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Plenarprotokoll 15/32 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 32. Sitzung Berlin, Freitag, den 14. März 2003 Inhalt: Tagesordnungspunkt 13: Abgabe einer Regierungserklärung durch den Bundeskanzler: Mut zum Frieden und zur Veränderung . . . . . . . . . . . . . . . Gerhard Schröder, Bundeskanzler . . . . . . . . . Dr. Angela Merkel CDU/CSU . . . . . . . . . . . . Franz Müntefering SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Guido Westerwelle FDP . . . . . . . . . . . . . Katrin Dagmar Göring-Eckardt BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . Dr. Edmund Stoiber, Ministerpräsident (Bayern) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wolfgang Clement, Bundesminister BMWA Ernst Hinsken CDU/CSU . . . . . . . . . . . . Dirk Niebel FDP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hartmut Schauerte CDU/CSU . . . . . . . . . Dr. Wolfgang Gerhardt FDP . . . . . . . . . . . . . Dr. Thea Dückert BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Gesine Lötzsch fraktionslos . . . . . . . . . . Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Anträge: GATS-Verhandlungen Bildung als öffentliches Gut und kulturelle Vielfalt sichern GATS-Verhandlungen – Transparenz und Flexibilität sichern (31. Sitzung, Zusatztagesordnungspunkte 5 bis 7) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erich G. Fritz CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . Michaele Hustedt BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 3 Amtliche Mitteilungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2479 A 2479 B 2493 B 2505 A 2511 C 2515 C 2520 D 2528 C 2530 D 2534 B 2536 C 2540 C 2542 A 2543 D 2545 C 2547 A 2547 B 2547 B 2549 C 2550 D

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Plenarprotokoll 15/32

Deutscher BundestagStenografischer Bericht

32. Sitzung

Berlin, Freitag, den 14. März 2003

I n h a l t :

Tagesordnungspunkt 13:

Abgabe einer Regierungserklärung durchden Bundeskanzler: Mut zum Friedenund zur Veränderung . . . . . . . . . . . . . . .

Gerhard Schröder, Bundeskanzler . . . . . . . . .

Dr. Angela Merkel CDU/CSU . . . . . . . . . . . .

Franz Müntefering SPD . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Guido Westerwelle FDP . . . . . . . . . . . . .

Katrin Dagmar Göring-EckardtBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . .

Dr. Edmund Stoiber, Ministerpräsident(Bayern) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Wolfgang Clement, Bundesminister BMWA

Ernst Hinsken CDU/CSU . . . . . . . . . . . .

Dirk Niebel FDP . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Hartmut Schauerte CDU/CSU . . . . . . . . .

Dr. Wolfgang Gerhardt FDP . . . . . . . . . . . . .

Dr. Thea Dückert BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Gesine Lötzsch fraktionslos . . . . . . . . . .

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2505 A

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2536 C

2540 C

2542 A

2543 D

Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Anlage 1

Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . .

Anlage 2

Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratungder Anträge:

– GATS-Verhandlungen – Bildung alsöffentliches Gut und kulturelle Vielfaltsichern

– GATS-Verhandlungen – Transparenz undFlexibilität sichern

(31. Sitzung, Zusatztagesordnungspunkte 5bis 7) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Erich G. Fritz CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . .

Michaele Hustedt BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Anlage 3

Amtliche Mitteilungen . . . . . . . . . . . . . . . . . .

2545 C

2547 A

2547 B

2547 B

2549 C

2550 D

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32. Sitzung

Berlin, Freitag, den 14. März 2003

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident Wolfgang Thierse:

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! DieSitzung ist eröffnet.

Der Ältestenrat hat vereinbart, dass in der Haushalts-woche vom 17. März 2003 keine Regierungsbefragung,keine Fragestunde und auch keine Aktuellen Stundenstattfinden sollen. Sind Sie damit einverstanden? – Ichhöre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:

Abgabe einer Erklärung durch den Bundeskanzler

Mut zum Frieden und Mut zur Veränderung

Es liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion derFDP vor.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache im Anschluss an die Regierungserklä-rung vier Stunden vorgesehen. – Ich höre keinen Wider-spruch. Dann ist das so beschlossen.

Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hatder Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland,Gerhard Schröder.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Gerhard Schröder, Bundeskanzler:

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! In der Verantwortung für die Zukunft unseresLandes habe ich der Regierungserklärung ein doppeltesMotto vorangestellt. Es beschreibt, worum es heute geht:Mut zum Frieden und Mut zur Veränderung.

Wir müssen den Mut aufbringen, für den Frieden zukämpfen, solange noch ein Funken Hoffnung besteht,dass der Krieg vermieden werden kann.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir müssen den Mut aufbringen, in unserem Land jetztdie Veränderungen vorzunehmen, die notwendig sind,

um wieder an die Spitze der wirtschaftlichen und der so-zialen Entwicklung in Europa zu kommen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Lage – das spürt jeder hier im Haus, aber auchdraußen – ist international wie national äußerst ange-spannt. Die Krise um den Irak belastet weltweit die oh-nehin labile Konjunktur.

Deutschland hat darüber hinaus – das gilt es ebenfallszu sehen – mit einer Wachstumsschwäche zu kämpfen,die auch strukturelle Ursachen hat. Die Lohnnebenkos-ten haben eine Höhe erreicht, die für die Arbeitnehmerzu einer kaum mehr tragbaren Belastung geworden istund die auf der Arbeitgeberseite als Hindernis wirkt,mehr Beschäftigung zu schaffen. Investitionen und Aus-gaben für den Konsum sind drastisch zurückgegangen,übrigens nicht zuletzt, seit an den Börsen allein inDeutschland während der vergangenen drei Jahre rund700 Milliarden Euro buchstäblich vernichtet wordensind.

In dieser Situation muss die Politik handeln, um Ver-trauen wieder herzustellen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Genau!)

Wir müssen die Rahmenbedingungen für mehr Wachs-tum und für mehr Beschäftigung verbessern.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Detlef Parr[FDP])

Ich möchte Ihnen heute Punkt für Punkt darlegen, welcheMaßnahmen nach Überzeugung der Bundesregierungvorrangig ergriffen und umgesetzt werden müssen – fürKonjunktur und Haushalt, für Arbeit und Wirtschaft, fürdie soziale Absicherung im Alter und bei Krankheit.

Wir werden Leistungen des Staates kürzen, Eigenver-antwortung fördern und mehr Eigenleistung von jedemEinzelnen abfordern müssen.

(Beifall des Abg. Detlef Parr [FDP])

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Bundeskanzler Gerhard Schröder

Alle Kräfte der Gesellschaft werden ihren Beitrag leistenmüssen: Unternehmer und Arbeitnehmer, freiberuflichTätige und auch Rentner. Wir werden eine gewaltige ge-meinsame Anstrengung unternehmen müssen, um unserZiel zu erreichen.

(Michael Glos [CDU/CSU]: Es wird höchste Zeit!)

Aber ich bin sicher: Wir werden es erreichen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Bevor ich zu den Einzelheiten komme, verlangt diedramatische internationale Lage einige deutliche Wortezur Krise in und um den Irak. In den vergangenen Tagenund Wochen hat die Bundesregierung ihre Anstrengun-gen noch einmal verschärft, diese Krise politisch zu lö-sen. Gemeinsam mit unseren französischen Freunden,aber auch mit Russland, China und der Mehrheit imWeltsicherheitsrat sind wir mehr denn je davon über-zeugt, dass die Abrüstung von Massenvernichtungsmit-teln im Irak mit friedlichen Mitteln herbeigeführt werdenkann und herbeigeführt werden muss.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. GesineLötzsch [fraktionslos] und der Abg. Petra Pau[fraktionslos])

Die Berichte der Waffeninspekteure zeigen, dass der Irakunter dem Druck der internationalen Gemeinschaft in-zwischen besser und auch aktiver kooperiert.

Die Zerstörung der al-Samud-Raketen ist ein sicht-bares Zeichen tatsächlicher Abrüstung. Das beweist: DieInspektionen und die Inspekteure sind ein wirksames In-strument, das jetzt nicht beendet werden darf.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. GesineLötzsch [fraktionslos] und der Abg. Petra Pau[fraktionslos])

Mit einem ausgedehnten Inspektionsregime können wirnachhaltige und nachprüfbare Abrüstung erreichen. Des-halb war und bleibt es richtig, dass wir auf der Logik desFriedens beharrt haben, anstatt in eine Logik des Kriegeseinzusteigen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. GesineLötzsch [fraktionslos] und der Abg. Petra Pau[fraktionslos])

Der Irak muss unter internationaler Kontrolle umfas-send und nachvollziehbar abrüsten, übrigens auch des-halb, damit die Wirtschaftssanktionen, unter denen vorallen Dingen das irakische Volk leidet, gelockert undschließlich aufgehoben werden können. Das sind die Be-dingungen, unter denen Frieden und Freiheit gedeihenkönnen. Wir sollten daran festhalten, mit all unsererKraft mitzuhelfen, dass diese Bedingungen realisiertwerden können.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Gesine

Lötzsch [fraktionslos] und der Abg. Petra Pau[fraktionslos])

Wir werden sowohl unsere Verantwortung als auchunsere mitgestaltende Rolle in einer multipolaren Welt-ordnung des Friedens und des Rechts nur dann umfas-send wahrnehmen können, wenn wir das auf der Basiseines starken und geeinten Europas tun. Es geht um dieRolle Europas in der internationalen Politik. Aber esgeht auch um die Unabhängigkeit unserer Entscheidun-gen in der Welt von morgen.

Beides – auch das ist Gegenstand dieser Debatte –werden wir nur erhalten können, wenn wir wirtschafts-und sozialpolitisch beweglicher und solidarischer wer-den, und zwar in Deutschland als dem größten Land inEuropa, was die Wirtschaftskraft angeht, und damit na-türlich auch in Europa.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Diesen Zusammenhang zwischen unseren wirtschaft-lichen und damit auch unseren sozialen Möglichkeiten ei-nerseits und unserer eigenen Rolle in Europa und Euro-pas Rolle in der Welt andererseits darf man nicht aus denAugen verlieren; denn er ist für uns und unsere Gesell-schaft genauso wichtig wie für unsere Partner in Europa.

Dieses Europa ist eben mehr als die Summe seiner In-stitutionen und mehr als ein gemeinsamer Binnenmarkt.Deutschland hat dazu unter allen Bundesregierungenentscheidend beigetragen. Europa ist eine Idee, der wiruns verpflichtet fühlen, eine Idee des geeinten Konti-nents, der Kriege und Nationalismen überwunden hatoder dabei ist, sie zu überwinden. Heute kann und mussEuropa Frieden und Stabilität, Gerechtigkeit und wirt-schaftliche Kraft sowie Entwicklungschancen exportie-ren. Auch dafür müssen wir uns fit machen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Deutschland leistet hierzu – das dürfen wir ruhigselbstbewusst, ja sogar stolz sagen – einen entscheiden-den Beitrag, politisch wie finanziell. Wir finanzieren dieEuropäische Union zu einem Viertel. Wir zahlen jedesJahr rund 7 Milliarden Euro mehr in die europäischenKassen ein, als wir zurückbekommen. Das macht unsmit Abstand zum größten Nettozahler der Gemeinschaft.Wir akzeptieren das nicht nur, weil diesem Europa dieÜberzeugung zugrunde liegt, dass Kooperation besser istals Konfrontation – ich denke, darüber sind wir uns indiesem Hohen Hause einig –, sondern auch, weil unsereuropäisches Sozialmodell, das auf Teilhabe beruht stattauf ungezügelter Herrschaft des Marktes, nur gemein-sam gegen die Stürme der Globalisierung wetterfest ge-macht werden kann.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Um in Europa eine führende Position einnehmen zukönnen, haben wir gemeinsam mit Frankreich und Groß-britannien für die beiden bevorstehenden Gipfel in Brüs-sel und Athen Vorschläge für eine europäische Indus-triepolitik erarbeitet. Mit diesen Vorschlägen wollen wir

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Bundeskanzler Gerhard Schröder

dafür sorgen, dass zum Beispiel die Schiffbau- und dieChemieindustrie auch in Europa eine Zukunft haben.Denn die Industrie ist – das ist in Brüssel gelegentlichvernachlässigt worden – das Fundament unserer Wirt-schaft. Deshalb müssen wir die Wettbewerbsfähigkeitder europäischen Industrie verbessern. Das ist die Grund-idee meiner gemeinsamen industriepolitischen Initiativemit Staatspräsident Chirac und Premierminister Blair,die wir unseren Partnern in der nächsten Woche auf demGipfel in Brüssel vorlegen werden.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, ich habe das Stichwort„Mut zur Veränderung“ auch und gerade im Innern unse-res Landes bereits genannt. Um unserer deutschen Ver-antwortung in und für Europa gerecht zu werden, müs-sen wir zum Wandel im Innern bereit sein. Entweder wirmodernisieren, und zwar als soziale Marktwirtschaft,oder wir werden modernisiert, und zwar von den unge-bremsten Kräften des Marktes, die das Soziale beiseitedrängen würden.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Michael Glos [CDU/CSU]:Das ist ein richtiger Schmarren!)

Die Struktur unserer Sozialsysteme ist seit 50 Jahrenpraktisch unverändert geblieben. An manchen Stellen,etwa bei der Belastung der Arbeitskosten, führen Instru-mente der sozialen Sicherheit heute sogar zu Ungerech-tigkeiten. Zwischen 1982 und 1998 sind allein die Lohn-nebenkosten von 34 auf fast 42 Prozent gestiegen.

(Zurufe von der SPD: Hört! Hört!)

Daraus ergibt sich nur eine Konsequenz: Der Umbaudes Sozialstaates und seine Erneuerung sind unabweis-bar geworden. Dabei geht es nicht darum, ihm den To-desstoß zu geben, sondern ausschließlich darum, dieSubstanz des Sozialstaates zu erhalten. Deshalb brau-chen wir durchgreifende Veränderungen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]:Das haben Sie 1998 verhindert!)

Hierzu hat die Regierung in den vergangenen Jahren vie-les auf den Weg gebracht.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Lachen bei der CDU/CSU)

– Wir sind es gewesen und nicht Sie.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Lachen bei der CDU/CSU –Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: DieDeutschland zugrunde richten – um Ihren Satzzu vervollständigen!)

Wir und nicht Sie haben die kapitalgedeckte privateVorsorge, die die zweite Säule der Rentenversicherungdarstellt, auf den Weg gebracht.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]:Wo ist denn der Herr Riester?)

Diese private Vorsorge als zweite Säule unter das Dachder Altersversorgung und Alterssicherung zu stellen, dashaben viele große Länder in Europa noch vor sich. UnterIhrer Führung ist mit solchen Reformen nie begonnenworden, geschweige denn, dass sie je zu Ende gebrachtworden sind.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir haben eine mehrstufige Steuerreform beschlos-sen, die Bürger und Unternehmen um insgesamt56 Milliarden Euro entlastet.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]:Ökosteuer!)

Wir haben die Gesellschaft modernisiert: in der Energie-politik, im Familienbereich und beim Staatsangehörig-keitsrecht ebenso wie durch eine moderne Zuwande-rungsregelung, der Sie sich nicht verschließen dürfen,wenn Sie ernsthaft für Reformen in diesem Land eintre-ten wollen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir haben unsere Investitionen in Forschung ver-stärkt und damit begonnen, die Bedingungen für schuli-sche und vorschulische Bildung zu verbessern. Es giltaber einzuräumen: Wir haben feststellen müssen, dassdiese Schritte nicht ausreichen. Vor allem reicht auch dieGeschwindigkeit, mit der wir unsere Strukturen den ver-änderten Bedingungen anpassen, nicht aus. Das ist derGrund, warum wir bei den Veränderungen weitergehenmüssen.

Unsere Agenda 2010 enthält weitreichende Struktur-reformen.

(Volker Kauder [CDU/CSU]: Donnerwetter!)

Diese werden Deutschland bis zum Ende des Jahrzehntsbei Wohlstand und Arbeit wieder an die Spitze bringen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dadurch werden die Gerechtigkeit zwischen den Gene-rationen gesichert und die Fundamente unseres Gemein-wesens gestärkt.

Meine Damen und Herren, ich hatte Ihnen verspro-chen, die Maßnahmen, die wir in den Bereichen, die ichgenannt habe, planen, Punkt für Punkt zu erläutern.

(Volker Kauder [CDU/CSU]: Was versprochenwird, wird doch nie gehalten! – Michael Glos[CDU/CSU]: Versprochen – gebrochen!)

Dabei geht es vor allen Dingen um drei Bereiche:

Der erste ist „Konjunktur und Haushalt“. Die dramati-sche Wirtschaftslage zwingt uns dazu, eine neue Balancezwischen Konsolidierung, konjunkturellen Impulsen undsteuerlicher Entlastung zu schaffen.

(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Also mehr Steuern!)

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Bundeskanzler Gerhard Schröder

Wir werden dabei nicht den Weg gehen, einseitig und ego-istisch nur diejenigen zu entlasten, die heute aktiv sind,die Kosten aber durch Verschuldung auf künftige Gene-rationen abzuwälzen. Das ist kein verantwortbarer Weg.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Deshalb halten wir am Ziel der Haushaltskonsolidie-rung und am Stabilitätspakt, den wir vereinbart haben,fest. Nur: Dieser Pakt darf eben nicht statisch interpre-tiert werden.

(Lachen bei der CDU/CSU und der FDP –Friedrich Merz [CDU/CSU]: Jetzt ist die Katzeaus dem Sack!)

Er lässt Raum und er muss auch Raum lassen für Reakti-onen auf unvorhergesehene Ereignisse. Phasen wirt-schaftlicher Schwäche – in Deutschland und in Europasind wir in einer solchen – dürfen eben nicht durch pro-zyklische Politik ausgeglichen werden.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir sind uns in Europa mit unseren Partnern einig,dass wir auch Möglichkeiten zu Reaktionen auf unvor-hersehbare Ereignisse brauchen, die möglicherweise alsFolgen der Verschärfung von Krisen in Regionen in derWelt eintreten. Auch diese Möglichkeit gibt der Stabili-tätspakt durchaus her. Wir werden diese Möglichkeitenzusammen mit unseren Partnern offensiv nutzen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Hans Michelbach [CDU/CSU]: Völlig falsche Signale!)

Allerdings: Der Verweis auf den Stabilitätspakt unddie europäische Verantwortung darf nicht als Ausredebenutzt werden, jetzt hier nichts zu tun. Auch in der jet-zigen Situation müssen und wollen wir Wachstumsim-pulse setzen. Das muss für die Ermunterung privater In-vestitionen ebenso gelten wie für die öffentlichenInvestitionen, insbesondere für die in den Kommunen.

(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Wie zum Beispiel?)

Wir sind verpflichtet, gerade in Zeiten geringen Wachs-tums oder wirtschaftlicher Stagnation die öffentlichenInvestitionen auf hohem Niveau zu halten.

(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Hoch? Wo sind die?)

Der Bund – wir werden das bei den Haushaltsberatun-gen diskutieren – kommt dieser Verantwortung durchausnach.

(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Ist ja lachhaft!)

Die Investitionen im Bundeshaushalt steigen in diesemJahr auf 26,7 Milliarden Euro.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Angela Merkel [CDU/CSU]: Ja, durch die Flut!)

Wir werden aber auch die Finanz- und Investitions-kraft der Kommunen nachhaltig stärken müssen. Dabeisetzen wir auf folgende Maßnahmen:

Erstens. Zur sofortigen Entlastung der Gemeinden be-absichtigt die Bundesregierung, sie von ihrem Beitragzur Finanzierung des Flutopferfonds zu befreien.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Das bringt Mehreinnahmen in einer Höhe von800 Millionen Euro.

Zweitens. Das Steuervergünstigungsabbaugesetz unddie Abgeltungsteuer werden voraussichtlich noch indiesem Jahr zu Mehreinnahmen von rund 1 Milliarde Euroführen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und desBÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Lachenbei der CDU/CSU – Eckart von Klaeden[CDU/CSU]: Abrakadabra!)

– Eine solche Reaktion von Ihnen habe ich erwartet.Aber an dieser Stelle zeigt sich, wie Ihre Politik wirklichist: alles ablehnen und immer mehr fordern.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Jede einzelne Maßnahme wird blockiert. Auf jede Blo-ckade, die Sie machen, erfolgt eine neue Forderung. Dasist vollkommen unverantwortlich. Damit werden Sie nichtlange durchkommen. Seien Sie sich dessen ganz sicher!

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]:Ganz ruhig bleiben!)

Drittens. Wir werden die Kommunen ab dem 1. Ja-nuar 2004 von der Zahlung für die arbeitsfähigen Sozial-hilfeempfänger entlasten. Das heißt, für bis zu1 Million Sozialhilfeempfänger wird künftig die Bun-desanstalt für Arbeit materiell zuständig sein.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Die Gemeinden werden dadurch in Milliardenhöhe ent-lastet. Sie gewinnen Gestaltungsspielraum, den sie zumBeispiel für Investitionen bei der Kinderbetreuung nut-zen können.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es muss aber auch klar sein: Diese Regelung soll dieKommunen nicht von ihrer Verantwortung entbinden,mitzuhelfen und alles dafür zu tun, dass Menschen Ar-beit in den Strukturen finden, die bei den Kommunenaufgebaut worden sind. Die unterschiedliche Finanzie-rung darf nicht zu geteilter Verantwortung führen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Viertens. Die Bundesregierung wird zum 1. Janu-ar 2004 die Gemeindefinanzen grundlegend reformie-ren. Zurzeit arbeitet eine Kommission,

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Bundeskanzler Gerhard Schröder

(Zurufe von der CDU/CSU: Oh!)

an der Sie, wie Sie wissen, beteiligt sind, mit Hochdruckan einer Umsetzung dieser Reform. Im Mittelpunkt wirdübrigens nach unserer Auffassung eine erneuerte Gewer-besteuer stehen, die die Einnahmen verstetigt und denGemeinden mehr Eigenverantwortung gibt.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Auch an diesem Punkt werden Sie zeigen können, ob Siebereit sind, Verantwortung für das Ganze zu überneh-men, oder ob Sie weiterhin allein aus parteipolitischerOrientierung egoistisch Ihr eigenes Süppchen kochenwollen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Fünftens. Wir werden über die Kreditanstalt fürWiederaufbau ein Investitionsvolumen in Höhe voninsgesamt 15 Milliarden Euro mobilisieren:

(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Woher?)

7 Milliarden Euro für ein kommunales Investitionspro-gramm und 8 Milliarden Euro für die private Wohnungs-bausanierung. Für dieses Investitionsprogramm wird derBund aus eigenen Mitteln eine attraktive Refinanzierungsicherstellen. Das kommunale Programm ist für länger-fristige Projekte in den Bereichen Wasser und Abwasser,Abfallwirtschaft sowie kommunale und soziale Infra-struktur bestimmt. Dieses Programm – dessen bin ich si-cher – sorgt vor allen Dingen für Arbeit in der Bauwirt-schaft und im Handwerk. Es kommt den Bürgerinnenund Bürgern und denen unmittelbar zugute, die in klei-nen und mittelständischen Betrieben arbeiten.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Für Kommunen mit besonderen Strukturproblemenund überdurchschnittlicher Arbeitslosigkeit werden dieohnehin attraktiven Zinskonditionen noch einmal deut-lich verbessert. Das wird zu mehr Investitionen führen.Mir liegt aber daran, festzustellen, dass dies kein kurz-fristiges und schuldenfinanziertes Konjunkturprogrammist. Wir werden dafür weder neue Schulden aufnehmennoch Steuern erhöhen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Dieses Programm ist die notwendige Ergänzung zuunseren Strukturreformen auf der Angebotsseite, dieich Ihnen erläutern werde. Beides bedingt einander:Ohne Strukturreformen verpufft jeder Nachfrageimpuls.Ohne konjunkturelles Gegensteuern laufen die Refor-men indessen ins Leere.

Deswegen setzen wir an beiden Seiten an. Wir werden– wie geplant – die nächsten Stufen der Steuerreform miteinem Entlastungsvolumen von rund 7 Milliarden Euroam 1. Januar 2004 und von 18 Milliarden Euro am1. Januar 2005 ohne Abstriche umsetzen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Der Eingangssteuersatz wird dann gegenüber 1998von 25,9 auf 15 Prozent und der Spitzensteuersatz von53 auf 42 Prozent sinken.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und desBÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – HansMichelbach [CDU/CSU]: Völlig neu! TotaleÜberraschung!)

Mehr ist nicht zu verkraften. Das muss man klar gegenü-ber denjenigen sagen, die als Patentrezept Steuersenkun-gen, bis der Staat draufzuzahlen hat, anbieten. Auch dasgehört zur Wahrheit in diesem Land.

(Beifall bei der SPD und des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN)

Wollte man die Forderungen, die in die Welt gesetztwerden – sie gehen übrigens keineswegs nur zulastendes Bundes, sondern auch zulasten der Länder und derKommunen; das wissen Sie doch alle –, wirklich reali-sieren, ginge das nur über eine Neuverschuldung oderdie Erhöhung von Verbrauchsteuern. Anders wäre dasnicht vernünftig finanzierbar.

(Zuruf von der FDP: Einsparungen!)

Beide Wege, die Erhöhung der Verbrauchsteuern, hierder Mehrwertsteuer, und eine Verschuldung in dieserGrößenordnung, sind nicht zu verantworten. Deshalbbleibt es bei den Festlegungen, die wir getroffen haben.Das ist planbar für die Steuerbürgerinnen und -bürgerund für die Unternehmen und das ist der richtige Weg.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir werden zudem die Abgeltungsteuer auf Zinser-träge einführen und dadurch erreichen, dass im Auslandangelegte Gelder straffrei zurück transferiert werden.

(Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Wir hätten esgern noch einmal deutlicher beschrieben! –Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

– Wenn Sie das nicht wollen, müssen Sie das sagen. DerSinn der Abgeltungsteuer ist nicht zuletzt derjenige, dasswir auf diese Weise Geld, das im Ausland liegt, zurück-holen. Es ist doch besser, es arbeitet in Leipzig oder Gel-senkirchen, als dass es in Liechtenstein schwarz Zinsenbringt. Das ist der Sinn dieser Regelung.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Wolfgang Gerhardt[FDP]: Ja! Natürlich!)

Wir brauchen Kontrollen. Sie sollten unbürokratisch,aber wirksam sein. Über die Art und Weise, wie das ge-schieht, sind wir gegenüber denjenigen, die das in derzweiten Kammer mitzuentscheiden haben, durchaus ge-sprächsbereit. Über die Ausgestaltung dieser Kontrollenwerden wir mit der Mehrheit im Bundesrat zu reden ha-ben. Ich bin sicher, dass wir aus der Sache heraus eineEinigung finden, weil das Ziel, das wir verfolgen, ver-nünftig ist und eigentlich jedem einleuchten müsste.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

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Es muss in diesem Zusammenhang Verlass darauf sein,dass mit dieser Operation nur diese und keine anderenZiele verfolgt werden.

Wir werden Gewinne aus Veräußerungen – das istbeschlossen – in Zukunft besteuern. Die Kehrseite ist,dass deshalb die Substanz von Vermögen steuerfrei blei-ben kann. Auch das muss klargestellt werden.

(Volker Kauder [CDU/CSU]: Wo ist der Beifall?)

Arbeit und Wirtschaft, das ist das Herzstück unsererReformagenda. Eine dynamisch wachsende Wirtschaftund eine hohe Beschäftigungsquote sind die Vorausset-zungen für einen leistungsfähigen Sozialstaat und damitfür eine funktionierende soziale Marktwirtschaft. Wirwollen das Ziel nicht aufgeben, dass jeder, der arbeitenkann und will, dazu auch die Möglichkeit bekommt.

Wir haben die Arbeitsmärkte deshalb für neue For-men der Beschäftigung und der Selbstständigkeit geöff-net. Wir haben das Programm „Kapital für Arbeit“aufgelegt. Wir haben die Bedingungen für die Vermitt-lung der Arbeitslosen durchgreifend verbessert. Wir ha-ben Rechte und Pflichten der Arbeitsuchenden in einneues Gleichgewicht gebracht.

Wir sind dabei, die Bundesanstalt für Arbeit so umzu-bauen, dass sie ihrer eigentlichen Aufgabe nachkommenkann, nämlich Arbeitslose in Arbeit zu vermitteln undsie nicht bloß zu verwalten.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

In den letzten Monaten haben wir – teilweise auch ge-meinsam – erhebliche Anstrengungen unternommen,den Arbeitsmarkt weiter zu flexibilisieren: Wir haben dieZeit- und Leiharbeit von bürokratischen Beschränkun-gen befreit und so aufgewertet, dass die Unternehmenihren Bedarf an qualifizierten Arbeitskräften flexibel de-cken können. Wir haben die gering bezahlten Jobs bis800 Euro massiv von Abgaben entlastet.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetendes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – La-chen bei der CDU/CSU)

– Ich dachte, Sie hätten sich daran beteiligt. Das ist dochnicht schlimm. Es kann durchaus auch einmal etwas Ver-nünftiges aus Ihren Reihen kommen. Das ist doch keineFrage.

(Ludwig Stiegler [SPD]: Selten genug!)

Diese Rahmenbedingungen zur Bekämpfung der Ar-beitslosigkeit werden wir weiter deutlich verbessern.

Unser System der Arbeitsvermittlung hat unver-kennbare Schwächen. Zu Zeiten der Vollbeschäftigungfiel das nicht weiter ins Gewicht und dann haben wir uns20 Jahre Diskussionen geleistet, ohne die Fehlentwick-lungen zu korrigieren.

Wir haben die nötigen Reformen angepackt. Aberjetzt müssen die Unternehmen, die offene Stellen zu be-setzen haben, diese Angebote einer erneuerten Arbeits-verwaltung auch annehmen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir haben die Möglichkeiten zur befristeten Beschäf-tigung verlängert, wie es gefordert worden ist, für dieüber 50-Jährigen sogar ohne zeitliche Grenze. Auch dasist eine Maßnahme, um ältere Arbeitslose wieder in Be-schäftigung zu bringen. Ich appelliere an die Wirtschaft,das auch zu tun. Denn es ist nicht Sache der Bundesre-gierung, sondern der Unternehmen, so zu verfahren,dass auch jemand, der 50 oder älter ist, im Betrieb seineChance behält oder wiederbekommt. Das ist eine Verant-wortung, die nicht nur bei der Politik abzuladen ist, son-dern die die ganze Gesellschaft und speziell die Wirt-schaft angeht. Auch sie müssen Verantwortung für dasGemeinwesen übernehmen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir werden den Arbeitsmarkt über die Hartz-Refor-men hinaus öffnen, Schwarzarbeit zurückdrängen undunsere Bemühungen verstärken, dass genügend Ausbil-dungsplätze bereitgestellt werden. Aber es muss auchklar sein: Obwohl wir bei der gesetzlichen Umsetzungder Hartz-Vorschläge zügig gearbeitet haben, wird esdurchaus eine Zeit dauern, bis die entsprechenden Refor-men auf dem Arbeitsmarkt greifen. Einfach die aktiveArbeitsmarktpolitik, vor allem in den ostdeutschenBundesländern, zurückzufahren, noch bevor die neuenStrukturen aufgebaut sind und ihre Wirkung entfaltenkönnen – das kann nicht die Lösung sein und das wirdauch nicht die Lösung sein.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir werden speziell in Ostdeutschland für eine Über-gangszeit noch einen zweiten Arbeitsmarkt brauchen.Das gilt übrigens nicht nur für Ostdeutschland, sondernauch für andere besonders benachteiligte Regionen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, wir können es nicht dabeibelassen, die Bedingungen für die Wirtschaft und die Ar-beitsmärkte zu verbessern. Wir müssen auch über dasSystem unserer Hilfen nachdenken und uns fragen: Sinddie sozialen Hilfen wirklich Hilfen für die, die sie brau-chen?

(Michael Glos [CDU/CSU]: Sehr wahr!)

Ich akzeptiere nicht, dass Menschen, die arbeiten wollenund können, zum Sozialamt gehen müssen, während an-dere, die dem Arbeitsmarkt womöglich gar nicht zurVerfügung stehen, Arbeitslosenhilfe beziehen.

(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Deswegen wird jetzt die Statistik geändert!)

Ich akzeptiere auch nicht, dass Menschen, die gleicher-maßen bereit sind zu arbeiten, Hilfen in unterschiedli-cher Höhe bekommen. Ich denke, das kann keine erfolg-reiche Integration sein.

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Wir brauchen deshalb Zuständigkeiten und Leistun-gen aus einer Hand. Damit steigern wir die Chancen de-rer, die arbeiten können und wollen. Das ist der Grund,warum wir die Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusammen-legen werden, und zwar einheitlich auf einer Höhe – auchdas gilt es auszusprechen –, die in der Regel dem Niveauder Sozialhilfe entsprechen wird.

(Zurufe von der CDU/CSU: Wo bleibt der Bei-fall? – Gegenruf des Abg. Ludwig Stiegler[SPD]: Jetzt bellen sie wieder wie die Hunde!– Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

– Herr Schauerte, wenn Sie noch einen Moment zuhörenkönnten. Es kommt ja noch etwas.

(Lachen bei der CDU/CSU – Eckart vonKlaeden [CDU/CSU]: Es kommt tatsächlichnoch etwas!)

Wir kommen gleichzeitig den Menschen entgegen,denen wir mehr abverlangen müssen. So werden wir da-mit Schluss machen, dass Langzeitarbeitslose, die einenJob annehmen, sämtliche Ansprüche auf Transferleistun-gen verlieren. Deswegen werden wir eine bestimmte ZeitLangzeitarbeitslosen, die eine Beschäftigung aufneh-men, deutlich mehr als die bisherigen 15 Prozent derTransfers belassen. Das soll und wird ein Anreiz für dieAufnahme von Arbeit sein.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich denke, wir setzen damit ein eindeutiges Signal fürdiejenigen Menschen in unserer Gesellschaft, die längerals zwölf Monate arbeitslos sind. Niemandem aber wirdkünftig gestattet sein, sich zulasten der Gemeinschaft zu-rückzulehnen. Wer zumutbare Arbeit ablehnt – wir wer-den die Zumutbarkeitskriterien verändern –, der wird mitSanktionen rechnen müssen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Darüber hinaus reformieren wir das Arbeits- und dasSozialrecht an den Stellen, an denen sich im Laufe derJahre Beschäftigungshemmnisse entwickelt haben. Aberauch hier vorweg eine Bemerkung: Der Kündigungs-schutz, wie er zum Wesen unserer sozialen Marktwirt-schaft gehört, ist nicht nur eine soziale, sondern aucheine ökonomische und eine kulturelle Errungenschaft.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Unser Land ist nicht durch Gesetze des Dschungels oderdurch bedenkenloses „Hire and Fire“,

(Michael Glos [CDU/CSU]: Donnerwetter!)

sondern durch selbstbewusste Arbeitnehmer stark ge-worden, deren Motivation eben nicht Angst ist, sondernder Wille, gemeinsam mit tüchtigen Unternehmern et-was zu leisten.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir wissen aber, welche gewaltigen Veränderungenan der ökonomischen Basis unserer Gesellschaft stattfin-den. Wir müssen deshalb auch den Kündigungsschutzfür Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie für dieUnternehmen besser handhabbar machen. Das gilt insbe-sondere für die Kleinbetriebe mit mehr als fünf Mitarbei-terinnen und Mitarbeitern. Für sie muss und wird diepsychologische Schwelle bei Neueinstellungen über-wunden werden. Der Wirtschafts- und Arbeitsministerhat dazu Vorschläge entwickelt. Diese werden ohne Ab-striche umgesetzt werden.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zurufe von der CDU/CSU:Oh! Oh!)

– Ich kann Ihnen das gerne erläutern, wenn Sie das wol-len. Hier gibt es zwei Möglichkeiten: Man kann das sogenannte Puffermodell nutzen, wonach dann, wenn einsechster Mitarbeiter eingestellt wird, wenn also dieGrenze von fünf überschritten wird, der erste Arbeitneh-mer quasi in den Kündigungsschutz hineinwächst. DasProblem ist unter Umständen, dass das schwierig zu kal-kulieren ist und dass Arbeitsgerichte Schwierigkeiten beider Umsetzung haben. Deswegen hat der Wirtschafts-und Arbeitsminister ein anderes Modell entwickelt, dasvorsieht, dass die Zahl derjenigen, die befristet einge-stellt werden – Sie kennen die diesbezüglichen Regelun-gen –, und die Zahl derjenigen, die als Leih- und Zeitar-beiter eingestellt werden, nicht auf die Obergrenzen fürdie Betriebe angerechnet werden. Mein Eindruck ist,dass dies das wirkungsvollere, das bessere Modell ist.Deswegen wird es auch umgesetzt werden.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Aber das wird nicht reichen. Man muss das im Zusam-menhang sehen.

Darüber hinaus werden wir – Sie sollten das durchausin Kumulation sehen – eine wahlweise Abfindungsre-gelung bei betriebsbedingten Kündigungen einführen.Im Falle solcher Kündigungen soll der Arbeitnehmerzwischen der Klage auf Weiterbeschäftigung und einergesetzlich definierten und festgelegten Abfindungsrege-lung wählen können.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Schließlich werden wir die Sozialauswahl so umge-stalten, dass auch in wirtschaftlich schwierigen Zeitendie Leistungsträger unter den Beschäftigten im Unter-nehmen gehalten werden können. Statt der Sozialaus-wahl nur nach starren Kriterien wie Alter oder Dauer derBetriebszugehörigkeit sollen in Zukunft die Prioritätenauch direkt zwischen Arbeitnehmervertretern und Ar-beitgebern erarbeitet und verbindlich gemacht werden.Das erhöht die Planungssicherheit für die Betriebe undsenkt die Hürde für Neueinstellungen.

Dieses Ziel verfolgen wir auch mit einer weiterenMaßnahme. Für Existenzgründer werden wir die maxi-male Befristung von Arbeitsverhältnissen auf vier Jahreverdoppeln. Existenzgründer werden zudem in den ers-

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ten vier Jahren von den Pflichtbeiträgen an die Hand-werks- und Industrie- und Handelskammern freigestellt.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf des Abg. FriedrichMerz [CDU/CSU])

Abgerundet wird diese Strategie für mehr Beschäfti-gung durch Maßnahmen zur Bekämpfung der Schwarz-arbeit, die immer noch Zuwachsraten hat, die uns allebeschämen müssen.

(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Trostlos!)

Natürlich ist es ein Gebot der Moral und der Solidarität,Schwarzarbeit gesellschaftlich zu ächten, es ist aber auchein Gebot der gesellschaftlichen und ökonomischen Ver-nunft. Wir haben bereits durch die Hartz-Reform legaleBeschäftigung attraktiver gemacht.

Für unsere Volkswirtschaft sind Konzerne und Groß-unternehmen gewiss wichtig. Aber der Motor desWachstums ist und bleibt der Mittelstand.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Michael Glos [CDU/CSU]:Richtig! Wo er Recht hat, hat er Recht!)

Mittelständische Unternehmen klagen über hohe Lohn-nebenkosten und über bürokratische Vorschriften. Des-halb werden wir kleine Betriebe künftig deutlich besserstellen. Wir werden das Steuerrecht für Kleinstbetrieberadikal vereinfachen, die Buchführungspflichten redu-zieren und auch damit die Steuerbelastung kräftig sen-ken.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zurufe von der CDU/CSU)

Mit dem Small Business Act verbessern wir die Start-bedingungen in die Selbstständigkeit.

(Michael Glos [CDU/CSU]: Reden Sie Deutsch!)

Wer sich selbstständig macht und damit für sich und an-dere Arbeitsplätze schafft, der hat unsere Anerkennungund unsere politische Unterstützung.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es darf nicht sein – auch das gilt es klar zu machen –,dass Unternehmensgründer und viele kleinere Unterneh-men inzwischen mehr Zeit für ihre Bankengesprächeaufwenden als für die Entwicklung und Vermarktung ih-rer Produkte.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir müssen in diesem Zusammenhang auch deutlichmachen, dass ungeachtet von Schwierigkeiten gerade imFinanzierungssektor – Schwierigkeiten übrigens, dieauch durch Managementfehler in diesem Bereich ent-standen sind und nicht durch die Politik –

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

die in diesem Markt tätigen Institute ihre eigentlicheAufgabe, nämlich nicht zuletzt die mittelständischeWirtschaft mit Finanzierungsmöglichkeiten zu versor-gen, besser wahrnehmen müssen, als das in der letztenZeit der Fall gewesen ist.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Bundesregierung, die staatlichen Institutionen kön-nen nicht an die Stelle der privaten Finanzierungsinsti-tute treten. Sie können nur ergänzend tätig werden. Des-halb haben wir mit dem Programm „Kapital für Arbeit“und den so genannten Nachrangdarlehen, die bei der Be-wertung der Kreditwürdigkeit wie Eigenkapital behan-delt werden können, die Kreditbedingungen für dieUnternehmen verbessert. Aber die langfristigen Refinan-zierungsmöglichkeiten müssen durch die privaten Insti-tutionen dargestellt werden.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es wäre ein Fehler, davon auszugehen, dass Entbüro-kratisierung und mehr Flexibilität immer nur von der ei-nen Seite der Gesellschaft eingefordert werden könntenund werden dürften. Nein, wir müssen auch das Hand-werksrecht modernisieren und so verschlanken, damites im Handwerk wieder mehr Existenzgründungen gibt,mehr Arbeitsplätze entstehen und die, die es gibt, etwadurch erleichterte Betriebsübernahmen besser gesichertwerden können, als das in der Vergangenheit der Fallwar.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich will in diesem Zusammenhang drei mir besonderswichtige Punkte ansprechen:

Erstens. In den Bereichen, wo es auf das Qualitätssie-gel des Meisterbriefes besonders ankommt, soll undmuss er auch künftig erhalten bleiben. Das sind alle Be-reiche, in denen eine unsachgemäße Ausübung Gefahrenfür die Gesundheit oder das Leben anderer verursachenkönnte. Ich weiß, dass das schwer abzugrenzen seinwird; aber es ist notwendig, auf diesem Gebiet endlichzu Veränderungen zu kommen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Zweitens. Tüchtigen und erfahrenen Gesellen wollenwir künftig den Aufbau einer selbstständigen Existenzerleichtern.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Nach zehn Jahren Berufstätigkeit sollen sie einenRechtsanspruch auf die selbstständige Ausübung ihresHandwerks erhalten.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Drittens. Zwar nicht innerhalb einer GmbH, aber alsselbstständiger Einzelunternehmer braucht der Chef ei-nes Handwerksbetriebs einen Meisterbrief. Künftig wird

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es ausreichen, wenn er einen Meister in seinem Hand-werksbetrieb beschäftigt. Auch das schafft mehr Flexibi-lität und erleichtert Firmenübernahmen, was dringendnotwendig ist.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Widerspruch bei der CDU/CSU)

– Sie sollten einmal zuhören.

(Volker Kauder [CDU/CSU]: Es lohnt ja gar nicht bei Ihnen!)

Ich habe Ihnen klar gesagt, wo es geht und wo es bishernicht geht: In einer GmbH hat man bisher keine Pro-bleme. Da gilt das, was ich gesagt habe. In einem Einzel-unternehmen gilt das bisher nicht.

(Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Falsch! Dasind Sie schlecht informiert, Herr Bundeskanz-ler!)

Also werden wir das auch für die Einzelunternehmenmöglich machen, weil das sinnvoll ist, und so geschiehtes auch.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Arbeitsrecht und Tarifverträge ergänzen sich inDeutschland zu einem dichten Netz geregelter Arbeits-beziehungen. Das schafft Sicherheit. Aber es ist häufignicht so flexibel und ausdifferenziert, wie es in einerkomplexen Volkswirtschaft im internationalen Wettbe-werb sein muss. Die Verantwortlichen – Gesetzgeber wieTarifpartner – müssen in Anbetracht der wirtschaftlichenSituation und der Arbeitsmarktlage ihre Gestaltungs-spielräume nutzen, um Neueinstellungen zu erleichtern.Dazu ist es unabdingbar, dass in den Tarifverträgen Opti-onen geschaffen werden, die den Betriebspartnern Spiel-räume bieten, Beschäftigung zu fördern und zu sichern.

Übrigens, in der Praxis gibt es – auch das gilt es ein-mal klar zu machen – eine Vielzahl erfolgreicher Bei-spiele für solche Öffnungsklauseln auf dem Boden desgeltenden Tarifvertragsrechtes. Diese Erfolge sollte mannicht kleinschreiben.

(Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Es läuft ja auch alles prima!)

Diese Erfolge haben Arbeits- und Ausbildungsplätze ge-schaffen und die Wettbewerbsfähigkeit der Betriebe ver-bessert.

Dabei ist klar, dass Betriebsvereinbarungen zu Stand-ort- und Arbeitsplatzsicherung, die auf der Grundlagevon Öffnungsklauseln getroffen werden, dem Vorbehaltder Zustimmung durch die Tarifvertragsparteien unter-liegen.

(Dr. Norbert Lammert [CDU/CSU]: Flasche leer!)

