einer Anhörung näher beleuchten. Denalten Menschen, meine Damen und Herren, gibt es nicht:Die alten Menschen sind materiell, gesundheitlich, geis-tig ganz unterschiedlich aufgestellt. Der eine hat einengroßen Geldbeutel, der andere einen kleinen. Aber alleverbindet eines: die nach wie vor ungebrochene Reise-lust. Für all diese unterschiedlichen Menschen brauchenwir Antworten, innovative Ideen und Angebote.

Ich komme zum Schluss. Als dritten Komplex möchteich ganz eindringlich die Risiken und Krisen an-sprechen. Risiken und Krisen sind von ungebrochenerAktualität. Ich denke an die in Heathrow vereitelten An-schläge, ich denke aber auch an neue Krankheiten, anEpidemien, an die Zunahme von Naturkatastrophen undextremen Wetterereignissen. Entscheidend ist, dass wirdie Menschen in unserem Lande ernst nehmen, wenn esum die Sicherheit geht.

Vizepräsidentin Petra Pau: Kollegin Mortler, das war eigentlich ein sehr schöner

Schlusssatz. Ich bin ein geduldiger Mensch, aber – –

Marlene Mortler (CDU/CSU): Eine Befragung hat nämlich deutlich gemacht, dass

die Sicherheit für die Menschen inzwischen an ersterStelle steht, sie kommt vor einem guten Preis-Leistungs-Verhältnis.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Deshalb darf die Sicherheit nicht länger ein Tabuthemasein. Wir müssen verstärkt auf die Möglichkeiten hin-weisen, die das Auswärtige Amt mit seinen Reisewar-nungen und Reisehinweisen bietet.

Vizepräsidentin Petra Pau: Kollegin Mortler, das ist jetzt wirklich absolut unkol-

legial.

(Zuruf von der SPD: Ja, das stimmt!)

Marlene Mortler (CDU/CSU): Wir müssen mit der Reisebranche verstärkt in einen

Dialog treten, um die Sicherheit der Reisen zu verbes-sern.

(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schauen Sie doch einmal auf die Uhr!)

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Vizepräsidentin Petra Pau: Für die FDP-Fraktion hat der Kollege Jens

Ackermann das Wort.

Jens Ackermann (FDP): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-

gen! Mit dem Bericht „TA-Projekt: Zukunftstrends imTourismus“ werden die vielfältigen Chancen und He-rausforderungen gezeigt, denen sich Deutschland im Be-reich des Tourismus stellen muss. In dem Bericht wer-den Trends genannt, die erfreulicherweise stark mit derEU-Erweiterung in Verbindung gebracht werden. DieFDP-Fraktion begrüßt diesen Fokus auf unsere östlichenNachbarn und die Chancen, die sich daraus ergeben.

(Beifall bei der FDP)

Seit dem Beitritt der neuen Mitgliedstaaten werdendie Möglichkeiten für die deutsche Tourismusbrancheimmer offensichtlicher.

(Martin Zeil [FDP]: So ist es!)

Zum einen können die deutschen Reiseunternehmendurch das steigende Interesse deutscher Touristen amöstlichen Europa stark profitieren, zum anderen bergendie neuen EU-Mitgliedsländer insbesondere im Bereichder Geschäftsreisen und als Messestandort ein hohesTourismuspotenzial für Deutschland selber. Das ist einBeispiel für eine gute Entwicklung in Europa und einArgument gegen die nach wie vor vorhandene Skepsishinsichtlich der EU-Erweiterung.

(Dr. Konrad Schily [FDP]: Richtig! – Martin Zeil [FDP]: Ja!)

Der Bericht ist vom Januar 2006. Vieles, was in derVorausschau geschrieben wurde, ist nach wie vor aktu-ell. Doch seitdem hat sich enorm viel getan – unter ande-rem seit der Fußballweltmeisterschaft, die der Touris-musbranche viele neue Impulse geliefert hat.

(Martin Zeil [FDP]: Ja, aber der Regierung leider nicht!)

Wir müssen aber darauf achten, dass diese Impulse, diedie WM gebracht hat, auch nachhaltig sind, sodass wirauch später noch davon profitieren können. Die WM warein großer Erfolg und hat allen gezeigt, zu welchen Leis-tungen unser Land nicht nur im Sport fähig ist,

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

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Jens Ackermann

dass Deutschland ohne falsche Bescheidenheit Welt-meister der Herzen genannt werden kann und dass derSlogan „Zu Gast bei Freunden“ die Atmosphäre im Landgegenüber den Gästen und Touristen treffend auf denPunkt gebracht hat.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

An dieser Stelle möchte ich im Namen der FDP-Frak-tion der Gastronomie und der Hotellerie in Deutsch-land für ihr Engagement und ihr beachtliches Ar-beitspensum in den heißen Tagen des Juni danken; dennjeder noch so kleine Schankbetrieb wurde zu einer ver-längerten Fankurve in den unterschiedlichsten nationa-len Farben und zu einer Visitenkarte Deutschlands.

Um die Stärkung des Tourismusstandorts Deutsch-land, die durch die WM 2006 erreicht werden konnte,dauerhaft zu sichern, müssen die Rahmenbedingungenfür den Tourismussektor verbessert werden.

(Martin Zeil [FDP]: Ladenschluss aufheben!)

Damit investieren wir in die wichtigste Dienstleistungs-und Wachstumsbranche, die wir haben. Doch welcheRahmenbedingungen meine ich? Insbesondere für dieTourismusbranche sind Freiräume, in denen sich Unter-nehmen entwickeln können, ganz wichtig; denn es sindvor allem mittelständische Unternehmen, die vom Tou-rismus leben.

Den Projektbericht vor Augen appelliere ich deshalban die Bundesregierung, es den Nachbarn in Europagleichzutun und einen reduzierten Mehrwertsteuer-satz für die Bereiche Hotellerie und Gastronomie einzu-führen.

(Lachen bei Abgeordneten der SPD – Zurufvon der SPD: In jeder Rede die Mehrwert-steuer!)

Es ist doch nur fair, den deutschen Gastronomen dengleichen Satz anzubieten, der auch für die Mitbewerberzehn, 20 Kilometer weiter hinter der Grenze gilt.

(Beifall bei der FDP – Renate Gradistanac [SPD]: Haben Sie den Bericht überhaupt gelesen?)

Ohnehin ist es für die gesamte Wirtschaft nicht von Vor-teil, die Mehrwertsteuer im nächsten Jahr anzuheben.

(Beifall bei der FDP – Martin Zeil [FDP]: Das ist der größte Mist!)

Durch jede Erhöhung der Mehrwertsteuer wird der Kon-sum gehemmt. Dies schadet letztlich vor allem der Gas-tronomie.

Ich möchte aber auch noch einen anderen Punkt an-sprechen – Kollegin Mortler hat es schon zum Ausdruckgebracht –: Es geht um die Beschäftigungszahl. MeinerMeinung nach könnten wir im Bereich des Tourismusnoch mehr Beschäftigung und Ausbildungsplätze alsbisher haben. Hier müssen wir uns aber auch um dieRahmenbedingungen kümmern. Wenn wir vom Touris-mus als wichtigem Zukunftstrend sprechen, dann mussdies auch an den Beschäftigungszahlen deutlich werden.Durch Mindestlöhne – egal, in welcher Form sie festge-legt sind – werden die Arbeitsmarktprobleme nicht ge-

löst, sondern noch viel mehr verschärft. Im Ergebnisführen sie insbesondere im Bereich der Geringqualifi-zierten zu einer Verdrängung von Arbeitsplätzen und zueiner Abwanderung in die Schwarzarbeit.

(Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Sie wollen wohl Hungerlöhne?)

Das nutzt erst recht niemandem.(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordnetender CDU/CSU – Zuruf von der SPD: Wer hatIhnen denn das aufgeschrieben?)

Außerdem sollten die Ausbildungsmöglichkeiten fürJugendliche unter 18 Jahren verbessert werden, stattständig eine Ausbildungsplatzabgabe zu fordern.

(Renate Gradistanac [SPD]: Davon stehtnichts im Bericht! Haben Sie den Bericht gele-sen?)

Wie viel attraktiver wäre die Einstellung eines Jugendli-chen unter 18 Jahren, wenn im Bereich des Jugendar-beitsschutzes die zulässige Arbeitszeit für Jugendlichevon 22 Uhr auf 23 Uhr ausgedehnt werden würde!

(Martin Zeil [FDP]: Ganz genau!)Die Chancen für Haupt- und Realschüler auf einen Aus-bildungsplatz im Tourismussektor würden steigen.

(Beifall bei der FDP – Annette Faße [SPD]:Thema verfehlt! Sie haben den Bericht, denwir heute diskutieren, nicht gelesen! – Weite-rer Zuruf der Abg. Renate Gradistanac [SPD])

– Frau Kollegin Gradistanac, ein junger Mensch, der vonGesetzes wegen um 22 Uhr mit der Arbeit aufhörenmuss, wartet doch auch auf einen Arbeitskollegen, derum 23 Uhr Feierabend hat, um mit ihm dann in die Discozu gehen und bis 4 Uhr morgens zu feiern.

(Zurufe von der SPD: Das ist seine Privatsache! – Ich mache nachts auch, was ich will!)

– Natürlich ist das seine Privatsache. Aber es ist dochunfair – –

Vizepräsidentin Petra Pau: Herr Kollege Ackermann, diese Debatte müssten Sie

außerhalb des Plenarsaals fortsetzen.

Jens Ackermann (FDP): Das mache ich. – Es geht mir um diejenigen, die ei-

nen Ausbildungsplatz haben könnten, diesen aber nichtbekommen, weil die Politik die Hürden so hoch ansetzt.

(Beifall bei der FDP)Ein letzter Satz, Frau Präsidentin: Die Ausschussvor-

sitzende hat bereits angesprochen, dass die Tourismus-branche sehr stark durch höhere Gewalten beeinflusstwird, durch Klima und Wetter. Wir sollten nicht weitereEinflüsse durch staatliche Gewalt hinzukommen lassen,und zwar in unser aller Interesse.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der FDP – Zurufe von der SPD: Thema verfehlt!)

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Vizepräsidentin Petra Pau: Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe hier nicht

nur einen Knopf, um das Signal „Präsident“ einzuschal-ten, das normalerweise anzeigt, dass die Redezeit abge-laufen ist. Ich habe noch einen Knopf, den ich noch niebenutzt habe. Ich hoffe immer noch, dass ich ihn auchnie benutzen muss. Ich gebe aber zu: Heute strapazierenSie meine Geduld sehr.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, derSPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Das Wort hat die Kollegin Renate Gradistanac für dieSPD-Fraktion.

Renate Gradistanac (SPD): Herzlichen Dank. – Frau Präsidentin! Meine sehr ver-

ehrten Damen und Herren! Ich freue mich sehr, dass wirheute über das Thema „Zukunftstrends im Tourismus“sprechen. Ich habe den Eindruck, manche haben über-haupt nicht gewusst, was heute auf der Tagesordnungsteht.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Der TA-Bericht geht auf eine Initiative unseres Tou-rismusausschusses zurück. Ich danke dem Büro fürTechnikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestagfür die hervorragende Arbeit, insbesondere Frau Scherz,Herrn Petermann und Herrn Revermann.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowiebei Abgeordneten der FDP und des BÜND-NISSES 90/DIE GRÜNEN)

Der Bericht ist in drei Schwerpunkte gegliedert: ers-tens der demografische Wandel in Deutschland, zweitensdie EU-Osterweiterung und die Auswirkungen auf denTourismus und drittens Reisen angesichts von Krisenund Risiken.