Es muss aber auch klar sein, dass uns dogmatischeUnbeweglichkeit ebenso wenig voranbringt wie aggres-sive Angriffe auf das Tarifsystem.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

In den Tarifverträgen muss durch geeignete Regelungenein entsprechend flexibler Rahmen geschaffen werden.Das ist die Herausforderung für die Tarifpartner und esist auch ihre Verantwortung. Art. 9 des Grundgesetzesgibt der Tarifautonomie Verfassungsrang. Aber das istnicht nur ein Recht, sondern auch eine Verpflichtung;denn Art. 9 verpflichtet die Tarifparteien zugleich, Ver-antwortung für Wirtschaft und Gesellschaft insgesamt zuübernehmen. Hier kann und darf niemand Einzelinteres-sen über die gesamtgesellschaftliche Entwicklung stel-len.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich erwarte also, dass sich die Tarifparteien entlangdessen, was es bereits gibt – aber in weit größerem Um-fang –, auf betriebliche Bündnisse einigen, wie das invielen Branchen bereits der Fall ist. Geschieht das nicht,wird der Gesetzgeber zu handeln haben.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich möchte zum Thema Arbeitsmarkt unmissver-ständlich klarstellen: Wir werden das Recht auf Mitbe-stimmung nicht antasten

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

und wir werden auch die Flächentarifverträge nicht ab-schaffen. Der Flächentarifvertrag schafft, wenn er flexi-bel gehandhabt wird, gleiche Konkurrenzbedingungen ineiner Branche. Er gibt den Betrieben und den Arbeitneh-mern Planungssicherheit und zwingt zur beständigenSteigerung der Produktivität.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Mir ist noch etwas wichtig – auch das gehört in einesolche Debatte –: Ohne mutige und verantwortungsbe-wusste Betriebsräte – das gilt es zu unterstreichen – wür-den heute viele Betriebe nicht mehr existieren, meineDamen und Herren.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Gerade in schwierigen Zeiten sind es doch Betriebs-räte und auch Gewerkschaften, die ihren Beitrag dazuleisten, dass Betriebe weiter arbeiten können. Natürlichmüssen sich die Gewerkschaften bewegen und erneuern.Aber – auch das gilt es in einer solchen Debatte einmalklar zu machen – sie haben so viel für Wohlstand und so-ziale Sicherheit geleistet, dass die Beleidigungen, dieman gelegentlich aus den Reihen von CDU/CSU undFDP hört,

(Zurufe von der CDU/CSU: Oh!)

eine geschichtslose Unverschämtheit sind.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

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Vielleicht sollte man in diesem Zusammenhang ineine bestimmte Richtung des Hauses noch einmal daranerinnern, dass die weitaus größte Zahl unternehmeri-scher Misserfolge nicht die Gewerkschaften und nichtdie Betriebsräte zu verantworten haben, sondern

(Zurufe von der CDU/CSU: Sie!)

dass sie auch – das gehört ebenfalls in eine solche De-batte, auch wenn Sie das vielleicht nicht hören mögen –auf krasse kaufmännische und strategische Fehler imManagement zurückgehen. Diese Fehler werden dannoft genug noch mit millionenschweren Abfindungen ver-gütet.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Wolfgang Gerhardt[FDP]: Unter Zustimmung der Gewerkschaf-ten! Was hat denn der Herr Zwickel geschrie-ben? – Zurufe von der CDU/CSU)

– Mein Eindruck ist, dass Sie das gern unter den Teppichkehren würden.

(Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Nein, im Ge-genteil!)

So wichtig es auf der einen Seite ist, Flexibilität zu for-dern, so wichtig ist es auf der anderen Seite, deutlich zumachen, dass sich auch in der bundesdeutschen Unter-nehmenskultur etwas bewegen und verändern muss.Auch dafür wird zu sorgen sein.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich kann Ihnen gleich Beispiele liefern.

(Volker Kauder [CDU/CSU]: Telekom! – Michael Glos [CDU/CSU]: Zwickel!)

Wir haben gemeinsam mit den Arbeitgeberverbändenund den Kammern für den Erhalt des dualen Ausbil-dungssystems gestritten – übrigens ein Ausbildungssys-tem, um das uns noch immer viele Länder der Welt be-neiden.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Die Bundesregierung hat, wie die Länder und die Kom-munen im Übrigen auch, mit diversen Förderprogram-men dafür gesorgt, dass junge Menschen eine Chanceauf Ausbildung und Arbeit bekommen. Wir waren unsmit den Verbänden der Wirtschaft einig, dass die Verant-wortung dafür, dass jede und jeder am Anfang ihres oderseines Berufslebens nicht in Arbeitslosigkeit fällt, nichtallein bei der Politik abgeladen werden kann, sonderndass diese Verantwortung auch bei den Betrieben liegt.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Aber inzwischen fehlen schon wieder rund 110 000 be-triebliche Ausbildungsplätze – Ausbildungsplätze, dienicht von der Politik geschaffen werden können. 30 Pro-zent aller Unternehmen bilden aus, viele davon über Be-darf, und ich bin dankbar dafür.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Aber 70 Prozent der Unternehmen entziehen sich ihrersozialen und übrigens auch ökonomischen Verantwor-tung. Sie sägen damit an dem Ast, auf dem sie selber sit-zen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es gehört zum Kernbestand der sozialen Marktwirt-schaft, dass sich die unternehmerische Verantwortungnicht nur auf ein gutes Jahresergebnis erstreckt. Unter-nehmer und Unternehmen tragen auch gesellschaftlicheVerantwortung. Diese Verantwortung zeigt sich zunächstund vor allem im Engagement für diejenigen, die amAnfang ihres Berufslebens stehen. Das ist ein zentralesGebot der Wirtschaftsethik, aber auch der blanken Nütz-lichkeit für unsere Gesellschaft.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Der Wirtschaft kann nicht erlaubt werden, sich zu-rückzuziehen, sondern sie muss zu der getroffenen Ver-abredung zurückkehren.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Diese lautet: Jeder, der einen Ausbildungsplatz suchtund ausbildungsfähig ist, muss einen Ausbildungsplatzbekommen! Davon können wir nicht abweichen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ebenso wie ich die Forderung an die Tarifparteien ge-richtet habe, Öffnungsklauseln zu schaffen, damit be-triebliche Bündnisse entstehen können, muss ich dieForderung an die Wirtschaft richten, die gegebene Zu-sage einzuhalten. Wenn nicht, werden wir auch in die-sem Bereich zu einer gesetzlichen Regelung kommenmüssen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Jeder weiß, ich bin kein Freund der Ausbildungs-abgabe. Aber ohne eine nachhaltige Verbesserung derAusbildungsbereitschaft und ohne die Übernahme derzugesagten Verantwortung für diesen Bereich ist dieBundesregierung zum Handeln verpflichtet und sie wirddas auch tun.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dazu gehört aber auch: Wer bereit ist auszubilden,dem darf das nicht deshalb versagt werden, weil er be-stimmte formale Voraussetzungen nicht erfüllt.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Deshalb werden wir die entsprechenden Regelungenso umgestalten, dass jeder, der einen Betrieb mindestensfünf Jahre lang erfolgreich geführt hat, auch ausbildendarf.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Peter Ramsauer [CDU/

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CSU]: Dann schafft doch gleich den Meister-brief ab!)

Genauso klar muss sein: Junge Menschen haben einRecht auf neue Chancen, auf Ausbildung und diesesRecht muss ihnen die Gesellschaft gewähren. DiesemRecht – das muss genauso klar festgestellt werden – ent-spricht allerdings die Pflicht, zumutbare Angebote auchanzunehmen. Geschieht das nicht, wird das zu Sanktio-nen führen müssen. Wir werden dafür sorgen, dass dasfunktioniert.

Solidarität, der Schutz der Schwächeren und die Ab-sicherung gegen Lebensrisiken sind nicht nur ein Verfas-sungsauftrag. Sie sind nach meiner festen Überzeugungdas Fundament unserer Gesellschaftsordnung.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Nicht erst seit den letzten Wochen erleben wir eineganz und gar unsinnige Debatte, in der so getan wird, alsstünden wir vor der Alternative, den Sozialstaat abzu-schaffen oder so zu erhalten, wie er ist. Wer angesichtsradikal veränderter Bedingungen der ökonomischen Ba-sis unserer Gesellschaft die Frage so stellt, der hat bereitsverloren.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es liegt doch auf der Hand, dass eine Gesellschaft wiedie unsere eine wirklich gute Zukunft nur als Sozialstaathaben kann. Anders als in einem Sozialstaat lässt sichZusammenarbeit in komplexen Ordnungen, in einer Ge-sellschaft, in der sich der Altersaufbau, die Art undDauer der Arbeitsverhältnisse, aber auch die kulturellenGegebenheiten dramatisch verändern, gar nicht organi-sieren. Aber wir müssen aufhören – das ist der Kern des-sen, was wir vorschlagen –, die Kosten von Sozialleis-tungen, die der Gesellschaft insgesamt zugute kommen,immer nur und immer wieder dem Faktor Arbeit aufzu-bürden.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Gewiss: Wir werden erhebliche Einsparungen durchUmstrukturierungen im System und durch Abbau vonBürokratie erreichen. Aber es wird unausweichlich nötigsein, Ansprüche und Leistungen zu streichen, Ansprücheund Leistungen, die schon heute die Jüngeren über Gebührbelasten und unserem Land Zukunftschancen verbauen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Menschen in den Betrieben und Büros erwarten,dass wir die Belastung durch Steuern und Abgaben sen-ken. Ich betone noch einmal: Mit den Stufen 2004 und2005 werden wir das tun. Durch unsere Maßnahmen zurErneuerung der sozialen Sicherungssysteme senken wirdie Lohnnebenkosten. Das ist gewiss nicht immer ein-fach und die Maßnahme, die wir zusätzlich durchführenmüssen, ist es erst recht nicht. Wir werden das Arbeits-losengeld für die unter 55-Jährigen auf zwölf und für dieüber 55-Jährigen auf 18 Monate begrenzen, weil diesnotwendig ist, um die Lohnnebenkosten im Griff zu be-

halten. Es ist auch deswegen notwendig, um vor demHintergrund einer veränderten Vermittlungssituation Ar-beitsanreize zu geben.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Helle Begeisterung bei den Roten!)

– Natürlich gibt es darüber keine Begeisterung. Daskann doch gar nicht anders sein und das habe ichüberhaupt nicht anders erwartet. Es gibt gelegentlichMaßnahmen, die ergriffen werden müssen und die keineBegeisterung auslösen, übrigens auch bei mir nicht.Trotzdem müssen sie sein. Deswegen werden wir sieauch umsetzen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Um auf die Rente zurückzukommen: Die Reform derRentenversicherung im Jahr 2001 war sicherlich eineder wichtigsten rentenpolitischen Entscheidungen seitder Einführung der dynamischen Rente 1957. Weil darü-ber so viel und so viel Unsinniges verbreitet worden ist,will ich sagen: Bis Ende vergangenen Jahres wurden imBereich der individuellen Altersvorsorge 3,4 MillionenVerträge abgeschlossen; bei der betrieblichen Altersvor-sorge waren es etwa 2 Millionen. Das sind, bezogen aufdie 35 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmerin unserem Land, immerhin 15 Prozent.

(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Das ist nicht genug – keine Frage. Aber nach einem Jahrist das eine ganze Menge.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir müssen uns endlich einmal entscheiden, ob wir ei-ner Reformmaßnahme in einem schwierigen Umfeld, ineinem häufig rechtlich und auch politisch sehr vermachte-ten Umfeld Zeit geben wollen, ihre Wirkung zu entfalten,oder ob wir uns nur dranmachen wollen, jeden Ansatz vonReformen gleich wieder zu zerreden, weil er dem einen zuweit und dem anderen nicht weit genug geht.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Gleichwohl gilt, bezogen auf dieses System, dass wirin unseren Annahmen zu pessimistisch und zu optimis-tisch zugleich waren: zu optimistisch, was die Beschäfti-gungsentwicklung anging, und zu pessimistisch im Be-zug auf die durchschnittliche Lebenserwartung, dieglücklicherweise – aber mit Problemen für die Alters-vorsorge – immer größer wird. Aus diesen beiden Grün-den ist es nötig, bei der Rentenversicherung nachzujus-tieren. Dabei muss der Grundsatz beibehalten werden,dass die Renten für die alten Menschen so sicher wie nurirgendwie möglich gemacht werden und die Beiträge be-zahlbar bleiben. Das heißt auch, dass wir noch in diesemJahr von Herrn Rürup ergänzende Vorschläge erwarten,wie die Rentenformel angesichts dieser Veränderungenneu zu fassen und entsprechend anzupassen ist.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

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2490 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2003

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Bundeskanzler Gerhard Schröder

Ich denke, wir sind uns klar darüber, dass alle, aberauch wirklich alle in der Gesellschaft einen Beitrag leis-ten müssen. Es betrifft natürlich die Mitglieder der Bun-desregierung und auch andere. Deshalb wird es – keinZweifel – auch für die Gehälter der Bundesminister undder Staatssekretäre eine erneute Nullrunde geben.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ich denke, es ist selbstverständlich, dass das politischePersonal von Einschnitten nicht verschont bleiben kann.

Noch einen Aspekt: Wie ich höre, haben sich die Län-der darauf verständigt, dass auch die Beamten einen Bei-trag zur Erneuerung des Sozialstaates und zur Konsoli-dierung der Länderhaushalte leisten sollen und leistenwerden. Der Bund, der hier die Gesetzgebungsarbeit zumachen hat, ist durchaus bereit, auf die Vorschläge, diedie Länder untereinander offenbar vereinbart haben, po-sitiv einzugehen. Denn klar ist: Auch aus diesem Bereichheraus muss es Solidarität geben.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es gibt kaum einen Bereich der Politik, den die Men-schen mit so hohen Erwartungen, aber auch mit so gro-ßen Sorgen betrachten wie die Reformen des Gesund-heitswesens. In der Tat, die Reform der gesetzlichenKrankenversicherung ist der wichtigste, auch notwen-digste Teil der innenpolitischen Erneuerung, weil wir nurmit einer Reform das hohe Niveau der medizinischenVersorgung für die Zukunft werden sichern können.Kein Zweifel: Unser heutiges System der gesetzlichenKrankenversicherung mit mehr als 70 Millionen Mitglie-dern ist immer noch enorm leistungsfähig. Qualität undStandards im deutschen Gesundheitswesen sind im inter-nationalen Vergleich immer noch vorbildlich.

Aber Krisenzeichen auch in diesem System sind un-übersehbar. Einnahmen und Ausgaben der Krankenkas-sen entwickeln sich weiter auseinander. Vor allem gilt:Die Strategie der Kostendämpfung ist eindeutig an ihreGrenzen gestoßen. Dabei werden 20 Prozent der Kostendurch Über- und Fehlversorgung verursacht. Jeder kenntdas und jeder hat Beispiele vor Augen. Wir werden des-halb Änderungen im Interesse der Patienten durchsetzen,auch und gerade weil das deutsche Gesundheitssystemverkrustet und in einer Weise vermachtet ist wie kaumein anderes gesellschaftliches System.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich hoffe sehr, dass wir in diesem Hohen Haus Einig-keit erzielen können: Das Gefühl einer gemeinsamenVerantwortung im Gesundheitssystem ist nahezu ver-schwunden. Viele agieren nach dem Grundsatz des ra-schen, auch des bedenkenlosen Zugriffs. Eine Mentalitätder Selbstbedienung hat das Gefühl der Solidarität ver-drängt. Deshalb sage ich: Hier ist auch in den Haltungenaller Akteure ein Umdenken notwendig. Wir haben Ein-nahmeverluste aufgrund hoher Arbeitslosigkeit; der me-dizinische Fortschritt, der an sich erfreulich ist, wird dieKosten im Gesundheitssektor weiter nach oben treiben.

Zudem steigt die Zahl der älteren Mitbürgerinnen undMitbürger weiter an, die im Durchschnitt weniger ein-zahlen – das kann auch nicht anders sein –, aber weitausmehr Leistungen in Anspruch nehmen.

Anderen Gesellschaften ging oder geht es ganz ähn-lich. Dabei zeigt sich die Alternative: Entweder wir las-sen die Entwicklung treiben – dann bleibt nur die Ein-schränkung medizinischer Leistungen oder eine vomAlter abhängige Zuteilung von medizinischer Versor-gung – oder wir entschließen uns zu Reformen, die dashohe Gut Gesundheit für alle finanzierbar halten. Dererste Weg ist nicht der Weg, den wir gehen wollen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Für uns bleibt es beim Grundsatz: Jede und jeder erhal-ten die notwendige medizinische Versorgung, und zwarunabhängig von Alter und Einkommen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das erwarten die Menschen von uns. Sie erwarten auch,dass wir am Solidarprinzip in der Krankenversicherungprinzipiell festhalten.

Zur Erneuerung des Gesundheitswesens brauchen wiraber einschneidende Kurskorrekturen. Ein Teil der not-wendigen Maßnahmen wird im zuständigen Ministeriumvorbereitet. Zum Finanzierungsteil wird die Rürup-Kommission bis Mai ihre Vorschläge vorlegen.

Ein paar wesentliche Punkte sind schon jetzt zu nen-nen. Erfolg werden wir nur haben, wenn zwei Ziele un-strittig sind: hohe Qualität der Gesundheitsversorgungund kostenbewusstes Verhalten von Ärzten, Krankenkas-sen, Kliniken, Apothekern, Pharmaunternehmen, aberauch der Versicherten.

Der Staat muss dabei helfen, den Abbau von Verkrus-tungen zu ermöglichen. Er muss mehr Wettbewerb imSystem zulassen und fördern

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Hans Michelbach [CDU/CSU]: Weiße Salbe!)

und kostentreibende Monopolstrukturen beseitigen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Hierzu gehört auch das Vertragsmonopol der Kassen-ärztlichen Vereinigungen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dieses Vertragsmonopol hat sich überlebt. Wir werdenes den Krankenkassen deshalb ermöglichen, Einzelver-träge mit den Ärzten abzuschließen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Auf der anderen Seite hat ein System mit 350 unter-schiedlichen Krankenkassen ebenfalls Modernisierungs-bedarf.

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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2003 2491

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Bundeskanzler Gerhard Schröder

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Klar gesagt: So viele Krankenkassen werden es nichtbleiben können. Wir werden hier auf die Schaffung über-schaubarer und leistungsfähiger Strukturen dringen.

Qualitätssicherung wird die zweite große Ressourcesein, die wir ausschöpfen werden. Die Sicherung vonQualität gehört zu den Schlüsselaspekten einer wirk-lichen Reform der gesetzlichen Krankenversicherung.Wir brauchen klare Standards; diese werden wir schaf-fen.

Darüber hinaus werden wir – das ist für vieleschmerzlich – den Leistungskatalog überarbeiten undLeistungen streichen. Wir müssen neu bestimmen, waskünftig zum Kernbereich der gesetzlichen Krankenversi-cherung gehört und was nicht.

Es gibt Vorschläge, den Zahnersatz oder gar die Zahn-behandlung nicht mehr von den Krankenkassen zahlenzu lassen. Ich halte das nicht für richtig.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir haben ein System, das Eigenvorsorge bei derZahnpflege belohnt. Das soll so bleiben. Ich möchtenicht, dass man den sozialen Status der Menschen wie-der an ihren Zähnen ablesen kann.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich habe mich lange mit einer Forderung auseinandergesetzt, die von vielen Seiten erhoben worden ist, näm-lich der Forderung, private Unfälle aus dem Leistungs-katalog der gesetzlichen Krankenversicherung heraus-zunehmen. Dies ist eine Forderung, die wirklich eineernsthafte Debatte lohnt. Ich zweifle aber daran, ob dieseForderung umgesetzt werden sollte,

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

weil es fraglich ist, ob eine trennscharfe Abgrenzungzwischen krankheits- und unfallbedingten Leiden über-haupt möglich ist.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ich zweifle auch daran, ob die an sich wohlfeile For-derung, Extremsportarten aus dem Leistungskatalog he-rauszunehmen, viel bringt. Zudem ist auch hier fraglich,ob Abgrenzungen möglich sind.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Mir ist beispielsweise nicht einsichtig, warum Sport-unfälle insgesamt einer besonderen Versicherungs-pflicht unterworfen werden sollten. Damit würden wirvor allem den Breitensport treffen,

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

einen Bereich, der zur Gesundheitsförderung und zurKrankheitsprävention beiträgt. Er ist zudem gerade fürdie Entwicklung von Kindern und Jugendlichen sehrwichtig.

Anders beurteile ich die Frage der privaten Vorsorgeim Hinblick auf das Krankengeld. Hier handelt es sichum einen klar abgrenzbaren Kostenblock, der auch fürdie Zukunft überschaubar bleibt. Die Kostenbelastungfür den Einzelnen durch eine private Versicherung bliebebeherrschbar. Medizinisch notwendige Leistungen wür-den nicht berührt.

Außerdem werden wir das tun müssen, was wir imRahmen der Rentenstrukturreform vorgemacht haben:die Befreiung der gesetzlichen Krankenversicherung voneiner Reihe so genannter versicherungsfremder Leistun-gen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Dazu gehört zum Beispiel das Mutterschaftsgeld, das ausdem allgemeinen Steueraufkommen finanziert werdenmuss.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir brauchen, glaube ich, auch ein neues Nachdenken– das will ich hier sehr deutlich sagen – über die öffent-liche Debatte über Zuzahlungen und Selbstbehalte. For-men von Eigenbeteiligungen sind im geltenden Systemlange bekannt. Sie haben Steuerungswirkung.

(Zuruf von der FDP: Ach nein!)

Sie halten Versicherte zu kostenbewusstem Verhalten an.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten derCDU/CSU – Michael Glos [CDU/CSU]: Siehaben Seehofer diskriminiert! – Volker Kauder[CDU/CSU]: Schäbig! – Dr. Norbert Lammert[CDU/CSU]: Der Groschen ist zu spät gefal-len! – Weitere Zurufe von der SPD und derCDU/CSU)

– Herr Glos, hören Sie einmal einen Moment zu! – Ichsage das doch, weil wir in diesem Bereich ohnehin nurweiterkommen, wenn die Mehrheit dieses Hauses unddie Mehrheit des Bundesrats entschlossen sind, einedurchgreifende Reform auch durchzusetzen; sonst gehtes ja nicht.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Früher habt ihr euch immer verwei-gert!)

Weil das so ist und weil ich weiß, dass Sie ganz be-stimmte – für Sie elementare – Forderungen aufgestellthaben, macht es doch aus meiner Sicht – ich will einesolche Reform – keinen Sinn, so zu tun, als seien die füralle Zeiten indiskutabel. Das brächte doch niemandenweiter.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

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2492 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2003

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Bundeskanzler Gerhard Schröder

Weil ich weiterkommen will, werde ich die Punkte, diefür Sie existenziell sind, zumindest in die Diskussioneinbeziehen müssen; das kann doch nur vernünftig sein.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wenn Sie sagen, das sei eine Veränderung in der ei-nen oder anderen Position, dann gebe ich Ihnen Recht.Ich stehe doch hier, weil es Veränderungen geben muss,weil das die angemessene Reaktion auf veränderte Zu-stände in unserer Gesellschaft ist.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Gerade weil Eigenverantwortung gestärkt werdenmuss, sollten wir – ich komme jetzt zu den Instrumenten –Instrumente wie differenzierte Praxisgebühren undSelbstbehalte nutzen. Menschen mit geringem Einkom-men, Kinder, auch chronisch Kranke – auch darüber sindwir uns, glaube ich, einig – müssen davon ausgenommenwerden.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Durchsetzen muss sich schließlich die Erkenntnis,dass sich Gesundheitspolitik nicht auf die Heilung vonKrankheiten beschränken darf, sondern dass der Präven-tion Vorrang eingeräumt werden muss.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir sollten uns dabei am Vorbild der skandinavischenLänder orientieren, die durch systematische Förderunggesundheitsbewussten Verhaltens wichtige Beiträge zurKostensenkung im Gesundheitswesen erzielt haben.

(Beifall der Abg. Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Nicht ansatzweise ausgeschöpft scheinen mir auch dieReserven zu sein, die in einer Modernisierung der Kom-munikationstechnologie in diesem Bereich liegen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Der elektronische Patientenausweis und die elektroni-sche Krankenakte sind nicht nur technologisch an-spruchsvolle Projekte, die wir bis spätestens 2006 funk-tionsfähig haben wollen; sie werden auch dazubeitragen, kostenaufwendige Doppel- und Mehrfachver-sorgung zu vermeiden und auf diese Weise die Qualitätvon Behandlungen zu erhöhen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, Sie verstehen, dass ich mitbezifferten Prognosen vorsichtig bin.

(Michael Glos [CDU/CSU]: Das kann man verstehen!)

Durch die Umsetzung der vorgeschlagenen ordnungs-und strukturpolitischen Maßnahmen können wir es

schaffen, die Beiträge zur Krankenversicherung unter13 Prozent zu drücken.

(Lachen des Abg. Friedrich Merz [CDU/CSU])

Ich habe das, was ich „Agenda 2010“ genannt habe,vorgestellt. Ich habe beschrieben, was wir leisten müs-sen, um unsere Schwierigkeiten zu überwinden – Schrittfür Schritt, gar keine Frage, aber wir müssen das an-packen – und Deutschlands Stärke neu zu entwickeln. Un-ser Land hat – daran kann doch kein Zweifel bestehen –große Potenziale, Potenziale, die wir durch eine gemein-schaftliche Anstrengung wecken können und weckenmüssen.

(Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Aber nicht mit dieser Regierung!)

Wir verlangen der Gesellschaft heute etwas ab, aber wirtun es, damit den Menschen neue Chancen eingeräumtwerden, Chancen, ihre Fähigkeiten zu entwickeln undHöchstleistungen zu erbringen. Diese Chancen wollenwir uns erarbeiten. Das heißt zuerst: Chancen für Bil-dung und Investitionen in Forschung und Entwick-lung.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Andere Länder haben uns vorgemacht, dass weit rei-chende Strukturreformen mit verstärkten Investitionen inBildung und Forschung einhergehen müssen, wenn mandauerhaft Erfolg haben will. Aber Folgendes gilt es mit-einander zu überwinden: In keinem vergleichbaren In-dustrieland entscheidet die soziale Herkunft in so hohemMaße über die Bildungschancen wie in Deutschland.Das darf nicht so bleiben.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es darf nicht so bleiben, dass in Deutschland die Chancedes Gymnasialbesuchs für einen Jugendlichen aus derOberschicht sechs- bis zehnmal so hoch ist wie für einenJugendlichen aus einem Arbeiterhaushalt.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD – MichaelGlos [CDU/CSU]: Was ist eine „Ober-schicht“?)

Meine Damen und Herren, es ist ein Skandal, dass je-der vierte ausländische Schüler ohne Schulabschlussbleibt. Auch das müssen wir im Interesse der jungenMenschen, aber auch im Interesse der Kohäsion unsererGesellschaft ändern.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Laurenz Meyer [Hamm][CDU/CSU]: Die auf der Bundesratsbank sinddafür verantwortlich! Da sitzen Ihre Genos-sen!)

Wir sollten bei allem Respekt vor den unterschied-lichen Kompetenzen, die ich kenne und respektiere, zueiner nationalen Gesamtanstrengung kommen, um Stan-dards zu setzen

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Bundeskanzler Gerhard Schröder

(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Bitte nicht Ihre Standards!)

und die Defizite, die ich beschrieben habe, zu überwin-den. Wir brauchen das Angebot einer Ganztagsbetreuung– anders wird es nicht zu machen sein –, die die pädago-gischen Chancen dieser Schulform wirklich nutzt. Wirbrauchen – nicht zuletzt aus ökonomischen Gründen –ein neues Interesse an naturwissenschaftlich-mathemati-schen Fächern.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es macht Sinn, wenn sich die Bundesregierung und dieMinisterpräsidenten der Länder auf eine gemeinsameStrategie in diesem Bereich verständigen und sie danngemeinsam – jeder in seinem Bereich – materiell unter-legen.

Wir werden unser Wohlstandsniveau nur dann haltenkönnen, wenn wir in dieser schwierigen wirtschaftlichenSituation verstärkt in Bildung und Forschung investie-ren.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das war der Grund dafür, warum in der vergangenen Le-gislaturperiode in der Forschungspolitik umgesteuertund der Etat dieses Ministeriums um 25 Prozent erhöhtwurde. Ich weiß, in diesem Jahr haben wir aus Gründender Konsolidierung und der Schwierigkeiten, die Sie allekennen, kürzer treten müssen. Aber das darf nicht sobleiben. Wir werden und müssen die Haushalte der gro-ßen Forschungsinstitutionen in den nächsten Jahren jähr-lich wieder um 3 Prozent erhöhen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es ist klar geworden, dass uns die Ereignisse der ver-gangenen anderthalb Jahrzehnte dazu gezwungen haben,unseren Blick auf uns selbst und auf die sich verän-dernde Welt zu richten. Aber das reicht nicht mehr.Heute ist es für unser Land erforderlich, Strukturen zuverändern.

(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das reicht nicht!)

Wir haben die Pflicht, den nachfolgenden Generatio-nen die Chancen auf ein gutes Leben in einer friedlichenund gerechten Welt nicht durch Unbeweglichkeit zu ver-bauen. Das ist der Grund dafür, dass wir den Mut zu Ver-änderungen brauchen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Unser Land muss wieder zu einem Zentrum der Zuver-sicht in Europa werden – unseretwegen, aber auch Euro-pas wegen.

Ich kann mir vorstellen, dass es in Verbänden und an-derswo viele Neunmalkluge gibt, die bereits unterwegssind, um neue Forderungen zu stellen, noch ehe die be-reits erfüllten Forderungen wirklich umgesetzt wordensind. Ihnen allen sage ich: Nicht alle Probleme, vor de-

nen wir heute stehen, sind erst gestern entstanden. Nichtalle Lösungen, über die wir heute diskutieren, könnenschon morgen wirken. Aber ich bin entschlossen, nichtmehr zuzulassen, dass Probleme auf die lange Bank ge-schoben werden, weil sie kaum überwindbar erscheinen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Lachen bei der CDU/CSUund der FDP)

Meine Damen und Herren, ich will nicht hinnehmen,dass Lösungen an Einzelinteressen scheitern, weil dieKraft zur Gemeinsamkeit nicht vorhanden ist.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir Deutsche können stolz sein auf die Kraft unsererWirtschaft, auf die Leistungen unserer Menschen, aufdie Stärke unserer Nation wie auch auf die sozialen Tra-ditionen unseres Landes.

(Georg Brunnhuber [CDU/CSU]: Nur nicht auf die Regierung!)

Wir haben alles, um eine gute Zukunft für unsere Kinderzu schaffen. Wenn alle mitmachen und alle zusammen-stehen, dann werden wir dieses Ziel erreichen.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Langanhaltender Beifall bei der SPD und demBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Die Abgeord-neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN erheben sich)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort der Kollegin Angela Merkel,CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Dr. Angela Merkel (CDU/CSU):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Bun-deskanzler, ich habe Ihnen 90 Minuten in aller Ruhe zu-gehört. Ich habe Ihnen zugehört, wie Sie sich Schritt fürSchritt relativ mühevoll durch Ihr Referat gearbeitet ha-ben. Auch der Vernunftbeifall, der nur zu erklären ist,weil es bei Ihnen keine Alternativen gibt,

(Widerspruch bei der SPD und dem BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN)

kann nicht darüber hinwegtäuschen: Der große Wurf fürdie Bundesrepublik Deutschland war das mit Sicherheitnicht.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:Ich bin auf Ihre Vorschläge gespannt!)

Sie haben zum großen Teil nur Bekanntes wiederholtund vage Andeutungen gemacht. Aber immer dann,wenn es interessant und spannend wurde, gab es eisigesSchweigen auf Ihrer Seite in diesem Hause.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

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2494 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2003

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Dr. Angela Merkel

Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, dass IhrePolitik, Herr Bundeskanzler, nicht aus dem Verwaltendes Augenblicks herauskommt, aus dem Hetzen von Er-eignis zu Ereignis, dann war es das Theater um diese De-batte.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP – Ludwig Stiegler [SPD]: Nurkein Neid! Von Ihnen hat keiner etwas erwar-tet!)

Es ist mir auch heute nicht ganz klar geworden, wereigentlich aus der Krise herausgeführt werden soll:

(Zuruf von der FDP: Mir auch nicht!)

Sie, Herr Bundeskanzler, oder das Land, die Bundes-republik Deutschland.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Sie haben noch immer nicht verstanden, dass es Situatio-nen im Leben gibt, in denen Reden Silber, Handeln da-gegen Gold ist.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Meine Damen und Herren, nur wenige hundert Metervon hier entfernt, im Bundesrat, hätten Sie heute zeigenkönnen, dass es Ihnen mit einer Debatte, die wirklichzum Fortschritt für Deutschland führt, ernst ist.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Sie hätten das Steuervergünstigungsabbaugesetz zu-rückziehen und sagen sollen, dass Steuererhöhungen ineiner solchen Situation Gift für die Wirtschaft sind. Daswäre ein Zeichen gewesen.

(Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Sehr richtig!)

Dass einige Ihrer Ministerpräsidenten hier sitzen undnicht da, wo das Gesetz beraten wird, zeigt, dass sie dasgenauso sehen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –Franz Müntefering [SPD]: Wieso ist dann derHerr Stoiber hier, Frau Merkel?)

Sie haben dieses Gesetz nicht zurückgezogen. Des-halb sage ich Ihnen voraus, dass wir es tun werden, weiluns Deutschland am Herzen liegt.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wir werden mit unserer Mehrheit im Bundesrat dafürsorgen, dass dieses zentrale Vorhaben Ihrer Regierung,das kontraproduktiv ist, nicht durchkommt; denn wirwollen, dass Ihre Politik in Deutschland nicht länger be-trieben wird und dass unser Land mit oder ohne Sie end-lich wieder nach vorne kommt, Herr Bundeskanzler.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Mir ist nicht ganz klar geworden, ob Sie sich der Di-mension der Krise, in der wir uns befinden, wirklich be-wusst sind.

(Ludwig Stiegler [SPD]: Nein, dafür brauchen wir Sie!)

Herr Bundeskanzler, in den letzten Tagen vor dieserRede haben Sie immer wieder von Opfern gesprochen.Viele, alle und nicht nur wenige müssten Opfer bringen.Ich gebe Ihnen ganz einfach zu bedenken, dass es schonunendlich viele Opfer Ihrer Politik gibt: 4,7 Millio-nen Arbeitslose sind Opfer Ihrer Politik.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –Ludwig Stiegler [SPD]: Rekordhalter sind im-mer noch Sie! Denken Sie mal an die Kohl-Zeit!)

Das knappe Wirtschaftswachstum in diesem Land ist einOpfer Ihrer Politik.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

40 000 Pleite gegangene Firmen sind Opfer Ihrer Politik.Die Kommunen sind Opfer Ihrer Politik.

(Katrin Dagmar Göring-Eckardt [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist vollkommenlächerlich!)

Ich sage Ihnen vor allen Dingen eines – auch das hatin der Rede vollkommen gefehlt –: Zuversicht, Optimis-mus und der Glaube an eine gute Zukunft sind in denvergangenen fünf Jahren in Deutschland verloren gegan-gen. Das ist eines unserer wesentlichen Probleme.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Bei Ihnen!)

Die Krise, in der wir uns befinden – ich glaube, wennwir es nüchtern beschreiben, müssen wir es so nennen –,ist eine Krise der inneren Verfasstheit dieser Bundesre-publik Deutschland.

(Katrin Dagmar Göring-Eckardt [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist eine Krise derCDU!)

Sie ist insbesondere eine Krise der Wirtschafts- und So-zialpolitik, zugleich aber auch eine Krise der histori-schen Ausrichtung unserer Sicherheits- und Außenpoli-tik.

Meine Damen und Herren, wo stehen wir denn heute?Wir müssen es uns noch einmal vergegenwärtigen: Tech-nologie, Digitalisierung und die Informationsgesell-schaft haben diese Welt dramatisch verändert,

(Ludwig Stiegler [SPD]: So etwas! Gut, dassSie das bemerkt haben! – Franz Müntefering[SPD]: Das ist doch nicht neu!)

sie haben zu einer Beschleunigung der Globalisierunggeführt und sie wirken in jede Familie hinein. Unser Le-ben wird sich auch in den nächsten Jahren ändern.

(Ludwig Stiegler [SPD]: Ja, so was, das ist jaaufregend! – Gernot Erler [SPD]: Donnerwet-ter!)

Schauen Sie sich einmal an, wie in den verschiedenenLändern der Welt auf diese Veränderungen reagiertwird.

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Dr. Angela Merkel

(Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Wie reagieren Sie denn? – KatrinDagmar Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Was ist denn Ihre Reaktion?)

Irland ist vom Armenhaus Europas zu einem der prospe-rierendsten Länder geworden. Die USA halten sich seitJahrzehnten in einem überdurchschnittlichen Auf-schwungprozess.

(Katrin Dagmar Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist denn Ihr Konzept? –Gernot Erler [SPD]: Gehen Sie doch rüber!)

China, Hongkong und Taiwan – das alles sind Länder,die die Chancen der Globalisierung nutzen. Wie steht esum Deutschland? In Deutschland – das ist unsere Situa-tion – ist die Zeit scheinbar stehen geblieben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich sage Ihnen ganz selbstkritisch – auch das gehörtdazu –: Vielleicht hat manches auch schon zu unsererRegierungszeit begonnen.

(Jörg Tauss [SPD]: „Vielleicht“?)

Mit Sicherheit hat sich der Prozess in den letzten fünfJahren aber in dramatischer Art und Weise verschlim-mert. Das ist das Problem, über das wir heute zu debat-tieren haben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Deutschland steht zweifellos an einem historischenScheideweg. Wir müssen deshalb sagen, was Politik leis-ten kann und was unser Gestaltungsanspruch ist.

(Christa Nickels [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Ja, was denn? – Albert Schmidt [Ingol-stadt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: SagenSie es doch einmal! – Zurufe von der SPD)

Präsident Wolfgang Thierse:

Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei aller verständli-chen Erregung bitte ich darum, der Rednerin die Chancezu geben, gehört zu werden.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Alles Prole-ten!)

Dr. Angela Merkel (CDU/CSU):

Sie können wirklich davon profitieren, wenn Sie zu-hören.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP – Lachen bei der SPD)

Der Gestaltungsanspruch von Politik kann die Men-schen in diesem Lande nur erreichen, wenn wir unsereZiele klar und eindeutig formulieren. Deshalb sage ichfür die CDU/CSU-Bundestagsfraktion: Ich will, dassDeutschland innerhalb von zwei Legislaturperioden, dasheißt, bis zum Ende dieses Jahrzehnts, bis zum Jahre2010, wieder an der Spitze in Europa steht,

(Hans-Peter Kemper [SPD]: Dann helfen Sie mit!)

und zwar nicht als Selbstzweck, sondern weil es um dieMenschen in diesem Lande geht. Wir wollen an dieSpitze Europas!

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Dazu brauchen wir mehr als irgendeine Agenda. Wirbrauchen einen Erfolgsweg. Wir wollen erreichen, dassDeutschland beim Wachstum unter den ersten drei Län-dern an der Spitze steht. Ich sage ganz konkret: Ich willerreichen, dass Deutschland bis 2010 seinen Bürgern soviel Arbeit verschaffen kann, wie es die Niederländer,die Briten und die Dänen schon heute schaffen. Das sindkeine außereuropäischen, sondern europäische Bei-spiele. Ich will, dass wir für Bildung und Forschung soviel ausgeben, wie es die Finnen schon heute tun. Dasbringt uns wieder an die Spitze Europas.

(Beifall bei der CDU/CSU – Gernot Erler[SPD]: Wie denn? – Siegfried Scheffler [SPD]:Lächerlich, was Sie hier vortragen!)

Uns alle in diesem Hause eint, dass wir nicht wissen,wie die Welt im Jahre 2010 aussieht. Wir wissen aber,dass der Erfolg nur mit einer freiheitlichen, leistungs-orientierten und gerechten Wirtschaftsordnung zu schaf-fen ist. Herr Bundeskanzler, das Wort „Freiheit“ ist pi-kanterweise in Ihrer ganzen Rede nicht ein einziges Malvorgekommen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Ich weiß, dass wir dafür eine nationale Kraftanstren-gung brauchen. Bei allem, was aus unserer Sicht in dierichtige Richtung weist – ich komme in Einzelfällen da-rauf zurück –, sagen war, dass wir mitmachen. Wir bie-ten Ihnen eine nationale Kraftanstrengung an. Sie istmehr als das, was Sie heute hier vorgelegt haben.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Weil wir das wissen, hat unsere Fraktion am10. Februar dieses Jahres einen Dreistufenplan be-schlossen.

(Franz Müntefering [SPD]: Was? Noch einmal! Drei Stufen?)

Wir haben festgelegt, was wir in der ersten Stufe tunmüssen. Wir müssen im Arbeitsmarkt, im Gesundheits-wesen, bei der Zurückziehung der Steuererhöhungen undbei der Entbürokratisierung Sofortmaßnahmen ergreifen.Darauf muss eine zweite Stufe folgen, diese reicht bis2004. Bis dahin müssen wir es schaffen, die sozialenSicherungssysteme wetterfest zu machen. Wir müsseneine Offensive für Forschung und Bildung starten, damitwir endlich die Grundlagen für einen Aufstieg legen.

(Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Konkret!)

Vor uns steht eine weitere schwierige Aufgabe. Ma-chen wir uns nichts vor: All das, was heute hier gesagtwurde, reicht bei weitem nicht aus, um die demographi-

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schen Veränderungen unserer Gesellschaft wirklich zubeschreiben.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Wir brauchen weitere steuerliche Entlastungen. Wirbrauchen Entbürokratisierung und Privatisierung. Wirbrauchen auch eine neue Ordnung der Aufgabenvertei-lung im Föderalismus. All das steht bis 2010 auf der Ta-gesordnung. Über vieles habe ich von Ihnen nichts ge-hört.

(Beifall bei der CDU/CSU – Krista Sager[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann habenSie nicht zugehört!)

Herr Bundeskanzler, die Vorgeschichte dieser Erklä-rung zeigt deutlich: Herausreden wird Ihnen nichts mehrnutzen.

(Katrin Dagmar Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Etwas konkreter!)

Herr Bundeskanzler, auf der CeBIT wurden Sie ge-fragt, wann es mit Deutschland denn wieder aufwärtsgeht. Darauf haben Sie gesagt: Am Freitag.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und desBÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – GernotErler [SPD]: Gute Antwort!)

Herr Bundeskanzler, ich kenne Sie. In einem halben Jahrwerden Sie sagen, Sie hätten ja nicht gesagt, an welchemFreitag es sein sollte.

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Auch wenn mancher Punkt in Ihrem Vortrag beden-kenswert, vielleicht sogar richtig ist, sehe ich das Pro-blem – –

(Katrin Dagmar Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Welche denn?)

– Entschuldigung, Sie wollen die Zusammenarbeit. Siehaben uns doch vorgeworfen, wir seien nicht konstruk-tiv. Jetzt zeigt sich, dass Sie nicht Recht haben. Sieschimpfen ja schon, wenn man andeutet, dass dies pas-sieren könnte. Was wollen Sie denn nun? Sie wollen eineOpposition so, wie Sie sie sich malen würden. Wir sindaber anders. Uns geht es um Deutschland und nicht umKlamauk!

(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Um die vor uns liegenden Herausforderungen meis-tern zu können, brauchen wir ein Verständnis dessen,was passiert ist. Der Zusammenbruch des Kalten Kriegesist kein Zufall. Er ist der Sieg der Freiheit über die Dik-taturen gewesen. Er ist der Sieg der Informationsgesell-schaft und der ökonomischen Überlegenheit des Westensüber die sozialistischen Modelle gewesen.

Das alles führt zu einer grundlegenden Veränderungder Welt. Diese Veränderung wird nach meiner festenÜberzeugung unsere gesamte Wirtschaftsordnung aufeine neue Ebene heben. Ich bezeichne diese Ebene als

bedeutend, weil wir, von der sozialen Marktwirtschaftkommend – mit dem Erbe Ludwig Erhards und mit al-lem, was wir geschaffen haben –, sagen müssen: Wirbrauchen eine „neue soziale Marktwirtschaft“ im21. Jahrhundert.

(Beifall bei der CDU/CSU – Gernot Erler [SPD]: Jetzt wissen wir genau, was los ist!)

Herr Bundeskanzler, deshalb brauchen wir so etwaswie die zweiten Gründerjahre der BundesrepublikDeutschland. Wir brauchen einen Gründergeist. Wirbrauchen eine Offensive für Selbstständigkeit. Bei dem,was Sie uns eben vorgetragen haben, wurde das nichtspürbar.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Vor allen Dingen – das muss man leider sagen – ist esdas Gegenteil dessen, was Sie uns seit der Bundestags-wahl geboten haben.

Die Fraktionsvorsitzende der Grünen, Christa Sager,

(Michael Glos [CDU/CSU]: Halbe Fraktions-vorsitzende!)

hat beim politischen Aschermittwoch gesagt:

Karneval ist Anarchie auf Kommando. Ich bin si-cher, das haben aber manche auch beim Antritt derRegierung in Berlin gedacht.

Wo Sie Recht haben, haben Sie Recht, Frau Sager. AmAschermittwoch soll das sogar einmal vorkommen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU undder FDP – Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Karneval!)

Genau das ist der Unterschied: Wir brauchen keine Anar-chie auf Kommando, sondern Gründergeist in Freiheit,Selbstständigkeit und Kreativität für diese Bundesrepu-blik.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP – Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Im Gegensatz zu Ihnen kannich über mich selber lachen!)

Was wichtig ist und was ich bei Ihnen vermisst habe,ist die Tatsache, dass man dann, wenn man die Men-schen mitnehmen möchte, für das Dach eines gesell-schaftlichen Modells, wie es die „neue soziale Markt-wirtschaft“ ist, Leitideen braucht, die den Menschensagen, nach welchen Prinzipien die Veränderungen von-statten gehen. Für mich ist die erste Leitidee: Wir brau-chen einen konsequenten Kurs der Investitionen in dieZukunft.

Vom Bundeskanzler haben wir etwas über Investitio-nen gehört. Die Wahrheit ist doch: Die Investitionsquoteim Bundeshaushalt dieses Landes ist auf einem histori-schen Tiefpunkt, wenn man die Hilfen für die Flutopferherausrechnet. Sie liegt bei unter 10 Prozent des Bundes-haushaltes. Das ist die Wahrheit.

(Beifall bei der CDU/CSU – FranzMüntefering [SPD]: Das ist überhaupt nichtwahr! Sie haben keine Ahnung von den Zah-

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len! Das ist genau umgekehrt! Die Bundes-investitionen sind höher als jemals zuvor! Dasmüssten Sie doch wissen!)

– Herr Müntefering, Ihr Satz „Die Bundesinvestitionensind höher als jemals zuvor“ stimmt nicht. Sie sind aberhöher als 9,8 Prozent, und zwar deshalb, weil Sie in die-sem Jahr die Flutinvestitionen dazurechnen können. An-sonsten wäre die Investitionsquote auf einem histori-schen Tiefstand. Das können wir Ihnen jederzeitbeweisen, jedenfalls was die prozentualen Verhältnisseanbelangt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –Franz Müntefering [SPD]: Das haben die Ih-nen falsch aufgeschrieben! Sie sollten wenigs-tens die Zahlen kennen!)

Deshalb lautet unsere Forderung ganz konkret: Biszum Ende der Legislaturperiode muss die Investitions-quote wieder auf 13 Prozent angestiegen sein.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Das entspricht 7,5 Milliarden Euro mehr. Jeder Cent da-von ist besser angelegt als das Strohfeuer-Investitions-programm, das Sie uns heute hier vorgestellt haben.

(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Thea Dückert[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber gleich-zeitig im Bundesrat blockieren!)

Viele haben sich gefragt: Warum muss der Kanzlerheute reden und kann er das nicht nächsten Mittwochmachen?

(Michael Glos [CDU/CSU]: Das ist die Frage!)

Mir ist inzwischen klar geworden: Wenn wir parallelüber den Haushalt debattiert hätten, dann wäre nochdeutlicher geworden, dass Sie in diesem Jahr Ihr Zu-kunftsprojekt Kinderbetreuung auf Kosten des Zukunfts-projekts Wissenschaftsfinanzierung finanzieren. DerBundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland ist nichteinmal gegen seine eigene Wissenschaftsministerin ein-geschritten, meine Damen und Herren. Das ist die Wahr-heit darüber, wie wir mit unserer Zukunft umgehen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Deshalb müssen wir uns neben der Frage, wie die Zu-wanderung zu steuern ist, auch fragen, wie wir Abwan-derung verhindern können. Wissen Sie, wie viele Wis-senschaftler dieses Land verlassen, weil sie hier keineZukunft haben?

(Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:Was haben Sie denn für die Wissenschaft aus-gegeben?

Der Max-Planck-Gesellschaft und der Deutschen For-schungsgemeinschaft haben Sie Mittel gestrichen. DenMenschen, die sich auf Ihre Zusagen verlassen haben,versprechen Sie jetzt, dass es 2004 besser wird. WundernSie sich nicht, wenn sie Ihnen überhaupt nichts mehrglauben!

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP – Ludwig Stiegler [SPD]: Es istimmer noch besser als bei Ihnen!)

Die für Deutschland vielleicht entscheidenden Fragenhaben Sie allenfalls ansatzweise in zwei Sätzen schema-tisch zu beantworten versucht: Womit wollen wir inDeutschland in Zukunft Geld verdienen? Wo entstehendie Arbeitsplätze der Zukunft? Wir führen viel zu oftzuerst eine Diskussion über Risiken und vergessen, dasses auch Chancen gibt. Seit dem Bio-Regio-Wettbewerbim Biotechnologiebereich ist durch Ihre Politik nichtmehr viel Innovatives passiert. Sie haben die rote gegendie grüne Gentechnologie ausgespielt. Sie haben in dergrünen Gentechnologie ein Moratorium verordnet, dasdie gesamten Saatgutbranchen aus Deutschland vertrei-ben wird, Herr Bundeskanzler. Das ist die Wahrheit.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Sie wollen eine Initiative starten, damit die chemischeIndustrie in Europa noch eine Heimat hat. Wer hat denndie Ökosteuer für alle Prozesstechniken erhöht? Werschreitet energisch ein, wenn es um die Zukunft des Che-mikalienrechts in Europa geht? Kümmern Sie sich umdas Chemie-Weißbuch, damit die chemische Industrienicht aus Deutschland vertrieben wird! Das ist Ihre Auf-gabe, Herr Bundeskanzler.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Wer hat denn der pharmakologischen Industrie ver-sprochen, dass vier Jahre lang keine weiteren Abgabendrohen? Wer hat dann sein Wort nicht gehalten? So kannman die Industrie nicht in Deutschland halten. Wir müs-sen darüber nachdenken, wo die neuen Erfindungen zu-stande kommen. Eine Erfindung wie das Aspirin, das Me-dikament des 20. Jahrhunderts, muss auch in Zukunft – –

(Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

– Sie können ruhig lachen. – Ich sage Ihnen eines: So-lange Sie nicht verstehen, dass dieses Land ohne eineentsprechende Wertschöpfung und Produktion – sie fin-det in Deutschland nicht im Niedriglohnbereich, sondernin den Hochtechnologien statt – keine Zukunft hat, so-lange wird es mit Deutschland leider nicht aufwärts ge-hen, meine Damen und Herren. Das müssen Sie einfacheinmal kapieren.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –Ludwig Stiegler [SPD]: Dafür haben wir Siegebraucht, unbedingt!)

Deshalb ist die erste Aufgabe, in die Zukunft zu investie-ren und um jeden Arbeitsplatz zu kämpfen, vor allem inden Hochtechnologien.

Die zweite Leitidee muss lauten, die Spaltung derGesellschaft in Arbeitslose und Arbeitende zu überwin-den. Ich glaube, dass diese Spaltung bzw. die Barrierezwischen Arbeitenden und Arbeitslosen die entschei-dende soziale Frage unserer Gesellschaft ist. Deshalbmuss sowohl für diejenigen, die sich selbstständig ma-

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chen wollen, als auch für die, denen es um eine abhän-gige sozialversicherungspflichtige Beschäftigung geht,der Zugang zum Arbeitsmarkt verbessert, erleichtertbzw. ermöglicht werden.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Dafür ist uns jede Initiative recht.

(Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Welche?)

Aber dabei müssen wir weit springen, nicht kurz. IhrSmall Business Act allein reicht mit Sicherheit nicht aus,um Neugründungen in Deutschland zu ermöglichen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Natürlich sind wir bereit, mit Ihnen über Vereinfa-chungen im Handwerksrecht zu reden. Sie haben aberzum Teil nur Maßnahmen vorgeschlagen, die jetzt mög-lich sind. Wir sind bereit, auch über Maßnahmen zu reden,die erst in Zukunft umsetzbar sind, wie zum Beispiel überwettbewerbsbedingte Reformen der Gebührenordnungender freien Berufe, über die Aufhebung der Schornstein-fegerbereichszuordnungen

(Zurufe von der SPD: Oh! Oh!)

und über Zwangsmitgliedschaften in den Kammern. Wirkönnen auch die Urlaubskassen ganzer Berufsgruppenauf den Prüfstand stellen und über eine Neuregelung derArbeitsstättenverordnung nachdenken, in der vieles dop-pelt geregelt ist. Wir müssen außerdem das Berichts- unddas Beauftragtenwesen neu ordnen. Eine riesige Auf-gabe liegt vor uns; denn es müssen Tausende Regelun-gen geprüft werden. Meine Fraktionskollegen sind indieser Woche schon in Vorlage gegangen. Wir werdendas weiterverfolgen. Herr Bundeskanzler, ich sage Ihnendort, wo Regelungen vereinfacht werden sollen, jedeKooperation zu.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Zur Wahrheit gehört bei aller Freude über die Neuord-nung des Bereichs der 400- und 800-Euro-Jobs aberauch, dass es viel besser gewesen wäre, die Zeitarbeit-nehmerbranche nicht in die Tarifhoheit hineinzubringen.Es waren doch einfachere Lösungen vorhanden, mit de-nen wir vorangekommen wären.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Die Fragen, wie wir den Prozess der Lohnfindunggestalten sollen, wie wir Menschen in Arbeit bringenkönnen und wie wir die Aussichten von Beschäftigtenund Neueinzustellenden verbessern können, sind zentral.Herr Bundeskanzler – ich habe Ihnen mit großer Auf-merksamkeit zugehört –, Sie haben sich ja fast bis an dasNotwendige heranbewegen wollen, bevor wahrschein-lich der Fraktionsvorsitzende Franz Müntefering als Ab-geordneter in der Fraktion gesprochen hätte und ein an-derer sagen muss: Franz, so geht das nicht! Ich sageIhnen voraus: Wir werden in Deutschland betrieblicheBündnisse für Arbeit brauchen,

(Beifall bei der CDU/CSU)

und zwar auf einer rechtlich sicheren Grundlage, damitdie Betriebe, die solche Bündnisse eingehen, nicht an-schließend mit Klagen der Gewerkschaftszentralen rech-nen müssen. Die Menschen, die solche Regelungen ein-gehen, brauchen Rechtssicherheit. Deshalb müssen wirdas Tarifvertragsrecht und das Betriebsverfassungsge-setz ändern. Zu beidem konnten Sie sich nicht durchrin-gen. Ich bedauere das. Wir wären dazu bereit gewesen,Herr Bundeskanzler.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Damit kein Missverständnis entsteht: Wir sind ge-nauso wie Sie der Meinung, dass die Betriebsräte indiesem Land Hervorragendes leisten.

(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Uwe Küster [SPD]: Sie aber nicht!)

Ich weiß das aus den neuen und den alten Bundes-ländern. Aber die Welt hat sich verändert.

(Zurufe von der SPD: Ah! Ah!)

Die deutschen Betriebe stehen in einem unmittelbarenWettbewerb mit Betrieben aus der ganzen Welt. Deshalbbrauchen sie mehr rechtliche Möglichkeiten und deshalbhätten Sie heute springen und betriebliche Bündnisse fürArbeit ermöglichen sollen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Ich nehme den Kündigungsschutz als Beispiel. Ichhabe erwartet, dass Sie, Herr Bundeskanzler, heute klippund klar sagen, welche Variante in welchem Umfang Siewollen. Wir sind aber einigermaßen ratlos zurückgelas-sen worden.

(Ludwig Stiegler [SPD]: Das hat er doch ge-sagt! Sie müssen zuhören! Das liegt an IhrerWahrnehmung! Er hat erklärt, was er will!)

– Entschuldigung, ob Puffermodell oder nicht, es sinddrei Varianten vorgeschlagen worden. – Wir schlagen Ih-nen eine eindeutige und klare Variante vor, die allenhilft, die einen neuen Arbeitsplatz bekommen sollen:Schon bei der Einstellung soll der Arbeitgeber mit demArbeitnehmer optional vereinbaren können, ob im Falleiner betriebsbedingten Kündigung eine Abfindung ver-einbart wird oder ob der normale Kündigungsschutz gilt.Das ist eine faire Lösung, die Rechtssicherheit sowohlfür denjenigen, der einstellt, als auch für denjenigen, dereingestellt wird, schafft und die außerdem zusätzlicheBürokratie verhindert.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Es bedarf noch einer dritten Leitidee. Wir brauchenkonsequente Leistungsanreize. Wer in diesem Lande ar-beitet, muss mehr haben, als wenn er nicht arbeitet. Wermehr leistet, muss mehr haben, als wenn er weniger leis-tet. Das muss die Devise auf allen Ebenen sein.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Deshalb, Herr Bundeskanzler, sind wir mit der Zu-sammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe ein-verstanden. Sie haben sich etwas verklausuliert ausge-

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drückt, als Sie sagten, dass dies „in der Regel“ auf demNiveau der Sozialhilfe erfolgen solle. Wir sagen: Es sollauf dem Sozialhilfeniveau erfolgen. Wir sagen des Wei-teren, dass denjenigen, die eine bestimmte Arbeit, die ih-nen angeboten wird, nicht annehmen, die Sozialhilfe um25 Prozent gekürzt werden soll. Wir müssen zusätzlichin die Lage kommen, dass jedem, der arbeitsfähig ist, einAngebot gemacht werden muss, und sei es eine gemein-nützige Tätigkeit, damit wir von der Sozialhilfe weg-kommen und jeder die Chance erhält, eine zumutbareArbeit anzunehmen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Das ist die Aufgabe, zu der wir kommen müssen. Wa-rum müssen wir zu dieser Aufgabe kommen? Wir müs-sen deshalb dazu kommen, weil es notwendig ist, dasswir in unserem Lande auch wieder Dienstleistungenmöglich machen, für die die Lohnangebote heute so lie-gen, dass sie nicht attraktiv sind und deshalb in Fremd-arbeit oder Schwarzarbeit durchgeführt werden. Das istdie Aufgabe, gerade um Menschen, die einfache Tätig-keiten verrichten möchten, wirklich eine Chance in unse-rem Land zu geben.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Aber es kommt noch etwas hinzu, und da bin ich sehrenttäuscht von Ihrer Rede, Herr Bundeskanzler.

(Zurufe von der SPD: Oh!)

Sie haben uns nicht gesagt, wie Sie die einen Erwerbs-fähigen, die anderen Erwerbsfähigen und die Nicht-erwerbsfähigen zwischen den Kommunen und der Bun-desanstalt für Arbeit aufteilen wollen. Das Ganze sollmöglichst bald im Gesetzblatt stehen. Wann möchten Siedas denn genau tun? Ich hätte nach Ihrer heutigen Redeerwartet, dass wir konkret wissen, was die Aufgaben derKommunen sind, welches Geld sie dafür erhalten, wasdie Aufgabe der Bundesanstalt für Arbeit ist, wo die Job-center angesiedelt sind und wie das alles funktionierenwird. Wir sind bei dieser Debatte an dieser Stelle keinenSchritt weiter, als wir es gestern waren.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Wir sind auch der Meinung, dass das Arbeitslosen-geld gekürzt werden sollte. Wir wollen insgesamt einenBeitrag zur Arbeitslosenversicherung von 5 Prozent.

(Katrin Dagmar Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist jetzt mit Herrn Stoi-bers Vorschlag?)

Aber ich glaube, dass wir dies intelligent machen könn-ten. Wir haben überlegt, dass eine Kürzung des Arbeits-losengeldes so aussehen muss, dass die Anreize, eineBeschäftigung wieder aufzunehmen, steigen. Das könntedurch eine Karenzzeit in den ersten zwei Wochen ge-schehen, in denen man den Bezug auf Darlehensbasis er-möglichen kann, das könnte auch durch eine degressiveGestaltung des Arbeitslosengeldes geschehen, bei derman den Anreiz zur Arbeitsaufnahme bei Auslaufen desArbeitslosengeldes vergrößern kann. Das könnte mannatürlich – da haben Sie einen Ansatz, den man noch

ausarbeiten kann – machen, indem man das Alter, dieZugehörigkeit zum Betrieb und die Dauer der Einzah-lung in die Arbeitslosenversicherung berücksichtigt. Daswäre ein intelligenter Vorschlag.

(Beifall bei der CDU/CSU – Krista Sager[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wollen Siedie Bürokratie abbauen? – Katrin DagmarGöring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Das ist so kompliziert, das versteht keinMensch!)

Aber ich sage auch: Leistungsanreize fördern heißtauch, etwas im steuerlichen Bereich zu tun. Wenn Sieeine Agenda für 2010 vorschlagen und kein Wort überdie bisher schon verabschiedeten Steuerreformstufen hi-naus sagen, dann ist das zu wenig.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir brauchen ein einfaches, ein transparentes, ein wirk-lich niedriges Steuersystem. Das wird noch viele Auf-gaben mit sich bringen.

(Gernot Erler [SPD]: Das sagen Sie seit 100 Jahren!)

– Ich bitte Sie, wir hatten mit den Petersberger Beschlüs-sen einen hervorragenden Einstieg. Sie haben sie verhin-dert. Darauf können wir zurückkommen, daran könnenwir anknüpfen und dann weitermachen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Sie waren letztlich bei der Zinsabgeltungsteuer wie-der ganz unkonkret und haben zwar von Kontrollen, aberunbürokratischen und dennoch wirksamen Kontrollengesprochen. Das erinnert an den Spruch: Wasch mir denPelz, aber mach mich nicht nass. So kommen wir dochnicht weiter. Ich hatte von Ihnen erwartet, dass Sie klippund klar sagen: Kontrollmitteilungen in unserem Steuer-system führen nicht dazu, dass das Geld zurückkommt,sondern dazu, dass noch mehr Geld nach draußen geht.Das ist die Wahrheit.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Die vierte Leitidee hat etwas damit zu tun, dass wirim internationalen Wettbewerb stehen, dass die deut-schen Sozialsysteme an den Faktor Arbeit gekoppeltsind und dass dies unsere Arbeit teuer macht, weswegenArbeitsplätze oft nur vergleichsweise schwer geschaffenwerden können. Aus genau diesem Grunde müssen dieLohnnebenkosten unter 40 Prozent liegen.

(Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer)

Herr Bundeskanzler, ich hätte bei der Beschreibungeiner Agenda 2010 schon gern gehört, ob Sie sich die-sem Ziel noch verpflichtet fühlen oder ob es Sie nichtmehr interessiert, weil Sie sagen, dass es lediglich Teilder Koalitionsvereinbarung von 1998 war.

(Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:Er hat es ein wenig konkreter gemacht alsSie!)

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Ich halte dieses Ziel nach wie vor für richtig und wich-tig. Es muss kurzfristig erreicht werden.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Sie haben in diesem Zusammenhang das Ziel ange-sprochen, die Krankenkassenbeiträge zu senken. Es istrichtig, dass die Krankenkassenbeiträge auf unter13 Prozent sinken müssen. Sie haben sich dem Gedan-ken von Selbstbehalten genähert. Das begrüße ich aus-drücklich.

(Zuruf von der SPD: Aber?)

Sie müssen die Höhe der Einsparungen allerdings quan-tifizieren. Bei einer Senkung der Krankenkassenbeiträgeauf unter 13 Prozent bestehen im Bundeshaushalt nichtunendlich viele Spielräume, die versicherungsfremdenLeistungen steuerlich zu finanzieren. Eine solche Finan-zierung versicherungsfremder Leistungen unterstützenwir grundsätzlich.

Durch die Herausnahme einiger Leistungen aus demAngebot der gesetzlichen Krankenkassen – Sie habendazu einen Vorschlag gemacht – und durch die Einfüh-rung von Selbstbehalten muss es zu Einsparungen inHöhe von fast 2 Prozentpunkten kommen, damit dieKrankenkassenbeiträge auf unter 13 Prozent sinkenkönnen. Im Bereich des Krankengeldes lassen sich7,7 Milliarden Euro einsparen. Dadurch lässt sich derBeitragssatz um 0,8 Prozentpunkte senken. Entspre-chend groß müssen der Selbstbehalt und die durch denWettbewerb hervorgerufenen Einsparungen sein, damitSie Ihr Ziel wirklich erreichen. Wir haben uns mit die-sem Thema intensiv befasst. Sie werden Ihr Ziel durchdie Umsetzung dessen, was Sie vorgeschlagen haben,noch nicht erreichen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN)

Wir verurteilen Ihr Vorhaben, dafür zu sorgen, dassKrankengeldzahlungen privat versichert werden müssen,nicht sofort; aber bitte diffamieren Sie dann auch nichtunseren Vorschlag, zu prüfen, ob man eine solche Rege-lung auch für den Bereich der Zahnbehandlung einfüh-ren kann.

(Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Und zwar sehrgünstig! – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mut zur Lücke!)

Es gibt in Europa viele Länder, zum Beispiel Norwegen,in denen die Zahnbehandlung privat versichert werdenmuss. In diesen Ländern gibt es ganze Jahrgänge vonKindern, die dank einer entsprechenden Prävention ka-riesfrei sind. Lassen Sie uns an dieser Stelle wirklichnicht die alten sozialdemokratischen Neiddiskussionenführen!

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wir müssen also auf unter 13 Prozent Krankenkassen-beiträge, 5 Prozent Arbeitslosenversicherungsbeiträgeund deutlich unter 20 Prozent Rentenversicherungsbei-träge kommen. Wenn die Prognosen richtig sind – darangibt es keinen Zweifel –, dann werden die Rentenver-

sicherungsbeiträge im Sommer nicht mehr bei 19,5,sondern bei 19,9 Prozent liegen, Herr Bundeskanzler.Dazu kommen 1,5 Prozent Beiträge für die Pflegever-sicherung, bei der es noch viele Probleme gibt.

Zur Rente möchte ich Folgendes sagen: Sie haben denvon uns eingeführten demographischen Faktor fälsch-licherweise abgeschafft.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zuruf von der CDU/CSU: Ein Riesenfehler!)

Wir haben schon damals gesagt, dass selbst der von unseingeführte demographische Faktor der realen Alterungder deutschen Bevölkerung noch nicht im ausreichendenMaße gerecht wird. Lassen Sie uns gemeinsam wiedereinen ehrlichen demographischen Faktor ins Visier neh-men, damit man wirklich realistische Rentenprognosenvornehmen kann!

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Die Förderung der privaten Altersvorsorge ist – ichsage das vollkommen unaufgeregt; auch wir hätten die-sen Weg eingeschlagen, wenn wir weiter regiert hätten –vom Grundsatz her richtig. Wir kritisieren, dass dank Ih-rer Politik ein bürokratisches Monster daraus entstandenist.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Schon heute könnten 30 Prozent der Bevölkerung bereitsein, ein Angebot der staatlich geförderten Altersvor-sorge in Anspruch zu nehmen, wenn das Ganze nicht sokompliziert wäre. Das ist der Punkt. Wir sind jederzeitbereit, zu einer Entbürokratisierung auf diesem Gebietbeizutragen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

In der nächsten Zeit werden wir über die Zukunft dersozialen Sicherung sprechen. Vielleicht kann einer derNachredner einmal klarstellen, ob Sie das Ziel haben, dieLohnnebenkosten auf unter 40 Prozent zu senken odernicht. Ist das Ihr Anspruch oder nicht? Ich habe eine sol-che Klarstellung vermisst und halte dies für ein großesVersäumnis in dieser Regierungserklärung.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Meine Damen und Herren, wir brauchen eine fünfteLeitidee. Wir müssen Vertrauen in die Menschen set-zen und den Rückzug des Staates ermöglichen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Sie haben heute hier ein Investitionsprogramm vor-geschlagen. Vor einem oder anderthalb Jahren haben so-gar Sie selbst in Ihren eigenen Ansprachen derartige Pro-gramme noch ins Abseits gestellt. Sie haben auf demDeutschen Baugewerbetag gesagt, dass die Bauindustrieschrumpfen müsse und dass es keinen Sinn mache, siedurch Strohfeuerprogramme – das waren Ihre eigenenWorte – weiter in eine Situation zu versetzen,

(Zuruf von der SPD: Da hatte er Recht!)

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die unrealistisch sei.

(Ludwig Stiegler [SPD]: Das sind keine Stroh-feuer!)

– Jetzt sagen Sie, das seien keine Strohfeuerprogramme.Ich finde, es ist eine ziemliche Unverschämtheit, dieKommunen in eine finanzielle Lage zu bringen, die inder Geschichte der Bundesrepublik Deutschland nieschlechter war.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP – Widerspruch bei der SPD)

Wir haben hier schon mehrmals Anträge eingebracht, indenen wir fordern, die Gewerbesteuerumlage wiederauf den alten Stand anzuheben. Stimmen Sie zu! Daskostet nichts, aber es hilft den Kommunen, und zwardauerhaft und real, nicht nur einmalig durch ein kurzfris-tiges Programm.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Das ist derrichtige Weg!)

Fast ein bisschen zynisch finde ich an diesem Pro-gramm, dass viele Kommunen – das wissen Sie genausogut wie wir – so hoch verschuldet sind, dass sie nicht dieErlaubnis bekommen werden, wieder einen Kredit auf-zunehmen.

(Gernot Erler [SPD]: Dazu hat er doch etwas gesagt!)

– Dazu kann man gar nichts sagen, weil das der Kommu-nalaufsicht unterliegt und weil ich nicht weiß, ob Siemöchten, dass über die Verschuldung der Kommunendie Legitimation dafür geschaffen wird, dass die Einhal-tung der Stabilitätskriterien von Brüssel ausgesetzt wer-den kann und Herr Eichel wieder sagen kann, die Kom-munen seien es gewesen und nicht er. Das ist einkomischer Verschiebebahnhof in Deutschland, den ichnicht akzeptieren kann.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich sage Ihnen nach wie vor: Wenn wir vorankommenwollen, dann müssen wir uns einer Staatsquote von40 Prozent nähern. Das wird dauern und ohne Wachstumnicht gehen. Aber es ist kein abwegiger, sondern einrichtiger Anspruch, dass die Menschen in diesem Landevon jedem verdienten Euro 60 Cent selbst verwalten dür-fen und nur 40 Cent durch den Staat verwaltet werden.Es ist ein Fehler von Herrn Müntefering, zu glauben, diePrivatpersonen müssten erst dem Staat seinen Anteil ge-ben und behielten nur den Rest. Wir müssen an die Men-schen glauben, an ihre Kreativität, ihr Leben selbst zugestalten. Das ist der große Unterschied zwischen Unionund Sozialdemokraten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –Zuruf von der CDU/CSU: Freiheit stattMüntefering!)

Wir wissen, dass wir die öffentlichen Haushalte sanie-ren müssen. Das wird nur mit Wachstum funktionieren.Deshalb müssen alle Wachstumskräfte gestärkt werden.Wir müssen privatisieren. Herr Bundeskanzler, Sie ha-

ben gesagt, die Abwasserinvestitionen könnten über IhrInvestitionsprogramm erfolgen. Ich hoffe, Sie lassen dieMittel auch den privaten Abwasserbetreibern zukommenund nicht nur den kommunalen;

(Michael Glos [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

denn wir wollen, dass Aufgaben, die privat genauso gutwie kommunal erledigt werden können, privat erledigtwerden. Gebt den Privaten eine Chance in diesem Land;das ist die Aufgabe!

(Beifall bei der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, wir brauchen eine klarereVerteilung der Zuständigkeiten zwischen den ver-schiedenen Ebenen, zwischen Kommunen und Ländernund zwischen Bund und Ländern. Wenn Sie den Zeit-raum bis 2010 in Betracht nehmen und kein einzigesWort zu einer Föderalismusreform sagen, dann wird esauch mit der Staatsquote unter 40 Prozent nichts werden.

Bei uns steht eine solche Föderalismusreform auf derTagesordnung. Wir wären sogar bereit, einmal darübernachzudenken, für eine solche Aufgabe einen Konventzu schaffen und Leute zu beauftragen – weil wir alle be-fangen sind –, sich in Form dieses Konvents aus ihrerErfahrung unvoreingenommen das Wirrwarr von Zu-ständigkeiten anzusehen, um herauszufinden, wie wirdie Aufgabenverteilung in diesem Lande besser organi-sieren können. Die Union macht Ihnen hier ein Angebot.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir benötigen also fünf Leitbilder: konsequentInvestitionen in die Zukunft tätigen, Leistungsanreizekonsequent durchsetzen und jede politische Maßnahmedaraufhin überprüfen, Spaltung der Gesellschaft in Ar-beitende und Arbeitslose überwinden, Arbeit im interna-tionalen Vergleich wettbewerbsfähig machen und dieStaatsquote unter 40 Prozent drücken. An diesen Dingenwird sich entscheiden, ob Deutschland wirklich einenPlatz an der Spitze innerhalb Europas erlangen wird oderdort bleibt, wo es ist.

(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Wir wollen Stoiber!)

Um diesen Prozess für die Menschen nachvollziehbarzu machen, biete ich Ihnen an, zunächst bis zum Jahre2010 in diesem Hause jedes Jahr eine Debatte überfolgende sechs Punkte zu führen: Wachstum, Beschäf-tigung, Investitionsquote, Höhe der Steuersätze, Lohn-nebenkosten und Staatsquote. Wir sollten ein Bench-marking einführen und unabhängige Fachleute damitbeauftragen, die notwendigen Zahlen zusammenzustel-len, um damit zu zeigen, ob wir unseren eigenen Ansprü-chen in Bezug auf unsere Politik selber gerecht werden.Nur so werden wir die Menschen auf dem Reformwegmitnehmen können. Sie müssen sehen, dass die notwen-digen Änderungen zu ihrem eigenen Vorteil durchge-führt werden.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Deshalb muss das Credo der Wirtschafts- und Sozial-politik lauten: Freiraum, Eigenverantwortung, mehrLuft zum Atmen. Dieses Credo ist wichtig, denn dann,

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wenn wir nicht danach handeln, werden wir denjenigen,die in diesem Lande Hilfe brauchen, nicht mehr helfenkönnen. Ich möchte nicht, dass die Behinderten in die-sem Lande immer von Sozialhilfe abhängig sind. Siemüssen raus aus der Sozialhilfe. Ich möchte nicht, dassalleinerziehende Mütter von der Sozialhilfe abhängigsind. Sie müssen raus aus der Sozialhilfe.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Damit das gelingt, müssen Sie denen, die etwas schaf-fen können, den Freiraum geben, auch etwas schaffen zudürfen.

(Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zum Beispiel Kinderbetreuung!)

Der Staat muss sich im Bereich der Wirtschafts- undSozialpolitik zurückziehen, damit dort Hilfe geleistetwerden kann, wo Hilfe notwendig ist.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP])

Das entspricht unserem Verständnis von Gerechtig-keit. Ich erlebe häufig, dass heute vielen, die vielleichtHilfe bräuchten, nicht mehr so gut geholfen werden kann.17 Prozent des Bruttoinlandsprodukts werden durch dieSchwarzarbeit erwirtschaftet, obwohl Schwarzarbeit dieunsolidarischste Art von Tätigkeit ist. Das muss aufhö-ren, denn dadurch konzentriert sich Solidarität auf im-mer weniger Schultern in diesem Land und dadurch fal-len Menschen aus dem solidarischen System heraus.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Die andere Seite der Medaille des 21. Jahrhundertsist: So wie sich der Staat im Bereich der Wirtschafts- undSozialpolitik zurückziehen muss, muss er sich stärkerengagieren, wenn es um innere und äußere Sicherheitgeht. Das Ende des kalten Krieges hat uns eine Welt ge-bracht, in der die Bedrohungen zwar anders sind, aberBedrohungen bleiben, mit denen wir uns werden aus-einander setzen und für die wir Abschreckungskapazi-täten entwickeln müssen. Diese Bedrohungen müssenvon uns angegangen werden. Dafür ist die Bundesrepu-blik Deutschland und dafür ist Europa insgesamt nochnicht gewappnet.

Deshalb geht es auch um die zweiten Gründerjahredieser Republik bezüglich einer neuen Außen- undSicherheitspolitik. Sie haben vom Frieden gesprochen.

(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Da sind wir jetzt sehr gespannt!)

Ich kann nur sagen: Das, was wir in den letzten Monatenmit Blick auf den Irak erlebt haben, ist ein Trauerspiel.

(Dr. Ludger Volmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Eine Reise nach Washington! – Beifallbei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN und der SPD)

– Das habe ich mir gedacht. Herr Volmer, die Armselig-keit kennt bei Ihnen keine Grenzen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Es ist wirklich traurig. Sie haben doch vier Jahre imAuswärtigen Amt gesessen und müssten wissen, dassspätestens seit dem 11. September 2001 jedem klar seinmuss, dass sich die Bedrohungen in dieser Welt zwarverändert haben, dass sie aber real und nicht fiktiv sind.

(Katrin Dagmar Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt sagen Sie uns einmal: Waswollen Sie?)

Was in Sachen Irak passiert ist, ist ein Trauerspiel.Denn wir müssen uns hier und heute damit auseinandersetzen, was die „Financial Times Deutschland“ dazu amDienstag geschrieben hat: Leider steht, noch bevor über-haupt etwas passiert ist, der Sieger der Auseinanderset-zung fest: Saddam Hussein.

(Zurufe von der SPD: Oh!)

Der Schaden, den der Diktator dem Westen bereits zuge-fügt hat, ist kaum zu ermessen. – Ich teile diese Ein-schätzung.

(Beifall bei der CDU/CSU – Volker Kauder[CDU/CSU]: Der Sieger heißt auf jeden Fallnicht Schröder!)

Dabei geht es um die Europäische Union, dabei gehtes um die NATO und es geht um die Rolle der UNO.

(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Ich denke, es geht um den Frie-den!)

Ich sage Ihnen: Wir haben die Aufgabe – das werden wirvonseiten der Union tun – –

(Bundeskanzler Gerhard Schröder bekommteinen Blumenstrauß überreicht – Unruhe beider CDU/CSU – Zuruf von der CDU/CSU:Das ist aber eine Unverschämtheit! – VolkerKauder [CDU/CSU]: Das ist eine mutwilligeStörung!)

– Ich finde, wir sollten ein bisschen großzügig sein. Werweiß, ob der Kanzler sonst Blumen bekommt.

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich denke, wir können trotz aller Kritik darüber hinweg-sehen.

(Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Da zeigtsich der rot-grüne Kindergarten! Und die Feig-heit der Präsidentin!)

Zurück zur Außenpolitik. Ich sage in aller Ernsthaf-tigkeit: Das 21. Jahrhundert und die neue SituationDeutschlands nach der Wiedervereinigung fordern vonder Außenpolitik, eine klare Orientierung und feste Ko-ordinaten zu geben. Ich stimme Ihnen zu, Herr Bundes-kanzler: Deutsche Außenpolitik wird in Berlin gemacht.Ich füge hinzu: Deutsche Außenpolitik sollte deutschenInteressen gelten.

(Zuruf von der SPD: Ja! – Ludwig Stiegler[SPD]: Das hätten Sie sich einmal in Washing-ton überlegen sollen!)

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Dr. Angela Merkel

Zu diesen deutschen Interessen gehören für mich zweiSäulen. Die eine Säule ist ein gutes Verhältnis zu unse-ren europäischen Nachbarn.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Deutschlands historische Krux war die Tatsache, dass esZeiten gab, in denen Deutschland die Balance nicht ge-schafft hat und in denen Deutschland nicht in die Politikseiner Nachbarn eingebunden war. Deshalb heißt es,gute und partnerschaftliche Verhältnisse zu Frankreich

(Ludwig Stiegler [SPD]: Haben wir doch!)

und genauso gute Verhältnisse zu Polen, unserem ande-ren Nachbarn, zu haben.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zuruf von der SPD: Haben wir die nicht?)

Einige von Ihnen werden in diesem Saal gesessen ha-ben, als am 8. Mai des Jahres 1995 der damalige polni-sche Außenminister Bartoszewski eindringlich und fürmich emotional sehr berührend zu uns gesagt hat: Bittemachen Sie nie weder eine Politik von Deutschland undFrankreich mit Russland, die über die Köpfe von Polenhinweggeht. – Lassen Sie uns das gemeinsam beherzi-gen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP – Widerspruch bei der SPD)

Bei aller Partnerschaft mit Frankreich haben wir alsdas größte Land Europas die Aufgabe, uns um die klei-nen Länder in Europa zu kümmern.

(Jörg Tauss [SPD]: Andorra!)

– „Andorra!“ Sagen Sie einmal: Wie bekloppt sind Sieeigentlich?

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich muss Ihnen ehrlich sagen: Wir hören Ihnen zu, wennes um ernsthafte Dinge geht. Wenn Sie in der Außen-und Sicherheitspolitik nicht aufpassen, dann werden Siedas, was wir in 50 Jahren deutscher Politik an Vertrauen,an Berechenbarkeit und an Verlässlichkeit aufgebaut ha-ben, in kurzer Zeit verspielen. Deshalb lassen Sie uns inaller Ernsthaftigkeit – ich sage das mit großem Nach-druck – über diese Fragen von Krieg und Frieden undder Zukunft Deutschlands in diesem Hause sprechen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Dazu gehört eine politische Union in Europa.Deutschland muss der Motor dieser politischen Unionsein. Bitte schauen Sie sich an, wo Europa im Augen-blick steht: Es sind Bündnisse in Bündnissen gebildetworden. Es gibt Spaltungen und Achsen außerhalb derBündnisse. Ich sage Ihnen ganz klar: Dies ist nicht gutfür das Projekt einer politischen Union. Deshalb mussdie Situation verändert werden. Ich sage dies ohne jedeAggressivität, weil mir Europa am Herzen liegt. Aberich sage auch: Dazu gehören die neuen Mitgliedstaatengenauso wie die alten. Dazu gehört ferner ein deutscherBundeskanzler, der über die Lippen bringen sollte, dassdie Worte des Präsidenten der Französischen Republiknicht geeignet waren, das Selbstbewusstsein und das

Selbstverständnis der osteuropäischen Nachbarn richtigzu beschreiben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Neben der europäischen gehört die transatlantischeSäule dazu. Für mich ist das ganz unverzichtbar. WennSie sich einmal über die wirklichen sicherheitspoliti-schen Fähigkeiten Europas Gedanken machen, dann wis-sen Sie, dass wir einen Sicherheitsverbund brauchen.Deshalb brauchen wir die NATO, und zwar als einefunktionsfähige, handlungsfähige Gemeinschaft, die un-sere gemeinsamen sicherheitspolitischen Interessen ver-treten kann.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wer sich vielleicht manchmal dem Trugschluss hin-gibt, unser Europa sei so sicher, dass wir nie wieder Un-terstützung brauchen, der hat beim furchtbaren Tod vonZoran Djindjic vorgestern auf ganz erschreckende Weiseerfahren müssen, wie zart die Sicherheit und der Friedeselbst auf unserem Kontinent sind.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Lassen Sie uns deshalb, meine Damen und Herren, mitden Institutionen sorgsam umgehen! Wir brauchen auchin Zukunft eine NATO, genauso wie wir eine funktions-fähige UNO brauchen.

Nun sagt der Bundesaußenminister schon wieder:über den Frieden nicht ein Wort! Herr Bundesaußenmi-nister, ich kann Ihnen Folgendes sagen: Wenn eine uni-onsgeführte Regierung seit September letzten Jahres dieGeschicke dieses Landes gelenkt hätte

(Peter Dreßen [SPD]: Gott sei Dank war dasnicht so! – Dr. Ludger Volmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hätten wir schon längst einenKrieg im Irak! Und deutsche Soldaten! – Wei-tere Zurufe von der SPD und dem BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN)

– wenn Sie von uns eine Position erwarten, dürfen wir,so finde ich, sehr wohl einmal darauf hinweisen, was wiranders gemacht hätten –, wäre im Umgang mit demKonflikt im Irak die militärische Option als letztesMittel niemals ausgeschlossen worden.

(Jörg Tauss [SPD]: Das denken wir uns! –Hans-Peter Kemper [SPD]: Sie wären vorne-weg gelaufen! – Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bei Ihnen wäre das gar keineOption gewesen!)

Wir hätten das, was Sie erst im Februar gemacht haben,nämlich die europäischen Staats- und Regierungschefszu einer gemeinsamen Erklärung zu bewegen, schon imSeptember initiiert. Die Erklärung vom Februar hätteschon im September stehen können; daran besteht über-haupt kein Zweifel.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wir hätten uns jeden Monat erneut getroffen und mitdieser gemeinsamen europäischen Haltung wären wirin ein Gespräch mit den Amerikanern gegangen. Ich

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bin ganz sicher, wir hätten eine gemeinsame Positiongefunden.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP – Gernot Erler [SPD]: Weltpoli-tik zum Selbermachen! – Joseph Fischer, Bun-desminister: Welch ein Geeiere! – Gegenrufdes Abg. Volker Kauder [CDU/CSU]: SeienSie auf der Regierungsbank einmal ruhig, HerrMinister!)

Wir hätten von Anfang an eine Befristung der Inspektio-nen befürwortet.

Vielleicht kann man dann, wenn man so lange Minis-ter ist wie Sie, Herr Fischer, nicht mehr gut zuhören,

(Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Dafür umso besser dazwischen quatschen!)

aber ich sage es Ihnen trotzdem: Wenn Sie einer Befris-tung der Inspektionen zugestimmt hätten, dann hättenSie eine Entwicklung beeinflussen können, die sichheute als eines der großen Dramen herausstellt, dann hät-ten Sie nämlich die Parallelität des Aufbaus einer militä-rischen Drohkulisse und des Zeitbedarfs der Inspekto-ren erkannt und beides miteinander koordinierenkönnen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Chefinspekteur Blix sagt heute: Ich weiß, ohne einemilitärische Drohkulisse habe ich keinen Erfolg. – Dasswir die anglo-amerikanische Drohkulisse brauchen, gibtauch der französische Außenminister zu, dennoch oppo-niert er gegen England und Amerika. Diese Art von Ar-beitsaufteilung – die einen stellen die militärischenKräfte und die anderen sind für unbefristete Inspektio-nen – geht in einer Gemeinsamkeit von Partnern nichtauf. Das ist der zentrale Vorwurf, den wir Ihnen machen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg.Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP] – LudwigStiegler [SPD]: Ein Mangel an geistigerWeite!)

Deshalb kann ich bei allem, was passiert ist, nur dieganz intensive Bitte an die Bundesregierung richten:Versuchen Sie in den nächsten Tagen, in der UNO – auchunter Aufbietung deutscher Kompromissbereitschaft –eine Lösung zu finden, welche die UNO stärkt und die esmöglich macht, dass Saddam Hussein endlich wiederAngst vor der westlichen Staatengemeinschaft hat. DieWahrheit nämlich ist: Derzeit kann er davon leben, dasssie gespalten ist.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich sage in aller Klarheit und mit allem Nachdruck:Unser Gegner ist nicht der amerikanische Präsident.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

Unser Gegner ist noch immer Saddam Hussein. Ichglaube, darüber gibt es Einvernehmen in diesem Hause.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowiebei Abgeordneten der SPD und des BÜND-

NISSES 90/DIE GRÜNEN – Ludwig Stiegler[SPD]: Diese Neuigkeiten haben wir ge-braucht!)

Gestern wurde in einer AP-Meldung beschrieben, wie ineiner Art öffentlicher Zeremonie – das muss man sich wirk-lich einmal vor Augen führen – im Auftrag von SaddamHussein 260 000 Dollar an 26 Familien von palästinen-sischen Selbstmordattentätern als Lohn und Dank für das„Märtyrertum“ übergeben wurden. Das macht deutlich,dass die Gefahr, die von Saddam Hussein ausgeht, realund nicht fiktiv ist. Ich bitte Sie, das jeden Tag zu beden-ken.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Die Sozialdemokratie in diesem Lande hat die Aufga-ben, die aus dem Leben in einer völlig neuen Zeit er-wachsen, nicht ausreichend verstanden.

(Zuruf von der SPD: Aber Sie haben sie ver-standen?)

Die innere Verfasstheit dieser Bundesrepublik Deutsch-land kann wieder in Ordnung gebracht werden. Dafüraber brauchen Sie Mut, Ideen und vor allen Dingen einKonzept.

Meine Damen und Herren, Sie wurden in den vergan-genen Tagen von Parteienforschern, aber auch von Ihreneigenen Parteimitgliedern mehrfach daran erinnert, dassdie Krux Ihres politischen Handelns darin besteht, dassSie keine Werteordnung haben, nach der Sie Ihre Ent-scheidungen ausrichten.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP – Lachen bei der SPD)

Deshalb – so hat es sinngemäß der ehemalige nieder-sächsische Ministerpräsident gesagt – können Hinz undKunz verkünden, was immer sie wollen. Sie haben kei-nen roten Faden, weil die innere Werteordnung fehlt.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Widerspruch bei der SPD)

– Lesen Sie, was im „Stern“ dazu steht!

(Ludwig Stiegler [SPD]: Lesen Sie die Aussa-gen von Herrn Merz!)

Ich bin froh, dass hier heute ein neuer niedersächsischerMinisterpräsident anwesend ist.

(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU – Beifallbei der FDP – Ludwig Stiegler [SPD]: Der re-det auch anders als Herr Merz!)

Ich hoffe, dass Sie mit Ihrer 140-jährigen Tradition,die Sie im Mai feiern können, eines Tages die Herausfor-derungen und die Dimension der Herausforderungen, diesich uns außen- und innenpolitisch im 21. Jahrhundertstellen, vollständig verstehen. Ich kann Ihnen nur sagen:Was wir heute gehört haben, waren punktuelle Antwor-ten, die bei weitem nicht ausreichen, um das aus unse-rem Land zu machen, was wir alle in diesem Haus ausihm machen wollen. Wir von der Union sind mit unse-rem Herzen und dem Verständnis für die Menschen da-bei, wenn es darum geht, die Menschen in die Lage zu

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versetzen, ihre Fähigkeiten voll entfalten zu können, undzwar im Sinne des Gemeinwohls.

Lassen Sie die Menschen dazu in der Lage sein! Las-sen Sie uns ihnen die Kraft geben! Lassen Sie uns dasunterstützen, was in dieser Bundesrepublik DeutschlandUnterstützung braucht! Lassen Sie uns den MenschenOptimismus geben! Lassen Sie eine Aufbruchstimmungaufkommen! Wecken Sie den Gründergeist! Dann wirdes mit Deutschland wieder aufwärts gehen. Wir von derUnion arbeiten daran, mit Herz und Verstand.

Herzlichen Dank.

(Lang anhaltender Beifall bei der CDU/CSU – Beifall bei der FDP)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Das Wort hat jetzt der Fraktionsvorsitzende der SPD,Franz Müntefering.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Franz Müntefering (SPD):

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Das hätte nun die Antwort der Opposition aufdie Regierungserklärung des Kanzlers sein sollen – wares aber nicht.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Man hat schon gemerkt, wie Frau Merkel immer vor-sichtig nach links hinten geguckt hat, um zu sehen, obihr da nicht jemand im Nacken sitzt, der anschließenddie eigentliche Rede des Tages hält.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Deshalb hat sie 20 Minuten gebraucht, um zum erstenKonkreten zu kommen. Das erste ganz Konkrete nach allden Dingen, die sie zunächst angesprochen hat, war dieSchornsteinfegerbereichsverordnung.

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das ist ein bisschen weniger als das, was man von derOpposition erwarten darf.

Das Zweite war ihre Feststellung, dass die kommuna-len Finanzen so tief in den Keller gegangen sind. Das istnicht neu. Interessant wird es, wenn man sich einmal dieStatistik anguckt – wie es manchmal so ist, hat man siein der Tasche –: 1992 33,14 Milliarden, 1998 24,4 Mil-liarden. Gucken Sie sich einmal dieses Diagramm an: Sowar das. Das war in der Zeit, als Sie regiert haben. In derZeit ist die Investitionsfähigkeit der Kommunen so zu-rückgegangen, wie es auf diesem Diagramm zu sehenist. Nachlesbar ist das im DIW-Wochenbericht 31/02.

Als Allererstes aber hat Frau Merkel gesagt, ohne sichnach links hinten umzugucken – darauf muss man nocheinmal zurückkommen –, eigentlich gehörten die Minis-terpräsidenten heute Morgen in den Bundesrat. Sie hat

Herrn Stoiber zur unerwünschten Person erklärt. Inzwi-schen ist er wohl auch gegangen.

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD)

Ich weiß nicht, ob ihm das so richtig bewusst gewesenist.