Die Tourismuswirtschaft gilt weltweit als Leitökono-mie der Zukunft; das haben Sie richtig schön herausge-stellt, Frau Mortler. Gerade deshalb ist es wichtig, dasswir in Deutschland, in den Ländern und in den Touris-musregionen relevante Entwicklungen rechtzeitig erken-nen und uns darauf einstellen.

(Beifall bei der SPD)

Die Ergebnisse des Berichts liegen seit einiger Zeitvor und wurden auch bei verschiedenen Gelegenheitendiskutiert. Bei meinen Veranstaltungen im Schwarzwald,in Bad Wildbad, und in Munderkingen, am Rande derSchwäbischen Alb, stießen die Ergebnisse auf großes In-teresse.

(Zuruf von der SPD: Nicht so viel Werbung!)

Das hat mich besonders gefreut, zeigt es doch, dassdie Mehrheit der Branche interessiert ist, sich auf dieHerausforderungen, aber auch auf die Chancen der Zu-kunft vorzubereiten.

(Zustimmung bei der SPD)

In meiner Rede möchte ich insbesondere auf dendemografischen Wandel eingehen, weil wir von derSPD-Arbeitsgruppe dieses Thema vorgeschlagen haben.Die Bevölkerungszahl schrumpft, die Gesellschaft altert.Das lässt sich eindrücklich an den Statistiken, die im Be-richt aufgeführt sind, ablesen. Ich möchte einige Zahlennennen: 1994 waren 15,4 Prozent der Bevölkerung inDeutschland über 65 Jahre, Ende 2004 waren es18,6 Prozent. Im Jahr 2050 sollen 37 Prozent der Bevöl-kerung über 60 Jahre sein.

Die Reiselust der älteren Menschen wächst stetig. Un-ter allen Altersgruppen in Deutschland geben sie denhöchsten Anteil ihres Einkommens für Reisen aus. Seni-orenhaushalte verwendeten im Jahr 2003 4,1 Prozent ih-res Konsumbudgets für Pauschalreisen; der Durchschnittaller Altersgruppen lag bei 2,7 Prozent. – Die so genann-ten Best-Ager, Jungsenioren im Alter von 50 bis 64 – au-ßer Ihnen, Herr Ackermann, gehören wir wahrscheinlichalle dazu –, machen die meisten Urlaubsreisen. Die Tou-rismusbranche wird sich daher auf das zunehmende Alterihrer Kundinnen und Kunden einstellen müssen. Nichtnur Marktforscher sind der Meinung, dass die Seniorin-nen und Senioren in absehbarer Zeit zum Wachstums-motor der Branche werden.

Ältere Menschen wollen heutzutage keine Senioren-reise buchen. Sie fühlen sich dazu zu gesund, vital, aktivund mobil. Es gilt, vermehrt touristische Angebote zuentwickeln, die sich auf die Erwartungen der Seniorin-nen und Senioren einstellen. Das gilt sowohl für dieGruppe der Älteren, die viel Geld ausgeben können, alsauch für diejenigen, die gerne reisen, aber über ein klei-neres Budget verfügen. Die Branche ist nach meinerBeobachtung sensibilisiert.

Das nächste Jahr ist zum „Europäischen Jahr derChancengleichheit für alle“ erklärt worden. Es stelltsich die Frage, was verbessert werden muss, um jederZielgruppe gleiche Chancen zu ermöglichen. Das giltinsbesondere für den barrierefreien Tourismus, bei demes noch Nachholbedarf gibt.

(Beifall im ganzen Hause)

Das wissen wir spätestens seit unserem Wettbewerb „Fa-milienzeit ohne Barrieren“ aus dem Jahr 2003. Die Jurystieß damals auf ausgezeichnete Angebote, die exzellenterarbeitet waren. Es gab aber auch Fälle von erschrecken-der Unkenntnis. Wettbewerbe auf Bundes- und Länder-ebene stellen positive Beispiele heraus, an denen sich an-dere orientieren sollten.

Was die Haushaltsberatungen für das Jahr 2007 an-geht, freuen wir uns, dass der barrierefreie Tourismusbenannt wird. Wir wünschen uns aber mehr Mittel fürdiesen Bereich, um die Barrierefreiheit wirklich voran-zubringen.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, demBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der LIN-KEN)

Um bis ins höchste Alter fit zu bleiben, gewinnt diePrävention immer mehr an Bedeutung. Urlaub für dieGesundheit und kombinierte Fitness- und Wellnessange-

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Renate Gradistanac

bote sind zunehmend gefragt. Besonders medizinischeWellnessangebote sind ein Wachstumsmarkt. Allerdingsmuss das Fachpersonal hierfür hervorragend qualifiziertsein.

Das Wandern, das lange Zeit als verstaubte Sportartgalt, erlangt eine ungeahnte Renaissance. Bei mir imSchwarzwald gibt es den „Wanderhimmel Baiersbronn“.Vielleicht haben Sie Lust, einmal zu kommen. Es ist eingelungenes Beispiel, wie das Wandern zu einem ganz-heitlichen Erlebnis aus Fitness, Entspannung, Naturerle-ben und Geselligkeit werden kann.

Lassen Sie mich ein zweites Beispiel aus demSchwarzwald nennen – ich bin aber überzeugt, dass Sieebenfalls unzählige Beispiele anführen könnten, liebeKolleginnen und Kollegen –: Ein Viersternehotel mit an-geschlossener Landwirtschaft hat zum SchwarzwälderFuchsfest eingeladen. Die regionale Identität wird dortbewusst gestärkt und herausgestellt. Auffallend war,dass dort viele Großeltern mit ihren Enkelkindern waren.Diese haben dort einen besonders schönen Tag erlebt.

Der zweite Schwerpunkt des Berichts bezieht sich aufdie EU-Osterweiterung, die die deutsche Tourismus-wirtschaft vor Herausforderungen stellt. Davon war be-reits die Rede. Sie bringt aber auch Chancen. Prognosenkommen zu dem Ergebnis, dass die deutsche Tourismus-wirtschaft aller Voraussicht nach mittelfristig zu den Ge-winnern der EU-Osterweiterung zählen wird.

Reisen im Angesicht von Risiken und Krisen sind diedritte Säule des Berichts. Darunter versteht man Gewalt,Kriminalität, Terror, Gesundheitsrisiken, Naturkatastro-phen und den Klimawandel. Der globale Klimawandelwird weitere ernsthafte Folgen für Wetter und Natur ha-ben. In dem Projekt „Klimawandel – Auswirkungen, Ri-siken, Anpassung“ – kurz KLARA – sind die Folgen desKlimawandels für Baden-Württemberg erforscht wor-den.

Es ist im ureigenen Interesse der Tourismusbranche,sich mit den Ergebnissen, auf die ich aus Zeitgründennicht näher eingehen kann, auseinander zu setzen. Wirhaben die Möglichkeit, in der von uns geplanten Anhö-rung die einzelnen Punkte zu behandeln.

Klar ist: Bund, Länder und Tourismusbranche sindgefordert. Der Bericht ist eine hervorragende Grundlage,die durch die Anhörung ergänzt wird. Ich verbinde damitdie Erwartung, dass die Bundesregierung ein touristi-sches Leitbild für Deutschland entwickelt.

Ich habe eine Minute meiner Redezeit eingespart.

(Heiterkeit bei der SPD und der CDU/CSU)

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, demBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der LIN-KEN)

Vizepräsidentin Petra Pau: Herzlichen Dank. – Das Wort hat der Kollege Dr. Ilja

Seifert für die Fraktion Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)

Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-

legen! Meine Damen und Herren auf den Besuchertribü-nen! Die Technikfolgenabschätzung über touristischeTrends bietet uns eine gute Möglichkeit, wichtige Punktedarzulegen, die wir für die Zukunft favorisieren wollen.Für die Linke erlaube ich mir, drei Punkte herauszugrei-fen: erstens den sozialen Faktor, der mit dem Tourismusverbunden ist; zweitens den regionalen Gestaltungsfak-tor und drittens den arbeitsplatzintensiven Wirtschafts-faktor.

Erstens ist hier hinsichtlich des sozialen Faktorsschon sehr viel von Menschen gesprochen worden, dieviel Geld haben, und solchen, die über weniger verfü-gen. Meines Erachtens müssen wir uns mehr auf diejeni-gen konzentrieren, die weniger Geld haben, also zumBeispiel darüber reden, was Empfängerinnen und Emp-fänger von Arbeitslosengeld II machen, die fast gar nichtverreisen können. Brauchen die etwa keine Erholung?Ich denke, sie brauchen mehr Erholung als manche, dienicht wissen, wohin mit ihrem Geld.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Wi-derspruch bei der CDU/CSU und der FDP)

Also müssen wir dafür sorgen, dass es entsprechendeMöglichkeiten gibt und dass bei Ihnen, liebe Kollegin-nen und Kollegen von der CDU/CSU, nicht darüber phi-losophiert wird, ob sie überhaupt Urlaub machen dürfen.

Ich halte es für sehr gut, dass für diese Menschen zumBeispiel in der Oberlausitz aufgrund der Zusammenar-beit von DRK und der Tafel die Möglichkeit besteht,50 Kilometer entfernt von ihrem Heimatort, zumindestfür fünf Tage mit ihren Kindern für sehr wenig Geld Ur-laub machen zu können. Solche Beispiele sind zu favori-sieren und weiterzuentwickeln.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Zweitens geht es um den regionalen Gestaltungsfak-tor, den Tourismus bietet. Wenn wir alle darin überein-stimmen, dass Tourismus einer der Wirtschaftsfaktorender Zukunft ist, dann haben wir doch die Möglichkeit,hier etwas zu gestalten. Niemand wird sich wundern,wenn ich an dieser Stelle auf die Barrierefreiheit zusprechen komme. Es reicht eben nicht aus, immer mehrInsellösungen zu haben. Wir brauchen Lösungen, diegrundsätzlich Barrierefreiheit bieten, und zwar nicht nurfür Rollstuhlfahrerinnen und Rollstuhlfahrer, sondernselbstverständlich auch für blinde und gehörlose Men-schen. Es bringt Nutzen für alle, zum Beispiel auch fürdie, die nicht so gut zu Fuß sind oder – wie Kinder –kurze Beine haben, wenn wir dies zu einem in der gan-zen Region durchgängigen gestalterischen Prinzip ma-chen. Das heißt nicht, dass ich die Alpen planieren will,sondern nur, dass ich möchte, dass sie dort, wo es geht,für möglichst alle begehbar, berollbar und benutzbarsind. Das Gleiche trifft natürlich für mein Zittauer Ge-birge wie für jede andere Urlaubsregion in diesem Landzu.

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Dr. Ilja Seifert

Drittens komme ich auf den Wirtschaftsfaktor Tou-rismus und sein Potenzial zu sprechen, Arbeitsplätze zuschaffen. Hier ist schon mehrfach angesprochen worden,dass diese Arbeitsplätze erstens nicht exportiert werdenkönnen und sie zweitens mehr werden.

Wenn wir das schon registrieren, dann bitte ich da-rum, an dieser Stelle auch einmal den Menschen eineChance zu geben, die es ohnehin schwerer haben. Hiertreffen also Wirtschaftsfaktor und sozialer Faktor zusam-men. Es gibt in der Gastronomie und in der Hotellerie in-zwischen mehrere sehr gute Ausbildungsmöglichkeitenfür Menschen mit so genannten Lernschwierigkeiten.

Ich bitte darum, dass diesen Menschen anschließenddie Chance gegeben wird, in diesem Bereich auch wirk-lich zu arbeiten. Sie können es, sie können es gut; manmuss ihnen nur die Möglichkeit dazu geben. Dazu müs-sen sie nicht einsteinverdächtig sein und sich mit Atom-physik beschäftigen; vielmehr reicht es aus, wenn sieTeller ordentlich hin- und wieder wegtragen können,wenn sie Betten ordentlich machen und die Zimmer or-dentlich reinigen können. Das ist der Beruf, den sie er-lernt haben, den sie gern ausüben möchten und in demsie Selbstbestätigung und dadurch Befriedigung findenkönnen.

Das sind Wirkungen des Tourismus, die wir brauchen.Tourismus hat eine Zukunft. Lasst uns auf die sozialenAspekte besonders Rücksicht nehmen!

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der LINKEN und der SPD)

Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat die Kollegin Undine Kurth für die Frak-

tion Bündnis 90/Die Grünen.

Undine Kurth (Quedlinburg) (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Liebe Gäste auf der Zuschauertribüne, Sie alle haben si-cherlich mitbekommen, dass wir hier über die Studie„Zukunftstrends im Tourismus“, erstellt vom Büro fürTechnikfolgenabschätzung, vom Januar dieses Jahres re-den. Wir haben damit eine hervorragende wissenschaftli-che Zuarbeit erhalten. Es gibt allen Grund, den Kollegin-nen und Kollegen herzlich zu danken. Wir, dieParlamentarier, können sehr stolz sein, über ein solchesBüro zu verfügen. Es ist übrigens weltweit einmalig.Herzlichen Dank.

(Beifall im ganzen Hause)

Wir haben mehrfach gehört, wie gut und interessantdie Daten dieser Studie sind, dass es um verschiedeneBereiche geht und dass es wichtig ist, sich auf die sichabzeichnenden Entwicklungen einzustellen, weil Pla-nung, insbesondere Infrastrukturplanungen, in jedemWirtschaftszweig Zeit benötigen und vorausschauendsein müssen.

Ein wichtiges Thema ist – darauf wurde mehrfachhingewiesen – der demografische Wandel. Überall undallenthalben hören wir, dass wir alle zunehmend älter

werden, dass wir aber im Alter nicht immobil sein wol-len, sondern reisen möchten. Das belegen die Zahlen undwird hundertfach beschrieben. Nun frage ich Sie, wozuwir eine solche Studie haben, wenn wir uns nicht nachihr richten. Es ist zwar nett, dass die Zahlen vorliegen,und wir haben allen Grund, dankbar zu sein. NächstesJahr ist das Jahr der Chancengleichheit für alle. Eswurde schon darauf hingewiesen, dass die Senioren auf-grund des demografischen Wandels eine wichtigeGruppe sind und wie wichtig die Barrierefreiheit ist.Wenn ich mir aber den vorgelegten Haushaltsentwurfanschaue, dann stelle ich fest: Dort steht zwar, wie wich-tig der barrierefreie Tourismus ist. Aber alle Titel, diedamit zusammenhängen, sind entweder drastisch ge-kürzt oder auf null zurückgefahren worden. Deshalbfrage ich: Wozu nutzt die Studie, wenn wir uns in unse-rem Handeln nicht danach richten?

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE])

Im Einzelplan des Bundesministeriums für Bildungund Forschung ist eine Kürzung in Höhe von über2,2 Millionen Euro vorgenommen worden. Im letztenJahr belief sich der Etat noch auf 2,5 Millionen Euro.Nun stehen nur noch 328 000 Euro für Vorhaben betref-fend den barrierefreien Tourismus zur Verfügung. Dasbedeutet, dass von ehemals 30 Vorhaben nur noch achtfinanziert werden können. Da die Studie aber belegt, wiewichtig der barrierefreie Tourismus ist, ist eine solcheKürzung unverständlich, zumal die Studie vom Januardieses Jahres ist. Die Bundesregierung hatte also Zeit,sich darauf einzustellen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE])

Sie haben zum Beispiel den Ansatz für die Innovations-initiative „Barrierefreie Modellregion für den integrati-ven Tourismus“ – genau diese Art des Tourismus gilt alswichtig – auf null zurückgefahren. Dafür ist also gar keinGeld mehr da. Im letzten Jahr waren es noch 1,8 Millio-nen Euro. Viele Projekte wurden abgeschlossen. Es gibtnun Forschungsergebnisse aus 26 Projekten, die nichtausgewertet werden. Es ist zwar schön, dass wir sie ha-ben. Wir können uns immer darauf berufen und betonen,wie wichtig diese Ergebnisse sind. Aber wir machennicht weiter.

(Zurufe von der SPD: Das ist nicht alles unsere Sache! Das ist Ländersache!)

– Wenn der Bund solche Ergebnisse generiert, dann müs-sen wir sie doch auswerten und die entsprechenden Pro-jekte weiter unterstützen. Was haben wir denn davon,wenn wir das nicht tun?

Im Etat für das Bundesministerium für Gesundheitwurden zum Beispiel die Zuschüsse für das Reisemaga-zin „Grenzenlos“ komplett gestrichen. Die Mittel für dieNationale Koordinationsstelle Tourismus für Alle wur-den von 120 000 Euro – das ist sowieso nicht viel; jedeKürzung tut hier doppelt weh – auf 100 000 Euro zusam-mengestrichen. Ich habe mir die Mühe gemacht, die Be-troffenen anzurufen, und habe festgestellt, dass sie vor-

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Undine Kurth (Quedlinburg)

her gar nicht gefragt wurden, welche Auswirkungen dieKürzungen haben werden.

Die Studie wird zu Recht hoch gelobt; denn sie istwichtig. Wir können dafür dankbar sein. Aber sie nutztuns nur etwas, wenn wir uns mit ihren Ergebnissen aus-einander setzen und unsere Entscheidungen danach fäl-len.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)

Vizepräsidentin Petra Pau: Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 16/478 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungso beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 auf:

Beratung des Antrags der AbgeordnetenChristine Scheel, Birgitt Bender, Ekin Deligöz,weiterer Abgeordneter und der Fraktion desBÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN

Eckpunkte für eine gerechte Reform der Erb-schaft- und Schenkungsteuer

– Drucksache 16/2076 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss (f)Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendHaushaltsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung war fürdie Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei dieFraktion des Bündnisses 90/Die Grünen fünf Minutenerhalten sollte.

Diese Aussprache werden die Zuschauer und Zuhörerauf der Tribüne nun nachlesen müssen, weil wir dieRede des Kollegen von Stetten für die Unionsfraktion zuProtokoll nehmen, ebenso die Rede von Florian Pronoldfür die SPD-Fraktion, die Rede des Kollegen Carl-Ludwig Thiele für die FDP-Fraktion, den Beitrag derKollegin Dr. Barbara Höll für die Fraktion Die Linkeund die Rede von Christine Scheel für die Fraktion desBündnisses 90/Die Grünen.1)

Damit ist die Aussprache geschlossen.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage aufDrucksache 16/2076 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungso beschlossen.

1) Anlage 2

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 27 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten GiselaPiltz, Dr. Max Stadler, Patrick Döring, weitererAbgeordneter und der Fraktion der FDP

Gegen Geheimniskrämerei – Entscheidungenkommunaler Gesellschaften transparent ge-stalten

– Drucksache 16/395 – Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss (f)Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei dieFraktion der FDP sechs Minuten erhalten soll. Wir neh-men die Rede des Kollegen Dr. Günter Krings für dieUnionsfraktion zu Protokoll, ebenso die Rede des Kolle-gen Klaus Uwe Benneter für die SPD-Fraktion.2)

Die Debatte eröffnet der Kollege Dr. Max Stadler fürdie FDP-Fraktion.

Dr. Max Stadler (FDP): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Am Ende der heutigen Tagesordnung geht es umein Thema, das auf der kommunalen Ebene viele Bürge-rinnen und Bürger sehr stark bewegt, das aber bishernoch nicht so recht die Aufmerksamkeit des DeutschenBundestages gefunden hat, obwohl wir für die Lösungdes Problems zuständig sind. Deswegen möchte ich trotzder fortgeschrittenen Stunde am Freitagnachmittag dieGelegenheit nutzen, Sie mit der Thematik vertraut zumachen, und vor allem die Kolleginnen und Kollegenvon der SPD und der CDU/CSU einladen, mit den Op-positionsfraktionen gemeinsam nach einer Lösung zu su-chen.

Es geht, kurz gesagt, um Folgendes: Nach demGmbH-Gesetz und nach dem Aktiengesetz tagen dieAufsichtsgremien, also die Aufsichtsräte, prinzipiellnicht öffentlich. Die Mitglieder der Aufsichtsräte sindzur Verschwiegenheit über das, was in diesen Sitzungengeschieht, verpflichtet. Das ist auch richtig, soweit es umechte private Gesellschaften geht. Dafür sind diese Ge-setze auch geschaffen. Nun hat sich in letzter Zeit dieTendenz entwickelt, dass immer mehr kommunale Ein-richtungen, Dienststellen und Verwaltungsstellen eben-falls in die Rechtsform der GmbH und in größeren Städ-ten sogar in die der Aktiengesellschaft überführt wordensind. Dabei handelt es sich aber nicht etwa um eine echtePrivatisierung, sondern nur um eine Organisationsände-rung, weil die Kommunen zugleich meistens zu 100 Pro-zent Inhaber dieser Gesellschaften geworden sind.

Damit ändert sich in den Sitzungen der Aufsichtsgre-mien scheinbar wenig. Es geht um kommunalpolitischeThemen, um Busfahrpläne, um Stromtarife, um dieFrage, ob eine Stadt ein Hallenbad baut, und ähnlichesmehr, also um ganz normale kommunalpolitische Dis-kussionen und Entscheidungen. Aber eines ändert sich

2) Anlage 3

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Dr. Max Stadler

durch diese Organisationsform: Während das Kommu-nalrecht die Öffentlichkeit solcher Sitzungen vorsieht,schreibt, wie schon dargestellt, das Gesellschaftsrechtgerade die Nichtöffentlichkeit vor. Damit fehlt ein StückTransparenz, es fehlt ein Stück demokratischer Diskus-sionskultur und demokratischer Kontrolle. Das zeigt uns,dass die Vorschriften, die für private Gesellschaften ge-dacht sind, auf die kommunalen Gesellschaften nichtpassen.

Nun gibt es zwei höchstrichterliche Entscheidun-gen aus diesem Jahr, die uns deutlich vorgeben, dass derGrundsatz der Öffentlichkeit und Transparenz stärker zubeachten ist. Die erste Entscheidung des BayerischenVerwaltungsgerichtshofs vom 8. Mai 2006 geht auf ei-nen Rechtsstreit zurück, den eine Bürgerinitiative in Pas-sau ausgelöst hat. Die Bürgerinitiative ist nämlich aufdie Idee gekommen, zu verlangen, dass wenigstens dieTagesordnungen solcher Gremiensitzungen bekannt ge-geben werden, damit die Bürgerinnen und Bürger zu-mindest wissen, worum es geht. Der Bayerische Verwal-tungsgerichtshof hat entschieden, dass diesem Begehrenaufgrund der überragenden Bedeutung des Grundsatzesder Öffentlichkeit und Transparenz stattzugeben ist.