(Volker Kauder [CDU/CSU]: Sie waren auch schon besser!)

Eine Opposition, die in dieser Situation nicht weiß,wer bei ihr die erste Geige spielt, ist eine schwache Op-position. Sie sind eine schwache Opposition. Sie wissennicht, wer bei Ihnen das Sagen hat.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das gilt für die Innenpolitik und das gilt für die Au-ßenpolitik. Frau Merkel, dazu muss doch noch ein Wortgesagt werden. Die ungewöhnlich gebückte Haltung, inder Sie über den Teich geflogen sind, und die Klassen-strebermentalität, in der Sie sich in den USA erklärt ha-ben, waren peinlich für die Führerin der Opposition inDeutschland.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Da nutzt kein Schönreden und da nutzt es auch nichts,sich die Weltpolitik nachher sozusagen aus dem Stabil-baukasten noch einmal selbst zu erklären.

Die schlichte Wahrheit ist heute: Wenn Sie auf derRegierungsbank hier säßen, wäre das Bemühen Deutsch-lands um eine friedliche Lösung des Irakkonflikts nichtso erfolgreich und wäre die Welt nicht so weit gekom-men. Wir sind stolz auf das, was Gerd Schröder undJoschka Fischer hier geleistet haben und auch in Zukunftleisten werden.

(Lebhafter Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das war mutig und vorausschauend, als viele, auch beiuns im Land, noch gezweifelt haben. Es erweist sich nunals richtig.

Mutig und vorausschauend war auch das, was derBundeskanzler heute dem Deutschen Bundestag

(Volker Kauder [CDU/CSU]: Nicht gesagt hat!)

für die Politik im Inneren des Landes verdeutlicht hat.Herr Bundeskanzler, Sie haben die volle Unterstützungder SPD-Bundestagsfraktion für diese Politik.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetendes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN –Volker Kauder [CDU/CSU]: Donnerwetter,Müntefering! )

Deutschland hat Struktur- und Konjunkturprobleme –andere Länder übrigens auch; aber das ist kein Trost.Anstrengung ist gefordert. Wohlstand ist in Deutschlandaufbauend auf den Trümmern von 1945 gewachsen. Wirhaben uns in Deutschland an Wohlstand gewöhnt, daran,dass er wächst, und haben nicht immer realisiert, dass er

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Franz Müntefering

nicht selbstverständlich ist, dass er stets immer wiederneu und unter anderen Bedingungen gesichert und wei-terentwickelt werden muss, dass Wohlstand Vorausset-zungen hat. Wenn wir uns in Deutschland anstrengen,dann brauchen wir keine Angst zu haben. Wenn sich je-der und jede anstrengen, brauchen wir keine Sorgen zuhaben, was die Zukunft angeht. Das Potenzial für einegute Zukunft in Deutschland, dafür, in Wohlstand undsozialer Sicherheit zu leben, ist gegeben.

(Beifall bei der SPD)

Richtig, die Regierung muss sich anstrengen. Aberauch die Parteien, der Bundestag, der Bundesrat undviele andere im Land müssen sich anstrengen. Wir sinddazu bereit. Auch die Opposition muss sich im Übrigenanstrengen. Ein bisschen weniger Besserwisserei, HerrMerz, und ein bisschen weniger Selbstgerechtigkeit,Frau Merkel, was die Opposition angeht, wären schongut.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetendes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN –Volker Kauder [CDU/CSU]: Oberlehrer!)

Blockieren allein, Herr Wulff und Herr Stoiber, reichtnicht.

In Deutschland sitzen zu viele auf der Tribüne – dieOpposition gehört dazu; ich meine nicht Sie hier obenauf der Tribüne, sondern die politische Landschaft, dieGesellschaft –, die zuschauen und sagen, was alles nichtgeht und wie schlimm alles in diesem Land ist. Es sindzu wenige, die bereit sind, die Ärmel hochzukrempelnund die Dinge voranzubringen. Lassen Sie uns das mit-einander machen!

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wir sind selbstkritisch genug, um zuzugestehen: Ja-wohl, wir machen Fehler. Aber ich sage Ihnen ebenfalls:Wer sich, auch wenn er Fehler macht, anstrengt, ist tau-sendmal besser als diejenigen, die nur herumsitzen undsich das Maul zerreißen über das, was nicht geht. Wirbrauchen Leute, die bereit sind, die Ärmel hochzukrem-peln, anzupacken und das Land nach vorne zu bringen.Darum geht es.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Da sind auch Sie von der Opposition gefragt. Dasgeht nicht ohne Sie. Wir brauchen Sie dabei – nicht uns-retwegen, sondern für das Land. Es wird eine große He-rausforderung an die gesamte Opposition sein, wie siesich dieser Aufgabe stellt. Die Opposition gehört zur De-mokratie. Sie muss ihren Teil dazu beitragen, dass dieDinge gelingen können.

Die Strukturprobleme und Fragen – vielleicht auch dieStrukturkrise –, die wir haben, sind übrigens nicht neu.Die Folgen der Globalisierung, der Europäisierung undder demographischen Entwicklung waren schon in den90er-Jahren erkennbar. Wir haben in Deutschland in den90er-Jahren – ich meine das nicht nur parteipolitisch – dieZeit verschlafen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wir haben nicht hinreichend begriffen, dass außenpoli-tisch und innenpolitisch viel zu tun gewesen wäre. Wirhaben uns in Deutschland mit Helmut Kohl an der Spitzedarauf verlassen, dass der liebe Gott sozusagen von al-lein die Landschaften blühen lässt. Es ist nicht so. Wirmüssen unseren Teil dazu beitragen. Da ist innenpoli-tisch und außenpolitisch einiges nachzuholen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]:Das ist ja Unsinn! Wir haben Europa vorange-bracht! Der Euro ist nicht von allein gekom-men!)

– Herr Kauder, es ist schlimmer: Sie haben nicht nur dieDinge, die hätten getan werden müssen, verschlafen, son-dern haben die deutsche Einheit im Wesentlichen auf derGrundlage unserer sozialen Sicherungssysteme finan-ziert.

(Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Unter großer Zustimmung der SPD!)

Jetzt schimpfen Sie, dass diese Sicherungssysteme nichtfunktionieren. Sie waren hauptschuldig daran, dass die-ser Bereich explodiert ist.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetendes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN –Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Ihre Minister-präsidenten haben doch zugestimmt!)

Der Kanzler hat Ihnen die Zahlen genannt: Anstiegder Lohnnebenkosten von 32 auf 43 Prozent. Es warendoch Sie, die das zugelassen und dafür gesorgt haben,dass Kosten hineingerechnet worden sind, die eigentlichnicht hineingehört hätten.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ich wundere mich im Übrigen immer, mit welcher To-leranz Sie zugestehen, dass der gesamte Bereich der ille-galen Beschäftigung zunehmend alle sozialen Siche-rungssysteme belastet. Unternehmen, die in den großenUnternehmensverbänden von Herrn Rogowski undHerrn Hundt vertreten sind, sorgen mit Schwarzarbeit,illegaler Beschäftigung und Subsubunternehmen, also anden großen Unternehmen vorbei, dafür, dass der ehrlicheUnternehmer und der ehrliche Arbeitnehmer – das ist inDeutschland leider wahr – die Dummen sind und die an-deren sich ins Fäustchen lachen. Das darf so in Deutsch-land nicht bleiben.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wir haben zwischen 1998 und 2002 vieles inDeutschland in Bewegung gebracht.

(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Das kann man sagen!)

Wir haben uns außenpolitisch neu justiert. Diese Neujus-tierung – gerade kam der Zuruf „Das kann man sagen“ –ist uns zwar nicht leicht gefallen, aber wir alle sind stolz,dass wir während unserer Regierungszeit – und nicht Sie –

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Franz Müntefering

diese Neujustierung vorgenommen haben. Die Bereit-schaft, dass Deutschland als souveränes Land in EuropaRechte und Pflichten mit allen Konsequenzen über-nimmt, wie zum Beispiel auf dem Balkan, in Afghanis-tan oder in anderen Teilen der Welt, geht auf die Erfolgs-politik von Schröder und Fischer zurück und nicht aufIhre Politik.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

In den vier Jahren von 1998 bis 2002 haben wir die ga-loppierende Neuverschuldung gebremst. 1998 mussteder Bundesfinanzminister von jeder Mark aus den Steu-ereinnahmen des Bundes 22 Pfennig an Zinsen zahlen.Heute sind es nur noch 19 Pfennig. Wir sind stolz aufdas, was wir in diesen vier Jahren erreicht haben. DiesenWeg, die Höhe der Nettokreditaufnahme zu senken, wer-den wir weitergehen und wir werden dieses Ziel weiter-hin im Auge behalten, weil unsere Kinder und Kindes-kinder von uns etwas anderes erben sollen als nurSchuldscheine und Hypotheken.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wir haben in den letzten vier Jahren im Kern auch diezusätzliche Alterssicherung beschlossen. Sie ist nun aus-zugestalten.

Wir stehen nun vor der schweren Aufgabe – das istdie Hauptaufgabe in dieser Legislaturperiode; ihre Erle-digung wird allerdings länger als vier Jahre dauern –,den Wohlstand dauerhaft zu sichern und den Sozialstaatin seiner Substanz zu garantieren. So sagt es auch derKoalitionsvertrag mit den Worten Erneuerung, Gerech-tigkeit und Nachhaltigkeit. Im Regierungsprogramm derSozialdemokraten stehen dafür die Worte Erneuerungund Zusammenhalt.

Wir wollen Wohlstand sichern und die Substanz desSozialstaates garantieren. Wenn man beide Aufgabenernst nimmt, erkennt man, dass man zuerst den Wohl-stand sichern muss. Wir alle, die wir über soziale Ge-rechtigkeit sprechen und sie erhalten wollen, müssenimmer bedenken, dass es soziale Gerechtigkeit auf ho-hem wie auch auf niedrigem Niveau gibt. Wir alle gehenautomatisch davon aus, dass das Niveau der sozialen Ge-rechtigkeit in Deutschland hoch ist und dass der Wohl-stand, der über 50 Jahre gewachsen ist, mindestens sobleibt wie heute. Das wollen wir auch erhalten. Aberselbstverständlich ist das nicht. Deshalb ist es die vor-rangige Aufgabe unserer Politik, dafür zu sorgen, dasswir dieses hohe Niveau der sozialen Gerechtigkeit erhal-ten, um darauf aufbauend den Sozialstaat in seiner Sub-stanz so zu organisieren, wie diese Koalition das will.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Zur Sicherung des Wohlstands tragen auch Investi-tionen in Bildung und Forschung bei. Ich kann nur be-stätigen, was manche Redner angesprochen haben undwas der Bundeskanzler zum Schluss seiner Regierungs-erklärung verdeutlicht hat. Auch in der Rede von FrauMerkel kam dieses Thema vor, allerdings hat sie es

falsch interpretiert. Frau Merkel, was Innovationen undwas Forschung und Technologie angeht, können wir unsmit dem, was wir in den letzten vier Jahren erreicht ha-ben, sehr gut sehen lassen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Der Etat des Ministeriums für Bildung und Forschung istseit 1998 um 25 Prozent gestiegen. Deshalb war es mög-lich, auch in diesem Jahr die Mittel für die Deutsche For-schungsgemeinschaft um 2,5 Prozent zu erhöhen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Deshalb liegen wir im internationalen Vergleich, was dieAusgaben bei Forschung und Entwicklung angeht, imoberen Mittelfeld. Bei den kleinen Biotechnologieunter-nehmen sind wir Spitze. Die Quote der Studienanfängerist von 1999, als sie bei 28,5 Prozent lag, auf jetzt35,6 Prozent gestiegen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

In den letzten Jahren haben wir 40 Lehrstühle für Exis-tenzgründer geschaffen.

Trotz der guten Zahlen aus den letzten Jahren ist dieAufgabe aber noch nicht erfüllt. Wenn man die Alters-sicherung und die Sicherung des Sozialstaates gewährleis-ten will, sind Innovationen und das Investieren in dieKöpfe und in die Herzen der Jungen, in die Forschung, indie Entwicklung, in die Technologie und in die Existenz-gründungen der entscheidende Punkt. Wichtiger als allesandere ist, in die Köpfe und die Herzen der jungen Men-schen zu investieren. Das ist die Zukunft des Landes. Dortmuss der Schwerpunkt unserer Politik in Zukunft liegen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Zur Wohlstandssicherung gehört, dass Jugendlicheeine Chance haben. Ich unterstütze ausdrücklich, wasSie, Herr Bundeskanzler, zur Erwartung an die Unter-nehmen gesagt haben. Darüber hinaus müssen auch dieSchulen, die Eltern und die jungen Menschen ihren Teildazu beitragen. Das Ziel, das sich die Koalition auf dieFahnen geschrieben hat, ist, dass kein junger Menschvon der Schulbank in die Arbeitslosigkeit rutscht. Das isteine der wichtigsten Forderungen, die wir stellen und ander wir festhalten müssen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Das Schlimmste, was wir jungen Menschen zumutenkönnen, ist, dass sie lernen, dass sie pauken – wir sagenihnen immer, wie wichtig das ist –, und wenn sie dieSchule beendet haben, müssen wir ihnen sagen, dass esleider keine Stelle für sie gibt: Setze dich in die Ecke, dubekommst Stütze, halte den Mund und störe uns nicht!Das ist das Schlimmste, was jungen Menschen passierenkann. Das verstößt gegen die Würde des Menschen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

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2508 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2003

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Franz Müntefering

Deshalb brauchen wir das, was die Unternehmer unddie Politik leisten können, um an dieser Stelle zu stoppenund die jungen Menschen zu fördern und zu fordern. Ichunterstütze Wolfgang Clement ausdrücklich dabei, allesdafür zu tun, dass wir an dieser Stelle anfangen. InDeutschland gibt es 580 000 arbeitslose junge Menschenunter 25 Jahre. Zwei Drittel davon haben keine Ausbil-dung. Der Sockel der nicht ausgebildeten jungen Men-schen steigt immer weiter. Das kann so nicht weiterge-hen; denn das ist der Sockel, der in dieser Wirtschaftspäter nicht mehr erwerbsfähig ist.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Zur Wohlstandssicherung gehört auch der Bereich derInvestitionen; der Kanzler hat es angesprochen und deut-lich gemacht. Ich hoffe, dass Herr Stoiber inzwischen imBundesrat ist und dort dafür sorgt, dass das Steuer-vergünstigungsabbaugesetz doch beschlossen wird;

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

denn davon hängt es ab, ob die Gemeinden bis zumJahre 2006 etwa 7 Milliarden Euro zusätzlich zur Verfü-gung haben. Man muss sich das noch einmal auf derZunge zergehen lassen: 7 Milliarden Euro erhalten dieKommunen durch das Steuervergünstigungsabbauge-setz zusätzlich.

Frau Merkel, es war Heuchelei und nicht ehrlich, dassSie uns hier mit Kulleraugen erzählt haben, man müsseden Gemeinden helfen, damit sie ihren Aufgaben gerechtwerden können; denn Sie veranlassen gleichzeitig, dassIhre Ministerpräsidenten im Bundesrat dafür sorgen,dass gegen das Gesetz gestimmt wird.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Opposition muss dafür sorgen, dass die Kommunenhandlungsfähig sind.

Die CDU- und CSU-Oberbürgermeister und -Bürger-meister haben die Folgen des Steuervergünstigungs-abbaugesetzes schon längst in ihren Haushalten dernächsten Jahre berücksichtigt. Es ist so absurd: Siekämpfen hier und im Bundesrat dagegen und die CDU-und CSU-Oberbürgermeister und -Bürgermeister rech-nen dringend mit dem Geld, das wir ihnen geben wollen.Sie wollen es ihnen aber verweigern.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, zur Wohlstandssi-cherung gehört auch das schwierige Kapitel, das ich mitfolgender Leitlinie überschreiben will: Alle Arbeit, diees in Deutschland gibt, muss von denen getan werden,die legalerweise in Deutschland sind. An dieser Stellekneifen wir oft. Es gibt nicht nur die Arbeitslosigkeit,sondern es gibt auch die Erwartung, dass eine bestimmteArbeit mit einem bestimmten Status und einem be-stimmten Stundenlohn an einer bestimmten Stelle an-fällt. Das geht nicht zusammen. Ich bitte dringend, dasswir intensiv darüber diskutieren, was man hier machenkann und muss. Es kann nicht sein, dass wir in Deutsch-

land eine hohe Arbeitslosenzahl haben und es Arbeitgibt, die nicht getan wird, sodass Menschen aus demAusland geholt werden müssen, die sie leisten. Es kannnicht sein, dass Arbeitslose bestimmte Arbeiten wegendes Status nicht erledigen.

Die Lösung dieses Problems ist nicht leicht. Durchdie Umsetzung des Hartz-Konzeptes haben wir damitbegonnen. Mit den Projekten, über die wir jetzt reden,gehen wir die nächsten Schritte. Hierin stecken Fördernund Fordern. Die, die wir dabei angucken, müssen wis-sen, dass wir es ehrlich meinen. Wir wollen das nicht aufKosten der unteren Schicht und derer, die arbeitslos sind,austragen. Wir müssen dafür sorgen, dass sie im Kleinenund im Großen die Chance haben, in den Arbeitsmarkthineinzuwachsen. Das ist unsere Aufgabe, an ihr habenwir zu arbeiten. Ich bestehe aber darauf: Wir müssen al-les dafür tun, dass die Arbeit, die es in Deutschland gibt,von denen getan wird, die in legaler Weise in diesemLand sind.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dabei bleibt die Bekämpfung der Arbeitslosigkeitdie Aufgabe aller. Hier hat Hartz Recht gehabt – das istin den Debatten der vergangenen Monate ein wenig un-tergegangen –: Er hat immer gesagt, dass die Politik dasnicht alleine kann und dass alle in der Gesellschaft ander Bekämpfung der Arbeitslosigkeit zu beteiligen sind.Deshalb appelliere auch ich noch einmal an die Gemein-den, die Landkreise und die Länder: Steigen Sie nichtaus der Finanzierung von Beschäftigungsinitiativen undQualifizierungsgesellschaften vor Ort aus, damit dieMenschen eine Anlaufstelle haben und unterkommenkönnen. Wir brauchen sie auch in Zukunft.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Der Kanzler hat deutlich gemacht – der Wirtschafts-und Arbeitsminister tut das auch –, dass wir die Brückevon der jetzigen Situation, die unbefriedigend ist, zudem, was Hartz bedeutet, bauen wollen. Das gilt auchfür das, was im nächsten Jahr, wenn die Arbeitslosen-und die Sozialhilfe zusammenwachsen, Schritt fürSchritt zu leisten ist.

Zur Wohlstandssicherung gehört ein ehrliches Wortüber die Länge unserer Lebensarbeitszeit. Das warenfrüher 50 Jahre. Mit 13 oder 14 Jahren begann man ei-nen Beruf, mit 64 oder 65 Jahren stieg man aus dem Er-werbsleben aus. Heute liegt das Durchschnittsalter beimArbeitsbeginn bei 21 Jahren, weil viele studieren. Übri-gens sind das nicht zu viele, sondern eher noch zu we-nig; manche finden auch keinen Job. Das Durchschnitts-alter beim Ausstieg aus dem Erwerbsleben liegt bei59 Jahren. Die Lebenserwartung liegt heute höher als1950, nämlich um sieben Jahre. Aber die Lebensarbeits-zeit wird kürzer. Die ganze Last konzentriert sich auf die38 Arbeitsjahre zwischen 21 und 59 Jahren. Das kann sonicht weitergehen.

Deshalb müssen wir klar sagen: Es ist nötig, dass sichdas faktische Renteneintrittsalter von 59 Jahren auf65 Jahre verschiebt. Das müssen wir erreichen. Wir müs-

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sen uns von der Vorstellung trennen, es sei schick und so-zialpolitisch vernünftig, einen Menschen mit 50, 52 oder55 Jahren in Rente zu schicken. Nein, ein Mensch kannund muss auch noch mit 55, 60 oder 65 Jahren die Chancebekommen zu arbeiten.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Dabei wird deutlich, dass ein vernünftiger Umgangmit der Dauer des Arbeitslosengeldes an dieser StelleSinn macht. Der frühe Ausstieg aus dem Erwerbslebenist kein biblisches Gesetz. Das ist vor zehn Jahren ge-macht worden – viele haben damals Blüm Beifall ge-klatscht –, als es darum ging, den großen Unternehmendie Möglichkeit zu geben, Sozialpläne zu finanzieren.Bei diesem Punkt geht es um Ehrlichkeit bzw. Unehr-lichkeit. – Herr Gerhardt, Sie nicken; Frau Merkel kenntdiese Praxis noch nicht so genau. – Damals sind die Ar-beitslosenversicherungsbeiträge kräftig angehoben wor-den, damit große Unternehmen Menschen mit 55 oder57 Jahren entlassen konnten, die ein hohes Arbeitslosen-geld bekamen, um danach in Rente zu gehen. Das ist dieWahrheit.

Wenn wir deutlich machen, dass wir es uns nicht leis-ten können, dass Menschen mit 55 oder 57 Jahren inRente gehen, dann müssen wir auch sagen, wie wir diesanders regeln. Dies wird keine Strafaktion. Da gibt es ei-nen Vertrauensschutz. Aber wir müssen eine sinnvolleRegelung finden, um die Wirtschaft und den Arbeits-markt an dieser Stelle zu reformieren.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Zum Wohlstand gehört, dass wir ein anderes großesArbeitspotenzial, das wir haben, besser als bisher nutzen.Ich spreche von der Arbeitskraft der Frauen, von der Ge-neration der jüngeren Frauen in diesem Land.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Die Erwerbstätigkeit der Frauen liegt im Westen bei60 Prozent, im Osten bei 73 Prozent. Das kann so nichtbleiben. Wir brauchen das Wissen, das Können und dieKreativität von Frauen. Wir müssen ihnen auch Lebens-chancen bieten. Das verbindet sich mit dem, was zwarheute nicht Hauptthema ist, aber was ebenfalls auf unse-rer Agenda steht: Hilfe zur Ganztagsbetreuung, damitdie Frauen die Chance bekommen, Familie und Beruf zuvereinbaren.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wir wollen in diesem Jahrzehnt endlich erreichen,dass auf Parteitagen nicht nur über Quoten gesprochenwird, sondern dass die Generation unserer Töchter undEnkeltöchter die reale Chance hat, Familie und Berufvernünftig miteinander zu verbinden.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wohlstand und soziale Gerechtigkeit: Soziale Gerech-tigkeit ist nicht dasselbe wie Gleichheit. Gerechtigkeit

beinhaltet immer auch die Frage von Leistungsfähigkeitund Leistungswilligkeit des Einzelnen. Soziale Gerech-tigkeit ist aber nur möglich, wenn der Zusammenhalt inder Gesellschaft organisiert ist.

Der Begriff der Eigenverantwortung, Frau Merkel,schreckt uns nicht. Sie wissen: Die sozialdemokratischeÜberzeugung orientiert sich immer am Einzelnen. Ei-genverantwortung wird bei uns groß geschrieben. AberEigenverantwortung ist nur glaubhaft, wenn bei allerVerantwortung, die Eltern für ihre Kinder haben, derStaat, die Gemeinschaft aller – der Staat ist keine Krake,die die Menschen ausbeuten will, sondern die berech-tigte und vereinbarte Organisation der Gesellschaft –,

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

in der Lage ist, die Rahmenbedingungen für Kindergär-ten, Schulen und Hochschulen so zu gestalten, dass auchKinder aus Arbeiterfamilien diese Schulen besuchenkönnen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sie können so viel reden, wie Sie wollen: Wir laufenvor dem Staat nicht weg. Wir wissen, dass der Staat allenGrund hat, sparsam zu sein und schlank zu werden. JederEuro, den er ausgibt, ist das hart verdiente Geld seinerBürger. Aber ohne den Staat geht es nicht. Auch für die Zu-kunft muss gelten: Eigenverantwortung und Zusammen-halt, Wohlstand und soziale Gerechtigkeit haben damit zutun, dass alle Menschen in der Gesellschaft handlungsfähigbleiben und die Chance zur Selbstverwirklichung undEigenverantwortung erhalten.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wir sprechen viel über Generationengerechtigkeit.Bei all dem, was wir zu den Sozialversicherungssyste-men zu sagen haben, wird uns das noch beschäftigen.Dafür bleibt heute nicht viel Zeit. Ich will aber deutlichmachen, dass wir nicht dem manchmal geäußerten Irr-glauben anhängen, dass die totale Privatisierung allerLebensrisiken das Beste wäre. Ich sage Ihnen: Es gibtin einer Gesellschaft nichts Besseres, als dass Menschenfür Menschen da sind

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

und man sich bei existenziellen Lebensproblemen aufMenschen verlassen kann. Diese sozialen Sicherungssys-teme, die wir finanzieren, sind sicherer als alle Lebens-versicherungen und Aktien. Wir wollen, dass Generatio-nen auch in Zukunft im vernünftigen Gleichschritt – nachdem Motto: Jeder trägt seine Last – füreinander sorgen.Das ist besser als alles andere.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das gilt im Übrigen auch – ich bin sehr dankbar dafür,dass es in diesem Zusammenhang klare Worte gab – fürdie gesetzliche Krankenversicherung. Manche sagen:Ich weiß nicht, ob ich das wieder herausbekomme, was

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2510 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2003

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Franz Müntefering

ich eingezahlt habe. Das ist in der Tat so. Das ist aberauch nicht der Sinn. Eine Krankenversicherung ist keinSparklub. Die Krankenversicherung funktioniert nur,wenn viele wissen, dass sie mehr einzahlen, als sie he-rausbekommen, damit einige, die darauf angewiesensind, mehr herausbekommen, als sie einzahlen. So funk-tioniert das ganze System.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Jeder kann der Betroffene sein, jeder kann – auch injungen Jahren – verunglücken oder behindert sein undviele Jahre lang darauf angewiesen sein, dass sich dieGesellschaft für ihn engagiert. Insofern steht dieses Prin-zip nicht zur Disposition.

Zur sozialen Gerechtigkeit gehört, dass alle Gruppen– der Kanzler hat das deutlich gemacht –, auch der öf-fentliche Bereich, ihren Teil leisten. Ohne jemandemvorzugreifen, sage ich deshalb: Die Koalitionsfraktionenhaben gestern vereinbart, dem Deutschen Bundestagvorzuschlagen, zum 1. Januar 2004 die Diäten nicht zuerhöhen und das übliche Sterbegeld für Abgeordnete ab-zuschaffen. Mit diesem Vorschlag leisten wir einen Teilunseres Beitrages.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wenn wir in Deutschland die Dinge in den Griff be-kommen wollen, brauchen wir das Miteinander. Daswissen wir. Ein Großteil dessen, was der Kanzler vorge-schlagen hat, können wir nicht allein mit der Mehrheitdes Bundestages erreichen. Dafür brauchen wir die Zu-sammenarbeit und die Zustimmung des Bundesrats. Beiallem Streit muss es im Interesse des Landes möglichsein – darauf setzen wir –, dass das gelingt.

Die Koalition und diejenigen aus der CDU/CSU, diemit sozialer Marktwirtschaft noch etwas anfangen kön-nen, können zusammenarbeiten und gemeinsam vernünf-tige Gesetze machen. Herr Schäuble, von Ihnen – FrauMerkel sehe ich im Augenblick nicht – erwarte ich, dassSie diejenigen stoppen, die mit großer Lust und Arro-ganz dabei sind, grundlegende Gemeinsamkeiten zu zer-stören. Ich spreche Herrn Merz, Herrn Westerwelle undauch Herrn Rogowski an: Das, was in den letzten Tagenund Wochen gelaufen ist, muss aufhören. Herr Merzsprach in Bezug auf die Gewerkschaften vom „Sumpfaustrocknen“. Betriebsräte sollte es im Osten nur noch inBetrieben mit über 80 Beschäftigten und im Westen inBetrieben mit über 20 Beschäftigten geben. Das Wahl-recht sollte so geändert werden, dass nicht so viele Ab-geordnete im Deutschen Bundestag Mitglied in einerGewerkschaft sein könnten.

(Zuruf von SPD: Unverschämtheit!)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, das rührt an dieGrundwerte unserer Demokratie. Das ist kein Spaßmehr, sondern das demaskiert Sie.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Leute, die so reden, sind formal Demokraten, sie ha-ben aber nicht verstanden, dass Wirtschaft und Demo-kratie etwas miteinander zu tun haben. Die Wirtschaft istfür die Menschen da und nicht umgekehrt. Die Demo-kratie gehört zur Wirtschaft.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wenn ich Herrn Westwelle höre, dann sehe ich FrauThatcher schon ihr Handtäschchen schwingen.

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ihre Vorschläge gehen in die Richtung, die man vonGroßbritannien kennt. Darauf lassen wir uns aber nichtein.

Der Deutsche Bundestag wird bei dem, was jetzt zutun ist, eine wichtige Rolle spielen.

(Abg. Dr. Guido Westerwelle [FDP] hält eineDamenhandtasche hoch – Heiterkeit im gan-zen Hause)

– Herr Westerwelle, das habe ich doch vermutet.

(Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Nein! Das haben Sie gewusst, mein Lieber!)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Eventkultur im Deutschen Bundestag.

Franz Müntefering (SPD):

Bis zum Sommer werden wir drei große Komplexe inGesetzesform zusammenbinden: das Gesundheitswesen,die Gemeindefinanzreform einschließlich Arbeitshilfeund Sozialhilfe und den großen Komplex Mittelstand,Wachstum, Handwerksordnung, Arbeitsmarkt, Arbeits-recht. Wenn die Koalition die Eckpunkte hierfür fertighat, werden wir die Opposition einladen, gemeinsam mituns im Deutschen Bundestag diese Gesetze zu beratenund zu verabschieden.

Es wäre nicht schlecht für die politische und demo-kratische Kultur in unserem Land, wenn wir uns nichtauf die scheinbare Selbstverständlichkeit einließen, dasssich in der ersten Lesung die Koalition und die Opposi-tion gegenüberstehen und dass das Vorhaben dann in denBundesrat kommt, wo es sozusagen im Rat der Weisenberaten und letztlich im Vermittlungsausschuss entschie-den wird. Es wäre weiß Gott nicht schlecht für diesesParlament, wenn wir nach der ersten Lesung, in der sichunsere Meinung und die der Opposition gegenüberste-hen, den Mut und die Entschlossenheit aufbringen wür-den, in den Sitzungen der Ausschüsse und auch in Ge-sprächen dafür zu sorgen, dass wir in der zweiten unddritten Lesung zu gemeinsamen Entscheidungen kom-men können. – Herr Seehofer nickt. Lassen Sie uns dasalso einmal versuchen!

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2003 2511

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Franz Müntefering

Ich will Ihnen auch noch einen Tipp geben, FrauMerkel. Ich kann Frau Merkel gerade nicht entdecken.

(Abg. Dr. Angela Merkel [CDU/CSU] meldet sich)

– Entschuldigung. – Alle Gesetze, die wir im Bundestaggemeinsam zustande bringen, bedeuten: Vorteil Merkel.

(Heiterkeit bei der SPD)

Alles, was wir im Bundesrat bzw. im Vermittlungsaus-schuss erreichen, bedeutet: Vorteil Stoiber. Das ist dochauch ein schönes Argument. Denken Sie deshalb einmaldarüber nach, wie Sie damit umgehen wollen!

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, Frau Merkel hat es bereitsangesprochen: Die deutsche Sozialdemokratie wird inwenigen Wochen, am 23. Mai, 140 Jahre alt. Was dieFrage der Werte angeht, brauchen wir keine Ratschläge.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Als die Sozialdemokraten seinerzeit zusammentraten,hat der spätere Präsident des Allgemeinen DeutschenArbeitervereins, Lassalle, ein Schreiben an die Konfe-renz gerichtet, die nach seinen Beweggründen gefragthatte. Damals gab es in Deutschland nur die Arbeiterbil-dungsvereine. – Sie, meine Damen und Herren von derOpposition, gab es noch gar nicht. –

(Heiterkeit bei der SPD)

Daraufhin hat Lassalle gewissermaßen das erste Pro-gramm meiner Partei verfasst. Damals waren die Pro-gramme noch kürzer. Ich habe sie immer gerne gelesen.

(Heiterkeit bei der SPD)

Er hat zwei Grundwerte formuliert: Wenn du willst,dass es besser wird, dann mach dich auf den Weg undwarte nicht ab, dass irgendjemand kommt, der das fürdich tut.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Der zweite lautet: Wenn du willst, dass es besser wird,dann musst du wissen: Allein schaffst du das nicht. Dubrauchst Leute, mit denen zusammen du das tust.

(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]:Für diese Erkenntnis habt ihr vier Jahre ge-braucht!)

Er hat damals gesagt: Geh in einen Verein! Wir würdenheute sagen: Mach in einer der demokratischen Parteienmit! Am besten in unserer; das ist klar.

Das sind die Grundwerte, an denen wir uns orientie-ren, Frau Merkel. Es geht darum, sich nicht mit den Ge-gebenheiten abzufinden. Es geht nicht darum, zu glau-ben, dass das Paradies auf Erden oder die Schaffungeines neuen Menschen möglich sind. Es waren immerlinke oder rechte Fundamentalisten, die das geglaubt ha-ben. Die Sozialdemokraten waren dagegen immer Refor-mer, die gewusst haben: Wenn wir zwei Schritte nach

vorn gehen, gehen wir einen oder manchmal sogar zweiSchritte zurück. Aber wir lassen uns dabei nicht in dieKnie zwingen.

(Beifall bei der SPD)

Ich versichere Ihnen: Wir werden auch das schaffen.Wir werden Deutschland und der internationalen Gesell-schaft zeigen, dass wir auf internationaler Ebene wieauch in Deutschland diejenigen sind, die besser als alleanderen politischen Gruppen in diesem Land in dieserKoalition mit den Grünen garantieren können, dass inDeutschland Wohlstand und soziale Gerechtigkeit dauer-haft gewährleistet bleiben.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Langanhaltender Beifall bei der SPD – Beifallbeim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Bundes-kanzler Gerhard Schröder überreicht demSPD-Fraktionsvorsitzenden Franz Münteferingeinen Blumenstrauß – Bundesminister OttoSchily gratuliert dem Fraktionsvorsitzenden)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Für die FDP erhält jetzt der Abgeordnete GuidoWesterwelle das Wort.

(Beifall bei der FDP)

Dr. Guido Westerwelle (FDP):

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber HerrKollege Müntefering, ich möchte mich jetzt nicht überdie bei Ihnen und bei mir neu entdeckte Leidenschaft fürHandtaschen unterhalten. Aber das, was gerade stattge-funden hat, nämlich dass der Bundeskanzler Ihnen, HerrKollege Müntefering, hier einen Blumenstrauß über-reicht hat, ist bemerkenswert.

(Franz Müntefering [SPD]: Da ist leider ein biss-chen viel Gelb darin, Herr Westerwelle!)

– Um das klar zu sagen: Blumen können gar nicht genugGelb haben. – Das ist, in allem Ernst, deshalb besondersbemerkenswert, Herr Kollege Müntefering, weil Siewährend und besonders am Schluss Ihrer Rede genaudas zum Ausdruck gebracht haben, was wir als Opposi-tion an Ihnen kritisieren. Für Sie ist zum Beispiel sozialeGerechtigkeit ausschließlich eine Kategorie des Staates.Wir setzen dagegen auf die Bürgergesellschaft. Das istder große Unterschied.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Es ist auch bemerkenswert, wie Sie am Schluss IhrerRede die große Tradition der Sozialdemokraten – nie-mand würde ihnen diese absprechen – beschworen ha-ben. Sie haben im Grunde genommen darauf verwiesen,was vor 140 Jahren wie besprochen wurde. Vor demHintergrund dieses Weltbilds des 19. Jahrhunderts den-ken und handeln Sie heute noch immer. Das ist das Pro-blem der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

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2512 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2003

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Dr. Guido Westerwelle

Sie haben vor etwa drei Monaten gegenüber dem „Ta-gesspiegel“ wörtlich gesagt – das ist, auf drei Sätze ge-bracht, die Geisteshaltung der Sozialdemokraten in die-sem Haus –:

Dennoch, was wir machen, ist richtig. Weniger fürden privaten Konsum und dem Staat Geld geben,damit Bund, Länder und Gemeinden ihre Aufgabenerfüllen können. Dazu muss man sich auch beken-nen.

Herr Bundeskanzler, genau dazu – mehr für den Staat,weniger für die Bürger – haben Sie sich mit Ihrem Kon-junkturprogramm bekannt. Wir sind der Meinung, dasses umgekehrt besser ist, und sagen deshalb: Gebt denBürgern mehr Freiheit, mehr Mittel und mehr Möglich-keiten, dann geht es auch dem Staat besser! Das ist derfundamentale Unterschied zwischen Regierung und Op-position.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Die heutige Regierungserklärung des Bundeskanz-lers, vor allem die Schlusspointe, hat durchaus einen be-merkenswerten Sinn für Humor offenbart. Am Schlussseiner Rede hat der Bundeskanzler wörtlich gesagt:

Aber ich bin entschlossen, nicht mehr zuzulassen,dass Probleme auf die lange Bank geschoben wer-den.

Das fällt einem Bundeskanzler ein, der am heutigen Tag1 600 Tage im Amt ist! Genau das ist das Problem: DieReden des Bundeskanzlers bewirken nichts. Sie müssenhandeln und endlich Ihren Worten Taten folgen lassen.In der heutigen Regierungserklärung war keine Linie.Sie war eine einzige Liste, nicht mehr!

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Die heutige Regierungserklärung sollte eigentlich– tatsächlich ist nur ein bisschen Vibration übrig geblie-ben – eine „Ruck-Rede“ werden. Sie ist vom Kanzleramtinszeniert worden. Sie haben vorab entsprechende Erklä-rungen an die Öffentlichkeit geben lassen. Allein dasVorspiel zu dieser Rede – es wurde zum Beispiel dieFrage erörtert, welche Erwartungen man haben darf –war bemerkenswert. Als ich dann aber die Regierungs-erklärung, die mir gestern Nacht nach Hause gefaxtwurde, gelesen habe, habe ich mich gefragt: Wo ist derRuck? Es war lediglich ein bisschen Gezitter, Gebibberund Rhetorik. Diese Rede bestand in weiten Teilen ausLyrik. Sie haben vor allen Dingen dann geklatscht, wennes darum ging, die Interessen der Gewerkschaftsfunktio-näre zu verteidigen, aber nicht, wenn es darum ging, dasLand zu modernisieren.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Übrigens, Herr Kollege Müntefering, man kann sichim Deutschen Bundestag sicherlich eine Menge vorwer-fen. Aber es ist, glaube ich, nicht angemessen, dass SieOppositionspolitikern dieses Hauses vorwerfen, sie seiennur Formaldemokraten. Darüber sollten Sie noch einmalnachdenken.

Während Herr Kollege Müntefering hier erklärt hat,wie wichtig die Politik der Gewerkschaftsfunktionäre

sei, ist über die Agenturen die Nachricht über die ersteReaktion Ihres grünen Parteifreundes Bsirske, des Verdi-Chefs, verbreitet worden. Er sagte zur Regierungserklä-rung von Gerhard Schröder wörtlich:

Nach 16 Jahren Umverteilung von unten nach obenwird uns jetzt gesagt: Es war noch nicht genug Um-verteilung.

Ich sage Ihnen dazu: Wir brauchen in Deutschland starkeGewerkschaften, auch starke Tarifparteien. Aber wennGewerkschaftsfunktionäre nicht mehr die Interessen ih-rer Mitglieder, der Arbeitslosen oder der Arbeitnehmervertreten, dann gehören sie mit ihrem funktionärischenDenken entmachtet und das werden wir in Angriff neh-men, wobei wir auch einen Konflikt nicht scheuen.

(Beifall bei der FDP)

Genau das ist es doch, was in Wahrheit von Ihnenhätte kommen müssen. Deswegen ist es in der Regie-rungserklärung auch nicht gebracht worden. Wo Sie kon-kret hätten werden müssen, haben Sie, Herr Bundes-kanzler, Ausflüchte gemacht. Beispiel: Was ist denn inWahrheit das große Problem im Tarifvertragsrecht? Nie-mand sagt doch: Das Tarifvertragsrecht soll abgeschafftoder aufgehoben werden. Was wir sagen, ist, dass dasFlächentarifvertragsrecht so nicht mehr in eine mo-derne Dienstleistungsgesellschaft passt. Das hat einenganz einfachen Grund. Wir erfahren immer wieder beiGesprächen und Verhandlungen auch in der Politik, dasseine Unternehmerschaft und die Belegschaft eines Un-ternehmens sich auf etwas verständigt haben oder ver-ständigen wollen und anschließend Gewerkschaftsfunk-tionäre kommen und im wahrsten Sinne des Worteseinen roten Strich durch das machen, was souverän inden Betrieben vereinbart wurde. Das hätte die Antwortdes Bundeskanzlers werden müssen, was die Flexibili-sierung des Arbeitsmarktes betrifft. Wenn sich75 Prozent einer Belegschaft mit der Betriebsführungauf etwas verständigen, dann soll das auch gelten dürfen,ohne dass ein Gewerkschaftsfunktionär auf seinem Le-dersessel das verhindern kann.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Dasselbe Problem zeigt sich bei dem, was hier zumKündigungsschutz gesagt worden ist. Ich freue mich,dass der Bundeswirtschaftsminister noch da ist. Es istohnehin eine Frage des Stils, was wir heute Vormittag er-lebt haben. Vielen Dank an diejenigen von der Regie-rung, die noch hier sind.

(Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Der Bundes-kanzler kommt gleich wieder!)

– Dass jemand einmal kurz weg ist, ist kein Problem. Ichwill Ihnen trotzdem eines dazu sagen, bei allem Respekt.Ich habe das Verhalten der Regierung während der Redevon Frau Kollegin Merkel verfolgt. Man kann zu jederRede in diesem Hause eine bestimmte Meinung haben,aber wie sich diese Regierung auf der Regierungsbankmit Faxen und zum Teil Klamauk verhält, wenn Leutevon der Opposition reden,

(Zuruf von der SPD: Klamauk machen Sie doch!)

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Dr. Guido Westerwelle

wirft die Frage nach dem Stil auf. Dieser Stil tut meinerEinschätzung nach der Demokratie nicht gut.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Der eine telefoniert mit dem Handy, der Außenministerwandert durch die Gänge und macht irgendwelche Fa-xen. Sie benehmen sich auf der Regierungsbank zumTeil wie pubertierende Schüler im Aufklärungsunter-richt. Das ist mittlerweile unerträglich geworden.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –Widerspruch bei der SPD und dem BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich bitte das Präsidium des Bundestages, sich dieserFrage einmal anzunehmen und vor allen Dingen der Re-gierung mitzuteilen, dass hier das VerfassungsorganDeutscher Bundestag tagt und die Regierung gefälligstmit Respekt gegenüber den Parlamentariern aufzutretenhat. Das muss an dieser Stelle endlich einmal gesagtwerden.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –Widerspruch bei der SPD und dem BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN)

Aber es ist ja bemerkenswert, Herr Bundeskanzler,um zur Sache zu kommen, zu dem zweiten konkretenPunkt – –

(Beifall bei der SPD – Zuruf von der SPD: Na endlich!)

– Das zeigt es wieder einmal. In Ihrem Alter sollte manaus der Pubertät wirklich langsam heraus sein. Wirklich,das ist notwendig. Furchtbar: mit 60 wie ein 14-Jähriger!

(Franz Müntefering [SPD]: Da muss er ja selbst lachen!)

Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich möchtejetzt noch auf etwas in der Regierungserklärung antwor-ten, auf etwas, was der Bundeskanzler zu einem ent-scheidenden Thema gesagt hat. Das war in dem Kon-zept, das Sie uns zur Verfügung gestellt haben, noch weitkonkreter. Da war man ja überrascht. In dem Konzepthieß es zum Tarifvertragsrecht, Sie seien der Überzeu-gung, es müsse mehr betriebliche Vereinbarungen geben,aber das letzte Wort sollten dann die Tarifvertragspar-teien haben. Denn alles, was innerbetrieblich vereinbartwerden solle, müsse sowieso von den Tarifvertragspar-teien sanktioniert werden. Das ist doch das, was wir ha-ben, und deshalb funktioniert es nicht.

Was Sie gesagt haben, Herr Bundeskanzler, war reineLyrik und reine Rhetorik. Sie sagen: Der Bundeswirt-schaftsminister hat die volle Unterstützung, wenn er überden Kündigungsschutz redet. Aber dazu haben Sie nichtsgesagt. Sie sagen, dass der Bundeswirtschaftsministerdie Unterstützung habe, Sie würden es so machen, wie eres angekündigt habe, aber anschließend tragen Sie unszwei Gedankenmodelle vor, wie man es machen könnte.So oder so, das ist Ihre Rede.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Das ist für eine Regierungserklärung zu wenig.

Ich habe mit Interesse verfolgt, was der Bundeswirt-schaftsminister – ich möchte ihm aus Sicht der FreienDemokraten an dieser Stelle ausdrücklich Recht geben –gestern in München gesagt hat. Herr Clement, Ihre Äu-ßerungen werden folgendermaßen wiedergegeben – ichzitiere –:

Unterdessen schlug der Bundesminister WolfgangClement in der Debatte um eine Lockerung desKündigungsschutzes vor, Kleinstbetrieben mit biszu fünf Mitarbeitern künftig eine unbegrenzte Zahlbefristeter Neueinstellungen zu erlauben.

Das ist der entscheidende Punkt. Lassen Sie uns dasdoch machen! Herr Bundeskanzler, bekennen Sie sichdazu, ob Sie es machen oder ob Sie es nicht machen!

(Gerhard Schröder, Bundeskanzler: Haben Siedas nicht verstanden? Ich habe es doch vorge-tragen!)