Aber der Verwaltungsgerichtshof konnte sich natür-lich nicht über die bundesgesetzliche Regelung hinweg-setzen, nach der die Sitzungen selbst nicht öffentlichbleiben müssen. Damit fehlt das Kernstück der öffentli-chen Debatte, nämlich die Teilhabe der Bürgerinnen undBürger an dem, was in diesen Sitzungen gesprochen undentschieden wird. Dieses Problem müssen wir lösen.

Eine weitere Entscheidung, nämlich die des Bayeri-schen Verfassungsgerichtshofs vom 26. Juli 2006, gibtuns ebenfalls eine Richtschnur. Da ging es um das Pro-blem, dass der Freistaat Bayern auf parlamentarischeAnfragen hin erklärt hat, er gebe keine Auskunft, unddies damit begründet hat, dass die Anfragen wiederumsolche Gesellschaften betreffen, die in privater Rechts-form betrieben werden, aber zu 100 Prozent staatlichsind. Hierzu hat der Bayerische Verfassungsgerichtshofgesagt: Egal wie die öffentliche Hand tätig wird, in wel-cher Form, ob in den hergebrachten öffentlich-rechtli-chen Formen oder in der Form privater Gesellschaften –die demokratische Kontrolle muss sichergestellt sein.

Die FDP schlägt daher vor, dass wir diese Grundsätzejetzt auf die Lösung unseres Problems übertragen. Ichkönnte mir beispielsweise vorstellen, dass wir imGmbH-Gesetz und im Aktiengesetz eine Öffnungsklau-sel einbauen, die es den Städten, Landkreisen und Ge-meinden ermöglicht, diese Gremiensitzungen künftiggenauso öffentlich abzuhalten wie zum Beispiel einenormale Stadtratsitzung. Natürlich wird es Teile geben,bei denen es um Interna geht, die nicht öffentlich bleibenmüssen, aber im Grundsatz brauchen wir mehr Transpa-renz.

Gleichzeitig müssen dann natürlich die Vorschriftenüber die Verschwiegenheitspflicht der Aufsichtsräte ge-lockert werden; das passt sonst nicht zusammen.

Wir können uns nicht darauf zurückziehen, dass wirdie Lösung der weiteren Entwicklung in der Rechtspre-chung überlassen; denn hier geht es um Bundesgesetze.Es ist unsere Verantwortung, uns des Themas anzuneh-men.

(Beifall des Abg. Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE])

Ich darf mit dem Hinweis darauf schließen, dass diePraktiker auf ein Tätigwerden des Deutschen Bundesta-ges warten. Der Passauer Oberbürgermeister AlbertZankl, der übrigens der CSU angehört, hat am 20. Sep-tember der Bundesjustizministerin einen Brief geschrie-ben und darin den Gleichklang von Kommunalrecht, dasvon der Öffentlichkeit von Sitzungen ausgeht, und Ge-sellschaftsrecht für kommunale GmbHs angemahnt. Erschreibt wörtlich – ich zitiere –:

Ich würde mich sehr freuen, wenn mein Schreiben,das die Meinung vieler Kommunen widerspiegelt,eine entsprechende Gesetzesänderung anstoßenwürde.

(Uwe Barth [FDP]: Bravo!)

Ich bitte Sie, unseren Antrag nicht reflexartig abzu-lehnen, weil er von der Opposition kommt, und lade Sieein, sich mit uns zu bemühen, dieses Problem, das, wiegesagt, viele Menschen in den Kommunen bewegt, imDeutschen Bundestag zu lösen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)

Vizepräsidentin Petra Pau: Wir haben die Rede der Kollegin Katrin Kunert für

die Fraktion Die Linke und ebenso die Rede des Kolle-gen Jerzy Montag vom Bündnis 90/Die Grünen zu Pro-tokoll genommen.1)

Damit schließe ich die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 16/395 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungso beschlossen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit amSchluss der heutigen Tagesordnung.

Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-destages auf Mittwoch, den 27. September 2006, 13 Uhr,ein.

Ich wünsche Ihnen eine gute Heimreise – soweit not-wendig – und ein schönes Wochenende.

Die Sitzung ist geschlossen.

(Schluss: 15.24 Uhr)

1) Anlage 3

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Anlagen zum Stenografischen Bericht

Anlage 1

Liste der entschuldigten Abgeordneten

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Abgeordnete(r)entschuldigt biseinschließlich

Andreae, Kerstin BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

22.09.2006

Bär, Dorothee CDU/CSU 22.09.2006

Bareiss, Thomas CDU/CSU 22.09.2006

Barth, Uwe FDP 22.09.2006

Bellmann, Veronika CDU/CSU 22.09.2006

Dr. Berg, Axel SPD 22.09.2006

Bluhm, Heidrun DIE LINKE 22.09.2006

Burchardt, Ulla SPD 22.09.2006

Dyckmans, Mechthild FDP 22.09.2006

Eichel, Hans SPD 22.09.2006

Dr. Eid, Uschi BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

22.09.2006

Ernst, Klaus DIE LINKE 22.09.2006

Freitag, Dagmar SPD 22.09.2006

Dr. Friedrich (Hof), Hans-Peter

CDU/CSU 22.09.2006

Griefahn, Monika SPD 22.09.2006

Hettlich, Peter BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

22.09.2006

Hilsberg, Stephan SPD 22.09.2006

Hinz (Essen), Petra SPD 22.09.2006

Hübner, Klaas SPD 22.09.2006

Leutheusser-Schnarrenberger, Sabine

FDP 22.09.2006

Lötzer, Ulla DIE LINKE 22.09.2006

Meckel, Markus SPD 22.09.2006

Merten, Ulrike SPD 22.09.2006

Meyer (Hamm), Laurenz

CDU/CSU 22.09.2006

Anlage 2

Zu Protokoll gegebene Reden

zur Beratung des Antrags: Eckpunkte für einegerechte Reform der Erbschaft- und Schen-kungsteuer (Tagesordnungspunkt 26)

Christian Freiherr von Stetten (CDU/CSU): Am17. März 2005 haben der damalige BundeskanzlerGerhard Schröder, sein stellvertretender RegierungschefJoschka Fischer sowie die CDU-Vorsitzende AngelaMerkel und der CSU-Vorsitzende Edmund Stoiber beieiner gemeinsamen Sitzung zum Jobgipfel beschlossen,die geltende Erbschaftsteuergesetzgebung dahin gehendzu ändern, dass bei einem Betriebsübergang auf dienächste Generation die Erbschaftsteuer für das betriebs-notwendige Vermögen zunächst gestundet und nachzehn Jahren völlig entfallen soll.

Es gab einen großen parteiübergreifenden Konsens,und die FDP – so hatte ich Herrn Thiele damals zumin-dest verstanden – hat diese Initiative, auch wenn sie anden Gesprächen im Kanzleramt nicht beteiligt war, eben-falls positiv gesehen.

Es ist kein Staatsgeheimnis, dass das Gesetz nachträg-lich im Bundestag nicht umgesetzt wurde, weil die

Nešković, Wolfgang DIE LINKE 22.09.2006

Nitzsche, Henry CDU/CSU 22.09.2006

Polenz, Ruprecht CDU/CSU 22.09.2006

Rupprecht (Tuchenbach), Marlene

SPD 22.09.2006

Dr. Schäuble, Wolfgang CDU/CSU 22.09.2006

Schily, Otto SPD 22.09.2006

Dr. Schwanholz, Martin SPD 22.09.2006

Stiegler, Ludwig SPD 22.09.2006

Vaatz, Arnold CDU/CSU 22.09.2006

Dr. Westerwelle, Guido FDP 22.09.2006

Wimmer (Neuss), Willy CDU/CSU 22.09.2006

Zypries, Brigitte SPD 22.09.2006

Abgeordnete(r)entschuldigt biseinschließlich

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damaligen rot-grünen Regierungsfraktionen eine ge-wisse Unlust an der Bearbeitung dieses Themas hatten.Es mögen auch ideologische Gründe eine Rolle gespielthaben, jedenfalls wurde trotz großer Ankündigung dasGesetz in der letzten Legislaturperiode nicht geändertund diese für unsere Familienunternehmen so dringendnotwendige Entlastung nicht umgesetzt.

Nach dem Regierungswechsel im Herbst 2005 habendie neuen Koalitionspartner diese Initiative erneut aufge-griffen und im Koalitionsvertrag die Umsetzung bis zum1. Januar 2007 festgeschrieben. Daran fühlen wir uns ge-bunden und das Finanzministerium hat die Einbringungeines entsprechenden Gesetzentwurfes für die nächstenWochen angekündigt.

Heute beraten wir in erster Lesung einen Antrag dergrünen Bundestagsfraktion zu einem ähnlichen Thema.Zunächst ist es ist erfreulich, dass auch Sie hier einenHandlungsbedarf sehen. Es gibt allerdings einen großenUnterschied zwischen dem, was die Regierung auf denWeg bringen will, und dem, was Sie heute vorgelegt ha-ben. Die Regierung will die betroffenen Bürger entlastenund Sie wollen durch eine verbreiterte Bemessungs-grundlage die Bürger mit zusätzlichen Steuern belasten.In Ihrem Antrag heißt es wörtlich – und mit Genehmi-gung des Präsidenten zitiere ich aus dem eingebrachtenAntrag der grünen Bundestagsfraktion –:

Die verbreiterte Bemessungsgrundlage bewirkt hö-here Belastungen.

Und weiter heißt es:

Die Steuermehreinnahmen sollen die Bundesländerfür verstärkte Bildungsinvestitionen und den Aus-bau der Kinderbetreuung einsetzen.

Es wird also wieder einmal deutlich, dass Sie die Bür-ger durch höhere Steuern belasten und nicht entlastenwollen. Wann lernen Sie endlich, dass bei Unterneh-mensübergängen nicht der Neid im Vordergrund stehendarf, sondern der Erhalt des Unternehmens und seinerGesellschafter in Deutschland?

Nur wenn die Unternehmer auch zukünftig inDeutschland ihren Lebensmittelpunkt haben, wird un-sere Gesellschaft von ihren beruflichen Erfolgen und ih-rem sozialen Engagement profitieren. Wer allerdings diegroßen Personengesellschaften aus Deutschland vertrei-ben will, der sollte ihre Vorschläge zur Verbreiterung derBemessungsgrundlage aufnehmen. Im Einzelfall würdedies zu einer Verdoppelung der Erbschaftsteuerbelastungführen. Das kann nicht der richtige Weg sein. Zahlreichebetroffene Bürger würden unser Land vor dem Erbfallverlassen und sich in den Nachbarländern steuerlich ver-anlagen lassen. In zahlreichen Nachbarländern hat derGesetzgeber die Erbschaftsteuer sogar vollständig abge-schafft.

Meine Fraktion will weiterhin die Erbschaftsteuer fürdas gesamte betriebsnotwendige Vermögen zunächstdem Erben stunden. Wenn er die Firma verkauft, wenner also das versilbert, was seine Vorfahren mühsam auf-gebaut haben, dann wird er auch weiterhin ganz normalErbschaftsteuer zahlen müssen. Wenn er sich aber ent-

scheidet, in das Unternehmen einzusteigen und das fi-nanzielle Risiko und die Mitarbeiter zu übernehmen,dann werden wir ihm für jedes Jahr der Betriebsfortfüh-rung 10 Prozent in der Erbschaftsteuer erlassen. So kannnach zehn Jahren das gesamte betriebsnotwendige Ver-mögen erbschaftsteuerfrei auf die nächste Generationübergehen. Damit bleibt das Kapital im Unternehmen er-halten und steht für zusätzliche Investitionen und Inno-vationen zur Verfügung. Den entsprechenden Gesetzent-wurf wird die Bundesregierung in den nächsten Wochenvorlegen. Und dann hoffe ich, dass die Fraktion desBündnisses 90/Die Grünen – so wie damals ihr Vize-kanzler Joschka Fischer – die Notwendigkeit einer um-fassenden Entlastung erkennt.