– Nein, Sie haben Wolken vor sich hergeschoben. Vorge-tragen haben Sie eben nicht das, was man konkret erwar-tet hat.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Herr Bundeskanzler, genau das ist das Problem: Sie mei-nen, eine medial geschickte Floskel sei schon ein Ersatzfür Regierungspolitik. Das funktioniert nun einmal nichtund das merkt man an dieser Stelle ganz genau. Sie müs-sen endlich Butter bei die Fische tun. Ein Bundeskanzlerder Bundesrepublik Deutschland darf sich nicht daranmessen lassen wollen, ob er seine Ziele im Jahr 2010 er-reicht hat. Er muss erklären, welche Ergebnisse seinePolitik bis zum Ende der Legislaturperiode erzielt habensoll und zu welchen Zeitpunkten er welche konkretenMaßnahmen ergreift.

(Hubertus Heil [SPD]: Das hat er gerade getan! –Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Sie haben nicht zugehört! Soschwach waren Sie noch nie, HerrWesterwelle!)

In Wahrheit tun Sie nichts. Sie bleiben unverbindlich,wo Sie konkret werden müssten. Konkret wurden Sienur da, wo Sie gesagt haben, was Sie nicht machen wol-len. Das ist weiß Gott zu wenig.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wir haben gestern schon einmal erlebt, dass Sie sichdavon verabschiedet haben, das zu tun, was wirklich not-wendig wäre. Die Debatte über die Neufassung des La-denschlussgesetzes hat Bände gesprochen.

Das, was für einen Neuanfang in diesem Land not-wendig wäre, lässt sich mit der Überschrift „Marktwirt-schaftliche Erneuerung“ zusammenfassen. Es geht umeine Erneuerung der sozialen Marktwirtschaft, zu derSie sich hätten bekennen müssen. Das heißt aber, dassman sich den Problemen stellt. Sie müssten Steuersen-kungen und Steuervereinfachungen vornehmen. Hierkündigen Sie das Gegenteil an, nämlich die faktischeAusweitung der Gewerbesteuer. Damit verabschieden

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2514 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2003

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Dr. Guido Westerwelle

Sie sich vom Ziel der Einkommensteuerreform im Sinnevon mehr Steuergerechtigkeit.

(Beifall bei der FDP)

Das passt einfach nicht zusammen.

Sie hätten sagen müssen, wie Sie das Tarifrecht kon-kret ändern wollen. Im Hinblick auf das Kündigungs-schutzgesetz hätten Sie sagen müssen: Das ist es, waswir machen wollen. Besser wäre es, denjenigen Arbeit-gebern, die bisher nur fünf Beschäftigte haben, dieChance zu geben, bei einer guten Auftragslage einensechsten Arbeitnehmer zu beschäftigen, ohne dass dasfür sie bedeutet – das wäre das Ergebnis eines erweiter-ten, nicht rücknehmbaren Kündigungsschutzes –, inschlechten Zeiten die gesamte Belegschaft entlassen undKonkurs anmelden zu müssen. Die Situation in Deutsch-land wäre besser, wenn es mehr Arbeitsplätze mit etwasweniger Kündigungsschutz als eine Massenarbeitslosig-keit mit vollem Kündigungsschutz gäbe.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Zu alldem kommt von Ihnen nichts Konkretes.

Sie behaupten, Ihr Vorhaben sei ein Investitionspro-gramm und in Wahrheit gar kein Konjunkturprogramm.Genauso hat man sich auch in den 70er-Jahren immerausgedrückt. In den 70er-Jahren hat es exakt vier Pro-gramme wie das gegeben, das Sie heute vorgestellt ha-ben: Im Jahre 1974 gab es zwei solcher Programme undin den Jahren 1975 und 1977 je eins. Das Ergebnis waren– das laste ich gar nicht einer Partei allein an; in dieserHinsicht haben wir genauso unser Lehrgeld gezahlt – zu-nächst eine halbe Million Arbeitslose; später hat sich dieArbeitslosenzahl mehr als verdoppelt.

Auch die Finanzierung Ihres Programms durch Mittelder Kreditanstalt für Wiederaufbau bedeutet in Wahrheitnichts anderes als eine Erhöhung der staatlichen Ausga-ben. Sie setzen eben doch auf mehr Schulden. Ihre Re-gierungserklärung enthielt bereits Begründungen für dasScheitern Ihrer Politik. Ende des Jahres wird von zweiUrsachen die Rede sein.

Erstens: die Weltlage. Sie werden sagen: Der instabileFrieden und ein möglicher Krieg haben uns daran gehin-dert, unsere Ziele zu erreichen. Ich wiederhole: Sie legenschon jetzt Begründungen für das Scheitern Ihrer Politikvor.

Zweitens – sehr bemerkenswert! –: Ihre Äußerungenzum Stabilitätspakt.

(Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ist das eine langweiligeRede! Sagen Sie doch einmal, was Sie wol-len!)

– Ich gehe genau auf die Regierungserklärung ein. Ichglaube, dass der Bundeskanzler nach dieser langen Re-gierungserklärung – die Regierungserklärungen werdenja immer länger, auch wenn immer weniger drinsteht –das Recht auf konkrete Antworten hat.

Sie sprechen von dem, was Sie vorbereiten. Sie sagenzum Stabilitätspakt:

Dieser Pakt darf eben nicht statisch interpretiertwerden. Er lässt Raum ... für Reaktionen auf unvor-hergesehene Ereignisse.

Damit sagen Sie in Wahrheit schon jetzt: Sie glaubengar nicht mehr daran, dass Sie eine stabile Finanzpolitikdurchhalten können. Sie haben die Katze aus dem Sackgelassen. Das ist erstens schlecht für die Menschen, diees betrifft; denn nichts ist so unsozial wie eine Weich-währung. Zweitens ist es eine Katastrophe für Europa.Wenn Deutschland diesen Weg der Instabilität geht, wer-den die anderen Europäer ebenfalls ihren Reformdrucksausen lassen. Dann ist der Euro irgendwann eineWeichwährung. Das wollen wir Freidemokraten verhin-dern.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Sie wollen ein Konjunkturprogramm wie in den 70er-Jahren auflegen; aber wenn es konkret werden soll, sindSie nicht konkret geworden. Auf der Bundesratsbank saßeben, wie ich finde, eine berechtigterweise große Zahlvon Ministerpräsidenten. Sie hätten sich bei Ihren eige-nen Ministerpräsidenten einmal erkundigen können, wassie zum Teil in ihren Ländern machen. Wenn Gutes um-gesetzt wird, sollte das auch erwähnt werden. Das istdoch kein Problem. Man freut sich schließlich darüber,wenn das in die Debatte eingebracht werden kann. Esgeht dabei doch nicht um einen Streit über Urheber-rechte. Aber wenn in einer Regierungserklärung zumThema Zukunft der Wirtschaft und Zukunft des Landeskein einziges Wort zum Krebsübel des Mittelstandes undunserer wirtschaftlichen Entwicklung gesagt wird,

(Michael Glos [CDU/CSU]: Sehr wahr!)

dazu, wie man das bürokratische Monstrum Staat etwaszurückschneiden kann, zeigt das, dass Sie mit der Reali-tät in Wahrheit nichts mehr zu tun haben.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Eine Regierungserklärung, die Deutschland eine neuePerspektive geben soll, sich aber nicht an das ThemaStaatsausgaben – sprich: Subventionsabbau, Privatisie-rungspolitik – herantraut, die sich vor der Flexibilisie-rung des Arbeitsmarktes ins Unverbindliche flüchtet, dieauch noch das ganze Thema Bürokratieabbau ausspart,eine solche Regierungserklärung ist nicht geeignet, die-ses Land voranzubringen. So wird das nichts.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Das ist bedauerlich für die Menschen. Ich glaube,meine sehr geehrten Damen und Herren, dass wir an die-ser Stelle als Opposition die große Aufgabe haben, mitunserer gemeinsamen Mehrheit im Bundesrat richtig zuhandeln. Frau Kollegin Merkel hat Recht, wenn sie da-rauf hinweist, dass Sie zu derselben Stunde, in der wirim Deutschen Bundestag beraten, im Bundesrat Steuer-erhöhungen zur Abstimmung stellen. Sagen Sie nicht,

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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2003 2515

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Dr. Guido Westerwelle

wir seien, weil wir diese Steuererhöhungen im Bundesratblockieren, die Übeltäter der Republik.

(Zuruf von der SPD: Doch, das seid ihr!)

Nein, wir werden auch künftig das unterstützen, wasin die richtige Richtung geht. Erneuerung der sozialenMarktwirtschaft ja, aber mehr bürokratische Staatswirt-schaft nein.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)

Wenn Sie die Steuern erhöhen wollen, bekommen Siedas bei den neuen Mehrheitsverhältnissen im Bundesratnicht durch. Dafür werden die Oppositionsparteien indiesem Hause und im Bundesrat sorgen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Es ist sehr bedauerlich, dass Sie Ihre Chance nicht ge-nutzt haben. Sie haben im Vorfeld eine große Erwar-tungshaltung geschaffen. Diese Erwartungshaltung hatdazu geführt, dass sehr viele Menschen heute VormittagIhre Rede gehört haben, weil sie gedacht haben, wunderswas da kommt.

(Peter Dreßen [SPD]: Bei jeder Rede hätten Sie das gesagt!)

Sie dachten, jetzt käme eine Ruckrede wie damals vonHerzog. Das war es aber nicht.

(Franz Müntefering [SPD]: Ihre 18 Minuten sind um!)

Meine Damen und Herren, es wäre sehr schön gewe-sen, wenn es an dieser Stelle heute mehr Bewegung ge-geben hätte. Wir hätten Ihnen gerne Beifall gespendet.

(Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ein bisschen mehr Ehrlich-keit würde Ihnen gut stehen, HerrWesterwelle!)

Aber dieser Politik können wir keine Zustimmung ge-ben, weil sie das Land eher zurückführt, als es nachvorne zu bringen. Sie sind auf dem alten Weg. Sie habensich nicht an das erinnert, was Sie 1999 gemeinsam mitTony Blair aufgeschrieben haben. Das hätten Sie hier sa-gen sollen. Sie hätten Ihr altes Papier vorlegen sollen.Darauf hätten wir vielleicht gesagt: Das kommt zwar einpaar Jahre zu spät, aber wenigstens gehen Sie jetzt in dierichtige Richtung.

Sie sind mit dieser Regierung gescheitert und so kom-men Sie nicht mehr auf die Beine. So bekommen Sie einpaar Blumen von den Sozen, aber nicht die Zustimmungdes Volkes, meine sehr geehrten Damen und Herren.

(Anhaltender Beifall bei der FDP – Beifall bei der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Das Wort hat jetzt die Fraktionsvorsitzende vonBündnis 90/Die Grünen, Katrin Göring-Eckardt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! HerrWesterwelle, das war schon eine Leistung: Sie haben fast20 Minuten lang geredet, haben ein paar Bemerkungenüber gutes Benehmen gemacht, als ob wir hier nicht imDeutschen Bundestag, sondern in der Tanzstunde wären,

(Heiterkeit des Abg. Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP])

haben aber keinen einzigen inhaltlichen Vorschlag ge-bracht. Ihr ganzes Gequatsche über Steuersenkungenentbehrt jeglichen Fundaments.

Schauen wir uns einmal den Antrag an, den Sie einge-bracht haben. Sie haben offenbar die Zeitungen gelesen.Alle Vorschläge, die in den letzten Wochen und Monatenin den Zeitungen standen, finden sich in Ihrem Antragauf grünem Papier wieder. Sie haben in der FDP aber of-fensichtlich niemanden, der einen Taschenrechner be-sitzt und die Zahlen am Ende zusammenrechnet. Das istdas Problem.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Die Kosten für die in Ihrem Antrag enthaltenen Vor-schläge belaufen sich auf 45 Milliarden Euro. Sie hattenaber keinen Taschenrechner dabei, was heute wieder be-wiesen wurde.

Herr Westerwelle, Sie sprechen von der Bürgergesell-schaft. Bei Ihnen bedeutet Bürgergesellschaft, dass jedeund jeder auf sich gestellt ist. Bei uns bedeutet Bürgerge-sellschaft soziale Gerechtigkeit für alle. Das meinen wir,wenn wir von Bürgergesellschaft reden, und nicht, dassjeder seines Glückes Schmied sein soll.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Die rot-grüne Koalition hat sich mit der Regierungs-erklärung des Bundeskanzlers eindrucksvoll auf der in-nenpolitischen Bühne zurückgemeldet.

(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU –Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]:Haben Sie die verlassen gehabt?)

Der Kanzler hat hier die Agenda 2010 vorgelegt. Auchwenn die wirtschafts-, sozial- und weltpolitischen Bedin-gungen extrem schwierig sind: Wir müssen die wirt-schafts- und sozialpolitische Blockade überwinden, dieuns nicht erst seit vier oder fünf Jahren, sondern schonseit mindestens zwei Jahrzehnten lähmt. Darum geht esmit Blick auf das Gemeinwohl und damit wir die Verän-derungen, die notwendig sind, sozial gerecht gestaltenkönnen, und damit wir unserer Verantwortung für dieheutige sowie die kommenden Generationen gerechtwerden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

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2516 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2003

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Katrin Dagmar Göring-Eckardt

Lassen Sie mich nun zu dem Thema kommen, das inDeutschland wohl die meisten Menschen bewegt, näm-lich das Thema Krieg und Frieden, die Frage des Kriegesim Irak. Ich glaube, wir sind uns hier im Hause alle ei-nig: Nichts wäre uns lieber, als dass die Menschen in die-sem Land von dem Terrorregime des Saddam Hussein soschnell wie möglich befreit würden. Wir wissen aberauch: Krieg in dieser Region würde zur Destabilisierungbeitragen. Er hätte unglaubliche Folgen für dieses Landund die gesamte Region. Er hätte Folgen hinsichtlich derterroristischen Gefahren für uns alle.

Deswegen bin ich so froh, dass diese Regierung sehrfrühzeitig gesagt hat: Nein, militärische Mittel im Iraksind nicht richtig. Nein, wir werden alles tun und uns da-für einsetzen, dass es nicht zu einem solchen Kriegkommt. Dafür bedanke ich mich ausdrücklich bei Bun-deskanzler Schröder und Joschka Fischer.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Frau Merkel, mit dieser Frage haben Sie sich offen-sichtlich nicht ausreichend beschäftigt. Es ist viel da-rüber spekuliert worden, wann Deutschland aufgrundseiner klaren Haltung gegen den Krieg isoliert seinwürde. Heute können wir festhalten: Deutschland stehtalles andere als isoliert da. Auch wenn die Motive derLänder, die eine Allianz gegen den Krieg bilden, sehrunterschiedlich sein mögen, ist klar: Es gibt in der Welt-gemeinschaft heute eine breite Mehrheit dafür, zu sagen:Eine Militärintervention im Irak wäre zu einem Zeit-punkt, wo wir mit der friedlichen Entwaffnung weitersind, als wir es je gedacht haben, fatal. Aber das müssenauch diejenigen erkennen – Herrn Pflüger kann ich imMoment nicht entdecken –

(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Doch! Er ist da!)

die der Meinung sind, dass das militärische Drohpoten-zial so nötig wäre. Sie müssen sich heute auch dazu be-kennen, dass militärische Interventionen zu diesem Zeit-punkt nicht richtig sind. Das erwarte ich von Ihnen, abernicht das Rumgeeiere von Frau Merkel, das wir heutewieder erlebt haben und angesichts dessen wir uns schonseit Wochen fragen, was eigentlich die Position derUnion ist.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Ich nehme einmal die Aussagen dieser Woche. FrauMerkel legte sich nicht fest. Sie sagte am Montag: Dievölkerrechtliche Betrachtung wird nur ein Element inder Gesamtbewertung sein. Herr Glos am Dienstag: DieUnion wird im Konfliktfall keinen Zweifel daran lassen,dass sie fest an der Seite der USA steht. Herr Kauder amDienstag: Wo wir stehen, haben wir klar gesagt: an derSeite Amerikas. Er sagt weiter, dass die Union dennochkeine eindeutige Position zu dem Konflikt formulierenkönne, da die Dinge ständig im Fluss seien. HerrSchäuble am Donnerstag: Ein Krieg muss auf der Basisdes Völkerrechts geschehen.

Das ist die Positionierung der Union allein in dieserWoche. Ich glaube, die Bürgerinnen und Bürger habenein Recht darauf, dass Sie endlich einmal sagen, wofürSie eigentlich sind.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Da wird von einer zweiten Resolution geredet. FrauMerkel sagt uns und der Öffentlichkeit auf einer Presse-konferenz am Montag, dass Sie darüber, wie Sie sichverhalten werden, erst dann entscheiden werden, wenndarüber abgestimmt worden ist.

(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Der Hussein kann sich auf Sie verlassen!)

Meine Kinder machen das so bei der Bundesliga: Erstam Ende entscheiden sie sich, zu wem sie halten. Das istmeistens der Tabellenführer. So machen Sie Politik.

(Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – HartmutSchauerte [CDU/CSU]: Der Hussein kann sichgut auf Sie verlassen!)

Frau Merkel, wenn Sie heute wirklich Mut gehabthätten, dann hätten Sie ehrlich gesagt, dass die Positionvon Bundeskanzler Schröder und von AußenministerFischer richtig ist, weil sie zu einer friedlichen Entwaff-nung beiträgt. Bis zuletzt muss jede nur möglicheChance genutzt werden, um den Krieg im Irak zu verhin-dern. Dafür steht die Bundesregierung und dafür stehenwir.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Lassen Sie mich zur Innenpolitik kommen, wo es sichähnlich verhält. Frau Merkel, auch da wissen Sie offen-sichtlich nicht, was eigentlich Ihre Positionierung ist. Siehaben von dem Dreistufenplan und von Leitideen ge-sprochen. Herr Stoiber hat einen 31-Stufen-Plan aufge-stellt; dessen Umsetzung dauert vielleicht etwas länger.Wir hätten uns gefreut, wenn wir erfahren hätten, was ei-gentlich die Position der Union ist. Wenn ich mir IhreRede und die Regierungserklärung des Herrn Bundes-kanzlers vor Augen führe, dann muss ich ehrlich sagen,dass Sie nicht sehr konkret geworden sind.

(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Ach! Wenn hier einer konkret war!)

Es gab nur ein paar allgemeine Ideen, die man gut findenkann oder auch nicht. Wo Sie konkret geworden sind,Frau Merkel, haben Sie gesagt, dass Sie es so machenwollen, wie es der Bundeskanzler machen will. Das istIhre Politik und Ihr Dreistufenkonzept nach dem Motto„Doppelt gemoppelt hält besser“. Vielleicht erfahren wirbei den 31 Punkten etwas Konkretes. Ich glaube, das Hinund Her, das wir zwischen Merkel und Stoiber erleben,sollten wir Deutschland nicht antun.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Auch wenn es in den letzten Wochen und Monaten fürdiese Koalition nicht gut ausgesehen hat: Ich will daran

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Katrin Dagmar Göring-Eckardt

erinnern, was wir in unserer ersten Regierungslegislatur-periode getan haben – das ist mehr als das, was Sie, be-sonders die FDP, in vielen Jahren Regierungszeit auf denWeg gebracht haben –, und will nur die wichtigstenPunkte nennen:

(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Arbeitslo-senzahl vergrößert!)

Haushaltskonsolidierung eingeleitet, eine wirklich mu-tige Steuerreform auf den Weg gebracht, den ersten we-sentlichen Reformschritt in der Rentenversicherungdurchgeführt, die Arbeitskosten durch die Ökosteuer ge-senkt und damit zugleich zum Klimaschutz beigetragen.

Diese Instrumente reichen aber nicht mehr aus. Dieveränderte Situation führt dazu – das müssten auch Sielangsam zur Kenntnis nehmen, meine Damen und Her-ren von der Opposition –, dass wir nicht mehr automa-tisch auf Wachstum setzen können und dass wir unsnicht mehr darauf verlassen können, dass es jährlichWachstum gibt. Deshalb brauchen wir ein Gesamtkon-zept, wie es der Bundeskanzler heute vorgeschlagen hat.

(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Das ist ebender falsche Ansatz! Sie wollen kein Wachs-tum! Das ist das Kernproblem!)

Zusätzlich hat die weltwirtschaftliche Situation Druckerzeugt. Aber die eigentlichen Probleme liegen tiefer. Esgeht um die demographische Entwicklung, die die Fi-nanzgrundlagen der Sozialkassen sprengt. Es geht umdie hohen Lohnzusatzkosten, die durch die falsche Fi-nanzierung der deutschen Einheit und durch einen Re-formstau in den Sozialsystemen zustande gekommensind. Das führt dazu, dass nicht genügend Arbeitsplätzeentstehen, und das wiederum engt unsere Handlungs-möglichkeiten ein, genauso wie die hohe Verschuldungunsere Handlungsmöglichkeiten massiv einengt.

Wir brauchen den Mut zu Veränderungen. Dabei ist esdie Gerechtigkeit selbst, die nach Veränderungen ver-langt. Denn nur so können wir das bewahren, wasDeutschland in sozialer Hinsicht ausmacht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Es geht darum, den Sozialstaat auf die radikal verän-derten Bedingungen einzustellen: Wie wird Deutschlandattraktiver? Deutschland wird dadurch attraktiv, dass esein kinderfreundliches Land ist, dass es Vorreiter im Kli-maschutz ist, dass hier die Schöpfung bewahrt wird, dasses letztlich ein guter Standort für Innovationen ist. Wiewerden wir schneller, was den technischen Fortschrittangeht? Wie werden wir besser, was die Qualität der so-zialen Sicherung und was die Bildungschancen, die In-vestitionen in die klugen Köpfe angeht? Aber auch: Wiewerden wir besser, was das Zusammenleben in Deutsch-land angeht? Wir wollen Zuwanderung, die wir in die-sem Land aus ökonomischen Gründen dringend brau-chen,

(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Soll dochweniger werden! Ist doch ein Begrenzungsge-setz!)

gestalten und sie durch notwendige Integrationsmaßnah-men begleiten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich bin dem Bundeskanzler dankbar, dass er all dies hierumrissen hat.

Immer mehr Menschen in Deutschland sind ohne Job.Wenn wir über Gerechtigkeit sprechen, dann – darin sindwir uns hier wahrscheinlich alle einig – geht es vor allemum Gerechtigkeit für jene, die heute außen vor sind. Dasist die zentrale Frage: Wie sorgen wir dafür, dass nichtimmer mehr Menschen immer länger außen vor bleiben?Dem muss sich alles unterordnen.

Deswegen reden wir darüber, wie es gelingen kann,dass die Lohnzusatzkosten deutlich gesenkt werden. Ineinem ersten Schritt wird dies im nächsten Jahr gesche-hen. Ich kann nur all denen zustimmen, die sagen: Diesererste Schritt muss uns unter die 40-Prozent-Marge füh-ren. Aber das wird nicht reichen,

(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Kommt doch erst mal dorthin! Fangt doch mal an!)

wir werden weitermachen müssen. Ich glaube, dass wires in den nächsten Jahren schaffen werden, die Lohnzu-satzkosten um weitere Prozentpunkte zu senken. EineSenkung um 5 Prozent bis 2006 ist ein ehrgeiziges Ziel;aber das ist zu schaffen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Deshalb macht es Sinn, die Bezugsdauer des Ar-beitslosengeldes zu verkürzen – es geht eben nichtmehr, dass die Unternehmen Ältere auf Kosten der Bei-tragszahler aus dem Arbeitsprozess drängen – und be-triebliche Bündnisse für Arbeit zu schließen. Das ist hiersehr deutlich vorgetragen worden, Herr Westerwelle; dahaben Sie einfach nicht zugehört. Die Unternehmenmüssen ihrer Pflicht zur Ausbildung in einem umfassen-den Sinne gerecht werden.

Natürlich dürfen wir nicht nur über Maßnahmen deszweiten Arbeitsmarktes und der Vermittlung reden, son-dern müssen vor allem den ersten Arbeitsmarkt gestalten:Wir brauchen Innovationen auf ökologischem Gebiet.Weil dieser Wirtschaftszweig der neben dem Gesund-heitsbereich einzige Wachstumssektor ist, kommt es aufInnovationen in ökologischer Hinsicht besonders an.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Gerade in einer Situation, da der Ölpreis in die Höheschnellt und sich selbst die USA entschließen, Milliar-den in die Förderung von Wasserstofftechnik zu investie-ren, gerade vor dem Hintergrund der Tatsache, dassErdöl weltweit nur noch für 40 Jahre reichen wird, isteine langfristige Strategie, weg vom Erdöl, unverzicht-bar – in unserem eigenen Interesse und im Interesse derweltweiten Stabilität. Dazu müssen wir Energieeffizienzund erneuerbare Energien miteinander kombinieren. Wirmüssen in Zukunftstechnologien investieren und ihnenzum Durchbruch verhelfen. Letztlich müssen wir Öl-importe ersetzen durch inländischen Ingenieursverstand

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und inländische Handwerksleistungen. Auf eine solcheStrategie kommt es jetzt an: weg vom Erdöl und hin zumehr Arbeitsplätzen. Wir werden das angehen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Weil die Frage der Arbeitskosten so zentral ist, istauch die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und So-zialhilfe richtig. 70 Prozent der Menschen, die heuteArbeitslosenhilfe bekommen, erhalten weniger als denSozialhilfesatz. Deswegen ist es richtig, was der Bun-deskanzler vorgeschlagen hat: dass diese Zusammenle-gung vom Niveau her auf der Höhe der Sozialhilfe statt-findet. Natürlich müssen diejenigen, Frau Merkel, dieKinder haben, mehr bekommen. Das war von vornhereinklar und das war mit „grundsätzlich“ gemeint. An dieserStelle wird es darum gehen, zu neuen Angeboten zukommen.

Wenn wir Arbeitslosen- und Sozialhilfe zu einem Ar-beitslosengeld II zusammenlegen, muss das aber auf deranderen Seite heißen, dass jeder und jede ein Angeboterhält. Es muss jedem ermöglicht werden, Arbeit, Leih-arbeit, eine Weiterbildung oder eine öffentliche Beschäf-tigung zu bekommen. Ich sage dies in aller Klarheit: Eskann nicht sein, dass die Arbeitsämter in diesem Landheute eine Maßnahme nach der anderen streichen, dieinsbesondere Jugendlichen zugute kommen. Zudemkann ich die Tonlage, die mit Blick auf die ABM-Kräftein Ostdeutschland angeschlagen wird, nach dem Motto:„Das ist eine Form von sozialer Hängematte“, nicht ak-zeptieren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Diese Menschen in Ostdeutschland haben sich ihre Situ-ation nicht ausgesucht. Wir müssen dafür sorgen, dassdie Fördermaßnahmen fortgeführt werden.

Fördermaßnahmen sind auch im Bereich der öffentli-chen Beschäftigung notwendig. Die Integration in denArbeitsmarkt braucht Strukturen. Diese müssen über-prüft und zum Teil neu gestaltet werden. Wichtig aberist, dass sie gerade angesichts dieser Situation erhaltenbleiben.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Frau Merkel, wir haben Ihre Auffassungen zum Kün-digungsschutz gehört. Natürlich gibt es im Arbeitsrechteine Reihe von Verkrustungen. Mir hat ein junger Unter-nehmer erzählt, er habe jetzt bereits drei Firmen mit je-weils fünf Beschäftigten gegründet, weil er nicht wisse,wie sich seine Situation in den nächsten Jahren entwi-ckeln werde. Das kann doch nicht sein. Selbstverständ-lich ist es gerecht, dass jemand, der seit 20 Jahren in ei-nem Unternehmen beschäftigt ist, einen umfassendenKündigungsschutz hat. Auf der anderen Seite aber ist esnicht gerecht, dass eine halbe Million Menschen unter25 Jahren ohne Arbeit sind und noch nie auf dem erstenArbeitsmarkt tätig waren. Deswegen müssen wir in die-sem Bereich etwas ändern.

Der Bundeskanzler hat hier sehr klar gesagt, um wel-che Änderungen es geht: Es geht um Abfindungsregelun-

gen. Es geht darum, dass hinsichtlich des Kündigungs-schutzes bei Betrieben mit mehr als fünf Beschäftigtendiejenigen, die befristet und in der Probezeit beschäftigtsind, herausgerechnet werden. – Wenn Sie zugehört hät-ten, Herr Westerwelle, hätten Sie das vielleicht verstan-den. – Die dadurch geschaffene Flexibilität ist sozial ge-recht und führt dazu, dass denjenigen, die sich schonlange in der Arbeitslosigkeit befinden, der Zutritt zumArbeitsmarkt erleichtert wird. Dies wird in anderen Län-dern bereits praktiziert.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Was uns nicht weiterhilft, Herr Westerwelle und HerrMerz, ist ein Freund-Feind-Denken: hier die Wirtschaft,da die Arbeitnehmer. Ihre Kriegserklärung gegen dieGewerkschaften ist dümmlich und spalterisch. Wiekommt es eigentlich, Herr Westerwelle – das interessiertmich schon –, dass Sie so nicht auch über bestimmte Ge-sundheitslobbyisten reden? – Sie tun dies nicht, weil Ih-nen das nicht in Ihren Klientelkram passt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Ich bin froh, dass der Bundeskanzler klar gemachthat, dass in diesem Land weder die Arbeitgeberverbändenoch die Gewerkschaften regieren.

(Dr. Angela Merkel [CDU/CSU]: Das wussten wir schon vorher!)

Rot-Grün regiert und handelt.

(Volker Kauder [CDU/CSU]: Frau Kollegin, das sollten Sie, das machen Sie aber nicht!)

Alle müssen einen Beitrag dazu leisten.

(Michael Glos [CDU/CSU]: Da müssen Sie et-was verwechseln!)

Wenn ich mir heute die Aufstellung in diesem Hausansehe, möchte ich an Folgendes erinnern: Es ist erst einknappes Jahr her, als Frau Merkel im Bayerischen früh-stücken war. Wenn man sich die Chaostruppe heute an-sieht, dann fragt man sich: Telefonieren Sie eigentlichnoch manchmal mit Herrn Stoiber oder laufen Ihre Vor-stellungen inzwischen alle nebeneinanderher? Bezug desArbeitslosengeldes kürzer, länger oder gar nicht! Kündi-gungsschutz so oder anders! Aus Ihren Reihen gibt esdazu mindestens drei verschiedene Vorschläge. Als derBundeskanzler vorhin gesagt hat, er wolle erreichen,dass der Beitrag zur Krankenversicherung auf unter13 Prozentpunkte sinkt, hat Herr Stoiber ganz hektischin seinem Manuskript gestrichen. Wahrscheinlich standdort noch sein Vorschlag mit 14 Prozentpunkten.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN)

Das ist Ihre Politik. Ganz schnell wird noch etwas geän-dert. Frau Merkel wusste vermutlich noch nicht einmal,dass er dies heute vorschlagen wollte. Ich kann nur sa-gen: Ihr Verhalten ist schon sehr bemerkenswert.

Ich erinnere auch an gestern, als Sie hier ein wahresAffentheater veranstaltet haben.

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(Volker Kauder [CDU/CSU]: Die Tiere sind ge-schützt! Reden Sie nicht von Affentheater!)

Sie haben einen Hammelsprung herbeigeführt wegen derVerlängerung der Ladenöffnungszeiten um vier Stunden.Man kann wirklich nur fragen: Wo ist die Reformkraft indiesem Lande, wenn Sie wegen der Erweiterung der La-denöffnungszeiten um vier Stunden einen Hammel-sprung herbeiführen müssen, anstatt zuzustimmen, damitsich in diesem Lande etwas bewegt?

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie bei Abgeordneten der SPD – VolkerKauder [CDU/CSU]: Sie hatten doch gar keineMehrheit! Sie reden Unsinn!)

Wenn Sie bei der Union herausfinden wollen, wer beiIhnen den Hut aufhat, dann müssen Sie – den Eindruckhabe ich – erst einmal einen Stuhlkreis – so kennen wirdas aus dem Kindergarten – veranstalten.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD –Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: So etwas vonpeinlich!)

Zum Thema Rente. Frau Merkel, auch hier wiederFehlanzeige. Ich weiß nicht, ob Sie sich in den letztenJahren überhaupt einmal mit den Reformen der Renten-versicherung beschäftigt haben. Sie haben wieder dendemographischen Faktor angeführt. Wie schön! Denkennen wir schon. Wir haben einen demographischenFaktor in die Rentenformel aufgenommen. Das habenSie vielleicht nicht mitbekommen, aber das ist so.

(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Ihr habt ihn doch wieder außer Kraft gesetzt!)

Es gibt einen immer größeren Anteil älterer Men-schen in unserem Land.

(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Ach?)

Auch wenn wir mit der Privatvorsorge den entscheiden-den Strukturschritt gemacht haben, müssen wir weiterdarauf reagieren. Das bewältigen wir, glaube ich, nichtmit kurzfristigen Maßnahmen. Wir haben uns sehr darü-ber geärgert – Sie wissen das –, dass im letzten Jahr be-schlossen worden ist, die Rentenbeiträge steigen zu las-sen und nicht auch von den Rentnerinnen und Rentnerneinen Beitrag zu verlangen. Mit solch kurzfristigen Maß-nahmen kommen wir jetzt nicht weiter. Wir müssen auchdas auf eine solide Grundlage stellen.

Wenn sich die Rentnerinnen und Rentner beteiligensollen – sie sind dazu bereit –, dann müssen wir dieGrundlage für die Rentenanpassung verändern. Das kön-nen wir so verändern, dass sich die Rentenanpassungnicht mehr nur an denjenigen bemisst, die Einkommenbeziehen, sondern an all denjenigen, die Rentenbeiträgezahlen, also auch an den Arbeitslosen. Wenn die Ren-tenanpassung tatsächlich die Entwicklung des Lebens-standards widerspiegeln soll, dann sollten wir das soändern; denn dann beteiligen sich alle, auch die Rentne-rinnen und Rentner. Das ist ein Beitrag zu mehr Genera-tionengerechtigkeit, der auf lange Sicht auch tatsächlichWirkung entfaltet.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

1,6 Millionen Frauen und Männer in Deutschland,und zwar meist Mütter, arbeiten nur deswegen nicht,weil es keine Kinderbetreuungsmöglichkeiten gibt. DasDIW rechnet vor: Wenn die alle in Arbeit wären, hättenwir 6 Milliarden Euro mehr an Steuereinnahmen undfast 9 Milliarden Euro mehr in den Sozialkassen. Nunwürden sicherlich nicht alle Jobs bekommen; aber wirbrauchen weiterhin Fachkräfte in Deutschland und wirverschenken weiterhin ein riesiges Potenzial. Wenn ichmir das unendliche Gezerre um die Ganztagsschulenangucke, Frau Merkel oder die Damen und Herren aufder Bundesratsbank – so viele sind es nicht mehr –, dannkann ich nur darum bitten: Lassen Sie uns das mit derKinderbetreuung anders machen! Herr Stoiber und FrauReiche – ich weiß nicht, ob sie noch hier ist –, vielleichtunternehmen Sie noch einmal einen Anlauf. Frau Merkelhat von der Demographie und von den vielen Schwierig-keiten geredet. Nachdem Sie jetzt Ihr Familiengeld unterAbsingen des Chorals vom größten Wahlbetrug feierlichbeerdigt haben, bitte ich Sie: Machen Sie einen neuenAnfang mit uns – für mehr Kinderbetreuung!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der SPD – Michael Glos [CDU/CSU]:Das war sehr originell, Frau Kollegin!)

Zu Recht hat der Bundeskanzler darauf hingewiesen,dass der entscheidende Reformteil im Gesundheitssys-tem stattfinden muss, weil es dort falsche Anreize fürPatienten wie für Ärzte und Krankenhäuser gibt. Es kannnicht sein, dass man mit einer Laboruntersuchung x-fachmehr verdienen kann als mit einem ausführlichen Ge-spräch beim Hausarzt. Es kann nicht sein, dass inDeutschland die Heilungschancen bei Brustkrebs deut-lich geringer sind als in vielen anderen Ländern dieserWelt. Es kann nicht sein, dass wir uns eine doppelteFacharztstruktur leisten.

(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Freie Berufe abschaffen! Typisch Rot-Grün!)

Deswegen brauchen wir mehr Wettbewerb. HerrSeehofer, ich glaube, dass wir da an vielen Stellen über-einkommen. Wir brauchen mehr Wettbewerb um dasRichtige, nämlich um Qualität und Effizienz. Aber wirmüssen auch ganz ehrlich sagen: Wir werden in diesemSystem nicht mehr alles aus der Solidargemeinschaft be-zahlen können. Wir müssen uns also gemeinsam ent-scheiden, wie wir welche Finanzierung vornehmen. Diebeiden Vorschläge, die der Bundeskanzler gemacht hat,nämlich beim Krankengeld und bei einer Gebühr für denArztbesuch einzusteigen, finde ich richtig, weil sie unsweiterbringen, auch was die Beitragssätze angeht.

Trotzdem müssen wir über die versicherungsfrem-den Leistungen reden. Brauchen wir in Deutschlandnoch ein Sterbegeld? Ist es denn wirklich noch gerecht-fertigt, dass Ehefrauen oder Ehemänner, die wederKinder erziehen noch Angehörige pflegen, in der gesetz-lichen Krankenversicherung auf Kosten der Solidar-gemeinschaft mitversichert werden? Das ist, finde ich,nicht gerecht. Durch die Abschaffung dieser Leistung

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könnten die Beitragssätze um einen Punkt gesenkt wer-den. Das sollten wir für die Gerechtigkeit in diesem Sys-tem tun.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sie müssen aber auch sagen, wie Sie unter wirt-schaftspolitischen Gesichtspunkten – nur das meine ich –mit Zuwanderung umgehen wollen. Die Frage der Zu-wanderung wird eine Nagelprobe für die Modernisierungder Wirtschaft sein. In einer schwierigen wirtschaftlichenund arbeitsmarktpolitischen Situation einfach zu sagen:„Macht die Grenzen dicht!“, zeugt von wirtschaftspoliti-scher Inkompetenz. Denn zu einer modernen Wirtschaftgehört ein modernes Zuwanderungsrecht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Zuwanderung heißt auch – das haben Ihnen die Wirt-schaftsverbände ins Stammbuch geschrieben –, dass esin Deutschland zu Neugründungen und Flexibilitätkommt. Dadurch entstehen Arbeitsplätze für Deutsche;eigentlich wissen Sie das. Ich hoffe, Sie kommen zurVernunft, und ich hoffe, wir werden im Bundesrat einÜbereinkommen erzielen. Dies betrifft die Menschen,die zu uns kommen, sowie Innovationen in Deutschlandund sogar in Bayern, Herr Stoiber. Deswegen sollten Siesich an dieser Stelle bewegen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Zum Schluss möchte ich auf ein Potenzial verweisen,das wir verspielen, wenn wir nicht sehr schnell handeln.Ich meine Investitionen in die Köpfe. Auch dazu habenwir von Frau Merkel keinen Vorschlag, sondern nur Bla-bla gehört. Also Fehlanzeige!

Dem Aufschrei nach der PISA-Studie folgte hekti-sche Aktivität. Inzwischen haben wir hektische Läh-mung. Ich verstehe nicht, warum es so schwer sein soll,Schulautonomie und Durchlässigkeit zu organisieren.Ich verstehe nicht, warum wir Kinder nach wie vorgleichschalten. Ich verstehe nicht, wie wir es zulassenkönnen, dass 23 Prozent der Jugendlichen ohne ausrei-chende Kenntnisse im Rechnen und Schreiben die Schu-len verlassen. Wenn damit nicht endlich Schluss seinwird, wenn die Chancen der Kinder und der Jugendli-chen nicht endlich verbessert werden, dann werden dieChancen Deutschlands rapide sinken.

Deswegen ist es richtig, dass wir heute sagen: Wirmüssen in Bildung und in Forschung investieren. DieseBereiche dürfen den Sparmaßnahmen, die an vielen Stel-len richtig sind, nicht zum Opfer fallen. Diese Zukunfts-investitionen in Forschung und Technologie müssen ge-rade vor dem Hintergrund der Nachhaltigkeit erfolgen.Hier darf nicht gespart werden. Im Gegenteil!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Meine Damen und Herren, bei allen Problemen, diewir haben, halte ich nichts davon, Deutschland bzw. diedeutsche Wirtschaft, die deutsche Politik und die deut-schen Verbände schlecht zu reden; denn wir reden uns

damit selber schlecht. Ich glaube, dass dieses Land dieKraft hat, aus der Krise herauszufinden. Die Bereitschaftist vorhanden. Die Lobby derer, die sagen: „Reformenja, aber nicht bei uns!“,

(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Müntefering!)

hat spätestens mit dem heutigen Tag klar gesagt bekom-men, dass man damit nicht mehr durchkommt.

Wir brauchen die Allianz mit den Bürgerinnen undBürgern. Das wollen wir im Interesse aller, im Interesseunserer Kinder und unserer Kindeskinder. Wir müssenendlich wieder das Ganze bzw. das Gemeinwohl imBlick haben. Dann können wir es schaffen.

Im Vorfeld ist ja viel über die Regierungserklärunggeredet worden.

(Dr. Angela Merkel [CDU/CSU]: Aber nichtbei uns! – Hartmut Schauerte [CDU/CSU]:Das sollte ein Jahrhundertwerk sein?)

Manchmal hatte ich das Gefühl: Wenn der Kanzler alldem gerecht werden wollte, was gesagt worden ist, dannhätte er über Wasser gehen oder mit fünf Broten und einpaar Fischen die ganze Nation satt und glücklich machenmüssen. Weil wir aber Menschen sind, kann man keineWunder erwarten. Man kann jedoch erwarten, dass wirdas Notwendige tun. Was das Notwendige ist, hat derKanzler sehr eindrücklich in Form der Agenda 2010 dar-gestellt. Sie steht Ihrem Chaos, Frau Merkel und HerrStoiber, und der allgemeinen Eierei gegenüber.

(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Die Oster-zeit naht!)

Ich kann nur empfehlen: Machen Sie mit, damit es mitDeutschland endlich wieder aufwärts geht!

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Das Wort hat jetzt der Ministerpräsident des Freistaa-tes Bayern, Edmund Stoiber.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Dr. Edmund Stoiber, Ministerpräsident (Bayern):

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen!Meine sehr verehrten Herren!

(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der Wahlsieger!)

Millionen Menschen in Deutschland haben Angst, Angstum eine sichere Zukunft. Das gilt sowohl für den außen-politischen wie auch für den innenpolitischen Bereich. Inweiten Teilen unseres Landes herrscht tiefe Depression.

Herr Bundeskanzler, wenn Sie glauben, das, was ichhier sage, lächerlich machen zu können, kennen Sie of-fenbar die Wirklichkeit nicht.

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Ministerpräsident (Bayern) Dr. Edmund Stoiber

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Eine richtige Therapie – Sie haben heute versucht, The-rapien zu verordnen – setzt eine richtige Analyse voraus.Wenn Sie sich vor Augen halten, dass laut einer Umfragevon Gallup Deutschland, die in fast 100 Ländern durch-geführt wurde, nur noch 13 Prozent der Deutschen opti-mistisch gestimmt sind und dass Deutschland damit mitAbstand auf dem letzten Platz liegt, dann kann ich ganzoffen sagen: Natürlich herrscht in diesem Lande gegen-wärtig eine depressive Stimmung, wie ich sie in mei-nem Leben noch nicht erlebt habe.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP – Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): SeienSie doch nicht so traurig!)

Die heutige Debatte über die Zukunft Deutschlandsist überfällig.

(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mach ein Flasche Champa-gner auf!)

Aber sie wird überschattet von der Krise um den Irak. Inder Außenpolitik sehen wir, dass Säulen, die die Welt-ordnung bisher getragen haben und die uns fünf Jahr-zehnte lang Frieden und Freiheit gesichert haben, insWanken geraten. Die UN, die NATO und die Europäi-sche Union sind gespalten wie nie zuvor.

Dafür trägt diese Bundesregierung Mitverantwortung,

(Hubertus Heil [SPD]: Quatsch!)

und zwar durch ihre Vorwegfestlegungen und durch dieVerweigerung des transatlantischen Dialogs. Im deut-schen Interesse muss unser gemeinsames Ziel lauten:Die Irakfrage darf nicht zu einem dauerhaften Schadenführen, nicht für Deutschland, für Europa, für die NATOund für die UN.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Ich möchte nicht mehr die Differenzierung zwischenKriegswilligen und Friedfertigen aufgreifen, die Sie indiesem Zusammenhang in diesem Hause getroffen ha-ben. Ich möchte festhalten – das sollte niemand mehr be-streiten –: Alle hier in diesem Hause wollen Frieden.Niemand will den Krieg. Deshalb sollte man mit diesenDingen sehr vorsichtig sein.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Krieg ist immer eine Katastrophe,

(Hubertus Heil [SPD]: Dann muss man auch etwas dagegen tun!)

wo auch immer auf der Welt. Doch Friedenswille alleingenügt nicht, um den Frieden zu bewahren.

(Hubertus Heil [SPD]: Wir tun was gegen den Krieg!)

Der Friedenswille der Bundesregierung hat den Diktatorin Bagdad nicht beeindruckt. Es war die amerikanisch-

britische Entschlossenheit, die zur Wiederaufnahme derInspektionen und zu den diplomatischen Initiativengeführt hat. Der deutsche Beitrag dazu war gleich null.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –Klaus Uwe Benneter [SPD]: Wenn das richtigwäre, hätten wir schon Krieg!)

Herr Bundeskanzler, Sie halten sich zugute, die In-spektionen seien ein wirksames Instrument. Aber Sieverschweigen erneut, dass nur die militärische Drohung,die Sie abgelehnt haben, den Erfolg der Inspektorenüberhaupt möglich gemacht hat. Wenn es nach Ihnen ge-gangen wäre, wären im Irak keine Inspektoren.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –Peter Dreßen [SPD]: Das ist eine dumme Un-terstellung!)

Was Deutschland militärisch leistet, dieser militäri-sche Beistand – Überflugrechte,

(Horst Kubatschka [SPD]: Die wollten Sie verbieten!)

Schutz amerikanischer Stützpunkte, ABC-Schützenpan-zer, Patriot-Raketen und AWACS-Einsätze, Hilfe zurSee –, trennt uns nicht.

(Zurufe von der SPD: Ach!)

Doch außenpolitisch trennen uns Welten, nämlich in-folge Ihres Sonderweges seit August letzten Jahres HerrBundeskanzler. Sie haben, statt den Dialog mit unserenamerikanischen Freunden zu suchen, eine Mauer desSchweigens aufgebaut. Wir müssen schon heute daranarbeiten, die Kluft zwischen Amerika und den internatio-nalen Bündnissen wieder zu schließen. Deswegen warenauch die Reise und die Gespräche der Kollegin Merkelso wichtig und notwendig.

(Beifall bei der CDU/CSU – Lachen bei derSPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –Ludwig Stiegler [SPD]: Da hat nur noch derStoiber gefehlt!)

Die Erfahrung der letzten Monate zeigt doch eindeu-tig: Partner mit Einfluss auf die Vereinigten Staaten

(Hubertus Heil [SPD]: Und Rückgrat!)

kann nur ein einiges Europa sein. Herr Bundeskanzler,Sie haben heute – ich zitiere – ein starkes, geeintes Eu-ropa und einen geeinten Kontinent, der Nationalismenüberwindet, angemahnt. Gegenwärtig erleben wir abereine Renaissance nationalstaatlicher Sonderwege, dieder deutsche Bundeskanzler mit der Ausrufung des deut-schen Weges im August des letzten Jahres eingeleitethat.

Ihre Vorgänger, insbesondere Helmut Kohl, hättenschon im Vorfeld der Krise alles versucht, die Europäerzusammenzuhalten. Vor allen Dingen hätte er den Drahtin die Vereinigten Staaten niemals abreißen lassen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP – Hubertus Heil [SPD]: Er hättedas Scheckbuch gezogen!)

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Ministerpräsident (Bayern) Dr. Edmund Stoiber

Eine solche Spaltung Europas hätte es mit der Unionnicht gegeben. Dass die kleinen Nationen jetzt einen ei-genen Minikonvent stattfinden lassen, um sich gegen be-stimmte Maßnahmen, die Sie mit Ihren Kollegen aus dengroßen Ländern erörtern, abzustimmen, halte ich für eineKatastrophe für die weitere Integration Europas.

(Vorsitz: Vizepräsident Dr. Norbert Lammert)

Wir haben immer versucht, genau das zu verhindern. Eswar immer deutsche Außen- und Europapolitik, nie zwi-schen großen und kleinen Ländern zu differenzieren.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Herr Bundeskanzler, nicht nur außenpolitisch stehtDeutschland in gewisser Weise vor einem Scherbenhau-fen. Auch innenpolitisch wissen die Menschen inDeutschland nicht mehr, wie es weitergehen soll.

(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie führen sich rhetorisch aufwie eine Scherbe! – Peter Dreßen [SPD]: AchGott, Herr Stoiber!)

Im Ergebnis haben Sie heute eingeräumt, was Sie imvergangenen Jahr noch erbittert bestritten haben.

(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie führen sich nicht einmalwie ein Scherbenhaufen, sondern nur wie eineeinzelne Scherbe auf!)

Deutschland ist leider ein Sanierungsfall. Sie habenheute eingeräumt, dass die Lohnzusatzkosten, die Steu-ern und die Staatsabgaben zu hoch sind.

(Horst Kubatschka [SPD]: Wer hat sie hochge-trieben?)

In der Analyse kommen Sie langsam in der bitteren Rea-lität an, die Ihre Politik letztlich mit verschuldet hat.

(Peter Dreßen [SPD]: Daran sieht man mal,welch einen Saustall Sie uns hinterlassen ha-ben!)

Vor dieser ehrlichen Analyse haben Sie sich bis zu denWahlen gedrückt.

(Volker Kauder [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

Die ganze Wahrheit ist jedoch: Nach viereinhalb Jahrenunter Ihrer Regierung befinden sich Wirtschaft und Ar-beitsmarkt in einem steilen Abstieg.

(Michael Glos [CDU/CSU]: Das ist leider wahr!)

Sie haben die Probleme nicht gelöst, sondern Problemegeschaffen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –Hubertus Heil [SPD]: Machen Sie doch einmaleinen Vorschlag!)

Für Ihre heutigen Ankündigungen gilt: zu wolkig, zuorientierungslos, zu wenig und zu spät. So führen Sie un-ser Land nicht aus der Krise.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/

DIE GRÜNEN]: Null Optimismus! – KatrinDagmar Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Aber Sie ganz bestimmt nicht!Wenn man Ihnen zuhört, bekommt man Lust,die Füße auf den Tisch zu legen!)

Wolkig ist Ihre Regierungserklärung, weil Sie wesent-liche Positionen im Nebel lassen.

(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Meine Güte!)

Was heißt „Wir müssen bestimmen, was künftig zumKernbereich der gesetzlichen Krankenversicherung ge-hört und was nicht“? Was heißt „Wir sind dabei, dieBundesanstalt für Arbeit so umzubauen, dass sie ihrer ei-gentlichen Aufgabe nachkommen kann“?

(Michael Glos [CDU/CSU]: Wie lange denn noch?)

Orientierungslos ist Ihre Regierungserklärung, weilSie noch im Oktober des letzten Jahres in Ihrer damali-gen Regierungserklärung kreditfinanzierten Finanzsprit-zen eine klare Absage erteilt haben. Sie sagten damals,dass solche Finanzspritzen keine Wirkung entfalten wür-den. Heute preisen Sie solche Finanzspritzen als Wun-dermittel für die Bauwirtschaft und die Kommunen an.Herr Bundeskanzler, auch wenn Sie das heute abstreiten,bleibt es richtig: Das ist nichts anderes als ein Strohfeuerauf Pump; denn auch die Kreditmittel der KfW sind na-türlich staatliche Mittel, weil der Staat für die Schuldenhaftet. Deswegen ist dies nur ein Trick. Sie machen ge-nau das, was Sie vor einem halben Jahr von diesemPlatze aus noch kritisiert haben.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Orientierungslos ist ebenso, dass Sie hier im Bundes-tag neue billige Kredite zur Förderung des Wohnungs-baus versprechen, während Sie mit dem Steuervergünsti-gungsabbaugesetz, das heute im Bundesrat abgelehntwurde, die Demontage der Eigenheimzulage betreiben.

(Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:Das haben Sie falsch verstanden! Es geht nichtum den Wohnungsbau!)

So viel Schizophrenie in der Regierung war in Deutsch-land noch nie.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Zu wenig bietet Ihre Regierungserklärung für denMittelstand, der sehnlichst auf umfassende Entbürokrati-sierung und spürbare Entlastungen wartet. Ihr „SmallAct“ für den Mittelstand ist wahrlich zu klein geraten.Zu spät kommen Ihre Ankündigungen, der Max-Planck-Gesellschaft erst im nächsten Jahr eine Ausgabenerhö-hung von 3 Prozent in Aussicht zu stellen, die Sie nochvor zwei Monaten verweigert haben, obwohl es früherZusagen gegeben hat, dass man genau in diesem innova-torischen Bereich mehr Mittel zur Verfügung stellenwill. Ihre Klagen über zurückgehende Innovationen nüt-zen gar nichts, wenn Ihre Regierung genau das Gegenteilvon dem tut, was notwendig wäre, um Innovationen zu

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Ministerpräsident (Bayern) Dr. Edmund Stoiber

fördern, Wissenschaftler im Land zu halten und vor allenDingen Wissenschaftler ins Land zu holen.

Zu spät kommt Ihre Regierungserklärung für Hun-derttausende von Menschen, die allein in den letztenWochen und Monaten arbeitslos geworden sind oder ihreExistenz verloren haben. Wieder einmal versprechen SieMut zur Veränderung. Viele Regierungserklärungen vonIhnen haben dies als Überschrift gehabt. Wenn Sie heutetatsächlich mutig gewesen wären, dann hätten Sie IhreDutzende Steuererhöhungen zurückgezogen, die heuteim Bundesrat gescheitert sind

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

und auch im Vermittlungsausschuss nicht unsere Zustim-mung erhalten werden. Herr Müntefering, Sie könnensich darauf verlassen: Natürlich gibt es auch innerhalbder CDU/CSU eine breite Diskussion.

(Hubertus Heil [SPD]: Was für eine breite Dis-kussion?)

Aber wir arbeiten eng zusammen, was den Erfolg, denwir in den letzten Wochen und Monaten erzielt haben,begründet hat. Machen Sie sich mehr Sorgen um Ihre alsum unsere Partei.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP – Franz Müntefering [SPD]:Blockierer! – Hubertus Heil [SPD]: Blockade-Ede!)

Was sollen die Menschen über folgende Worte den-ken: „Die Menschen erwarten, dass wir die Belastungendurch Steuern und Abgaben senken“? – Das haben Sieheute hier gesagt. Gleichzeitig bürden Sie den Bürgernund der Wirtschaft allein in diesem Jahr Belastungen inForm von Abgaben und Steuern in Höhe von zusätzlich24 Milliarden Euro auf. Mit diesem Vorgehen werdenSie mit Sicherheit nicht das Vertrauen der Bürger be-kommen. Auf der einen Seite weniger Belastungen fürdie Bürger zu versprechen, auf der anderen Seite36 knallharte Steuererhöhungen in Ihrem Steuervergüns-tigungsabbaugesetz, das ein Steuererhöhungsgesetz ist,vorzulegen, das ist Schizophrenie. Dafür werden Sie beiden Bürgerinnen und Bürgern niemals Verständnis fin-den.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –Franz Müntefering [SPD]: Sie lassen dieStädte und die Gemeinden im Stich!)

Wenn Sie heute tatsächlich mutig gewesen wären,dann hätten Sie Ihr Wahlkampfversprechen gehalten.Vor einem halben Jahr waren Sie noch der Überzeugung:Steuererhöhungen sind ökonomischer Unsinn und scha-den Wachstum und Beschäftigung in Deutschland. –Diese Kehrtwende wäre tatsächlich Mut zur Verände-rung. Wir alle müssen uns darüber klar werden

(Franz Müntefering [SPD]: Einsicht ist der beste Weg zur Besserung!)

und dies auch den Bürgerinnen und Bürgern in unseremLand deutlich machen: Deutschland befindet sich in dergrößten Strukturkrise seit 1949. Das Grundübel in

Deutschland ist die Massenarbeitslosigkeit. Massenar-beitslosigkeit zerstört Lebensperspektiven. Sie zerrüttetdie öffentlichen Haushalte und die Sozialkassen. Es istheute jedem klar: Mehr Arbeitslose bedeuten wenigerBeitrags- und Steuerzahler. Weniger Beitrags- und Steu-erzahler bedeuten weniger Sozialversicherungs- undSteuereinnahmen. Arbeitslosigkeit vernichtet das Ein-kommen, den Wohlstand und die soziale Sicherheit vonMillionen Menschen.

(Klaus Uwe Benneter [SPD]: Machen Sie ei-nen Vorschlag!)

Nicht Reformen führen zum sozialen Kahlschlag inunserem Land, sondern das Hinnehmen von Massenar-beitslosigkeit. Das ist der entscheidende Ansatzpunkt beiallen Reformvorschlägen, die wir bisher gemacht haben.

(Zurufe von der SPD: Welche?)

– In der letzten und in dieser Legislaturperiode. Von Ih-nen wurden sie immer sofort als sozialer Kahlschlag be-zeichnet.

Ich erinnere mich, was Sie auf dem Kongress desDGB gesagt haben: Sie haben versprochen, dass esselbstverständlich keine Eingriffe in die sozialen Besitz-stände gäbe.

(Ute Kumpf [SPD]: Woher wissen Sie denn das alles?)

– Ich war einen Tag später da. – Mir ist vorgehalten wor-den, dass wir den Kahlschlag planen würden, währendSie den sozialen Besitzstand großartig sichern. Man willauf Ihrer Seite nicht begreifen, dass sozial ist, was Arbeitschafft. Das ist heute unsere primäre soziale Aufgabe.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Unter den 4,7 Millionen Arbeitslosen befinden sichnicht nur ältere und gering qualifizierte, sondern auchimmer mehr junge und gut qualifizierte Menschen.Selbst sie finden phasenweise keine Arbeit mehr oderverlieren ihre sicher geglaubte Stelle. Weil viele jungeMenschen keine Perspektive mehr sehen, wandern natür-lich auch die Besten ab.

(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Leo Kirch!)

Wir verlieren Hunderttausende von jungen, gut ausgebil-deten Menschen. Das können wir uns auf Dauer nichtleisten. Deswegen sollte man im Zusammenhang mit derDebatte über die Zukunft Deutschlands neben der Zu-wanderung viel intensiver über die Auswanderung re-den.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Deutsche Traditionsunternehmen, die bis vor kurzemals krisenfest galten, bauen Tausende Stellen ab oderüberlegen, ihren Sitz ins Ausland zu verlegen.

(Klaus Uwe Benneter [SPD]: Die wandern aus Bayern aus!)

37 700 Insolvenzen haben im letzten Jahr Kapital inHöhe von 50 Milliarden Euro vernichtet.

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2524 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2003

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Ministerpräsident (Bayern) Dr. Edmund Stoiber

(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bayerische Landesbank! –Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Alles bayerische Unternehmen!)

Der DAX ist im internationalen Vergleich deshalb amstärksten abgestürzt, weil in Deutschland die Hoffnung,dass sich hier etwas ändert, am geringsten ist. Deutsch-land lebt zunehmend von der Substanz; aber auch dieSubstanz ist bald aufgebraucht. Das Wachstum inDeutschland bleibt seit Jahren hinter dem Wachstum inEuropa zurück. Deutschland ist das Schlusslicht.Deutschland fällt ab.

Ursache für den Abstieg ist, dass Deutschland anWettbewerbsfähigkeit verliert. Der Anteil Deutsch-lands am Welthandel ist im letzten Jahrzehnt von11 Prozent auf 8 Prozent zurückgegangen. Das zeigt:Auch wenn der Export nominal gewachsen ist, verlierenwir Anteile. Deswegen müssen wir hier darüber reden.Derjenige, der darauf hinweist, macht Deutschland nichtschlecht. Das Wichtigste für eine Therapie ist die rich-tige Analyse.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Deswegen müssen wir uns mit der Frage auseinandersetzen, auf welchen Gebieten wir verloren haben. Über4 Millionen Arbeitsplätze in Deutschland waren in denletzten Jahren im globalen Wettbewerb nicht mehr wett-bewerbsfähig.

(Franz Müntefering [SPD]: Eine schlechte Di-agnose führt nicht zu einer richtigen Thera-pie!)

Ursache für den Abstieg ist, dass Deutschland denSprung von der Nationalökonomie in die Globalökono-mie noch nicht geschafft hat. Diesen alles entscheiden-den Sprung werden Sie mit den Strukturkonservativen inder SPD und den Gewerkschaften niemals schaffen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Hier wurde Herr Bsirske zitiert, der Ihre wolkigeRede auch noch als großen Angriff auf den Sozialstaatbezeichnet. Wenn man diese Äußerung hört, kann mansich vorstellen, was in solchen Köpfen vorgeht. Sie wol-len nicht begreifen, dass unser Land dringend Reformenbraucht, wenn wir den Wohlstand für unsere Kinder undKindeskinder sichern wollen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –Klaus Uwe Benneter [SPD]: Genau das hatSchröder auch schon gesagt!)

In Ihrer heutigen Rede hätten Sie etwas mehr über dendeutschen Tellerrand schauen müssen. Andere Länderhaben längst ihre Hausaufgaben gemacht. Finnland undNorwegen haben in den vergangenen Jahren ihre Staats-quote um 10 Prozent gesenkt.

(Ludwig Stiegler [SPD]: Aber sie liegen noch höher als wir!)

Schweden, ein Land mit einer ähnlichen Sozialstaatstra-dition wie Deutschland, hat durch zahlreiche mutige

Strukturreformen die Arbeitslosenquote von 8 Prozentauf 5 Prozent gesenkt.

(Franz Müntefering [SPD]: Das sind Sozialde-mokraten! Das schaffen wir hier auch!)

In diesen Ländern gibt es wieder mehr Wachstum, Wohl-stand und Arbeitsplätze.

(Franz Müntefering [SPD]: Es sind die Sozial-demokraten, die das machen, weil die das kön-nen! Die können das nämlich besser!)

– Herr Müntefering, Sie haben vor einigen Wochen fest-gestellt: Es macht doch nichts, wenn die anderen Länderein etwas höheres Wachstum haben; dann holen sie imGrunde genommen nur auf. Sie müssen aber auch fest-stellen, dass die anderen Länder nicht nur aufholen, son-dern dass uns die Engländer, Franzosen, Iren und Hol-länder überholt haben. Sie überholen uns nicht nur,sondern sie haben auch ein höheres Wirtschaftswachs-tum. Das ist die Realität, mit der man sich auseinandersetzen muss.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP – Franz Müntefering (SPD):Stoiber ist auch überholt worden!)

Die Finnen, Norweger und Schweden sind nicht besserals die Deutschen, aber sie werden offensichtlich besserregiert. Die Folge von Arbeitslosigkeit und Wachstums-schwäche ist ein akuter Notstand in den öffentlichen Kas-sen. Den deutschen Ländern brechen die Steuereinnah-men weg.

(Franz Müntefering [SPD): Sie wollten doch einen Plan vorlegen! Wo bleibt der denn?)

Werfen Sie einen Blick in die Länderhaushalte! Dortfehlen die Mittel für Straßen, Schulen und Krankenhäu-ser. Das kostet zusätzliche Arbeitsplätze in der Bauin-dustrie. Die rot-grüne Steuerreform hat den Kommuneneinen Kahlschlag verpasst. Die Verschuldung derKommunen ist allein in den vergangenen eineinhalbJahren um 50 Prozent explodiert, Herr Müntefering.Viele Städte sind bereits so stark verschuldet, dass siekeine neuen Kredite mehr aufnehmen können und dür-fen. Deshalb bringen billige Kredite den meisten Kom-munen nichts.

Längst fordern Länder und Kommunen gemeinsam,dass die rot-grüne Erhöhung der Gewerbesteuerumlagesofort rückgängig gemacht wird.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Das würde den Kommunen schneller etwas bringen alsalles, was Sie heute vorgeschlagen haben.

Zuerst haben Sie mit der Erhöhung der Gewerbesteu-erumlage den Städten mehr als 2 Milliarden Euro proJahr entzogen. Jetzt bieten Sie ihnen billige Kredite an.Es ist doch eine absurde Politik, den Kommunen zuerstGeld wegzunehmen, aber dann zu beklagen, dass es ih-nen schlecht geht, und ihnen billige Kredite anzubieten.

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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2003 2525

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Ministerpräsident (Bayern) Dr. Edmund Stoiber

(Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Dann stimmen Sie doch dem Steuer-vergünstigungsabbaugesetz zu!)

Schon heute hangeln sich die Stadtkämmerer mit kurz-fristigen Krediten von Monat zu Monat.

(Ludwig Stiegler [SPD]: Weil der Freistaat so verschuldet ist!)

Viele Stadthallen verfallen. Städtische Schulen und Bi-bliotheken werden geschlossen, Stadttheater und Or-chester aufgelöst.

Angesichts dieser dramatischen Lage sind Ihre heuteangekündigten Maßnahmen völlig ungenügend. Arbeits-losigkeit treibt auch die Sozialversicherungen in denRuin. Die Sozialsysteme stehen vor dem Kollaps. Diesteigenden Beiträge treiben die Lohnzusatzkosten in dieHöhe.

(Hubertus Heil [SPD]: Haben Sie jetzt mal ei-nen Vorschlag?)

Das macht Arbeit teuer und schadet der Wettbewerbsfä-higkeit. Es kostet Arbeitsplätze und führt wiederum zuBeitragsausfällen. Das ist der Teufelskreis der deutschenKrankheit, den wir durchbrechen müssen.

Die OECD hat festgestellt, dass die deutsche Arbeits-losigkeit, entgegen Ihren ständigen Bekundungen, nichtkonjunkturelle, sondern zu 85 Prozent strukturelle – alsohausgemachte – Ursachen hat. Diese Ursachen liegen imArbeitsmarkt. Notwendig sind Reformen, die deutscheArbeit und deutsche Produkte auf den Weltmärkten wett-bewerbsfähig machen.

Sie aber haben Gesetze beschlossen, die das Gegen-teil bewirken. Wer den bedeutenden Kosten- und Stand-ortfaktor Energie mit der Ökosteuer im nationalen Al-leingang verteuert, vernichtet in Deutschland, das imWettbewerb mit anderen Ländern in Europa steht, Ar-beitsplätze.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Es bleibt dabei, Herr Müntefering: Wer nach der Fi-nanzplanung auch in den nächsten Jahren die Investiti-onsausgaben des Staates zusammenstreicht, sodass sieein Rekordtief von 10 Prozent des Haushalts erreichen,vernichtet in Deutschland Arbeitsplätze.

(Franz Müntefering [SPD]: Weshalb lehnenSie dann das Steuervergünstigungsabbauge-setz ab?)

Wer den Mittelstand und den Mut junger Existenz-gründer durch noch mehr Bürokratie, das verschärfte Be-triebsverfassungsgesetz und das Scheinselbstständigen-gesetz stranguliert, vernichtet ebenfalls Arbeitsplätze inDeutschland.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Auch wer jetzt im Hauruckverfahren den Meisterbriefim Handwerk infrage stellt,

(Zurufe von der SPD: Aha!)

und zwar mit einer solch eigenartigen Begründung, dervernichtet in Deutschland Arbeitsplätze.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Guido Westerwelle [FDP])

Sie werden auf erbitterten Widerstand stoßen, wenn Sieden Meisterbrief in der angekündigten Art und Weise– darauf läuft es praktisch hinaus – schleifen wollen;denn damit zerstören Sie ein wichtiges Strukturelementunseres deutschen Mittelstands.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –Franz Müntefering [SPD]: Entbürokratisie-rung, Herr Stoiber!)

Wer bei 4,7 Millionen Arbeitslosen mehr Zuwande-rung will und den Anwerbestopp aufheben will, der über-fordert den deutschen Arbeitsmarkt und bewirkt Einwan-derung in die sozialen Sicherungssysteme Deutschlands.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –Ludwig Stiegler [SPD]: Wer so was sagt, redetUnsinn!)

Das bleibt das Problem. Hier werden wir uns niemalsverständigen können, wenn Sie an der Ausweitung derZuwanderung festhalten.

Herr Bundeskanzler, zu lange haben Sie der Struk-turkrise Deutschlands tatenlos zugesehen. So wenigpolitische Führung wie durch die jetzige Regierung warnoch nie in Deutschland. Zugleich gilt: Eine so kon-struktive Opposition war nie in Deutschland.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP – Lachen bei der SPD und demBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir, die Opposition, machen konkrete Vorschläge.

(Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zurufe von der SPD: Wo?)

Frau Merkel hat vorhin auf die Entscheidung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion von Anfang Februar hingewie-sen. Wann hat es das zu Ihrer Oppositionszeit gegeben,dass man auch schmerzhafte Vorschläge unterbreitet, ob-wohl man sich damit einen Schiefer einzieht?

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Auch wenn ich hier immer nur Ihr höhnisches Lachenhöre, sage ich trotzdem: Wir reichen der Bundesregie-rung die Hand zu notwendigen Strukturreformen; dennDeutschland ist ein Sanierungsfall. Wir als Oppositionkönnen in der gegenwärtigen Phase – Deutschland befin-det sich in der tiefsten Strukturkrise – unsere Mitarbeitbei den notwendigen Entscheidungen nicht verweigern.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Hubertus Heil [SPD]: Sie tun es aber!)

Ich erinnere mich noch sehr gut an die Debatten inden Jahren 1997 und 1998, als Herr Schröder undHerr Lafontaine die damalige Steuerreform

(Zuruf von der SPD: Das war ein Schulden-programm!)

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2526 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2003

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Ministerpräsident (Bayern) Dr. Edmund Stoiber

mutwillig gestoppt haben, um der Regierung Kohl Scha-den zuzufügen. Das haben sie zwar erreicht. Aber sie ha-ben damit auch Deutschland Schaden zugefügt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Herr Bundeskanzler, Sie haben in Ihrer heutigen Regie-rungserklärung zum Teil das angekündigt, was Sie da-mals bekämpft haben. Sie hätten es heute leichter, wennSie 1998 bestimmte Veränderungen in unseren sozial-staatlichen Sicherungssystemen akzeptiert hätten. Dasmuss man – Sie ringen ja um Glaubwürdigkeit in der Be-völkerung – immer wieder deutlich machen.

Wir müssen in einem ersten Schritt die Weichen neustellen. Wir müssen schnell und wirksam reagieren.Dann können wir über die notwendigen und erforderli-chen Maßnahmen für den Umbau Deutschlands diskutie-ren. Deutschland braucht sofort eine Initiative zur Flexi-bilisierung des Arbeitsmarktes, damit sehr schnell neueArbeitsplätze entstehen. Deutschland braucht Ruhe inder Steuerpolitik, damit Investoren wieder auf verlässli-che Rahmenbedingungen vertrauen können. Deutsch-land braucht sofort eine Vereinbarung über die Belas-tungsgrenzen in den sozialen Sicherungssystemen, damitwettbewerbsfähige Arbeitsplätze entstehen.

(Hubertus Heil [SPD]: Sehr konkret!)

Deutschland braucht sofort eine Entlastung der öffentli-chen Haushalte, damit Entscheidungsspielräume undLuft für Investitionen entstehen. Deutschland braucht so-fort eine Stärkung des Vertrauens in die Wirtschaft sowieeine Ermutigung des Mittelstands durch Deregulierung,damit Anleger und Unternehmer wieder in Deutschlandinvestieren.

Ein Schwerpunkt eines Akutprogramms muss mehrFreiheit und Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt sein.

(Beifall bei der CDU/CSU – Klaus UweBenneter [SPD]: Herr Stoiber, wir sind hiernicht im Bierzelt! Werden Sie mal konkreter!)

Wir brauchen – das hat schon Frau Merkel gesagt; wieSie das nennen, ist für mich nicht entscheidend – ein So-fortprogramm, mit dem sich wesentliche Dinge sehrschnell umsetzen lassen; denn wir benötigen für denwirklichen Umbau des Sozialstaates, wenn wir zum Bei-spiel das Arbeitsmarktrecht neu regeln und es aus demRichterrecht herauslösen wollen, ein bisschen mehr Zeit.Aber so viel Zeit haben wir nicht. Also müssen wir mei-nes Erachtens sehr schnell ein Akutprogramm oder einSofortprogramm vorlegen, mit dem wir die wichtigstenDinge regeln. Darüber gibt es unterschiedliche Meinun-gen. Dazu sollten meines Erachtens die Regelungen zumKündigungsschutz nicht für Unternehmen gelten, dieweniger als 20 Mitarbeiter beschäftigen.

(Franz Müntefering [SPD]: Ach ja! – LudwigStiegler [SPD]: Das hat Schröder vorgetra-gen!)

Ich bin für jede sinnvolle Lösung offen. Das ist gar keineFrage. Derzeit gilt der Kündigungsschutz nicht für Be-triebe mit maximal fünf Beschäftigten. Das schützt zwardie fünf Beschäftigten, verhindert aber in vielen Fällen,

dass es sechs, sieben, acht, neun oder zehn Beschäftigtewerden.

(Widerspruch bei der SPD)

Schauen Sie sich doch einmal die Zahlen an: Es gibtin Deutschland 1,46 Millionen Betriebe mit bis zu fünfBeschäftigten, aber nur 260 000 Betriebe mit sechs bisneun Beschäftigten. Nur 200 000 Betriebe haben zwi-schen zehn und 20 Beschäftigte.

(Hubertus Heil [SPD]: Warum nicht 100?)

Dieses Ungleichgewicht zeigt doch ganz eindeutig: DerSchwellenwert von fünf Mitarbeitern wirkt durchaus alsJobbremse.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Was Sie vorschlagen, ist nicht ehrlich. Sie sagen: DieZeitarbeitsverträge zählen nicht mehr mit. Das istTrick 17.

(Dr. Guido Westerwelle [FDP]: So ist es!)

Das ist keine offene, Vertrauen erweckende Politik. Sietrauen sich nicht, weil Sie es in Ihrer Fraktion nicht kön-nen, aber Sie wollen trotzdem versuchen, die Notwen-digkeiten zu regeln. Also gehen Sie einen unklaren Weg.Der führt nicht zum Erfolg, Herr Bundeskanzler.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Herr Clement, für alle Unternehmen sollen bei Neu-einstellungen Abfindungsregelungen unter Verzicht aufden Kündigungsschutz ermöglicht werden. Die Höhe derAbfindung wird gesetzlich geregelt. Unternehmen undBetriebsrat sollen ohne Zustimmung der Tarifvertrags-parteien selbst betriebliche Bündnisse für Arbeit ab-schließen können. Ihr Vorschlag, der dies nur unter demVorbehalt der Zustimmung der Tarifvertragsparteien zu-lässt, wird der dramatischen Situation in unserem Landmit 4,7 Millionen Arbeitslosen in keiner Weise gerecht.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Sie beschreiben in Ihrer Regierungserklärung eigentlichnur den Status quo, denn was Sie vorschlagen, geht jetztschon. Das ist aber doch nichts Neues, das führt unsnicht weiter.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Der nächste Krisenherd, den wir bereinigen, ist dieSteuerfront. Bürger und Wirtschaft warten doch sehn-lichst auf Ruhe an der Steuerfront. Sie warten sehnlichstauf die Botschaft: In Deutschland werden in den nächs-ten Jahren die Steuern nicht mehr erhöht.

(Franz Müntefering [SPD]: Wir senken sie doch! Wer denn sonst?)

Sie können gar nicht erahnen, wie viel Vertrauen Sie mitdem Steuervergünstigungsabbaugesetz verloren haben.

Die Gemeindefinanzreform, die Sie heute anpreisenund die den Kommunen dauerhafte und solide Finanzensichert, muss natürlich umgehend kommen. Aber die ha-ben Sie 1998 bereits angekündigt. Sie haben dreieinhalbJahre nichts getan. Sie haben im Sommer des letzten

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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2003 2527

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Ministerpräsident (Bayern) Dr. Edmund Stoiber

Jahres die Kommission eingesetzt. Diese Kommissiontagt kaum.

(Zuruf von der SPD: Das ist doch Blödsinn!)

Prüfen Sie doch einmal nach, wie dort getagt wird. Es istnoch gar kein Konzept ersichtlich, was dabei eigentlichherauskommen kann.

(Ute Kumpf [SPD]: Wir sind hier nicht auf dem Nockherberg!)

Sie kündigen etwas zum 1. Januar 2004 an. Das ist wie-der eine Ihrer vielen Ankündigungen, die bei der Ar-beitsweise, die Ihre Regierung in diesem Punkt an denTag legt, nicht realistisch sind. Dreieinhalb Jahre habenSie nichts getan und jetzt sagen Sie: Ich mache alles ineinem halben Jahr.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zu-ruf von der SPD: Was haben Sie gemacht? Garnichts!)

Ich glaube, dass wir folgenden Weg gehen sollten:Die Lohnzusatzkosten müssen in den nächsten Jahrenunter 40 Prozent sinken. Darin sind wir uns, glaube ich,einig. Das muss meines Erachtens gesetzlich garantiertwerden. Wenn wir uns nicht selbst binden, werden wirnicht die Chance haben, unter 40 Prozent zu kommen.Wenn wir nicht unter 40 Prozent kommen, dann habenwir keine Chancen mehr.

Es gibt leider große Unternehmen in Deutschland– ich will die Namen nicht nennen; Sie kennen die Un-ternehmen, Herr Bundeskanzler –, die interne Anwei-sungen haben, keine Erweiterungsinvestitionen mehr inDeutschland zu tätigen. Die Verlagerung von Arbeits-plätzen findet zuhauf statt. 230 Arbeitnehmer verlierenin Passau bei der Firma Siemens ihren Arbeitsplatz. Sieverlieren ihn an Griechenland und an Rumänien. Warumverlieren sie ihn? – Auf den Vorhalt sagt mir Herr vonPierer: Es tut mir Leid, aber die Arbeitnehmer dieserLänder haben heute dieselbe Produktivität wie bayeri-sche Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, aber sie sindbilliger. Ich als Vorsitzender einer Aktiengesellschaftmuss günstig produzieren. Das sind die Probleme, mitdenen wir es zu tun haben. Dass wir uns heute in einer soschwierigen Situation befinden, haben wir uns vor einemoder vor zwei Jahren vielleicht nicht vorstellen können.Deswegen hätte Ihre heutige Regierungserklärung eingrößerer Wurf sein müssen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wir müssen über das Arbeitslosengeld reden. In die-sem Bereich gibt es verschiedene Vorschläge. Ich habein den vergangenen Tagen eine Befristung der Zahlungdes Arbeitslosengeldes auf zwölf Monate zur Diskussiongestellt.

(Katrin Dagmar Göring-Eckardt [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Was sagt denn dieCDU dazu?)

Ihr heute vorgestelltes Vorhaben geht in die gleicheRichtung. Was Einsparungen angeht, können wir sicher-lich zu gemeinsamen Lösungen kommen. Außerdemsollten meines Erachtens die Haushaltsmittel der Bun-

desanstalt für Arbeit für Weiterbildungsmaßnahmen hal-biert werden. Damit kann der Arbeitslosenversicherungs-beitrag sehr schnell um mindestens einen Prozentpunktgesenkt werden.

Auch wenn das unpopulär ist: Der Abstand zwischenMindestlohn und Sozialhilfe muss dringend vergrößertwerden. Genauso wie die Sachverständigen schlage ichvor, die Sozialhilfe für Arbeitsfähige generell um einViertel zu senken. Das ist schon heute möglich, wenn ei-nem arbeitsfähigen Sozialhilfeempfänger nachgewiesenwird, dass er eine Arbeit, die ihm angeboten wird, nichtannimmt. Aber wir müssen meines Erachtens ein Stückweitergehen. Wer arbeitet, der muss mehr in der Taschehaben als jemand, der nicht arbeitet. Das muss ein festerGrundsatz sein.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wenn dieser Grundsatz gelten soll, dann müssen wirdafür sorgen, dass alle, die arbeiten können und wollen,auch tatsächlich Arbeit erhalten. Dafür zu sorgen ist un-sere Aufgabe. Diejenigen, die arbeiten, sollen mehr inder Tasche behalten dürfen. Mit Ihrem Vorschlag rennenSie bei uns offene Türen ein. Wenn Sie heute dafür ein-treten, dass ein Arbeitslosenhilfe- oder Sozialhilfeemp-fänger künftig vom Lohn für eine Arbeit, die er ange-nommen hat, mehr behalten soll – gegenwärtig wird ihmfaktisch fast alles abgezogen –, dann muss ich Sie daranerinnern, dass wir schon vor einem Jahr entsprechendeVorschläge gemacht haben. Damals sind wir bei Ihnenauf Widerspruch gestoßen. Sie und die Gewerkschaftenhaben uns kritisiert. Ich freue mich, dass Sie mittlerweileetwas am Baum der Erkenntnis der Union genascht ha-ben. Das sollten Sie öfter tun.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich wiederhole: Mit dem von uns vorgeschlagenenWeg ist kein Sozialabbau, sondern der Abbau vonSchwarzarbeit verbunden. Sozialhilfe ist eine zweiteChance; aber sie darf kein Lebensstil sein. Dass sie dasist, ist bei uns leider häufig der Fall.

Deutschland braucht einen Befreiungsschlag zur Stär-kung der Wirtschaft und zur Stärkung des Vertrauens indie Unternehmen. Ich teile Ihre Meinungen, was die Vor-standsvorsitzenden und viele Selbstverpflichtungen derMitarbeiter in den großen Betrieben anbelangt. Das halteich für richtig. Nur durch das, was Sie beschrieben ha-ben, kann man Vertrauen aufbauen.

Wir brauchen zur Stärkung des Vertrauens in Wirt-schaft und Unternehmen auch eine stärkere Deregulie-rung. Ich meine, dass man ein Kleinbetriebsrecht fürBetriebe mit bis zu 20 Beschäftigten schaffen sollte.Diese Kleinbetriebe können sich keinen Steuerexpertenund erst recht keine Rechtsabteilung leisten. Unter ande-rem schlage ich deshalb vor, dafür zu sorgen, dass dasTeilzeit- und Befristungsgesetz nur in Betrieben mitmehr als 20 Mitarbeitern gilt. Das Arbeitszeitgesetzmuss für Betriebe mit bis zu 20 Mitarbeitern flexibili-siert werden. Die geltende Arbeitsstättenverordnungmuss für Kleinbetriebe mit bis zu 20 Beschäftigten auf-gehoben werden. Das wäre ein weiteres Stück Entriege-lung unseres komplizierten Arbeitsmarktes und damit

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2528 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2003

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Ministerpräsident (Bayern) Dr. Edmund Stoiber

eine Hilfe gerade für diejenigen Betriebe, in denen über-durchschnittlich viele Arbeitsplätze entstehen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Herr Bundeskanzler, alles, was Sie heute wissen, ha-ben Sie schon bei Ihrer Regierungserklärung im Oktoberletzten Jahres gewusst. So lange ist das noch nicht her.Alles, was Sie heute wissen, haben Sie auch im Wahl-kampf gewusst. Deshalb bietet Ihre heutige Regierungs-erklärung eine treffliche Übersicht über die Fehler undüber die Versäumnisse Ihrer Regierungszeit.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Was Sie vortragen, das sind zum großen Teil Ankün-digungen, Wiederholungen von Ankündigungen, Ap-pelle, Drohungen in Richtung Wirtschaft und Be-schwichtigungsgesten in Richtung Gewerkschaften.Damit werden wir den Sanierungsfall Deutschland nichtlösen.

Täuschen Sie sich nicht, Herr Bundeskanzler: Mehrals zwei Drittel der Menschen in Deutschland trauen Ih-nen nicht mehr zu, dieses Land in eine bessere Zukunftzu führen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Hier in diesem Hause haben Sie eine knappe Mehrheit,

(Franz Müntefering [SPD]: Aber eine Mehr-heit!)

aber bei der Bevölkerung haben Sie keine Mehrheitmehr.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Deswegen werden Sie es auch nicht schaffen, den Men-schen Mut zu machen.

Deutschland – da stimme ich Ihnen zu – hat Substanz.Deutschland hat kreative und engagierte Menschen. Wirkönnen Deutschland wieder zu einem starken, sozial si-cheren und zukunftsfähigen Land machen, wenn wir be-reit sind, Einschnitte in unsere großartigen sozialen Si-cherungssysteme nicht mehr nur als sozialen Kahlschlagzu diffamieren, und wenn wir in diesem Hause und darü-ber hinaus über Einschnitte diskutieren können, damitder soziale Wohlstand in unserem Lande morgen undübermorgen erhalten bleibt und unsere Kinder nicht dasSchicksal unserer Eltern haben. Denen ist es schlechtergegangen als meiner Generation. Ich möchte, dass esmeinen Kindern morgen und übermorgen in diesemLand mindestens so gut geht wie uns. Das ist in Gefahr.

Deswegen, meine sehr verehrten Damen und Herren,reichen wir die Hand, um einiges mitzumachen. AberUnsinn werden wir nicht mitmachen.

Herzlichen Dank.

(Lang anhaltender Beifall bei der CDU/CSU – Beifall bei der FDP)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich bin daraufaufmerksam gemacht worden, dass es im Augenblickdes Wechsels in der Sitzungsleitung einen Zuruf aus denReihen der Koalition an den Redner gegeben habe, denich nicht gehört habe, den ich aber beanstanden müsste,wenn er tatsächlich so gefallen wäre. Wir werden dasdurch Einsicht in das Sitzungsprotokoll klären.

(Joseph Fischer, Bundesminister: Wer hat denn da gepetzt?)

Nun erteile ich dem Bundesminister für Wirtschaftund Arbeit, Wolfgang Clement, das Wort.

(Beifall bei der SPD)

Wolfgang Clement, Bundesminister für Wirtschaftund Arbeit:

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Gestern war ich in München.

(Ute Kumpf [SPD]: Ehrlich? Mutig!)

Ich habe mich dort, Herr Kollege Stoiber, sehr gast-freundlich aufgenommen gefühlt. Dafür bin ich natürlichdankbar. Als ich aber heute Ihrer Rede zugehört habe,musste ich meine ganze Kraft zusammennehmen, umnicht meinen Optimismus in Bezug auf Deutschland zuverlieren.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wenn einem hier Begriffe wie „SanierungsfallDeutschland“, „Ruin“ und „Kollaps“ um die Ohren flie-gen, dann können nur noch ganz starke Charaktere demstandhalten und nicht in Depressionen verfallen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Herr Kollege Stoiber, wenn wir gemeinsam daran ar-beiten wollen, dass sich die Gallup-Umfragen verbes-sern, dass in Deutschland wieder gelacht werden darf,dann lassen Sie uns anders reden, als Sie es hier getanhaben.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Herr Kollege Stoiber, Sie haben gestern sogargesagt – in etwas freundlicherer Tonlage; auch heute ha-ben Sie es anklingen lassen –, dass uns andere Volks-wirtschaften – Sie haben zum Beispiel Irland, Frankreichund England erwähnt – beim Pro-Kopf-Einkommenüberholt hätten.

Zu einer wirklich sauberen Analyse, die Sie geforderthaben, gehört es, sich endlich wieder in Erinnerung zurufen, dass Deutschland wie keine andere Volkswirt-schaft in Europa oder in der Europäischen Union eineLeistung vollbringt,

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2003 2529

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Bundesminister Wolfgang Clement

die sich leider im Pro-Kopf-Einkommen niederschlägt.Das wollen wir ändern. Ich spreche von der Leistung,dass diese Volkswirtschaft Jahr für Jahr immer noch4 Prozent ihres Bruttosozialprodukts für den AufbauOst, für den Aufbau Ostdeutschlands, aufbringt. Das istgut so und das tun wir gern, aber diese Leistung muss beieiner halbwegs vernünftigen Analyse berücksichtigtwerden.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Herr Kollege Stoiber, Sie haben dem Bundeskanzlerabgesprochen, dass er über eine Mehrheit verfüge. Dashaben Sie jedoch zu Recht eingeschränkt, denn Sie ha-ben diese Mehrheit nicht. Hier reden Sie etwas andersals in München, jedenfalls wenn ich dabei bin. Herr Kol-lege Stoiber, Sie haben die Wahl am 22. September 2002nicht gewonnen und können auch hier keinen anderenEindruck erwecken. Deutschland hat Ihnen die zurKanzlerschaft erforderliche Mehrheit nicht gegeben.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Sie werden den Wahlkampf auch im Nachhinein nichtmehr gewinnen.

Vorhin ist mir auf der Regierungsbank etwas zuge-flüstert worden. Herr Kollege Westerwelle, wir auf derRegierungsbank müssen einen starken Charakter haben.Es gehört eine enorme Charakterfestigkeit dazu, auch beieiner solchen Kritik von Ihrer Seite ruhig zu bleiben.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Herr Minister, was bei präziser Betrachtung übrigenshäufig nicht gelingt.

Wolfgang Clement, Bundesminister für Wirtschaftund Arbeit:

Mit meinem Status sitzt man dort auf der Bank unddarf sich noch nicht einmal zu Ihnen nach vorn bewegen.Das ist wirklich schwierig.

(Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Das ist in Ih-rem Gehalt drin, Herr Minister!)

– Nein, das ist nicht alles darin enthalten. Früher bin ichschon besser behandelt worden als heute.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD – MichaelGlos [CDU/CSU]: Wären Sie doch in Düssel-dorf geblieben!)

– Sie können mich dort gern besuchen. Sie können dortnoch viel lernen, Herr Kollege Glos. Ich bin aber in derletzten Zeit ziemlich häufig in Bayern.

Gehen wir einmal nach Niederbayern, Herr KollegeStoiber, und sprechen wir über das, was in Passau gewe-sen ist. Für mich war es dort hochinteressant. Ich warjetzt in Vilshofen, also dort, wo der politische Ascher-mittwoch seinen Ursprung hat. Dort bin ich wie zu

Hause. Der Kollege Stoiber war nebenan in Passau in ei-ner Halle, die demnächst bzw. unmittelbar nach seinerRede abgerissen wird.

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das habe ich alles erst dort gelernt. Dazu war ich in Nie-derbayern und bin nun wirklich firm.

Der Kollege Stoiber hat in der Nibelungenhalle inPassau gesprochen,

(Michael Glos [CDU/CSU]: Gut!)

und zwar, wie ich gehört habe, lange und eindrucksvollund noch länger als heute hier.

(Michael Glos [CDU/CSU]: Und noch bes-ser!)

In den Zeitungen stand anschließend sofort das Verspre-chen: Die Halle wird jetzt abgerissen.

(Heiterkeit bei der SPD – Michael Glos [CDU/CSU]: Was war daran jetzt originell?)

Herr Kollege Glos, sprechen wir über die Zeit desWahlkampfes. Ich habe verstanden, dass Sie mit Blickauf den Irak für die Überflugrechte der Amerikaner inDeutschland sind. Mir ist gesagt worden, im Wahlkampf,insbesondere in Bayern, habe es aus Ihrem Munde an-ders geklungen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wenn man also über Beliebigkeit spricht, wie das gele-gentlich geschieht, bitte ich darauf zu achten, dass meh-rere Finger der eigenen Hand immer auf einen selbst zu-rückzeigen, wie uns das schon Bundespräsident GustavHeinemann gelehrt hat.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Herr Kollege Stoiber, einen Begriff aus dem Wahl-kampf halte ich heute für völlig widersinnig: Jetzt mitBlick auf die Situation im Irak, mit Blick auf das Ringenfast aller Staaten um die Verhinderung eines Krieges imIrak von einem „deutschen Sonderweg“ zu sprechen, istaus meiner Sicht an Abwegigkeit kaum zu überbieten.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich wollte – Herr Kollege Glos, das hätte ich jetzt bei-nahe vergessen – noch etwas zu Niederbayern sagen.Das sage ich auch in Richtung des Kollegen Stoiber. Ichfinde es ganz interessant, dass Sie in der gesamten Re-gion Passau in Niederbayern eine Arbeitslosenquote von11,8 Prozent haben. Das ist sehr bedrohlich. Die Vertre-ter des Betriebsrates des Siemens-Unternehmens in Pas-sau waren bei mir, um mich und die Bundesregierungum Hilfe zu bitten. Die Situation dort ist sehr schwierig,das haben Sie richtig geschildert.