Florian Pronold (SPD): In einem Punkt muss ichden Kolleginnen und Kollegen der Grünen-FraktionRecht geben: Ererbtes und geschenktes Vermögen stelltleistungsloses Einkommen dar, das einen stärkeren steu-erlichen Zugriff der Allgemeinheit rechtfertigt. Dabeigilt es natürlich insbesondere, die Weitergabe hoher Pri-vatvermögen konsequenter und höher zu besteuern, alsdas bisher der Fall ist.

In der Tat ist die Vermögensbesteuerung bei uns iminternationalen Vergleich mit weniger als einem Prozentdes Bruttoinlandsprodukts extrem niedrig. Länder wieGroßbritannien und die USA bitten die Vermögensbesit-zer in erheblich größerem Maße zur Kasse, als wir dastun. Hier besteht – insbesondere, seit die Regierung Kohldie Vermögensteuer hat auslaufen lassen – deutlicherNachholbedarf. In den nächsten Jahrzehnten werden im-mense Reichtümer zwischen den Generationen weiterge-geben, der größte Teil der Bevölkerung wird dabeijedoch leer ausgehen. Es muss gelingen, einen angemes-senen Anteil dieser Mittel zu mobilisieren, um vor allemdie Finanzierung des Bildungswesens deutlich zu ver-bessern. Die SPD hat sich auf verschiedenen Parteitagenzu dieser Aufgabe bekannt, sie bleibt auch für die anste-henden Reformen der Erbschaftsteuer aktuell.

Etwas verwundert bin ich darüber, dass die Grünenbei den Sonderregelungen für Betriebsvermögen relativkonkret werden, bei der höheren Besteuerung der priva-ten Erbschaften aber sehr vage bleiben. Ich hoffe, dasliegt nicht daran, dass ein guter Teil ihrer Klientel zu denglücklichen Millionenerben gehört.

Eine Reform der Erbschaftsteuer und des Bewertungs-gesetzes ist überfällig. Die Koalition hat sich bemüht, sieso schnell wie möglich auf den Weg zu bringen. Nachdemnun aber die lange erwartete Entscheidung des Bundes-verfassungsgerichts noch für dieses Jahr angekündigt ist,würde es wenig Sinn machen, vorher noch neue Regelnzu beschließen. Das würde ja heißen, dass wir eventuellim nächsten Jahr gezwungen wären, das gerade verab-schiedete Gesetz nochmals zu korrigieren. Das Ergebniswäre weniger Rechtssicherheit und mehr Bürokratie.

Deshalb plädiere ich dafür: Lassen Sie uns das Urteilder Verfassungsrichter abwarten und dann die Reformder Erbschaftsteuer zügig umsetzen. Bei diesem Zeitplansollte es gelingen, das neue Recht zum 1. Januar in Kraft

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treten zu lassen, selbst wenn das Verfahren erst imnächsten Jahr abgeschlossen werden kann.

Die nötigen Vorarbeiten hat die Koalition geleistet.Das gilt auch für den Punkt der Weitergabe von Be-triebsvermögen. Wie Sie wissen, haben wir schon heuteeine außerordentliche Privilegierung von Betriebsver-mögen im Erbschaftsteuerrecht. Wir haben uns nun geei-nigt, das noch einmal zu verbessern. Der Kompromisssieht vor, die Erbschaftsteuer für produktives Betriebs-vermögen nach zehn Jahren völlig zu erlassen, wenn dieArbeitsplätze im Betrieb erhalten werden.

Dabei sind zwei Dinge wichtig: Zum einen müssenwir zuverlässig verhindern, dass vererbtes Privatvermö-gen in Betriebsvermögen umgewidmet wird und sichMillionenerben damit ein Steuerschlupfloch schaffen.Hierfür ist bereits eine ganze Reihe von Vorkehrungenausgearbeitet worden, die das steuerlich anerkannte pro-duktive Betriebsvermögen eng begrenzen.

Zum anderen darf es dieses Steuergeschenk nur ge-ben, wenn der vollständige Erhalt der Arbeitsplätze fürmindestens zehn Jahre sichergestellt wird. Nur dann hatdiese Regelung eine Berechtigung und nur dann kann sievor dem Verfassungsgericht bestehen.

Es ist schon erstaunlich, dass dieser vernünftige Kom-promiss nun gerade von denen infrage gestellt wird, dieseit Jahren nach dieser Sonderregelung verlangen. DieUnternehmensverbände haben uns immer gesagt, dassdie Erbschaftsteuer den Bestand von Arbeitsplätzen ge-fährdet. Der Beweis dafür steht allerdings bis heute aus.Jetzt sind wir bereit, ihnen die Erbschaftsteuer zu erlas-sen, wenn sie die Arbeitsplätze sichern. Dass nun die Ar-beitsplatzklausel kritisiert wird, macht die ganze Argu-mentation der Verbände unglaubwürdig.

Noch erstaunlicher ist es, wenn Regierungsmitgliederden erreichten Kompromiss infrage stellen. Um es klarzu sagen: Wer eine Regelung zur Betriebsübergabe ohneArbeitsplatzklausel will, verschenkt die Steuergelder derArbeitnehmer an reiche Firmenerben. Das wird es mitder SPD nicht geben. Die CSU ist seit Jahren die vehe-mente Vorkämpferin einer Erleichterung der Betriebs-übergabe. Sich jetzt nicht an den Kompromiss zu halten,ist das typische Doppelspiel der CSU. Das wird diesmalkeinen Erfolg haben.

Ich denke, es gibt keinen Anlass für den vorliegendenAntrag. Die Koalition hat eine vernünftige Vereinbarunggetroffen. Sobald das Verfassungsgericht entschiedenhat, müssen wir sie zügig umsetzen.

Carl-Ludwig Thiele (FDP): Dieser Antrag der Grü-nen zeigt ganz deutlich die Politik der Grünen auf: Essollen höhere Steuereinnahmen für den Staat durch dieErbschaft- und Schenkungsteuer erzielt werden. Es wer-den auch gleich gute Zwecke angegeben, für die dieseszusätzlich einzunehmende Geld auch gleich wieder aus-gegeben werden kann.

Der Antrag übersieht allerdings, dass gerade aufgrundder deutschen Besteuerung und insbesondere der derzei-tigen erbschaftsteuerlichen Belastung viele Bürger und

gerade Mittelständler und Unternehmensinhaber denSteuerstandort Deutschland verlassen und ihren Wohn-sitz im benachbarten europäischen Ausland, nämlich inÖsterreich oder der Schweiz, angesiedelt haben. Hier-durch entgehen schon jetzt dem deutschen Fiskus Jahrfür Jahr zig Millionen, wenn nicht Milliarden Euro anSteuereinnahmen. Steuerbürger, die aus steuerlichenGründen Deutschland verlassen haben, zahlen eben inDeutschland weder eine Schenkungsteuer, noch eineErbschaftsteuer, noch eine Lohn- und Einkommensteuer.Diese Gelder sind für den deutschen Fiskus verloren.Hierzu gibt es auch sehr prominente Beispiele aus demBereich des Sportes. Nicht umsonst wirbt Österreich inDeutschland für den Steuerstandort Österreich und hatbedauerlicherweise damit Erfolg.

In dieser Situation gehen die Grünen daher und erklä-ren, dass die Bemessungsgrundlage verbreitert und dasSteueraufkommen aus der Erbschaftsteuer erhöht wer-den soll. Sie zeigen damit, dass sie den Ernst der Lagedes Standorts Deutschland nicht verstanden haben. Einsolcher Vorschlag ist widersinnig. Wir dürfen ausDeutschland nicht weiter die Leistungsträger mit ihremKapital hinaustreiben. Wir müssen attraktiver werden,damit Kapital und Leistungsträger nach Deutschlandkommen.

Begründet wird diese Haltung der Grünen neben demfiskalischen Interesse damit, dass die derzeitige Rege-lung nicht verfassungsgemäß sei, weil Geldvermögen,Grund- und Immobilienvermögen, land- und forstwirt-schaftliches Vermögen und Betriebsvermögen derzeitsehr unterschiedlich bewertet werden. Es ist auch denGrünen nicht verwehrt, sich mit dem derzeitig geltendenBewertungsgesetz auseinanderzusetzen. In dem Bewer-tungsgesetz hat der Gesetzgeber seinerzeit sehr deutlichdifferenziert zwischen Gleichem und Ungleichem; dennnach Art. 3 GG muss Gleiches gleich und Ungleichesauch ungleich behandelt werden. Er ist damit einer Ent-scheidung des Bundesverfassungsgerichts gefolgt, dassdie unterschiedliche Bewertung der verschiedenen Ver-mögensarten geradezu verlangt hatte.

Aus gutem Grund hat der Gesetzgeber berücksichtigt,dass Betriebsvermögen einer stärkeren Sozialpflichtig-keit unterliegt als sonstiges Vermögen. Hieraus folgteine privilegierte Behandlung bei der Bewertung vonBetriebsvermögen. Betriebsvermögen ist die Vorausset-zung dafür, dass es überhaupt Betriebe und Arbeitsplätzegibt. Wenn hier die Bemessungsgrundlage deutlich er-höht werden soll, so kommt dieses einer stärkeren Belas-tung des Mittelstandes, insbesondere der Inhaber vonBetrieben und letztlich auch deren Beschäftigten gleich.Dadurch wird insbesondere in mittelständischen Betrie-ben in einem Erbfall die Fortführung eines Unterneh-mens gefährdet. Häufig fehlt der Kopf eines Unterneh-mens, zudem müssen die Erben Kapital – welches nichtliquide in der Firma vorhanden ist – dadurch aufbringen,dass Teile des Betriebes veräußert werden oder der Be-trieb mit Fremdkapital belastet werden muss. Jede dieserMaßnahmen verschlechtert die Situation eines Betriebesund gefährdet damit die in dem Betrieb vorhandenen Ar-beitsplätze.

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Es ist auch widersinnig, eine Vereinfachung des Be-wertungsgesetzes erreichen zu wollen, wenn paralleleine Komplizierung des Erbschaftsteuerrechtes vorge-nommen werden soll.

Die derzeit beim Bundesverfassungsgericht vorlie-gende Klage ist seinerzeit unter Rot-Grün von dem SPD-geführten Finanzministerium für unzulässig und unbe-gründet erklärt worden. Deshalb hat die Bundesregie-rung seinerzeit beantragt, die Klage abzuweisen.

Die FDP wird die von den Grünen geforderte steuerli-che Mehrbelastung insbesondere des Betriebsvermögensnicht unterstützen. Die Neiddebatte in unserem Land isteben auch bei den Grünen angekommen. Volkswirt-schaftlich ist es aber Unfug, durch eine verschärfte steu-erliche Belastung von Erbschaften weiter Kapital ausDeutschland zu vertreiben. Deshalb wird die FDP demAntrag der Grünen nicht zustimmen.

Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): In den Jahren 2011bis 2015 werden nach Berechnungen der Dresdner Bankcirca 1,3 Billionen Euro vererbt werden. Bereits jetztwerden jährlich mindestens 50 Milliarden Euro an Erbenübertragen. Die Erb- und Schenkungssummen werden inden nächsten Jahren weiter steigen; eine erfreuliche Tat-sache für die Erbinnen und Erben, die von diesem leis-tungslosen Einkommen profitieren können. Die Mehr-heit der Erben und Beschenkten muss sich jedoch mitsehr bescheidenen Summen zufrieden geben: In den Jah-ren 2001 und 2002 erhielten 60 Prozent aller Haushalteeine Erbschaft von weniger als 51 000 Euro und circa30 Prozent sogar weniger als 13 000 Euro.

Die insgesamt riesige Gesamterbmasse ist also sehrungleich verteilt und wird nicht dazu beitragen, Vertei-lungsgerechtigkeit zu befördern. Im Gegenteil. Wenigewerden noch reicher und vermögender. Der Abstand zuden Haushalten mit geringem Einkommen vergrößertsich auch in Zukunft. Arm bleibt also arm und reich wirdnoch reicher. Dies haben nicht zuletzt Untersuchungenim Rahmen des zweiten Armuts- und Reichtumsberichtsder rot-grünen Bundesregierung in 2005 ergeben. DieUngleichheit der Lebensverhältnisse in unserer Gesell-schaft wird sich weiter vertiefen und das soziale Gefügebelasten. Im internationalen Vergleich sind unsere Ver-teilungs- und Besitzverhältnisse verkrustet und ohne Dy-namik. Die Erbschaftsteuer ändert daran leider bis datonichts, obwohl gerade dieser Steuer eine fiskalische undverteilende Funktion zugewiesen wird.

Der vorliegende Antrag der Fraktion Bündnis 90/DieGrünen geht jedoch an diesem Kernproblem vorbei. Eswird darin zwar mehr Verteilungsgerechtigkeit gefor-dert, offen bleibt jedoch, wie eine derart ungleiche Ver-teilung durch eine Erbschaftsteuerreform aufgebrochenwerden kann. Die im Antrag formulierten Forderungenzum Bewertungsrecht sind wichtig. Nicht zuletzt garan-tiert die Gleichbehandlung aller Vermögensarten eineverfassungsgemäße Besteuerung. Eine grundlegendeReform darf sich jedoch darauf nicht beschränken:

Es stellt sich auch die Frage, warum eingetragenePartnerschaften und Ehegemeinschaften steuerlich ge-

genüber anderen Formen des Zusammenlebens beim Er-ben und Beschenken bevorzugt bleiben.

Die Fraktion Die Linke ist für eine Reform der Erb-schaft- und Schenkungsteuer, weil durch eine solche Re-form mehr Verteilungsgerechtigkeit möglich wäre. Einegerechte Erbschaftsbesteuerung muss die Gleichbehand-lung aller der Steuer zugrunde liegenden Vermögensvor-teile umfassen. Das schließt eine weitere steuerliche Be-vorzugung von Grundbesitz und Betriebsvermögens aus.Voraussetzung hierfür ist eine realitäts- und marktnaheBewertung dieser Vermögensarten. Wir fordern dieGleichbehandlung aller Erben: Dies kann nur durch eineVereinheitlichung der Steuerklassen, Freibeträge undSteuertarife realisiert werden.

Die Erbschaftsteuer existiert, weil sie über wichtigehaushaltspolitische und verteilungspolitische Funktionenfür das Gemeinwesen verfügt. Sie nicht zu nutzen undangesichts der bevorstehenden „Erbenwelle“ nicht zu re-formieren, bedeutet den freiwilligen Verzicht auf drin-gend notwendige Einnahmen für die öffentliche Handund auf gebotene Verteilungsgerechtigkeit.

Laut DIW sind durch eine gerechtere Besteuerungvon Erbschaften und Schenkungen jährlich 6 bis 9 Mil-liarden Euro an fiskalischen Einnahmen realisierbar. Daswaren bis 2 bis 5 Milliarden Euro Mehreinnahmen fürdie Bundesländer. Die milliardenschweren Erbschaftenund Schenkungen können einen Beitrag zur haushälteri-schen Stabilität und Verteilungsgerechtigkeit leisten.Nutzen wir diese Chance.

Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Unser Antrag mit Eckpunkten für eine gerechte Reformder Erbschaftsteuer und Schenkungsteuer soll dieschwarz-rote Koalition antreiben, endlich die Erbschaft-steuerreform im Kabinett zu verabschieden und in denBundestag einzubringen, um das verwirrende Chaoszwischen Union und SPD und mit den verschiedenenBundesländern zu beenden. Die Erbschaftsteuerreformist nicht zu vererben an eine nächste Legislaturperiodeund sie kann auch nicht ausgesessen werden.

Die schwarz-rote Koalition hat sich in vielen Politik-feldern darauf verständigt, nicht zu entscheiden, sondernEntscheidungen in der Sache zu verschieben. Bei derGesundheitsreform steht die Koalition bereits vor demSchlichtungsfall für den Koalitionsausschuss. Bei derErbschaftsteuer geht der Verschiebebahnhof nicht, weilmit Ende des Jahres die Regelungen des Bewertungsge-setzes wegen Befristung auslaufen. Ohne neues Gesetzgibt es Steuerausfälle bei den Erbschaftsteuereinnahmenfür die Bundesländer. Niemand kann dies wollen!

Eine erneute Verlängerung des Bewertungsgesetzes,ohne dass eine verfassungsgemäße Änderung der Be-wertungsgrundsätze für unterschiedliche Vermögens-arten wie Grund-, Immobilien- und Betriebsvermögengeregelt wird, kommt für uns nicht infrage. Eine gleich-mäßige Besteuerung von Geldvermögen und Immobi-lienvermögen muss endlich gewährleistet werden. Steuernsparende Gestaltungen müssen ein Ende finden. Es gehthierbei um Steuergerechtigkeit für die Berechnung der

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Bemessungsgrundlage der Erbschaft- und Schenkung-steuer. Unliebsame politische Entscheidungen dürfenseitens der großen Koalition nicht länger in die Verant-wortung des Verfassungsgerichts delegiert werden. Es istureigene Aufgabe der Politik und damit des Parlaments,in der Sache zu entscheiden.

Auch die Regelung zur Unternehmensnachfolge imRahmen des Erbschaftsteuerrechts erlaubt keinen weite-ren Aufschub. Kleine und mittlere Unternehmen brau-chen eine sichere Perspektive für die Regelung der Fir-mennachfolge. Es geht um die Sicherung und den Erhaltvon vielen Arbeitsplätzen im Mittelstand. Die Regelungzur Unternehmensnachfolge muss den Erhalt der Ar-beitsplätze nachweisen. Sonst wird die Koalition derSozialpflichtigkeit des Eigentums nicht gerecht.

Die Erbschaft- und Schenkungsteuer hat derzeit einjährliches Volumen von rund 4 Milliarden Euro. Siekann allein von ihrem Volumen her nicht mit den großenAufkommen aus der Mehrwert- oder Einkommensteuervon jeweils rund 140 Milliarden Euro verglichen wer-den. Sie ist eine reine Ländersteuer, sie steht aber imMittelpunkt von Gerechtigkeitsfragen und wichtigen Ge-rechtigkeitsempfindungen in der Gesellschaft. DieChancengleichheit für die nächste Generation bildet denBezugspunkt. Eine zunehmende ungleiche Vermögens-verteilung kann mithilfe der Erbschaftsteuer zugunstenvon gerechteren Startchancen für alle Kinder korrigiertwerden. Auch die Bildungsausgaben sind Ländersache.Mehr Investitionen in Schule, Ausbildung und Universi-täten fallen nicht vom Himmel, sondern müssen vomGemeinwesen mit Steuern finanziert werden.

Das jährliche Erbschaftsvolumen nimmt stetig zu.2,5 Billionen Euro werden die Deutschen in den nächs-ten zehn Jahren vererben laut „Wirtschaftswoche“ vom31. Juli 2006. Deshalb stellen sich verstärkt sozialeGerechtigkeitsfragen. Aus der Erbschaftsteueraufkom-mensstatistik 2002 ergibt sich, dass bei einem steuer-pflichtigen Erbschaftsvolumen von 19,3 Milliarden Euro5,82 Milliarden Euro auf das Grundvermögen, 1,5 Mil-liarden Euro auf Betriebsvermögen und 0,08 MilliardenEuro auf land- und forstwirtschaftliche Vermögen entfie-len. 11,86 Milliarden Euro betrug die Kategorie Sonsti-ges Vermögen, darunter fällt das Geld- und Wertpapier-vermögen.

Bisher gehen die verschiedenen Vermögensarten un-gleichmäßig in die Bemessungsgrundlage der Erbschaft-steuer ein. Immobilien werden nur mit Werten erfasst,die oft bis zu 50 Prozent unter Marktniveau liegen. AuchGrundstücke werden mit nicht aktuellen Bodenrichtwer-ten erfasst. Wir wollen, dass Geld-, Grund- und Immobi-lienvermögen sowie Betriebsvermögen endlich gleich-mäßig in die Besteuerungsgrundlage eingehen. Dazubrauchen wir nicht auf eine Entscheidung des Bundes-verfassungsgerichts zu warten, um eine verfassungsge-mäße Erfassung aller Vermögensarten zu gewährleisten.Damit würde vielen Steuer sparenden Gestaltungen mit-tels Vermögensumschichtungen der Boden entzogen.Wir wollen, dass Begünstigungen in Gestalt von Freibe-trägen offen und transparent ausgewiesen werden. Fürdas Betriebsvermögen von kleinen und mittleren Betrie-

ben soll durch einen hohen Freibetrag von 2 MillionenEuro der Erwerb im Erbschaftsfall sofort steuerbefreitwerden, um die Unternehmensnachfolge, die Fortfüh-rung des Betriebes und die Sicherung der Arbeitsplätzezu gewährleisten. Omas Häuschen bleibt selbstverständ-lich steuerbefreit. Die persönlichen Freibeträge sollen inder Höhe so bleiben, wie sie sind. Die steuerliche Diskri-minierung der eingetragenen Lebenspartnerschaftenwollen wir beenden.

Große Erbschaften und Schenkungen sollen einen hö-heren Beitrag für unser Gemeinwesen erbringen, so wiees auch in anderen Ländern üblich ist. Wir wollen fürkleine Vermögen die Steuersätze senken, um die Wir-kung der verbreiterten Bemessungsgrundlage abzufe-dern, und für große Vermögen anheben. Im Ergebnissollen breitere Schultern eine höhere Last für das Ge-meinwohl tragen. Jedes Kind soll gleiche Bildungschan-cen erhalten, dazu ist die Umverteilung von Vermögenim Rahmen des Erbschaftsfalls ein angemessener Zeit-punkt. Die große Koalition soll sich um diese Fragennicht drücken, sondern unverzüglich entscheiden und ih-ren Gesetzentwurf vorlegen.

Anlage 3

Zu Protokoll gegebene Reden

zur Beratung des Antrags: Gegen Geheimnis-krämerei – Entscheidungen kommunaler Ge-sellschaften transparent gestalten (Tagesord-nungspunkt 27)

Dr. Günter Krings (CDU/CSU): Das Anliegen derFDP berührt einen wichtigen Punkt. Bürger einer Stadtoder Gemeinde wollen nicht nur über das Geschehen,welches sich direkt im Rathaus abspielt, informiert wer-den, sondern auch über die Tätigkeit von Unternehmen,die der öffentlichen Hand gehören.

Das ist auch das gute Recht des Bürgers. Schließlichmüsste er im Zweifel auch mit seinen Steuergeldern da-für einstehen, wenn es in diesen Unternehmungen zuVerlusten kommt.

Als überzeugte Entbürokratisierer und Deregulierer,meine verehrte Kollegen von der FDP, sollten wir unsaber auch bei Ihrem Antrag die Frage stellen, ob hiereine Gesetzesänderung wirklich notwendig ist. Denn wirhalten es ja mit Montesquieu und wissen: „Wenn es nichtnotwendig ist, ein Gesetz zu machen, dann ist es notwen-dig, keines zu machen.“

Viele Kreise, Städte und Gemeinden in unserem Landhaben sich für kommunale Unternehmen in der Rechts-form einer GmbH entschieden, weil sie eine flexibleRechtsform mit vielen Gestaltungsmöglichkeiten fürihre kommunale Aufgabenerfüllung suchten. Und zu-mindest in puncto Transparenzregelung erhalten siediese Gestaltungsfreiheit auch.

Die Satzung einer GmbH kann die Mitglieder einesfakultativen Aufsichtsrats weitgehend von der Ver-schwiegenheitspflicht des § 93 Abs. 1 AktienG befreien.

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Ihre Forderung nach einer gesetzlichen Eingrenzung derVerschwiegenheitspflicht ist bereits in § 52 Abs. 1GmbHG geregelt.

Sie stützen den von Ihnen angenommenen Hand-lungsbedarf insbesondere auf die Entscheidung einesbayerischen Verwaltungsgerichts. Sie zitieren eine Pas-sage am Schluss dieses Urteils in Ihrem Antragstextzwar richtig. Einen Handlungsauftrag an den Gesetzge-ber kann ich dieser Stelle allerdings beim besten Willennicht entnehmen. Im Gegenteil: Das Verwaltungsgerichtstellt in einer zentralen Passage seines Urteils – die Siegeflissentlich ignorieren – ausdrücklich klar: „Zum an-deren hat das Bundesgesetz in § 52 Abs. 1 GmbHG eineflexible Regelung geschaffen, in der auch kommunalge-setzliche Erwägungen, und hier insbesondere das Öffent-lichkeitsprinzip, berücksichtigt werden können.“ Dieserklaren Feststellung des Gerichts ist nichts hinzuzufügen.

Bei aller gemeinsamen Begeisterung für die Transpa-renz in kommunalen Gesellschaften sollten wir dochAcht geben, dass wir nicht Mauern an Stellen durchbre-chen, wo der Gesetzgeber schon längst Fenster einge-baut hat.

Was wir aber nicht gebrauchen können und nicht wol-len, ist ein Sonder-GmbH-Recht für Kommunen. DerReiz der GmbH liegt aus der Sicht vieler Städte undKreise ja gerade darin, dass sie in dieser Rechtsform ih-ren Vertragspartnern in der freien Wirtschaft gleichsamgesellschaftsrechtlich auf Augenhöhe gegenübertretenkönnen. Und es mutet schon etwas merkwürdig an, wenngerade diejenigen, die zu den glühendsten Verfechternder Ausgründung kommunaler Unternehmen in privateRechtsformen gehören, nun offenbar Zweifel bekom-men, ob diese Privatrechtsform wirklich so geeignet ist.

Selbst für die Fälle, wo das GmbH-Recht für die Zwe-cke eines kommunalen Unternehmens nicht geeignetsein sollte, müssen wir uns vor einer weiteren Befrach-tung und Verkomplizierung unseres Gesellschaftsrechtsdurch eine neue Unterform der GmbH hüten. Statt dasunternehmerische Rad für die Kommunen neu zu erfin-den, sollten wir einfach zur Kenntnis nehmen, dass dasöffentliche Recht längst eine kommunale Unterneh-mensform in Gestalt der Anstalt öffentlichen Rechts be-reithält.

Alle mit der Gründung von GmbHs verfolgten Zielewie größere Flexibilität, einfache Kreditbeschaffung amMarkt, schnellere Entscheidungswege, steuerliche Vor-teile, günstigere Kostensituation, können mit dieser seitJahrzehnten eingeführten Rechtsform ebenso gut odergar noch besser erreicht werden.

Und jetzt kommt das Beste: Hier kann der Landesge-setzgeber sogar in noch viel höherem Maße, als der FDPdas offenbar vorschwebt, Transparenz und Informations-pflichten anordnen.

Nun mag es ja sein, dass Ihnen als Antragsteller dieOptionen, die das GmbH-Recht für die Eingrenzung derVerschwiegenheitspflichten des Aufsichtsrats vorsieht,nicht ausreichen. Wer mehr will, wird den Kommunendiese Transparenz wohl schon vorschreiben müssen.Solche Informationspflichten und Transparenzgebote für

kommunale Gesellschaften wären aber keine gesell-schaftsrechtliche Regelung mehr, sondern hätten einendezidiert kommunalverfassungsrechtlichen Regelungs-zweck. Das Kommunalverfassungsrecht ist aber Sachedes Landesgesetzgebers. Das, was Sie laut Überschriftmit Ihrem Antrag erreichen wollen, kann gesetzlich alsonur in den Landtagen geregelt werden.

Wir, die CDU/CSU-Bundestagsfraktion, haben Ver-trauen in das verantwortungsbewusste Handeln derKreistage sowie der Stadt- und Gemeinderäte in unseremLand. Diese werden in aller Regel die Transparenz fürihre Kommunalunternehmen nicht als Bedrohung, son-dern als Ausdruck einer bürgernahen Kommunalpolitikbegreifen. Wir wollen uns nicht anmaßen, besser zu wis-sen als die Entscheidungsträger vor Ort, wie Transparenzund Offenheit zu sichern ist.

Ich will Ihnen als Antragsteller aber sehr gerne zusi-chern: Sollte es Ihnen im Laufe der weiteren Beratungengelingen, tatsächliche Defizite im Bundesrecht aufzuzei-gen, also Punkte, in denen das Bundesrecht die Offenle-gung von Unternehmensinformationen unzumutbar undunangemessen behindert, werden wir gerne über einengesetzgeberischen Handlungsbedarf nachdenken. AusIhrem Antragstext kann ich solche Defizite allerdingsnoch nicht erkennen. Hier müssten Sie dann schon einwenig mehr in die Tiefe gehen.

Wir als Unionsfraktion – das möchte ich abschließendbetonen – sehen vor allem keinen Grund, den Kommu-nen und ihrem Willen, Transparenz herzustellen, zumisstrauen. Aber so ganz werde ich den Verdacht nichtlos, dass die FDP in dieser Hinsicht gewisse Vorbehaltehat. Wie sonst wäre es zu erklären, dass Sie in Ihrem An-trag ausdrücklich nur von transparenten Entscheidungenbei „kommunalen Unternehmen“ sprechen? Wenn dasGesellschaftsrecht angeblich diese Transparenz verhin-dert, warum fordern Sie dann keine Änderung auch imHinblick auf Gesellschaften des Bundes und der Länder?Ist Transparenz etwa weniger wichtig, wenn statt kom-munaler Gebühren Steuergelder des Bundes oder derLänder in eine GmbH investiert werden? Oder handelnvon Bundestag oder Landtagen benannte Aufsichtsrats-mitglieder Ihres Erachtens per se verantwortungsbe-wusster als kommunale Aufsichtsräte?

Zumindest diese Schieflage zulasten der Kommunenin Deutschland sollten sie schnellstens aus Ihrem Antragstreichen.

Klaus Uwe Benneter (SPD): Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen von der FDP! Ich bin doch sehr er-staunt, dass ausgerechnet Sie, die Sie stets noch mehrBürokratieabbau und noch mehr Effizienz in der Verwal-tung fordern, nun den Deutschen Bundestag am Freitag-nachmittag in diesem überflüssigen Umfang beschäfti-gen. Wenn Sie doch bereits alle Antworten selbst haben,warum stellen Sie dann eine Große Anfrage an die Bun-desregierung zu genau diesem Themenkomplex?

Es geht um das Verhältnis zwischen dem kommunal-rechtlichen Öffentlichkeitsprinzip und den gesellschafts-rechtlichen Verschwiegenheitspflichten, die in den Fäl-len relevant wird, in denen Kommunen öffentlicheAufgaben auf privatrechtliche Organisationsformen

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übertragen. Diese Frage ist nicht neu und in der Fachlite-ratur bereits ausführlich behandelt.

In den §§ 394 und395 AktG finden sich Sonderrege-lungen, die den Konflikt zwischen Berichtspflichten desAufsichtsrates gegenüber einer Gebietskörperschaft undseiner Verschwiegenheitspflicht aufzulösen suchen.Wenn man diese bestehenden Vorschriften richtig aus-füllt und anwendet, kommt man bereits zu befriedigen-den Ergebnissen. Es ist nicht ersichtlich, warum darüberhinaus gesetzgeberischer Handlungsbedarf bestehensoll.

Grundsätzlich besteht eine Schweigepflicht der ein-zelnen Aufsichtsratsmitglieder auch in privatrechtlichorganisierten Unternehmen in überwiegend öffentlicherTrägerschaft. Falls keine ausdrückliche Berichtspflichtvorliegt, haben nur die Aufsichtsratsmitglieder selbstdarüber zu entscheiden, ob Informationen weitergegebenwerden sollen. Es ist allerdings durch zwingendes Geset-zesrecht nicht von vornherein ausgeschlossen, dass einAufsichtsrat als Kollektivgremium beschließt, nicht ge-heimhaltungsbedürftige Beratungsgegenstände und Be-ratungsabläufe einer breiten Öffentlichkeit zugänglichzu machen. Daher ist es nur folgerichtig und angemes-sen, diese Fragen der Literatur und der Rechtsprechungund deren Rechtsfortentwicklung zu überlassen undnicht sofort an eine gesetzliche Regelung zu denken. Ge-rade Sie, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen derFDP, sträuben sich doch sonst immer gegen angeblicheoder tatsächliche gesetzliche Überregulierungen.

Es bleibt den Kommunen doch unbenommen, bei derEntsendung von Aufsichtsräten die Frage der Berichter-stattung gegenüber der Öffentlichkeit vor deren Bestel-lung mit diesen Personen abzuklären.

Aktueller gesetzgeberischer Handlungsbedarf ist nichtgegeben. Für eine gute Corporate-Governance der Unter-nehmen in alleinigem oder mehrheitlich öffentlichemBesitz könnte gegebenenfalls ein Kodex für öffentlicheUnternehmen ähnlich dem Corporate-Governance-Ko-dex für börsennotierte Unternehmen entwickelt werden.Gegen eine gesetzliche Regelung speziell für öffentlicheUnternehmen spricht aber die Gefahr einer möglichenBenachteiligung anderer Anteilsinhaber, soweit die öf-fentliche Hand nur einen Teil der Anteile selbst hält.

Für die GmbH mit Aufsichtsrat ist die praktische Be-deutung der Verschwiegenheitspflichten durch die nachGmbH-Recht jedem Gesellschafter zustehenden Aus-kunfts- und Einsichtsrechte ohnehin gemindert. Für denfakultativen Aufsichtsrat einer GmbH kann der Gesell-schaftsvertrag die Auskunftspflichten regeln.