Aber die Menschen dort sagen mir auch etwas ande-res: In Bayern war die gesamte Politik wie etwa die In-vestitionen, die Sie aufgrund der Vermögensveräußerun-

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Bundesminister Wolfgang Clement

gen seitens des Freistaates Bayern haben vornehmenkönnen, sehr stark auf die exzellenten Gebiete wie denGroßraum München konzentriert. In Niederbayern ha-ben Sie vergleichsweise wenig getan. Das wird Ihnendort vorgeworfen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetendes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN –Ludwig Stiegler [SPD]: Oberpfalz und Nieder-bayern hat er immer vernachlässigt!)

– Ich bin jetzt in Bayern kundig.

Ich sage das auch deshalb, weil ich gut in Erinnerunghabe, wie ich von Ihnen beispielsweise wegen mancherschwierigen Lagen in Nordrhein-Westfalen kritisiertworden bin. In Zukunft komme ich zu Ihnen. Dann spre-chen wir über die schwierigen Lagen bei Ihnen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Edmund Stoiber, Minis-terpräsident [Bayern]: Sie müssen die makro-ökonomischen Bedingungen verändern!)

– Selbstverständlich werden wir die makroökonomi-schen Bedingungen verändern. Daran arbeiten wir unddarüber diskutieren wir.

(Dr. Edmund Stoiber, Ministerpräsident [Bayern]: Machen Sie es doch!)

Wenn ich Ihr „Akutprogramm“ dem Programm, dasFrau Kollegin Merkel heute vorgestellt hat, gegenüber-stelle – ich habe versucht, zu erkennen, wo es Überein-stimmungen gibt –, dann muss ich sagen, dass ich fastmehr Übereinstimmungen bei dem Programm von FrauMerkel mit uns festgestellt habe als bei dem Programmdes Kollegen Stoiber.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und desBÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – HartmutSchauerte [CDU/CSU]: Das ist additiv! Dasergänzt sich prima!)

Mich interessiert, was wir gemeinsam zustande bringenkönnen.

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, Sie werden esmir nicht glauben

(Michael Glos [CDU/CSU]: Nein!)

– warten Sie es ab! –: Ich gehe ungeachtet dieser Bei-träge ermutigt aus dieser Debatte. Ich bin überzeugt da-von, dass wir in der Bundesrepublik jetzt die Chancehaben, die notwendigen Veränderungen und die notwen-dige Wende, von der wir alle wissen, dass sie geschafftwerden muss, tatsächlich zu vollziehen. Ich bin über-zeugt davon, dass niemand, also keine nennenswerte ge-sellschaftliche Kraft, die politisch, wirtschaftlich, ge-werkschaftlich oder anderweitig organisiert ist, in derLage ist, sich dem zu entziehen, was zu tun ist.

Der Bundeskanzler hat heute genau dargestellt, inwelche Richtung wir gehen müssen. Er hat gesagt, wel-che Schritte unternommen werden müssen, welche Op-fer und welche Zumutungen damit verbunden sind undwelche Beiträge von den verschiedenen Gruppen in derGesellschaft erwartet werden müssen. Ich bin davon

überzeugt, dass wir darüber im Wesentlichen einig sind.In den Passagen, die ich von Frau Kollegin Merkel ge-hört habe, habe ich kaum einen Punkt erkannt, in demSie nicht wenigstens in der Richtung mit dem überein-stimmen, was der Bundeskanzler dargestellt hat. Deshalbsage ich: Wir werden diese Schritte tun müssen – wir wer-den sie auch tun – und Sie werden daran mitwirken.

Worum geht es, wenn der Bundeskanzler an dasSelbstbewusstsein und an die Eigenverantwortung derMenschen, an die Selbstverantwortung der Institutionenund an den Mut zur Veränderung appelliert? Es geht zu-nächst darum, die internationale Wettbewerbsfähig-keit der Bundesrepublik Deutschland zu verbessern unduns nicht nur ganz vorn in Europa, sondern auch ganzvorn in der Welt zu platzieren. Das steht im Gegensatzzu dem, wie Sie die Lage darstellen, Herr Kollege Stoi-ber. Ich verstehe nicht, warum es sinnvoll sein soll, dieBundesrepublik Deutschland schlechter darzustellen, alssie ist, und die Wirtschaftskraft der BundesrepublikDeutschland zu leugnen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Bundesrepublik Deutschland ist die drittstärksteVolkswirtschaft der Welt. Sie ist die zweitgrößte Export-nation der Welt. Unsere Nation ist erstens kein Sanie-rungsfall und zweitens Weltspitze in der Automobilin-dustrie und im Maschinenbau. Sie liegt noch vorn in derChemieindustrie. Sie muss wieder nach vorne in derPharmaindustrie. Wir sind nicht schlecht positioniert inder Bio- und Gentechnologie. Wir liegen in der Informa-tionstechnologie, jedenfalls was die mobile Telekommu-nikation angeht, weltweit ganz vorne. Das muss manwissen. Darauf kann sich stützen. Genau das macht unsMut, die Schritte nach vorn zu gehen, die in der Bundes-republik fällig sind.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir werden alles tun, dass diese Schritte unternommenwerden.

(Abg. Ernst Hinsken [CDU/CSU] meldet sich zu einer Zwischenfrage)

– Herr Präsident, der Kollege Hinsken will bloß eineFrage stellen, sonst würde ich gern ausreden.

(Heiterkeit bei der SPD)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Wenn die Kooperationsbereitschaft inzwischen schondas Niveau erreicht hat, dass die Regierung Fragen be-antworten will, bevor sie gestellt werden, dann sind dasdie besten Aussichten für den Einigungsprozess.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Herr Kollege Hinsken, bitte.

Ernst Hinsken (CDU/CSU):

Herr Bundesminister Clement, können Sie mir einLand auf dieser Welt sagen, in dem die Insolvenzrate in

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Ernst Hinsken

den letzten zwei Jahren höher war als in der Bundesrepu-blik Deutschland?

Wolfgang Clement, Bundesminister für Wirtschaftund Arbeit:

Herr Kollege Hinsken, darf ich Ihre Frage mit einerGegenfrage beantworten? Können Sie mir Länder nen-nen, in denen auch in einer schwierigen Lage die Grün-dungsquote höher ist als die Insolvenzrate, wie es in derBundesrepublik Deutschland der Fall ist?

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Herr Kollege Hinsken, um das klar zu sagen: Fürmich ist es nicht akzeptabel, wenn man, wie Herr Stoiberes tut, die hohe Zahl der Insolvenzen ständig vor sichherträgt. Jawohl, die hohe Zahl der Insolvenzen ist nichtnur ein Problem, sondern eine Katastrophe. Jede Insol-venz ist katastrophal, auch wenn wir heute ein Insolvenz-recht haben, das gelegentlich nahe legt, diesen Weg zugehen, um dem Unternehmen die Möglichkeit zu geben,eine neue Perspektive zu entwickeln.

(Beifall bei der SPD)

Wenn wir aber über Insolvenzen sprechen, dann müs-sen wir auch über das Kreditgewerbe in Deutschland undüber die Frage sprechen, inwieweit beispielsweise dieBanken mitwirken, unsere Unternehmen in dieserschwierigen Phase zu stärken.

Meine Bitte ist, dass Sie dann, wenn Sie die hohe Insol-venzrate ansprechen, im selben Atemzug dazusagen: DieGründungsquote in Deutschland ist Gott sei Dank immernoch höher als die Insolvenzrate. Das heißt zu Deutsch:Es entstehen mehr neue Unternehmen, als Unternehmenvom Markt gehen. Das sind nicht genug; da sind wirbeide gleich ehrgeizig. Wir wollen die Quote wieder da-hin bringen, wo sie einmal war. Aber es ist wichtig, dieszu wissen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetendes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Abg.Ernst Hinsken [CDU/CSU] meldet sich zu ei-ner weiteren Zwischenfrage)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Es liegt an Ihnen, Herr Minister, ob Sie eine weitereZusatzfrage gestatten wollen.

Wolfgang Clement, Bundesminister für Wirtschaftund Arbeit:

Bitte sehr, Herr Kollege Hinsken.

(Gerhard Schröder, Bundeskanzler: Mach nicht zu lange!)

– Nein, aber ich muss mit Herrn Kollegen Hinsken ange-messen umgehen. Er ist im zuständigen Ausschuss undMitglied des deutschen Parlaments.

Ernst Hinsken (CDU/CSU):

Herr Minister, Sie haben mir eine Frage gestellt. Nunmöchte ich meine Frage in eine Antwort kleiden.

(Heiterkeit)

Ich kann Ihnen sofort zehn Nationen nennen, bei denendie Gründungsquote höher ist als in der BundesrepublikDeutschland: Dänemark, Italien, Großbritannien, Frank-reich.

In diesen Ländern und zum Beispiel in den USA istdie Gründungsquote fast doppelt so hoch wie bei uns.Sie aber wollen mir sagen, dass es keine Länder gibt, indenen die Gründungsquote höher ist als bei uns? Dasstimmt nicht. Ich bitte Sie, hier bei der Wahrheit zu blei-ben und auch das zu erwähnen. In den von mir genann-ten Ländern zum Beispiel ist es anders, als Sie behaup-ten.

Wolfgang Clement, Bundesminister für Wirtschaftund Arbeit:

Der Bundeskanzler hat mich gewarnt, Sie noch weiterreden zu lassen. Er hätte hinzufügen müssen – dann hätteich es sofort verstanden –: Wenn du einem Mitglied derbayerischen CSU den kleinen Finger reichst, dann hackter dir die Hand ab.

Ich habe Sie verstanden; wir sind dort unterschied-licher Meinung. Wichtig ist, dass Sie fähig sind, in Zu-kunft jeweils hinzuzufügen, dass auch die Gründungs-quote genannt werden sollte. Diesen Optimismusstrahlen Sie aus und dafür danke ich Ihnen, Herr Kol-lege.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Ernst Hinsken [CDU/CSU]:Und für Sie: Immer schön bei der Wahrheitbleiben!)

Es geht darum, die internationale Wettbewerbsfähig-keit der Bundesrepublik Deutschland zu verbessern undunsere Unternehmen in der Weltspitze zu verankern. Esgeht darum, heimische wie internationale Märkte zu öff-nen. Deshalb führen wir entsprechende Verhandlungenin der WTO, der Welthandelsorganisation. Wir müssenWachstum freisetzen und mehr Einkommen aus regulä-rer Arbeit schaffen. Notwendig ist, die Lohnnebenkostenzu senken, damit aus dem Einkommen schneller neueJobs werden.

Wenn wir über Bürokratieabbau reden, dann geht esdarum, jene Kräfte freizusetzen, die bisher durch Büro-kratie und Regulierung gebunden waren. Diese Kräftedürfen nicht nur im Bereich der sozial Schwachen gefor-dert und können nicht nur dort entfesselt werden. Nein,es geht um alle Bereiche des Lebens und Wirtschaftensin Deutschland. Vor allem müssen wir all die zum Han-deln bewegen, die in Deutschland in der Mitverantwor-tung stehen. Peter Hartz hat Recht, wenn er diesen Ap-pell an alle in Deutschland richtet.

Ich möchte nun noch zu einzelnen Punkten Stellungnehmen, die heute in der Debatte angesprochen worden

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Bundesminister Wolfgang Clement

sind, weil ich glaube, dass dies für die Klärung der Posi-tionen wichtig ist.

Erstens. Wir müssen den Arbeitsmarkt in Ordnungbringen. Das heißt, wir brauchen ein anderes Verständnisvon Arbeitsmarktpolitik in Deutschland. Wir müssenumsteuern, also wirklich ernst machen mit dem, was invielen, vielen Debatten – auch von uns – gesagt wurde:Es geht nicht darum, Arbeitslosigkeit zu finanzieren,sondern es geht darum, alle Kraft darauf zu verwenden,Menschen in Arbeit zu vermitteln. Das ist die Leitlinie.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Dieses Umsteuern wird, wie der Bundeskanzler ge-sagt hat, Auswirkungen haben, zum Beispiel im Bereichdes Arbeitslosengeldes. Erwerbstätige werden von derZusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfebetroffen sein. Ich möchte gerne, dass wir es schaffen,dies nicht als Opfer zu verstehen, sondern die Kräfte sozu bündeln, dass die Menschen, wenn irgend möglich,eben nicht nur in Arbeitslosigkeit entlassen werden. Esdarf nicht sein, dass sie erst ein Jahr lang arbeitslos sind,bevor wir es schaffen, sie in den Arbeitsmarkt zurückzu-bringen. Vielmehr müssen sie direkt nach der Kündigungeines Arbeitsverhältnisses in einen neuen Job gebrachtwerden.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es ist sehr wichtig, an Diskussionen mit den Men-schen teilzunehmen, die ganz konkret von dem betroffensind, was wir hier diskutieren. Ich habe das in dieser undin der vergangenen Woche hier in Berlin getan. Ich warzu Diskussionen eingeladen, an denen auch diejenigenteilgenommen haben, die von dem betroffen sind, washier so abstrakt klingt. Jedenfalls konnte man die Einzel-schicksale erkennen. Da können einem Worte wie „Wirlegen Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusammen und orga-nisieren das neu“ wirklich im Halse stecken bleiben. Wirreden über Menschen, die zum Teil erhebliche Problemehaben, sowohl mit uns als auch mit dem Einstieg in denArbeitsmarkt nach langer Zeit der Arbeitslosigkeit.Manchmal haben sie auch Probleme mit sich selber.Auch das gibt es, wie wir alle wissen, in nicht geringerZahl, und zwar nicht nur in unserer Gesellschaft, son-dern in allen Gesellschaften.

Um diesen Menschen wieder eine berufliche Perspek-tive eröffnen zu können, brauchen wir in den Arbeitsver-waltungen, in den städtischen Sozialämtern und bei denfreien Trägern Menschen, die sich ganz konkret um dieBetroffenen kümmern und sie buchstäblich an die Handnehmen, um sie wieder in den Arbeitsmarkt zu bringen.Vor dem Hintergrund, dass, wenn es irgend geht, mehrals 4 Millionen Arbeitslose in Arbeit gebracht werdensollen, wissen wir, vor welcher Herausforderung wir ste-hen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich möchte es aber bei allen finanziellen Veränderun-gen, die der Bundeskanzler angesprochen hat, ungern so

verstanden wissen, dass diese Menschen Opfer darstel-len. Sie sind vielmehr ein Ansporn für uns alle, an einerVeränderung mitzuwirken. Diese Veränderung be-schränkt sich nicht auf Gesetzesänderungen. Wir alle– ich möchte das Stichwort von den „Profis der Nation“aufgreifen, wie immer man das auch verstehen will –, dieUnternehmensleiter, die Vorstände, die Manager, die Be-triebs- und Personalräte und die Wissenschaftler, sindgefordert, wenn es darum geht, dass es in den Städtenund Gemeinden, in den Betrieben tatsächlich zu Verän-derungen kommt.

Das Gleiche gilt übrigens in Bezug auf die Ausbil-dungsplätze; der Bundeskanzler hat dies in der gebote-nen Deutlichkeit gesagt. Wir haben in Deutschlandwieder die Situation, dass uns Zehntausende von Ausbil-dungsplätzen fehlen. Es ist wirklich schwer zu verkraf-ten, wenn wir hören müssen, dass das notwendige Ange-bot an Ausbildungsplätzen von Bedingungen abhängiggemacht wird. Nein, wir müssen die Unternehmer bittenund an sie appellieren – dafür werden wir sie heimsu-chen; wir werden alles tun, um sie dazu zu bewegen –,

(Dr. Guido Westerwelle [FDP]: „Heimsuchen“ ist ein gutes Wort!)

mehr Ausbildungsplätze bereitzustellen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Herr Kollege Westerwelle, „heimsuchen“ ist wirklichein gutes Wort. Ich lade Sie ein, mitzukommen. Ich habemeine Erfahrungen gesammelt. In meiner früherenFunktion habe ich etwa 300 Unternehmen in Nordrhein-Westfalen besucht, vor allen Dingen kleine. Ich bilde mirein, mir einen gewissen Eindruck verschafft zu haben.Herr Hinsken weiß es genauso gut wie ich: Sie könnendurch Gespräche mit denen, die Mitverantwortung tra-gen und sich mitverantwortlich fühlen, mit Innungsmeis-tern und anderen, zu einer Veränderung des Verhaltensbeitragen. Das geht aber nur, wenn wir nicht über ihreKöpfe hinwegreden, wie es gelegentlich in unseren poli-tischen Diskussionen geschieht. Wir müssen ganz gezieltdiejenigen vor Ort ansprechen, die dazu beitragen kön-nen, dass die Ausbildungsplatzfrage gelöst wird.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich werde alles tun, um das zu erreichen, was derBundeskanzler angekündigt hat. Dazu gehört auch dieBereitstellung einer ausreichenden Zahl von Ausbil-dungsplätzen.

Ich will noch einmal unterstreichen, was ich gesagthabe: Es geht nicht allein darum, Mittel zu kürzen; diesist leider notwendig. Aber wir müssen die Lohnneben-kosten senken. Zu einer ehrlichen Analyse gehört, zu sa-gen, warum die Lohnnebenkosten in Deutschland sohoch sind. Wir haben so hohe Lohnnebenkosten, weilwir Anfang der 90er-Jahre – ich glaube, darüber bestehtheute Konsens – eine falsche Richtungsentscheidung ge-fällt haben. Es war falsch, einen Großteil des AufbausOst über die Lohnnebenkosten zu finanzieren.

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Bundesminister Wolfgang Clement

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir hätten diese Aufgabe allen Steuerbürgern auferlegenmüssen. Das ist heute aber nicht mehr zu ändern. Trotz-dem ist es Zeit, die Belastungen anders zu verteilen.

Es ist leichter, von dieser Stelle aus solche Erwartun-gen an andere zu richten, als zu wissen, was dies tatsäch-lich bedeutet. Was wir bei der Arbeitslosenhilfe be-schlossen haben und was bereits Gesetzeskraft ist –Stichwort: Partnereinkommen und anzurechnendes Ver-mögen –, bedeutet für einzelne Arbeitslosenhilfebezie-her eine Reduzierung ihres Einkommens, die in einemanderen Lebensbereich, zum Beispiel in einem Unter-nehmen, kaum jemand akzeptieren würde. Dies sind Be-lastungen in einer Größenordnung, die dort niemandemzugemutet würden. Bitte lassen Sie uns, wenn wir überdas sprechen, was notwendig ist, auch über diese Men-schen sprechen! Wir müssen sie gewinnen, auch dafür,mit uns gemeinsam alles zu versuchen, dass sie wiederin Arbeit kommen, soweit sie arbeitsfähig sind.

(Beifall der Abg. Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Ich will es noch einmal sagen: Wir reden über heute4,7 Millionen Arbeitslose in Deutschland. Es hängt allesentscheidend davon ab – davon bin ich überzeugt –, dasswir die Arbeitslosigkeit von Grund auf bekämpfen.„Von Grund auf“ heißt in meinem Verständnis: vor allembei den jungen Leuten. Der Kollege Müntefering hat dasvorhin zu Recht angesprochen. Es sind 580 000 jungeLeute unter 25 Jahren arbeitslos. Wenn da nichts getanwürde, hieße das, die Arbeitslosigkeit schlichtweg fort-zuschreiben. Wir müssen nicht nur einen Trend stoppenoder umkehren, sondern wir müssen der hohen Arbeits-losigkeit die Grundlage entziehen. Dazu muss es uns ineiner gemeinsamen Anstrengung gelingen, zu verhin-dern, dass junge Leute unter 25 Jahren bei uns überhauptin Arbeitslosigkeit gehen. Das ist das Ziel.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wie können wir dieses Ziel realisieren? Wir müssendafür sorgen – dazu brauchen wir die Unternehmen –,dass kein junger Mann und keine junge Frau, die ausbil-dungsfähig und ausbildungswillig sind, ohne Ausbil-dungsplatz bleiben. Das ist die erste Aufgabe.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Die zweite Aufgabe. Wir müssen dafür sorgen, dassdie jungen Leute dann auch einen Arbeitsplatz bekom-men. Es macht keinen Sinn, sie an der so genanntenzweiten Schwelle scheitern zu lassen. Sie müssen aucheinen Arbeitsplatz bekommen. Wenn das nicht möglichist, dann müssen wir ihnen eine Qualifikation anbieten.Kein junger Mann, keine junge Frau unter 25 Jahren darfin Deutschland ohne ein solches Angebot bleiben – allediese Angebote sind zumutbar – : Ausbildungsplatz, Ar-beitsplatz oder Qualifikation. Das ist das Ziel. Wenn wirdas erreichen, dann haben wir der Arbeitslosigkeit inDeutschland tatsächlich die Grundlage entzogen. Des-

halb müssen wir hier ansetzen und deshalb werden wirhier ansetzen. Das ist die wichtigste Aufgabe.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]:Woher kommen die Arbeitsplätze?)

– Woher kommen die Arbeitsplätze?

Es wird eine gewaltige Aufgabe, diejenigen, die heuteSozialhilfe beziehen und erwerbsfähig sind, in die Arbeits-vermittlung hineinzunehmen. Es sind etwa 1 MillionMenschen – das ist vorhin zu Recht gesagt worden –, diezusätzlich in Arbeit vermittelt werden müssen. Ein Groß-teil davon ist bereits heute bei der Arbeitsverwaltung,ein Teil nicht. Zusammen mit Familienangehörigenwerden sie in ein gemeinsames System gebracht wer-den. Wir werden die Schizophrenie überwinden – das isteine Schizophrenie –, dass zwischen Arbeitslosenhilfe undSozialhilfe unterschieden wird.

(Zuruf von der FDP: Wo bleiben die Arbeitsplätze?)

– Ich werde Ihnen gleich die Frage beantworten, wo dieArbeitsplätze sind.

Unter anderem ist auf das zu verweisen, was wir bei-spielsweise im Gesundheitssektor getan haben und wasSie bisher noch nicht angesprochen haben, weil Sie daoffensichtlich noch sprachlos sind.

(Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Nein! Überhaupt nicht!)

Wir werden Arbeitsplätze zu schaffen haben. Wir habenschon Arbeitsplätze geschaffen. Wir haben neue Mög-lichkeiten für Dienstleistungen geschaffen. Wir habenmit dem, was wir hier beschlossen haben, Arbeitsmög-lichkeiten geschaffen. Da hinein werden wir die Men-schen vermitteln.

Wir werden das aber nicht schaffen, wenn sich dieStädte und Gemeinden und die freien Träger, die heutemitwirken, zurückziehen. Was wir vor uns haben, gehtnur im Zusammenwirken von Bundesanstalt für Arbeit,Arbeitsvermittlung, Kommunen und freien Trägern. Nurim Zusammenwirken dieser drei Kräfte wird das gelin-gen.

Weil es vermutlich nicht möglich sein wird, Herr Kol-lege, alle diejenigen, die erwerbsfähig sind und bisher So-zialhilfe beziehen, sofort in den ersten Arbeitsmarkt zubringen – jawohl, das wird nicht auf Anhieb gelingen –,müssen wir es schaffen, gemeinsam mit den Städten undGemeinden sowie den freien Trägern so etwas wie einenzweiten Arbeitsmarkt mit zumutbaren Arbeitsverhält-nissen zu etablieren, in den wir diejenigen bringen kön-nen, die nicht auf Anhieb in den ersten Arbeitsmarktkommen können.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es geht darum, meine Damen und Herren, alle Hebelzu bedienen, die möglicherweise verhindern, dass Ar-beitsplätze entstehen. Dazu gehört auch das Arbeits-recht. Das ist die Diskussion, die wir führen. Der Bun-

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Bundesminister Wolfgang Clement

deskanzler hat dazu meines Erachtens das Richtigegesagt. Der Kollege Stoiber ist jetzt leider nicht mehrhier.

(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Er ist hinter Ih-nen!)

– Herr Kollege Stoiber, Entschuldigung; ich habe Sienicht gesehen. Sie sind also da.

(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Er ist allgegen-wärtig!)

– Wenn es spannend wird, dann ist er hier; das wissenwir doch.

Herr Kollege Stoiber, wenn Sie die Grenze von20 Beschäftigten in einem Betrieb so starr setzen, wieSie es hier formuliert haben, das heißt alles an derGrenze von 20 Beschäftigten in einem Betrieb festma-chen, dann spalten Sie den Arbeits- und Wirtschafts-markt in Deutschland in einer Weise, die wir noch niegehabt haben. Ich halte es für einen grundlegenden Feh-ler, so vorzugehen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sie wollen alles an der Grenze von 20 Beschäftigtenfestmachen. Sie werden dann eine Grenze haben, die denArbeitsmarkt und viele Beschäftigungsverhältnisse tref-fen wird. Ich bin sicher, das werden Sie nicht durchhal-ten. Auf die Diskussion darüber bin ich gespannt.

Ich glaube deshalb, dass der Vorschlag, den der Bun-deskanzler hier skizziert hat, nämlich Betrieben mit biszu fünf Beschäftigten, die noch nicht dem Kündigungs-schutz unterliegen, die Möglichkeit zu geben, zusätzlichbefristete Arbeitsverhältnisse einzugehen, wobei diesenicht auf die in diesem Zusammenhang bestehende Be-schäftigungsschwelle angerechnet werden, richtig ist. Erführt zu mehr Elastizität. Die Unternehmen, die zusätz-lich einstellen wollen – dabei geht es um die kleinenUnternehmen –, sollten diese Möglichkeit erhalten.

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Herr Minister, lassen Sie noch eine Zwischenfragedes Kollegen Niebel zu?

Wolfgang Clement, Bundesminister für Wirtschaftund Arbeit:

Ja, sehr gerne.

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Bitte.

Dirk Niebel (FDP):

Vielen Dank, Herr Minister. – Herr Minister, der Vor-schlag, der vom Bundeskanzler und von Ihnen skizziertworden ist, besagt ja, dass Betrieben mit bis zu fünf Ar-beitnehmern, um das Kündigungsschutzgesetz nicht wir-ken zu lassen, eine unbegrenzte Anzahl von befristetenBeschäftigungsverhältnissen ermöglicht werden soll und

dass auch Zeitarbeitnehmer nicht auf den Schwellenwertangerechnet werden sollen. Ist es denn zum einen nichtso, dass schon heute Zeitarbeitnehmer nicht auf den nachdem Kündigungsschutzgesetz bestehenden Schwellen-wert der Beschäftigten angerechnet werden? Was sollzum anderen daran besser sein, eine unbegrenzte Anzahlvon auf höchstens 24 Monate befristeten und, wie Sieimmer gesagt haben, prekären Beschäftigungsverhältnis-sen zu ermöglichen, anstatt dauerhaft einzustellen?

Wolfgang Clement, Bundesminister für Wirtschaftund Arbeit:

Herr Kollege, das heutige Recht ist so, dass befristeteArbeitsverhältnisse auf den Schwellenwert angerechnetwerden, sodass ein Arbeitgeber, der fünf Beschäftigtehat und ein sechstes Arbeitsverhältnis eingeht, für allseine Beschäftigten den Kündigungsschutz auslöst. Dasist die heutige Rechtslage, die durch die Rechtsprechungbelegt ist. Nur Aushilfskräfte werden nicht angerechnet,nicht aber befristete Beschäftigungsverhältnisse. Des-halb haben der Bundeskanzler und auch HerrMüntefering im Gegensatz zu Ihnen nur von befristetenArbeitsverhältnissen gesprochen. So ist es korrekt.

Was soll unser Vorschlag bringen? Das führt dazu,dass ein Arbeitgeber mit bis zu zwei Jahren befristetenArbeitsverhältnissen arbeiten kann. Er kann sogar inner-halb dieser zwei Jahre wechseln. Er kann mehrere Ar-beitnehmer befristet beschäftigen und kann sich in dieserZeit – da müssten Sie mir eigentlich zustimmen – klardarüber werden, ob er einen Schritt weiter geht oder ober besser mit befristeten Arbeitsverhältnissen arbeitenkann. Das liegt so nüchtern und klar auf der Hand, dassich es besser nicht beschreiben kann. Ich bitte Sie, damiteinverstanden zu sein, dass ich dies so sehe und Ihnen sodarstelle.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Das ist also der Vorschlag, der dazu vorliegt. Es ist in-teressant: In Wahrheit gibt es keinerlei Beleg dafür, obdie eine oder die andere Ansicht richtig ist. Zur Zeit derRegierung Helmut Kohls gab es einen Schwellenwertvon zehn Beschäftigten. Diese Regelung war drei Jahrein Kraft. Es ist im Nachhinein nicht eindeutig festgestelltworden, wie sie sich auf den Arbeitsmarkt ausgewirkthat. Es gibt bisher keine Nachweise – auch internationalkaum –, dass diese Grenze ihre Wirkung erzielt hat.

Weil es spannend und wichtig ist, sich ein bisschenOrientierung zu verschaffen, habe ich bei Forsa eineUntersuchung in Auftrag gegeben. Die Ergebnisse sindinteressant. Denn sie zeigen, Herr Kollege Stoiber, wieviele Menschen von den Regeln, über die wir hier disku-tieren, betroffen sind. Es gibt in Deutschland 1,45 Millio-nen Unternehmen mit bis zu fünf Beschäftigten. In die-ser Umfrage, deren Ergebnis ziemlich erhellend war,haben 42 Prozent der Inhaber dieser Unternehmen ge-sagt, dass sie sich vorstellen können, ein bis zwei Be-schäftigte zusätzlich einzustellen, wenn dies nicht denKündigungsschutz auslöst. Sie sagen das nicht, weil sieprinzipiell gegen den Kündigungsschutz sind, sondern

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weil sie die damit verbundene rechtliche Einbindung be-sorgt.

Auch ich bin nicht gegen den Kündigungsschutz. Ichbin wie der Kollege Müntefering und meine Freunde in-nerhalb der Sozialdemokratie dafür, den Kündigungs-schutz zu erhalten. Ich bin aber auch dafür, nach Wegenzu suchen, wie wir verhindern können, dass er sich zu ei-ner Bremse entwickeln könnte. Darum geht es.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wenn ich die von mir genannte Zahl von 1,45 Millio-nen Unternehmen hochrechnen würde, dann müsste ichsagen: Unser Vorschlag könnte, theoretisch gesprochen,einige 100 000 Arbeitsplätze schaffen. Weil ich aber beiallem Optimismus, zu dem ich mich trotz der vielen de-pressiven Veranstaltungen, die man in seinem Lebenmitmachen muss,

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

immer wieder aufraffe und dem ich mich verpflichtetfühle, versuche, ein Realist zu sein, sage ich: Wenn10 Prozent dieser Unternehmen zusätzlich ein oder zweiPersonen einstellen, dann ist das viel. Dann betrifft dasimmerhin einige 10 000 Menschen, die möglicherweisedadurch einen Arbeitsplatz erhalten können. Es lohntsich also.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir haben nunmehr fünf Jahre lang darüber diskutiert,was gegen eine solche Regel sprechen könnte, habenevaluiert und haben versucht, festzustellen, ob sie etwasbringt oder nicht. Es wird Zeit, dass wir etwas tun unduns darüber klar werden, was geht und was nicht. Ich binfür eine Regelung.

Wir haben – das hat der Bundeskanzler schon darge-stellt – auch ein Abfindungsrecht vorgesehen. HerrKollege Stoiber, ich muss Ihnen ganz offen sagen – dassage ich auch an Ihre Adresse, Frau Kollegin Merkel –:Es ist, jedenfalls für die Arbeitnehmer, nicht fair, sich beiVertragsunterzeichnung entscheiden zu müssen, ob eineAbfindungsregelung in den Vertrag aufgenommen wirdoder nicht. Das ist der Vorschlag der Union. Wer sich inder heutigen Zeit angesichts der schwierigen Lage aufdem Arbeitsmarkt um einen Arbeitsplatz bewirbt, ist inder Situation des Unterlegenen. Das gilt nicht für jeden,aber doch für viele. Man wird also bereit sein – das istvöllig klar –, einen solchen Vertrag zu unterschreiben.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Deshalb halten wir es für vernünftig, diese Entscheidungden Betroffenen erst dann anheim zu stellen, wenn dieKündigung ausgesprochen wird. Erst dann sollen gesetz-liche Regelungen wirken. So haben wir es vorgesehen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Zum Tarifvertragsrecht. Zwischen Ihren und unse-ren Vorstellungen hierzu gibt es einen entscheidendenUnterschied. Wenn der Kollege Merz hier wäre, würdeich das noch etwas härter ausdrücken. Sie, Frau Merkel,sprechen dieses Thema sehr sanft an, weil Sie wissen,dass dies kein guter Weg für die CDU ist. Sie wissen,dass viele in der CDU bei dem, was der Kollege Merzdazu sagt, nicht mitgehen werden und nicht mitgehenkönnen.

Herr Kollege Westerwelle, Sie bemühen sich erst garnicht um die Unterstützung der Gewerkschaft. Deshalbmuss ich mich mit Ihnen über dieses Thema gar nichterst auseinander setzen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich komme auf Ihre Position, Frau Merkel, zurück.Hier besteht ein Widerspruch. Sie sprechen ständig vonDeregulierung und wollen ein Gesetz hierzu machen.Aber auch die Arbeitgeber sagen: Lassen Sie uns einenTarifvertrag über betriebliche Öffnungsklauseln ab-schließen. Ist Ihnen denn nicht klar, dass vertraglicheRegelungen immer besser sind als gesetzliche Regelun-gen, erst recht da, wo es um Tarifautonomie geht? Dasist doch selbstverständlich. Sie haben über Freiheit ge-sprochen und dem Kanzler vorgeworfen, er hätte dasWort „Freiheit“ nicht in den Mund genommen. Hätte eran der entsprechenden Stelle von Freiheit gesprochen,dann hätten Sie erkennen müssen, dass Sie eigentlich ge-gen ein Gesetz und für freie Vereinbarungen zwischenden Tarifparteien sein müssten.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Nur dann, wenn der Weg über vertragliche Regelun-gen wider Erwarten nicht gelingt, stellt sich die Situationanders dar. Aber, Herr Kollege Stoiber, es gibt in einerVielzahl von Tarifverträgen in Nordrhein-Westfalen– ich weiß nicht, wie viele es sind – und mit Sicherheitauch in Bayern solche Öffnungsklauseln.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Es ist doch absurd, wenn von Ihnen, Herr KollegeWesterwelle, dargestellt wird, die Gewerkschaften unddie Betriebsräte würden sich dem entziehen. Es gibtviele Tarifverträge mit solchen Öffnungsklauseln.Schauen Sie sich das in meiner Gewerkschaft an.

Sie fragen neuerdings nach, wer in welcher Gewerk-schaft ist. Ich bin, damit Sie das wissen, in der IGBCE.Früher war ich in der Journalistengewerkschaft.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und desBÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. GuidoWesterwelle [FDP]: 75 Prozent von Ihrer Par-tei sind in einer Gewerkschaft!)

– Diese 75 Prozent sind genauso unabhängig wie ich undfühlen sich unabhängiger als mancher, der für anderewichtige gesellschaftliche Gruppen eintritt, beispiels-weise für die Arzneimittelindustrie.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

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Bundesminister Wolfgang Clement

Also lassen Sie das.

Das wollte ich Ihnen sowieso sagen. Wenn Sie in die-sem Hohen Haus erwachsenen Leuten wie mir entspre-chende Fragen stellen, mich auffordern, ich solle Aus-kunft darüber geben, ob ich in einer Gewerkschaft binoder nicht, dann empfinde ich das als eine Zumutung.Das finde ich nicht in Ordnung. Lassen Sie das sein!

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Guido Westerwelle[FDP]: Ich habe Sie das doch gar nicht ge-fragt!)

Ich beantworte solche Fragen nicht. Ich bin ein freierMensch. Ich berufe mich so wie Frau Merkel auf dieFreiheit. Solche Fragen werde ich nur dann beantworten,wenn es mir gefällt.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Guido Westerwelle[FDP]: Der Karneval ist vorbei!)

Die Tarifautonomie gegebenenfalls mit Gesetzeskrafteinschränken zu wollen ist ein Thema, über das wir sehrernsthaft nachdenken sollten. Die Tarifhoheit wird näm-lich über die Koalitionsfreiheit aus Art. 9 unseres Grund-gesetzes geschützt. Ich würde damit nicht auf dieseWeise umgehen, und ich sehe, dass manche von Ihnenebenfalls sehr vorsichtig sind und große Hemmungenhaben, auf diese Weise vorzugehen. Das kann man nurtun, wenn Not am Mann ist. Aber dafür spricht nichts.Die Vernunft der Gewerkschaften spiegelt sich in vielenbetrieblichen Vereinbarungen wider. Sie werden sichauch in diesem Fall bewähren.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage desKollegen Schauerte?

Wolfgang Clement, Bundesminister für Wirtschaftund Arbeit:

Das kann ich gar nicht verhindern; er ist schließlichSauerländer. Franz Müntefering würde es mir verübeln,wenn ich ihn nicht seine Zwischenfrage stellen ließe.

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Die Sauerländer haben nach unserer Geschäftsord-nung keine zusätzlichen Rechtsansprüche auf Redezeit.Insofern liegt die Entscheidung, ob Sie die Frage zulas-sen, ganz in Ihrem Ermessen.

Wolfgang Clement, Bundesminister für Wirtschaftund Arbeit:

Herr Präsident, Sie gehen sehr streng mit ihnen um.

Herr Kollege Schauerte, sammeln Sie sich.

Hartmut Schauerte (CDU/CSU):

Ich hoffe, ich brauche nicht die Zustimmung vonHerrn Müntefering. Das würde ich als Belastung emp-finden.

(Lachen bei der SPD)

Ich komme zu meiner Frage. Sie haben gerade soengagiert über die Freiheit und die Notwendigkeit, unnö-tige Gesetze und unnötigen gesetzlichen Druck zu ver-meiden, gesprochen. Bei der Umsetzung des Hartz-Konzeptes gab es bei der Frage, wie die entliehenen Ar-beitnehmer bezahlt werden könnten, genau diese De-batte.

(Dirk Niebel [FDP]: Jawohl!)

Sie haben bei diesem Thema eindeutig auf die gesetzli-che Regelung gesetzt und die tarifliche Freiheit einge-schränkt. Wie erklären Sie diesen Widerspruch?

Wolfgang Clement, Bundesminister für Wirtschaftund Arbeit:

Herr Kollege Schauerte, ich bin so konsequent, wieman überhaupt nur sein kann. Deshalb setze ich auch beiden Zeit- und Leiharbeitsverträgen auf die Vernunftder Tarifparteien. Wie Sie wissen, sind die Tarifparteienzurzeit dabei – das ist ein sehr spannender Prozess –, Ta-rifverträge abzuschließen. Noch ist es nicht zu den Tarif-verträgen gekommen. Es scheint aber so zu sein, dass ichmit meiner Prognose Recht gehabt habe, dass es nämlichzu tariflichen Vereinbarungen kommen wird. Diese wer-den auch Peter Hartz befriedigen. Ich bin mir noch nichtganz so sicher – ich glaube es aber –, dass ich das auchbei Ihnen schaffe.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Auch hier setze ich auf die Vernunft der Tarifparteienund nicht auf das Gesetz.

Herr Kollege Schauerte, der Grundsatz, der im Gesetzvorgesehen ist, dass nämlich in Deutschland und in ganzEuropa der gleiche Lohn für gleiche Arbeit gezahltwird – in English: Equal Pay –, soll für ganz Europa gel-ten. Das legt die Europäische Kommission gerade in ei-ner Richtlinie fest. Sie werden dieser Richtlinie spätergenauso zustimmen wie ich auch. – Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Nun zum Handwerksrecht, das sehr spannend ist.Ich höre Sie immer über die Felder sprechen, in denen eswirklich – das muss ich Ihnen so deutlich sagen – um dieSchwächeren geht. Herr Kollege Hinsken, wir müssennatürlich genauso hart und deutlich – der Bundeskanzlerhat das beispielsweise mit dem Bereich der Gesundheitgetan; er hat über Ärzte und andere gesprochen – überdas Handwerk und das Handwerksrecht sprechen. Auchhier stellt sich die Frage, ob wir Türen verschlossen ha-ben, die wir öffnen müssen, um mehr Unternehmen undArbeitsplätze zu schaffen.

Ich wurde vorhin durch einen Zwischenruf gefragt,wo denn die Arbeitsplätze sind. Hier stellt sich die

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Bundesminister Wolfgang Clement

Frage, ob unser heutiges Handwerksrecht geeignet ist,zusätzliche Unternehmen und damit auch zusätzlicheArbeitsplätze entstehen zu lassen. Die Diskussion istteilweise emotional und ausgesprochen intensiv. Wir ha-ben sie gestern in München und ich habe sie schon vor-her mit dem Handwerk geführt. Dies werden wir auchweiterhin tun.

(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das Kind mit dem Bade ausschütten!)

Wir müssen bald zu Ergebnissen kommen.

Ich habe überall gesagt: Lassen Sie uns mit allem,was wir können, versuchen, im Konsens zu sein. LassenSie uns versuchen, gemeinsam mit dem Handwerk eineLösung zu finden. Wir müssen diese Lösung finden. Eskann nicht sein, dass wir uns immer wieder einem Punktnähern und dann vor der Lösung wieder zurückschre-cken. Ich verstehe, dass das für das Handwerk sehrschwierig ist. Es ist ein sehr stolzer und sehr wichtigerSektor unserer Wirtschaft mit einer großen Tradition. Ichmag diese Tradition und das Handwerk und ich bin – dashabe ich schon oft gesagt – ein Anhänger der Hand-werkskammern und erst recht der dualen Berufsausbil-dung. Ich finde den Meisterbrief wunderbar. An zweiFeststellungen führt aber kein Weg vorbei; denn dasHandwerksrecht wird von zwei Seiten unter Druck kom-men:

Erstens nenne ich den kleingewerblichen Bereich,der jetzt unter anderem mit der Ich-AG und anderem ent-steht. Es besteht gar kein Zweifel, dass wir diesen klein-gewerblichen Bereich brauchen.

(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Unterlaufen der Handwerkskammer!)

Herr Kollege, Sie fragen, wo die Arbeitsplätze sind. Ichsage Ihnen, dass sie nicht nur, aber auch dort sind. DerDienstleistungssektor in Deutschland ist unterentwickelt.

Herr Kollege Hinsken, Sie müssen auch Folgendesbedenken – das muss auch das Handwerk beschäftigen –.Einerseits ist es sehr wichtig und schön, in den einzelnenGewerken und Handwerkssektoren organisiert und ver-treten sowie fachlich so hervorragend zu sein wie unsereHandwerker. Sie sind – auch das ist ein solcher Bereich– wirklich Weltspitze. Das straffe Recht hat aber denNachteil, dass neue Märkte nicht entwickelt werden. Wiekommt es, dass das Handwerk beispielsweise nichtschon längst im Handel tätig ist? Diese Grenzen müsstenwir längst übersprungen haben. Solche Entwicklungenbrauchen wir, wenn wir dort neue Beschäftigungsmög-lichkeiten schaffen wollen.

Der zweite Punkt ist, dass aus allen RichtungenEuropas – wir haben neun Nachbarstaaten – Unterneh-men auf uns zukommen, die im Handwerk tätig sind unddiese strengen Voraussetzungen nicht haben. In diesenmuss man keinen Meisterbrief haben. Wer in Belgien,Polen, Frankreich oder einem anderen unserer Nachbar-staaten seit sechs Jahren ein Unternehmen führt – unterwelchen rechtlichen Bedingungen auch immer –, derkann in die Bundesrepublik Deutschland kommen undhier dem Handwerksberuf nachgehen. Das führt schlicht

und ergreifend zu dem, was Juristen als drohende Inlän-derdiskriminierung bezeichnen. Ich habe in Passau undVilshofen erlebt, wie ernst dieses Thema ist. Es istschwierig, eine Lösung dafür zu finden, dass aus derTschechischen Republik hervorragende Handwerkernach Deutschland kommen, die aber nicht alle die glei-chen Voraussetzungen wie die deutschen Handwerkerhaben.

Es bringt also nichts zu sagen: Der Meisterbrief darfnicht angetastet werden. Wir müssen vielmehr einenWeg finden, die Pflicht zum Meisterbrief auf die Berei-che zu konzentrieren, die rechtlich unangreifbar sind undbei denen auch kein Druck aus dem Ausland droht. Dashaben unsere Experten als gefahrengeneigte Handwerkedefiniert. Aber es kann sein, dass in anderen Bereichendie Meisterprüfung nicht mehr verpflichtend, sondernfreiwillig ist. Sie verliert deshalb nicht an Qualität. ImHandwerk müssen wir durchsetzen, dass die freiwilligeQualifikation nicht als mindere Qualifikation angesehenwird. Sie hat die gleiche qualitative Kraft wie die ver-pflichtende Meisterprüfung. Das müssen wir zuwegebringen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Im Small Business Act haben wir vorgesehen, dasseinfache Tätigkeiten nicht mehr dem Handwerksrechtunterliegen. Das ist in Wahrheit nicht mehr als einerechtliche Klarstellung; denn in der Rechtsprechungwird es bereits heute so gehandhabt. Der nächste Schritt,den wir mit der Reform der Handwerksordnung vor derSommerpause auf den Weg bringen müssen, geht wirk-lich an die Substanz. Mit dieser Reform werden ver-schiedene Punkte aufgegriffen. Ich bin überzeugt, dassuns das gelingt, ohne dass das Handwerk deshalb an Be-deutung verliert.

Wir müssen die Betriebe mobilisieren. Wir hatten ein-mal fast 700 000 Handwerksunternehmen in Deutsch-land.

(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: So ist es!)

Zurzeit haben wir auch wegen der ökonomischen Lage– das ist unbestreitbar – 560 000 Unternehmen. Esspricht wenig dafür, dass wir unter dem Druck der euro-päischen Entwicklung die Zahl von früher erreichenwerden. Deshalb müssen wir gemeinsam neue Wege ge-hen. Für diese neuen Wege werbe ich. Das ist der Punkt.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ich will etwas zu den Existenzgründern sagen, überdie auch der Bundeskanzler gesprochen hat. Wir müssenprüfen, ob über die Regelung der Beitragsfreiheit fürExistenzgründer hinausgehend – das hat der Bundes-kanzler vorgeschlagen – Existenzgründungen in diesemBereich gefördert werden können. Möglicherweisekönnten die Handwerkskammern entsprechende Exis-tenzgründerpakete anbieten, die dazu führen, dass vor al-len Dingen mehr junge Leute den Weg in die Selbststän-digkeit wagen.