Wenn Sie schon unbedingt gesetzgeberisches Han-deln fordern, so ist jedenfalls der Bundestag nicht derrichtige Ort. Allenfalls auf Landesebene und im Rahmender Kommunalverfassungen könnte Handlungsbedarfsinnvollerweise angemeldet werden. Dort sollte geprüftwerden, ob für die oben genannten Berichtspflichten ge-setzliche Grundlagen geschaffen werden sollten, soweitnoch nicht geschehen.

Hier im Bundestag, verehrter Herr Kollege Stadler, istIhnen in dieser Sache nicht zu helfen.

Katrin Kunert (DIE LINKE): Erstens: Komplimentan die FDP, sie hält ein Super-Plädoyer gegen die Priva-tisierung von Aufgaben der öffentlichen Daseinsvor-sorge. Alle in ihrem Antrag aufgeführten Probleme wür-den sich heute nicht so drastisch darstellen, wenn dieAufgaben der Daseinsvorsorge kommunal erbracht wür-den. Es steht auch in der Begründung des RegensburgerUrteils, dass mit zunehmender Privatisierung die öffent-lich-rechtlichen Bindungen ausgehebelt werden können.

Eine zweite Vorbemerkung: Würde man das Mitspra-che- und Entscheidungsrecht der Bürgerinnen und Bürgerund der Kommune als Vertretungskörperschaft wirklichstärken wollen, wäre zunächst an eine Rekommunalisie-rung von Aufgaben der Daseinsvorsorge zu denken. Dashaben inzwischen auch die Kommunen erkannt. In sei-ner Presseerklärung vom März dieses Jahres begrüßt derDeutsche Städte- und Gemeindebund ausdrücklich dieÜberlegungen einiger Städte und Gemeinden, bisher pri-vat erbrachte Leistungen der öffentlichen Daseinsvor-sorge wieder zu kommunalisieren. Die neue Vorsitzendedes Ausschusses für Finanzen und Kommunalwirtschaftdes Städte- und Gemeindebundes, Frau Ursula Pepper,wies darauf hin, dass eine Rekommunalisierung vonAufgaben der öffentlichen Daseinsvorsorge dazu dienenkönne, kommunale Gestaltungsmöglichkeiten zurückzu-gewinnen. Die Stadt Ahrensburg in Schleswig-Holstein,in der Frau Pepper BM ist, hat sich entschieden, die Gas-versorgung in der Stadt nicht mehr von einem privatenUnternehmen, sondern von einer kommunalen Gesell-schaft durchführen zu lassen. Und wenn Sie sich in derFDP-Fraktion Gedanken über die Transparenz bei kom-munalen Unternehmen machen, frage ich, wie Sie mitTransparenz bei echten Privatisierungen umgehen wol-len.

Tatsache ist, dass bereits heute immer mehr Aufgabender öffentlichen Daseinsvorsorge durch kommunale Un-ternehmen erbracht werden; zu 75 Prozent sind dies Un-ternehmen in der Rechtsform der GmbH. Tatsache istauch, dass aus den unterschiedlichsten Gründen dieKommunen immer mehr an Einfluss auf ihre eigenenUnternehmen verlieren. Eine Ursache dafür ist, dass Öf-fentlichkeit und die Wahrung der Interessen der Unter-nehmen nicht unter einen Hut zu bringen sind.

Kommunale Mandatsträger in den Aufsichtsräten sindzur Verschwiegenheit verpflichtet. Diese Verschwiegen-heitspflicht kann dann zu Interessenskonflikten führen,wenn sie sich ihrer Gemeinde gegenüber verpflichtetfühlen, über Angelegenheiten des Unternehmens von be-sonderer Bedeutung berichten zu müssen. Es ist nichtdefiniert, in welchem Maße eine Verschwiegenheits-pflicht der kommunalen Vertreter in den Aufsichtsrätenim Interesse des Gemeinwohls – im Interesse der Kom-mune und damit der Bürgerinnen und Bürger – einge-schränkt werden kann. Dies ist in den Gemeindeordnun-gen der Länder sehr unterschiedlich geregelt. Es istnämlich ein Aushandlungsprozess, der von Kommunezu Kommune unterschiedlich ausgehen kann, also nachdem Motto: einmal mehr und einmal weniger Transpa-renz. Die Leidtragenden sind in jedem Fall die Bürgerin-nen und Bürger. Bestes Beispiel sind Unternehmen im

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Verkehrs- oder Versorgungsbereich, die nicht bereit sind,ihre Tarif- bzw. Preiskalkulation offen zu legen.

Hier gibt es also tatsächlichen Handlungsbedarf. Dassehen wir nicht anders. Es müssen bundesweite einheitli-che Standards in Bezug auf die Einschränkung der Ver-schwiegenheitspflicht im Interesse des Gemeinwohlsvorgegeben werden. Dies kann nicht im Belieben derLänder oder einer Kommune oder gar des Bürgermeis-ters liegen. Insofern stimmen wir dem Grundanliegen Ih-res Antrages zu.

Allerdings geht uns der Antrag nicht weit genug.

Erstens. Geht es Ihnen in der FDP um eine deutlicheErhöhung der Transparenz von Entscheidungen nurkommunaler Unternehmen. Und Ihre gewünschte Neu-regelung soll sich ausschließlich auf kommunale GmbHund AG beziehen, die zu 100 Prozent kommunal sind.Das derzeit geltende GmbH- und AG-Recht bezieht sichaber ausdrücklich auf alle Unternehmen, das heißt mitjedem Gesellschafter, unabhängig von der Höhe der Be-teiligung wird ein umfassendes Informationsrecht ge-genüber dem Unternehmen eingeräumt. Es stellt sich dieFrage, was Sie mit dieser Einengung wirklich wollen.

Zweitens werden in Ihrem Antrag Unternehmen, andenen Bund und Länder beteiligt sind, vollkommen aus-geblendet. Wir meinen, auch diese Beteiligungen müs-sen in die Diskussion um mehr Transparenz einbezogenwerden.

Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): DerAnlass, der dem heutigen Antrag der FDP-Fraktion zu-grunde liegt, mutet – lassen Sie mich das mal etwas sa-lopp formulieren – etwas „sehr dünne“ an. Da hatte dasVerwaltungsgericht Regensburg über die Zulassung ei-nes ÖDP-Bürgerbegehrens zu entscheiden, in dem dieTransparenz kommunaler Unternehmen in Passau the-matisiert werden sollte. In seiner Entscheidung urteiltedas Gericht, das Bürgerbegehren sei zulässig, da es kei-nen Widerspruch zum geltenden GmbH-Recht darstelle,wenn in dem Begehren mehr Transparenz bei kommuna-len Unternehmen gefordert werde.

Dass dieser Einzelfall aus Bayern, inklusive der bür-gerbegehrenfreundlichen Entscheidung des Verwal-tungsgerichts, Anlass für eine parlamentarische Initia-tive der FDP wird, finde ich schon bemerkenswert.Wahrscheinlich ist dies aber dem Umstand geschuldet,dass der Kollege Stadler im Doppelpack Passauer Abge-ordneter und Stadtrat in Passau ist und daher die Aktivi-täten der dort beheimateten ÖDP besonders beobachtet.Auch ich, lieber Kollege Stadler, bin ja bekanntlich ausBayern. Von daher ist mir die marktschreierische undpopulistische Arbeit der ÖDP bekannt, insbesondere ihrerhetorische Empörung, mit markigen Sprüchen gegendie so genannte Geheimniskrämerei in Rathäusern zuwettern. Ich denke nicht, dass wir uns dies hier in Berlinzu Eigen machen sollten.

Doch lassen Sie mich nun zur Sache selbst kommen.Wir Grünen stehen für eine der Transparenz verpflichte-ten Politik. Die Bürgerinnen und Bürger sollen staatli-ches Handeln nachvollziehen und damit auch kontrollie-

ren können. Mit dem unter Rot-Grün in Kraft getretenenInformationsfreiheitsgesetz haben wir diesem AnspruchTaten folgen lassen. Anders übrigens als Sie, meine Da-men und Herren von der FDP, die Sie dem Gesetz da-mals Ihr Ja verweigert haben. Vor diesem Hintergrundhalten wir auch den Ansatz für richtig, kommunalpoli-tisch relevante Entscheidungen transparent und über-prüfbar zu gestalten. Dies muss, im Grundsatz, auch fürkommunale wirtschaftliche Betätigungen gelten.

In der Tat ist es in den Kommunen inzwischen gän-gige Praxis, Aufgaben der kommunalen Daseinfürsorgein privatrechtlichen Unternehmensformen wahrzuneh-men, da die Kommunen so wirtschaftlicher und effizien-ter agieren können. Städtische Kliniken, Stadtwerke oderMessen als GmbH – alles Beispiele, wie viele Kommu-nen in Deutschland in der Unternehmensform einerGmbH wirtschaftlich erfolgreich agieren.

Diese Entwicklung bedeutet in der Tat ein Span-nungsverhältnis zwischen dem das Kommunalrecht be-herrschenden Öffentlichkeitsprinzip einerseits und denVertraulichkeits- und Verschwiegenheitspflichten desPrivatrechts andererseits. Die Kommunen sind bei ihrertäglichen Arbeit immer wieder damit konfrontiert, diesesSpannungsverhältnis im Einzelfall auszuloten, abzu-grenzen und auszugestalten. Auch das im FDP-Antragzitierte VG Regensburg spricht davon, dass die Grenz-ziehung zwischen den verschiedenen Interessen undSchutzprinzipien im Einzelfall austariert werden müsseund nicht ein für allemal festzulegen sei. Das Urteil sagtjedoch auch, dass die einschlägigen Normen des GmbH-Rechts, insbesondere § 52 GmbHG, den hierfür erforder-lichen Regelungsspielraum eröffneten. Vor diesem Hin-tergrund finde ich die Empörung, mit der die FDP gegendie „Geheimniskrämerei“ in den Kommunen wettert,mehr Theaterdonner für die Galerie denn sachlich be-gründet. Was durchaus nicht bedeutet, dass man nichtüber eine weitere Ausgestaltung von Transparenzrege-lungen nachdenken könnte.

Doch ich möchte an dieser Stelle eines klar sagen:Diese Debatte darf nicht zu einer Schlechterstellung fürKommunal-GmbHs führen. Das GmbH-Recht gilt füralle Gesellschaften mit beschränkter Haftung gleicher-maßen und dieser Grundsatz sollte auch nicht angetastetwerden. Nur dann, wenn „gleiches Recht für Gleiche“gilt, ist ein fairer, freier Wettbewerb gesichert, für densich ja die FDP sonst immer so vehement stark macht.Kommunale Gesellschaften haben – wie jedes andereUnternehmen auch – das Recht, am wirtschaftlichenWettbewerb teilzunehmen. Dann müssen sie auch den-selben Regularien unterstellt werden, wie jedes andereUnternehmen auch. Würden kommunale Unternehmenmit Sonderkonditionen belastet, wären sie gegenüberprivaten Konkurrenten – die aus Sicht der FDP vorzugs-würdig seien – am Markt benachteiligt.

Die allgemeine Forderung im FDP-Antrag, „so vielTransparenz wie möglich“ herzustellen, vermag nichtdarüber hinwegzutäuschen, das konkretisiert werdenmuss, wie weit „das Mögliche“ gehen soll. Hier bleibtdie FDP jede Antwort schuldig. Die Debatte ist an dieserStelle folglich nicht zu Ende, sondern sie beginnt erst.

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ISSN 0722-7980