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Bundesminister Wolfgang Clement

Ein anderes Thema ist der Bürokratieabbau. FrauKollegin Merkel, ich finde es wichtig, dass nun auch Siedieses Thema aufgenommen haben. Willkommen imKlub!

(Siegfried Scheffler [SPD]: Besser spät als nie! – Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Was?)

Es ist wirklich wichtig, dieses Thema voranzutreiben.Dies ist, wie ich weiß und wie es auch alle anderen wis-sen, eine sehr diffizile Aufgabe. Es geht dabei aber nichtnur um das Handwerksrecht, sondern um alle Regelnund Regularien, die sich die verschiedenen Berufsständein Deutschland zugelegt haben. Zu fragen, ob alle dieseRegeln vernünftig sind, ist ebenfalls Deregulierung undEntbürokratisierung.

Einige Fragen, die mir gerade in den Sinn kommen,sind: Ist es richtig, dass wir eine Honorarordnung für Ar-chitekten und Ingenieure haben? Was spricht dafür, dassder Staat eine solche Honorarordnung festlegt? Könnendies auch andere tun? Frau Kollegin Merkel hat das Bei-spiel mit den Schornsteinfegern gebracht. Ich weiß nicht,wie sie darauf gekommen ist, aber ihr Einwand ist be-rechtigt. Diese Frage kann man aufwerfen. Man kanndies an verschiedenen Berufsständen festmachen.

Wichtig ist mir zurzeit vor allen Dingen eine Ange-legenheit, die mit der Frage der Ausbildung zusammen-hängt. In Westdeutschland verfügen 44 Prozent derUnternehmen nicht über eine Ausbildereignung, in Ost-deutschland sind es 53 Prozent. Wer sich das vor Augenführt, der wird sich nicht wundern, dass wir nicht genü-gend Ausbildungsplätze haben. Das ist natürlich nichtder einzige Grund. Aber es ist vermutlich ein Grund,weil außer Meistern, Ingenieuren und Beamten ab einerbestimmten Qualifikation alle anderen erst eine Ausbil-dereignungsprüfung machen müssen. Diese Prüfung istnicht so ganz einfach und erfordert einen großen Kraft-aufwand. Auch muss man seine Scheu gegenüber derBürokratie ablegen, die es gelegentlich auch in Kam-mern geben soll.

Ich erwähne diese Scheu vor der Bürokratie deshalb,weil ich dabei an Unternehmen mit einem ausländi-schen Gründer denke. Zehntausende von Ausländernführen bei uns ein Unternehmen. In Nordrhein-Westfa-len sind es 57 000; das weiß ich aus der Erinnerung.Aber nur ganz wenige von ihnen bilden aus. Sie bildennicht aus, weil sie vermutlich davor zurückschrecken,sich an die Kammern mit ihrer Bürokratie zu wenden,und Sorge haben, mit anderen zu kollidieren. Deshalbversuchen sie, dem zu entgehen. Aus diesem Grundebrauchen wir uns nicht zu wundern, dass zu viele auslän-dische Jugendliche – es sind wesentlich mehr als deut-sche Jugendliche – keine vernünftige Ausbildung beiuns machen. Deshalb müssen wir auch in diesem Sektorzu Veränderungen kommen. Das ist Entbürokratisierung,die Sinn macht. Das bedeutet – das hat der Bundeskanz-ler gesagt –, dass wir von den differenzierten Regelun-gen, Prüfungen und Prüfungswiederholungen wegkom-men wollen. Wir sagen: Jemand, der ein Unternehmenfünf Jahre lang in Deutschland erfolgreich geführt hat,ist auch geeignet auszubilden. Wir nehmen an, dass er

die Ausbildereignung hat, und werden ihn auch so be-handeln.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Ernst Hinsken [CDU/CSU]:Das machen wir nicht mit!)

Es hat mich übrigens gefreut, von Kollegin Merkel et-was über die Reform des Föderalismus zu hören. Überdiese Reform wird seit zwei Jahren zwischen dem Bundund den Ländern diskutiert, zwischen dem Bundeskanz-ler und den Ministerpräsidenten, zwischen dem Bundes-innenminister und seinen Kollegen in den Ländern.Diese Gespräche werden, soweit ich orientiert bin, imApril fortgesetzt. Ich halte sehr viel davon, zu fragen, obdie föderalen Strukturen in Deutschland wirklich nochauf der Höhe der Zeit sind. Ich sage dies vor dem Hinter-grund meiner ehemaligen Funktion, die noch nicht solange zurückliegt, als dass ich nicht wüsste, worüber ichrede. Es ist sehr wichtig, dass wir uns fragen, ob die viel-fachen Verflechtungen zwischen der Bundes- und derLänderebene noch Sinn machen, oder ob wir dort zuVeränderungen kommen sollten.

Ich fühle mich für einen Vorschlag, der sowohl imZusammenhang mit dem Bürokratieabbau, als auch mitder Föderalismusreform diskutiert wird, ein wenig mit-verantwortlich: die so genannte Experimentierklausel.Im Rückgriff auf eine Äußerung von Helmut Schmidthabe ich in meiner ersten Rede in meiner jetzigen Funk-tion hier etwas dazu gesagt. Deshalb will ich heute dassagen, was ich gestern den Wirtschaftsministern derLänder gesagt habe: Ich habe sie gebeten, keine Irr-wege einzuschlagen. Wir reden in Deutschland sichernicht – das würde ich auch nicht empfehlen – über„Sonderwirtschaftszonen“. Dieser Begriff steckt Leutenmeines Alters noch so tief in den Knochen, dass sie ihngar nicht hören wollen. Es geht auch nicht um Sonder-wirtschaftszonen oder -regionen in Deutschland. Eskann nicht darum gehen, in einigen Ländern Sonder-recht zu schaffen.

Von Kollegen – je weniger Einwohner ihre Länderhaben, desto größer ist der Mut – habe ich gehört, dasssie am liebsten sofort das gesamte Arbeitsrecht abschaf-fen würden. Ich habe gesagt: Wenn ein solcher Vor-schlag überhaupt übernommen wird – wir erörtern daszurzeit in der Bundesregierung; danach wird darüberweiter zu diskutieren sein –, dann kann er sich bezüglichdes Verhältnisses zwischen Bund und Ländern nur umVerwaltungs- und Verfahrensfragen drehen. Er kann sichnicht um materielles Recht drehen. Er kann sich nur umVerwaltungs- und Verfahrensfragen drehen, weil dieLänder auf diesem Gebiet eine originäre Zuständigkeithaben. Wenn man experimentieren und eine solche Inno-vationsklausel einführen will, liegt es nahe, den Länderndas für diesen Sektor anheim zu stellen. Im Übrigen istdie Erwartung zu äußern, dass auch die Länder in ihrenRegionen solche Experimente durchführen, wie das ineinzelnen Ländern in der Bundesrepublik Deutschlandgeschieht. Ich sage das nur, um für Klarheit zu sorgen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

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Bundesminister Wolfgang Clement

Neben dem, was dem Einzelnen zugemutet werdenmuss, was er an Opfern und Beiträgen erbringen muss,geht es vor allen Dingen darum, die Kräfte, die es – daswissen wir alle – in unserem Land gibt, zu wecken, ummehr junge Leute – aber nicht nur junge Leute – zu mo-tivieren, den Weg in die Selbstständigkeit zu riskieren.Bei aller Bedrängnis, die das Problem der Arbeitslosig-keit aufwirft, finde ich es ermutigend, dass im vergange-nen Jahr 123 000 Menschen den Weg aus der Arbeits-losigkeit in die Selbstständigkeit gewagt haben. DieserWeg ist nicht von vornherein erfolglos, sondern in vielenFällen Erfolg versprechend.

(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Das ist ein ganz erfolgreiches Programm!)

Deshalb ist der Weg der Ich-AG richtig. Das ist nicht dereinzige Weg, aber es ist ein Weg. Wir brauchen mehrUnternehmen.

Außerdem müssen wir erreichen – mir ist es sehrwichtig, was der Bundeskanzler zu den Themen Wissen-schaft und Forschung sowie öffentliche und private Mit-tel gesagt hat –, dass wir in den Spitzentechnologienweiterhin in der Weltspitze bleiben. Das ist die wich-tigste Aufgabe.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Deshalb wehre ich mich dagegen, dass hier der Ein-druck erweckt wird, Deutschland sei in der Automo-bilbranche, in der Automobiltechnologie und im Maschi-nenbau nicht Weltspitze. Wir befinden uns in diesenBereichen durchaus in der Weltspitze. Wir müssen mehrtun, um auch in den Feldern, die über die Wachstums-märkte der Zukunft entscheiden, ebenfalls in der Welts-pitze zu sein. Dazu brauchen wir mehr öffentliche undprivate Investitionen. In diesem Haushalt müssen wir indiesem Sektor eine kleine Atempause einlegen. Wie derBundeskanzler ausgeführt hat, sind mehr öffentliche In-vestitionen, auch der Länder, notwendig. Aber es sindauch sehr viel mehr private Investitionen erforderlich. Esist nicht von Vorteil, dass die deutsche Wirtschaft ihreAnstrengungen im Bereich Forschung und Entwick-lung drosselt, dass das Wachstum in diesem Bereich imvergangenen Jahr nur noch 1,7 Prozent betragen hat unddass es in diesem Jahr noch weiter sinken soll.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es ist nicht damit getan, immer nur Erwartungen ge-genüber der Politik zu äußern. Sie haben sich daran ge-wöhnt, alle Schuld und Verantwortung bei Rot-Grün –meistens bei der rot-grünen Bundesregierung – zu suchen.Schauen Sie sich einmal in den Bereichen um, in denenSie Verantwortung tragen! Fragen Sie doch in den Unter-nehmen und in der Kreditwirtschaft, was dort geschieht!Fragen Sie in der Pharmaindustrie, warum wir trotz derhohen Arzneimittelpreise in der Forschung nicht so gutsind, wie wir sein könnten! Es gehört mehr dazu, als nurimmer mit dem Finger auf andere zu zeigen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es ist notwendig, die Kräfte zu mobilisieren und überQualifikation zu reden. Wir müssen in der Tat über Bil-dung und Wissenschaft wie auch über die Ausbildungund Qualifikation der Bürgerinnen und Bürger reden.

(Markus Löning (FDP): Etwas tun, nicht reden!)

Der Kollege Stoiber hat beklagt, dass junge Leute insAusland gehen. In welcher Welt leben wir eigentlich?Ich finde das, ehrlich gesagt, nicht dramatisch. Ich habeselber eine Tochter an die USA verloren. Aber ich habenoch nicht einmal ideologische Einwände dagegen erho-ben.

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das kann doch kein Problem darstellen. Wir wollenschließlich nicht wieder zu den alten Formen des Zusam-menlebens zurückkehren.

Ich freue mich sehr, dass seit der Einführung der Ju-niorprofessuren in Deutschland der Ausländeranteil, derfrüher 5 Prozent betragen hat, auf 15 Prozent gestiegenist.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wichtig ist, dass wir einen Austausch zustande bringenund dass wir dafür sorgen, dass ein bisschen Luft in dasSystem kommt. Darauf, dass ab und zu jemand ins Aus-land geht, können wir doch stolz sein. Wenn deutscheAkademiker beispielsweise in den USA gesucht werden,kann unser Bildungssystem so schlecht nicht sein. Deramerikanische Vorteil besteht darin, dass die AmerikanerExperten aus Asien und Europa die Türen öffnen. Dasmüssen Sie beim Zuwanderungsrecht auch machen. Ge-nau darum geht es.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten derFDP)

Es geht auch um die Ausbildungsplätze. Bei diesemThema kann ich nicht lockerlassen. Ich bin dem Bundes-kanzler sehr dankbar dafür, dass und wie er es zur Spra-che gebracht hat. Ich gehe davon aus, dass vor allem vonaußen – das wird aus den ersten Reaktionen deutlich;zwar nicht in jedem Fall, aber bei den meisten hat manes zwischen den Zeilen lesen können – verstanden wor-den ist, dass diese Regierungserklärung das Signal zuden entscheidenden Veränderungen in Deutschland be-deutet, dass wir eine neue Weichenstellung vornehmenmüssen und dass alle aufgefordert sind, daran mitzuwir-ken.

Wenn das der Fall ist – wir werden die Gesprächefortsetzen, mit den Gewerkschaften und Arbeitnehmernwie mit der unternehmerischen Seite, mit Wissenschaft-lern und allen, die Mitverantwortung tragen, und zwarauf allen Ebenen –, erwarte ich auch, dass die Unterneh-men der deutschen Wirtschaft Maßnahmen ergreifen, da-mit wir diese Ausbildungskalamität überwinden. Wirwerden vonseiten der Bundesregierung die notwendigenSchritte einleiten, soweit wir das können. Aber wir wis-

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Bundesminister Wolfgang Clement

sen auch, dass das nicht allein aus unserer Kraft möglichist, sondern dass wir dazu die Mitwirkung der Unterneh-men brauchen und die Bereitschaft aller, darauf zu drän-gen.

Wir brauchen übrigens auch - weil wir so oft über denMittelstand sprechen – die Mitwirkung der Kreditwirt-schaft.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Die Kreditwirtschaft muss sich langsam, aber sicher inForm bringen. Ich meine das nicht zurückblickend mitirgendwelchen Vorwürfen verbunden, aber es ist tatsäch-lich vor allem ein Manko der heutigen Mittelstandspoli-tik, dass die Kreditwirtschaft bzw. die Banken nur be-dingt bewegungsfähig sind, wenn es um Kredite undEigenkapitalbildung in kleinen und mittleren Unterneh-men geht. Das – vor allem die Eigenkapitalbildung – isteines der Hauptthemen, mit denen wir uns beschäftigenmüssen.

Ich gehe davon aus, dass es ausgehend von dieser Re-gierungserklärung in Deutschland zu einer gemeinsamenKraftanstrengung kommt, der sich keine Seite entziehenkann. Das Reformfenster ist jetzt geöffnet worden undwir haben keine Zeit zu verlieren. Deshalb bin ich sehrfroh, dass auch der Kollege Müntefering deutlich ge-macht hat, dass die wichtigsten Reformen im Arbeits-markt, im Gesundheitsbereich und in allen Sektoren, dieheute eine Rolle gespielt haben, bis zum Sommer hin-sichtlich ihrer Strukturen feststehen müssen. Wir müssenwissen, was wir wollen. Wir wissen das auch.

(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Sie wissen auch, dass es zu wenig ist, was Sie machen!)

Wir müssen wissen, was wir gemeinsam erreichen wol-len, und das dann so rasch wie irgend möglich in gelten-des Recht umsetzen. Das erwarten die Bürgerinnen undBürger und die Unternehmen von uns.

Unser Programm für eine Erneuerung der sozialenMarktwirtschaft – darum geht es unverändert – liegtvor. Das ist das, was heute zur Diskussion steht und wasjetzt die Grundlage des Handelns in Deutschland seinmuss. Das ist – um es klar zu sagen – keine „neue sozialeMarktwirtschaft“, von der Frau Kollegin Merkel einmalgesprochen hat; denn diese richtet sich – diesen Ein-druck gewinne ich, wenn ich Herrn Merz und anderenzuhöre – offensichtlich in erster Linie gegen die Ge-werkschaften. Das empfinde ich als unhistorisch. Man-che Historiker in Ihren Reihen – nicht wenige, die ausder Arbeiterbewegung kommen, sind historisch bewan-dert und haben sich damit sehr intensiv beschäftigt –wissen ganz genau, dass das nicht gut gehen kann.

Uns geht es darum, die soziale Marktwirtschaft in ih-rer Substanz zu erhalten, sie nicht aufs Spiel zu setzen.Deshalb wollen wir sie nicht durch eine neue ersetzenlassen. Uns geht es darum, eine europäisch orientiertesoziale Marktwirtschaft zu begründen, die auch in die-sem Jahrhundert ein tragfähiges Fundament für Wohl-stand nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europasein kann und – davon bin ich überzeugt – sein wird.

Schönen Dank.

(Anhaltender Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Das Wort hat nun der Kollege Dr. Wolfgang Gerhardtfür die FDP-Fraktion.

(Zuruf von der SPD: Nur vier Minuten!)

Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Man kannzwar über alles sprechen, aber bitte nicht so lange!

(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)

Ich möchte deshalb nur wenige Minuten reden. HerrBundeswirtschafts- und -arbeitsminister Clement, Siehaben gesagt, niemand komme an entscheidenden The-men und Fragestellungen der Zeit vorbei.

(Zuruf von der SPD: Und Sie haben nichts zu sagen!)

Das ist völlig richtig. Ich habe heute lange auf den Mo-ment gewartet, in dem die Redner Ihrer Partei auf dieThemen eingehen müssen, die wir seit einem Jahrzehntansprechen.

(Beifall bei der FDP)

Sie haben ein historisches Gedächtnis eingefordert.Können Sie sich denn noch erinnern, mit welchem Voka-bular wir belegt worden sind, als wir über eine Änderungdes Kündigungsschutzes nachgedacht haben?

(Zuruf von der CDU/CSU: „Soziale Kälte“!)

Darf ich Sie daran erinnern, wie wir beschimpft wor-den sind, als wir gesagt haben, dass man vom Flächenta-rif weg müsse und dass man betriebliche Bündnisse zu-lassen müsse? Als meine Fraktion ihre Position zumUmbau der sozialen Sicherungssysteme bestimmt hat,haben Sie sich in diesem Hause bei Vokabular und Laut-stärke überschlagen.

(Jörg Tauss [SPD]: Zu Recht!)

Als wir gesagt haben, dass eine Gemeindefinanzre-form notwendig sei, weil die Einnahmen der Gemeindenangesichts der gegenwärtigen Situation nicht mehr inerster Linie von der Gewerbesteuer abhängig sein dürf-ten, sind wir der Vernachlässigung der kommunalenFinanzkraft geziehen worden. Heute hat Ihr Bundes-kanzler, wenn auch nur halbherzig, all das nennen müs-sen, was wir seit einem Jahrzehnt fordern.

(Beifall bei der FDP)

Bedauerlicherweise ist er auf halbem Weg stecken ge-blieben.

Da Sie eine Antwort auf die Frage nach den Politik-feldern wollten, werde ich sie Ihnen geben. Sie habenvorgeschlagen, das Arbeitslosengeld auf zwölf Monate,bei über 55-Jährigen auf 18 Monate, zu begrenzen sowie

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Dr. Wolfgang Gerhardt

die Arbeitslosenhilfe und die Sozialhilfe zusammenzu-legen. Sie haben uns früher der sozialen Kälte geziehenund uns als üble Neoliberale beschimpft. Wir sind trotz-dem bereit, Ihnen die Hand zu reichen, weil es notwen-dig ist, zusammenzuarbeiten. Wir begrüßen Ihr Ankom-men in der Wirklichkeit. Jetzt können wir darüber reden.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Sie haben des Weiteren angekündigt, dass im Rahmender Strukturreformen des Arbeitsmarktes auch der Kün-digungsschutz zugunsten der Kleinbetriebe geändertwerden müsse. Ich habe heute zwei Regierungserklärun-gen gehört: In der Vorverlautbarung war die Rede voneiner Abfindungsregelung und einem Schwellenwertvon fünf, in der anderen von einem Schwellenwert von20 und von Zeitverträgen. Erst wenn Sie einen entspre-chenden Gesetzentwurf vorlegen, wird die FDP-Fraktionbereit sein, zu entscheiden, welchen Änderungen beimKündigungsschutz sie zustimmen wird. Mit Ihren heuti-gen Luftblasen können Sie jedenfalls von uns keine ab-schließende Antwort erwarten. Wenn Sie den Kündi-gungsschutz novellieren wollen, dann tun Sie es richtig!

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Sie haben außerdem gesagt, wir bräuchten eine Flexi-bilisierung der Arbeitswelt und müssten betrieblicheBündnisse für Arbeit zulassen. Aber solche Bündnissesind nicht von der Spitze der BDA und des DGB abzu-segnen. Sie müssen nach unserer Meinung vielmehr zwi-schen den Beschäftigten und dem Eigentümer eines Un-ternehmens geschlossen werden.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wir sind bereit, ein Gesetz zu novellieren, das vorsieht,dass zwei Drittel der Belegschaft einem solchen Bündniszustimmen müssen. Aber wir werden keine Entschei-dung treffen, solange Sie, Herr Bundeskanzler, auf hal-bem Weg stehen bleiben.

Herr Bundeskanzler, der Schaden in unserer Wirt-schaft besteht darin - das betrifft sowohl die Arbeitge-berverbände als auch die Gewerkschaften –, dass beideSeiten oft Tarifautonomie als Verwirklichung derMachtinteressen ihrer Organisation sehen, nicht aber dieBeschäftigungswirksamkeit von Abschlüssen im Augehaben. Wenn wir das nicht ändern, wird das nichts wer-den.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Dritter Sachverhalt: Der Umbau der sozialen Siche-rungssysteme wird nur gelingen, wenn Sie deren Finan-zierung aus der paritätischen Finanzierung und damit ausdem Beschäftigungsverhältnis herausnehmen und neuorganisieren.

(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Ernst Hinsken [CDU/CSU])

Tun Sie das nicht, dann werden Sie die Lohnneben-kosten nicht senken können. Sie werden keine Wett-

bewerbslandschaft bekommen. Sie werden es dann nichtder Entscheidung der Menschen überlassen, wie hochund bei wem sie sich versichern wollen.

Das ist ein Schritt, der nicht reicht. Ich sage Ihnenheute voraus, dass Sie in wenigen Jahren, in welcherVerantwortung Sie auch immer stehen mögen,

(Zuruf von der SPD: An der Regierung!)

ob als einfacher Abgeordneter Schröder oder in dieserFunktion, zugeben müssen, dass Sie damals falsch gele-gen haben. Entschließen Sie sich jetzt zu einem wirk-lichen Schritt! Wenn Sie das tun, dann stimmen wir, dieFreien Demokraten, einem solchen Gesetzentwurf gernezu,

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

aber nicht auf halbem Wege, nicht mit einer Modernisie-rungsrhetorik, nicht nur mit Reden und ohne Taten.

(Zuruf von der SPD: 16 Jahre haben Sie nichts gemacht!)

Wir sehen gern Ihren Gesetzesvorlagen entgegen. BeiArbeitslosengeld, bei Arbeitslosenhilfe und bei Sozial-hilfe: positiv. Was die betrieblichen Bündnisse betrifft,sofern Sie sich am Ende durchringen, den Flächentarifwirklich wegzunehmen: positiv. Bleiben Sie auf halbemWege stecken, werden wir das ablehnen. Wir reichen bei4,7 Millionen Arbeitslosen nicht die Hand zu weiterenHalbherzigkeiten.

(Beifall bei der FDP)

Wenn Sie keine Courage haben, die sozialen Siche-rungssysteme umzubauen, müssen Sie sich andere su-chen, die Ihnen im Bundesrat helfen. Wir tun das nicht.Entweder wird jetzt umgebaut oder Sie können mit unse-rer Stimme nicht rechnen. Ein weiteres Vertrösten undVerschiebebahnhöfe finden nicht statt.

(Beifall bei der FDP)

Im Übrigen – die „FAZ“ hat es vor wenigen Tagenkommentiert – : Die Rürup-Kommission kann doch nachdem, was Sie hier erklärt haben, einpacken. Die brauchtdoch gar nicht mehr weiter zu arbeiten. Wenn Sie hier er-klären, es bleibe bei der paritätischen Finanzierung, dannbrauchen Sie die Leute nicht mehr zu beschäftigen, da-mit sie sich die Köpfe zerbrechen.

Was soll denn die Gemeindefinanzreformkommis-sion, wenn Sie heute sagen, die Gewerbesteuer werderevitalisiert? Dann können die doch die Arbeit einstellen.Die ist doch gerade einberufen worden, um zu einemneuen System zu kommen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Das wird nichts werden. Deshalb regen wir an, in denFeldern noch einmal nachzudenken.

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Herr Kollege Gerhardt!

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Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP):

Herr Präsident, damit höre ich auch schon auf. DasNötigste ist gesagt.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordnetender CDU/CSU – Zuruf von der SPD: Das wardas Beste an der Rede: Sie ist vorbei!)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Die Spielregeln sind manchmal grausam. Nun hat miteiner ähnlich kurzen Redezeit die Kollegin Dr. TheaDückert für das Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

(Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Da gibt es was zu sagen!)

Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! HerrGerhardt, das ist ja gerade das Problem. Sie haben seitJahrzehnten Probleme benannt, aber nichts getan. Des-wegen ist der Berg so groß, an den wir herangehen müs-sen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Der Kanzler hat heute ein Programm mit dem Titelvorgelegt: „Mut zum Frieden und Mut zur Verände-rung“. Ich denke, was er uns heute vorgestellt hat, ist vorallen Dingen durch den Mut zur Wahrheit gekennzeich-net gewesen, durch den Mut, ein Gesamtkonzept vorzu-legen, das nicht nur Annehmlichkeiten enthält. Es hatdeshalb nicht nur Annehmlichkeiten, weil wir es mitvielfältigen Problemen zu tun haben, für die es nicht nureine einzige Lösung gibt, sondern für deren Lösung eseines Gesamtkonzeptes bedarf.

Wir haben einen riesenhaften Schuldenstand. Der istein richtiges Korsett. Vor dem Hintergrund dieses riesen-haften Schuldenstands können wir die notwendigenStrukturreformen nur dann machen, wenn wir zukünf-tig und langfristig das Prinzip der nachhaltigen Finanz-politik durchhalten. Das ist das Schwierige vor demHintergrund der mit 4,7 Millionen viel zu hohen Zahlder registrierten Arbeitslosen, der großen Zahl der Dau-erarbeitslosen und des Problems der demographischenEntwicklung, die unsere Sozialversicherungssysteme andie Grenze führt. In diesem Zusammenhang braucht esin der Tat Mut zur Veränderung.

Nachdem ich mir angehört hatte, was die Oppositionheute präsentiert hat, war ich doch ziemlich irritiert. Ichhabe gestern in der Zeitung gelesen, dass Herr Stoiber – mankönnte von einem „Reformen stoppen“ sprechen – ganzschnell das Akutprogramm, ein Reformprojekt, vorgestellthat. Davon war die Union überrascht, weil vieles in diesemProgramm mit den Parteikollegen offenbar gar nicht abge-stimmt ist. Mich hat allerdings irritiert, dass Sie angesichtsunserer großen Verantwortung, gerade in Bezug auf die Zu-kunft, hier nicht den Mut gehabt haben, ein Gesamtkonzeptvorzulegen; vielmehr haben Sie wiederum nur mit kleinka-rierter Kritik an Details Ihre Konzepte dargelegt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Das, was Frau Merkel hier vorgetragen hat, war eherein „wehendes Vakuum“, wie es Lichtenberg einmal be-schrieben hat, und nicht einmal heiße Luft.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Bei Herrn Stoiber – er hat gestern immerhin das „Akut-programm“ vorgestellt – war ich erst einmal gespannt,dann aber auch enttäuscht.

(Manfred Grund [CDU/CSU]: Jetzt macht erstmal Gesetze und dann redet weiter! Macht erstmal Gesetze und schwafelt nicht.)

Wir haben wieder die alte Leier mit dem Hinweis aufDeutschlands Position als Schlusslicht gehört. WennHerr Stoiber häufiger in diesem Parlament wäre, dannhätte er vielleicht mitbekommen, dass es seit Anfang der90er-Jahre eine Schlusslichtdebatte gibt. Seit 1992 ran-giert Deutschland zwischen den Plätzen 15 und 13. Dashat etwas mit den Lasten der deutschen Einheit zu tun.

Außerdem hat Herr Stoiber über die große Anzahlvon Insolvenzen in diesem Land gesprochen. Dabei hater mit dem Zeigefinger auf die Regierung gezeigt. HerrStoiber – er sitzt vielleicht schon im Flugzeug nachMünchen –, wir alle wissen, dass es die größte Anzahl anInsolvenzen zurzeit im Großraum München gibt. Wa-rum?

(Angelika Krüger-Leißner [SPD]: Wegen Stoiber!)

– Nicht wegen Stoiber. –

(Jörg Tauss [SPD]: Aber auch!)

Das ist so, weil die „Spekulationsblase“ geplatzt ist. Nur:Was für München gilt, das gilt auch für die Bundesrepu-blik insgesamt.

Darüber hinaus habe ich etwas ganz besonders Inte-ressantes gehört: Die OECD wurde sozusagen als Kron-zeugin gegen die rot-grüne Regierung und deren Untä-tigkeit angeführt. Es wurde nämlich darauf hingewiesen,dass etwa 70 Prozent der Wachstumsprobleme, die wirim Moment haben – Stoiber hat sogar von 85 Prozentgesprochen –, strukturelle Probleme seien. Dazu kannich nur sagen: Das ist richtig. Aber was heißt das denn?Das beweist doch ein weiteres Mal, dass wir es in dieserschwierigen konjunkturellen Situation zugleich mitstrukturellen Problemen zu tun haben, die wir aus derVergangenheit übernommen haben. Man hat es in den90er-Jahren verschlafen, die notwendigen Strukturrefor-men der sozialen Sicherungssysteme durchzuführen.

(Manfred Grund [CDU/CSU]: Sie haben dieReform der Rentenversicherung doch zurück-genommen! Das ist doch unglaublich! Siemüssen ein Gesetz vorlegen, Frau Dückert!)

Wenn man sich einmal anschaut, was Sie konkret vor-schlagen, dann ist die Verwirrung komplett. Vor demHintergrund der Schwierigkeiten am Arbeitsmarkt müs-sen wir natürlich auch über den Kündigungsschutz re-

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Dr. Thea Dückert

den. Wir müssen ihn erhalten, aber flexibel gestalten.Das ist vom Kanzler vorgeschlagen worden.

Was macht Herr Stoiber? – Er will ihn für Betriebe mitbis zu 20 Beschäftigten abschaffen. Was macht FrauMerkel? – Sie redet zwar über Kündigungsschutz für Be-triebe mit weniger als 20 Beschäftigten, legt sich abernicht genau fest. Nach Stoibers Konzept dürfte es dort kei-nen Kündigungsschutz geben. Ich kann nur fragen: Waswollen Sie denn nun?

Stoiber schlägt vor, die Zahlung von Arbeitslosengeldauf zwölf Monate zu beschränken. Das Programm, dassich Frau Merkel vorstellt, sieht mehr Flexibilität vor. Eswar nicht ganz nachzuvollziehen, was sie meinte. Auf alleFälle passen die beiden Konzepte nicht zusammen. WennSie über vernünftige und notwendige Veränderungen amArbeitsmarkt diskutieren wollen, dann einigen Sie sichzunächst einmal auf ein gemeinsames Projekt.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Das einzige gemeinsame Projekt, das Sie zurzeit ha-ben, ist die Blockadepolitik im Bundesrat.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN)

Das haben sie auch heute wieder vorgeführt. Das istgenau das Problem. Herr Stoiber hat heute gesagt,Schulden seien die Zinsen von morgen und das finde ernicht gut. Insofern hat er dazugelernt, denn früher hat erim Bundestag etwas anderes gesagt. Aber Sie benennenzwar einzelne Reformschritte, über die man diskutierenkann, reden jedoch gleichzeitig weiterhin neuen Schul-den das Wort. Sie machen keine Politik, die Strukturre-formen mit einer verantwortlichen, nachhaltigen Finanz-politik verbindet. Deswegen können Sie das, was Sieeinklagen, nämlich Vertrauen in zukünftige Investitionenzu schaffen, nicht erreichen.

Wenn wir Vertrauen in zukünftige Investitionen her-stellen wollen, funktioniert das nur auf Basis einer Poli-tik, bei der die Bevölkerung nicht fürchten muss, dasswir übermorgen wieder einen riesigen Schuldenberg mitZinsen abbezahlen müssen. Wir können Zukunftsinvesti-tionen nur möglich machen, wenn gleichzeitig eine so-lide Finanzpolitik sichergestellt ist.

Da sind Sie, meine Damen und Herren von der Union,bei allem Reformeifer in einzelnen Bereichen die Ant-wort schuldig geblieben. Das ist in Bezug auf die jetzigeSituation nicht verantwortungsvoll.

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Kommen Sie bitte zum Schluss, Frau Kollegin.

Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Ich komme zum Schluss. – Meine Damen und Her-ren, wir müssen auf dem Arbeitsmarkt große Schrittegehen. Ich bin froh und begrüße es, dass der Bundes-kanzler angekündigt hat, dass wir auch beim Kündi-gungsschutz Schritte gehen wollen. Ich bin froh, dasshier noch einmal ganz deutlich gesagt worden ist, dass

die Veränderungen am Arbeitsmarkt aber nicht dazu füh-ren dürfen, dass zum Beispiel Modellprojekte für ju-gendliche Arbeitslose gecancelt werden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich bin froh und unterstütze mit aller Entschiedenheit,dass wir in der rot-grünen Koalition zwei Zielmarken ha-ben: erstens mit allem, was uns dafür zu Gebote steht,die Beschäftigungsschwelle von 2 Prozent zu senkenund zweitens die Lohnnebenkosten auf unter 40 Prozentzu senken. Denn nur dann, wenn wir die Lohnnebenkos-ten nachhaltig senken, können wir in kleinen Betriebenzusätzliche Beschäftigung möglich machen und mehrund entschiedener gegen Schwarzarbeit vorgehen.

Last not least: Ich habe mich letztendlich nicht ge-wundert, dass diejenigen, die immer sagen, der Arbeits-markt müsse entrümpelt, es müsse entbürokratisiert wer-den, nun wiederum diejenigen sind, die den Zunftzopfdes Meisterwesens, den wir aus dem vergangenen Jahr-hundert übernommen haben, weiter pflegen wollen. Wirwollen ihn frisieren.

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Frau Kollegin, ich muss Sie nun wirklich bitten.

Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Wir wollen damit die Übernahme von Betrieben er-leichtern.

Ich danke Ihnen, Herr Präsident.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Ich bitte sehr um Nachsicht. Es ist eine undankbareAufgabe, die Redezeiten, die vorher vereinbart wordensind, auch nur einigermaßen durchzusetzen.

Ich erteile das Wort nun der Kollegin Frau Dr. GesineLötzsch.

Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos):

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Sehr geehrte Gäste! Der Titel der Regierungserklä-rung lautet: „Mut zum Frieden und Mut zur Verände-rung“. Nun hat die Friedensfrage im Laufe der Debatteimmer weniger eine Rolle gespielt. Das finde ich schade;denn gerade in dieser Frage hat sich gezeigt, dass es sichlohnt, dass Menschen aktiv werden und Protest einlegen,dass Protest Erfolg zeitigen kann.

Der britische Premierminister Tony Blair ist aufgrunddieses Protestes auf dem Rückzug. Er konnte eine ge-wisse Zeit gegen sein Volk Politik machen; jetzt ahnt erwohl, dass seine eigene Partei und sein eigenes Volk ihmGrenzen setzen. Sein Starrsinn kann ihn die Macht kos-ten.

Meine Damen und Herren, es ist gut, dass die Allianzder Krieger zerbröselt. Selbst in den USA wird die

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2544 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2003

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Dr. Gesine Lötzsch

Opposition gegen den Krieg stärker. Auch PräsidentBush will wiedergewählt werden. Deshalb muss auch erauf diese Opposition hören.

Die Friedenspolitik der Bundesregierung hat die Un-terstützung der Mehrheit der Bevölkerung. Wir als PDSunterstützen diesen Kurs.

(Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos])

Es ist richtig, sich jetzt auf die Verhinderung eines Krie-ges zu konzentrieren. Wenn es jedoch trotz aller Protestezu einem Krieg gegen den Irak kommen sollte, dannmuss die Bundesregierung neu überlegen, der US-Regie-rung die Überflugsrechte entziehen und dafür sorgen,dass Deutschland nicht als Militärbasis für einen An-griffskrieg benutzt wird.

Herr Bundeskanzler, Sie versuchen, Ihre positiven Er-fahrungen in der Außenpolitik auf die Innenpolitik zuübertragen. Doch hier scheitern Sie. Der Frieden ist einhohes Gut, ein Wert an sich, für den viele Bürgerinnenund Bürger sogar bereit sind, Opfer zu bringen. DochIhre Aufforderung an die Menschen, Mut zur Verände-rung zu haben, ist aus zwei Gründen unsinnig: VieleMenschen haben den Mut zur Veränderung bereits be-wiesen. In Ostdeutschland hat fast jeder zweite Berufstä-tige nach der Wende seinen Beruf gewechselt oder seineArbeit ganz verloren. Arbeitslose haben sich teilweisemit dem Mut der Verzweiflung ohne Eigenkapital in ris-kante Existenzgründungen gestürzt, um ihren Lebens-unterhalt zu sichern. Viele Menschen haben mehr Mutbewiesen als so mancher hoch dotierte Vorstandschef inder so genannten freien Wirtschaft oder Politiker in die-ser Regierung. Das Problem ist jedoch, dass die Men-schen unentwegt durch die herrschende Politik entmutigtwerden.

Die Aufforderung, Mut zur Veränderung zu zeigen, istauch deshalb unsinnig, da Veränderung kein Wert an sichist. Ihr Problem, Herr Bundeskanzler, ist: Sie habenkeine Botschaft. Sie haben keine Botschaft für die Bür-gerinnen und Bürger, für die diese auch bereit wären,Opfer zu bringen. Sie wollten in der letzten Legislaturpe-riode die Zahl der Arbeitslosen halbieren. Dieses Zielwar sehr ambitioniert und auch wenn Sie es verfehlt ha-ben: Es war wenigstens ein Ziel. Die Bürger habenNachsicht bewiesen und Sie wiedergewählt, doch Sie ha-ben die Schlussfolgerung gezogen, lieber gar keine Zielemehr zu bestimmen. Damit haben Sie Ihre Wähler demo-tiviert und sie sind bei den Wahlen in Hessen und Nie-dersachsen zu Hause geblieben.

Herr Bundeskanzler, Sie haben einen Wählerauftragund den müssen Sie erfüllen. Sie wollten die kohlscheUmverteilung von unten nach oben beenden, doch Siehaben das Gegenteil gemacht. Sie haben die Reichennoch reicher und die Armen noch ärmer gemacht. DerWitz ist, dass die von Ihnen Begünstigten es Ihnen nochnicht einmal danken. Nehmen wir zum Beispiel die gi-gantischen Steuersenkungen für die Kapitalgesell-schaften. Wo sind die positiven Effekte? Wo sind dieneuen Arbeitsplätze? Ihre Steuerreform hat nur einen Ef-fekt: Sie treibt die Kommunen in den Ruin. Allein meine

Heimatstadt Berlin verliert durch diese SteuerreformEinnahmen in Höhe von 500 Millionen Euro pro Jahr.

Was haben die Wirtschaftsverbände nicht schon allesversprochen: Schon Kohl hatten sie 500 000 neue Ar-beitsplätze für die Lockerung des Kündigungsschutzeszugesagt. Wo aber sind diese Arbeitsplätze? Nein, dassind alles ungedeckte Wechsel.

Sie müssen alle in die Pflicht nehmen, auch die Unter-nehmen. Ich denke zum Beispiel an die dramatischeAusbildungssituation. Im Februar wurden den Arbeits-ämtern bis zu 20 Prozent weniger Lehrstellen gegenüberdem Vorjahresmonat gemeldet. Die Unternehmer for-dern die Regierung auf, aktiv zu werden und mehr über-betriebliche Ausbildungsplätze zu schaffen. Doch dieseAusbildungsplätze sind steuerfinanziert und die gleichenLeute fordern die Regierung auf, die Steuern zu senken.Das ist zutiefst verlogen, das kann nicht der richtige Wegsein.

Das Bundesverfassungsgericht hat bereits 1980 da-rauf verwiesen, dass es eine „Verantwortung der Arbeit-geber für ein ausreichendes Angebot an betrieblichenAusbildungsplätzen“ gibt, und mahnte eine gesetzlicheRegelung an. Wir als PDS fordern eine gesetzlich gere-gelte Ausbildungsumlage. Wer nicht ausbildet, musszahlen. Diese Ausbildungsumlage hatte sich übrigensRot-Grün bereits 1998 in die Koalitionsvereinbarung ge-schrieben, aber bis heute nicht erfüllt.

(Klaus Uwe Benneter [SPD]: Als Drohung!)

– Als Drohung am Horizont, Kollege Benneter, so ist esauch heute wieder aufgemacht worden. Aber da dieseDrohung bereits seit vier Jahren nicht umgesetzt wordenist, muss sich die Wirtschaft vor ihr wahrscheinlich nichtbesonders fürchten.

(Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos])

Es gehört kein Mut dazu, die Schwächsten in der Ge-sellschaft unter Druck zu setzen. Ich finde, Sie solltenendlich den Mut haben, sich mit den Mächtigen in dieserGesellschaft auseinander zu setzen. Ich darf Sie in die-sem Zusammenhang an ein weiteres Wahlversprechenvon 1998 erinnern. Sie versprachen die Einführung derVermögensteuer. Diese würde – das haben wir hierschon mehrmals besprochen – 10 Milliarden Euro imJahr einbringen. Damit könnte man schon ein ordent-liches kommunales Investitionsprogramm ohne Kreditefinanzieren und Arbeitsplätze schaffen.

In Berlin wurden im Februar 317 678 Arbeitslose re-gistriert, in Brandenburg 271 738, in Mecklenburg-Vor-pommern 201 508 und in Sachsen 445 474. Das ist derhöchste Arbeitslosenstand seit 1945. Und wie reagierenSie auf diese Situation? Was macht zum Beispiel derChef der Bundesanstalt für Arbeit, Herr Gerster, in die-ser dramatischen Situation? Er gießt Öl ins Feuer undzertrümmert den zweiten Arbeitsmarkt. In Ostdeutsch-land wurden in einem Jahr die AB-Maßnahmen um18,3 Prozent und die berufliche Weiterbildung um15,6 Prozent reduziert. Das ist für strukturschwache Re-gionen nicht nur im Osten, sondern auch im Westen einDesaster.

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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2003 2545

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Dr. Gesine Lötzsch

Der Bundeskanzler hat heute Morgen in seiner Regie-rungserklärung verkündet, die alten Strukturen würdenerst dann weggeschnitten, wenn die neuen aufgebautsind. Ich muss leider sagen, dass er in diesem Punkt vonseinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern über die Situa-tion nicht informiert worden zu sein scheint. Denn dieMaßnahmen sind dramatisch beschnitten worden, ohnedass es neue Strukturen gibt.

Die Bundesanstalt für Arbeit – wenn man Zeitungsbe-richten und entsprechenden Gesprächen glauben kann,meinen dies auch die ostdeutschen SPD-Abgeordneten –braucht dringend einen Zuschuss aus dem Bundeshaus-halt. Herr Gerster hat sich verrechnet, als er glaubte, dieBundesanstalt könne ohne diese Bundeszuschüsse aus-kommen. Nächste Woche haben wir in den Haushaltsbe-ratungen die Gelegenheit, den Haushalt entsprechend zukorrigieren und die Finanzierung einer Übergangsrege-lung für 2003 zu beschließen.

Herr Bundeskanzler, Ihre Rede war nicht der langeangekündigte Befreiungsschlag und auch nicht die An-kündigung von schlüssigen Reformen. Sie haben uns ei-nen Maßnahmehaufen vor die Füße geworfen, der unserLand allerdings nicht weiterbringen wird.

Vielen Dank.

(Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos])

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Da der Kollege Stiegler ebenso überraschender- wiefreundlicherweise auf die Inanspruchnahme der verblie-benen Redezeit verzichtet hat,

(Beifall im ganzen Hause – Ernst Hinsken[CDU/CSU]: Das ist ein Segen für ganzDeutschland!)

sind wir am Ende der Aussprache, die bezogen auf denSchluss eine große Zustimmung bei allen Fraktionen ge-funden hat.

(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Wir wollen den Stiegler noch hören!)

– Zurufe, mit denen auf dem Redebeitrag bestandenwird, bleiben folgenlos, weil sie nicht geschäftsord-nungswirksam sind.

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-ßungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 15/605.

(Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Genau! –Ulrich Kelber [SPD]: Vielleicht verzichtet dieFDP!)

Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? –

(Jörg Tauss [SPD]: Sechs Leute!)

Wer stimmt gegen den Antrag? –

(Zurufe von der SPD und der CDU/CSU: Hammelsprung!)

Möchte sich jemand der Stimme enthalten? – Dann istdieser Antrag mit den Stimmen der Koalition und derFraktion der CDU/CSU abgelehnt.

Wir sind damit am Schluss der heutigen Tagesord-nung.

Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-tages auf Dienstag, den 18. März 2003, 11 Uhr, ein.

Ich wünsche allen ein hoffentlich einigermaßen unge-trübtes Wochenende.

Die Sitzung ist geschlossen.

(Schluss: 15.03 Uhr)

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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2003 2547

(A) (C)

(B)

Anlagen zum Stenografischen BerichtAnlage 1

(D)

Liste der entschuldigten Abgeordneten

Anlage 2

Zu Protokoll gegebene Reden

zur Beratung der Anträge:

– GATS-Verhandlungen – Bildung als öffent-liches Gut und kulturelle Vielfalt sichern

– GATS-Verhandlungen – Transparenz undFlexibilität sichern

(31. Sitzung, Zusatztagesordnungspunkte 5 bis 7)

Erich G. Fritz (CDU/CSU): Ich spreche zum Koali-tionsantrag GATS-Verhandlungen – Transparenz undFlexibilität. Mir liegt als erstes daran, zu sagen, dass wireinen bestimmten Grundtenor des Antrages teilen. Wirwollen die Beteiligungsrechte des Parlaments überRandinformationen hinaus durchsetzen. Wir glauben,dass die veränderte Form internationaler Rechtssetzung

Abgeordnete(r)entschuldigt biseinschließlich

Adam, Ulrich CDU/CSU 14.03.2003

Austermann, Dietrich CDU/CSU 14.03.2003

Breuer, Paul CDU/CSU 14.03.2003

Deligöz, Ekin BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

14.03.2003

Fuchtel, Hans-Joachim CDU/CSU 14.03.2003

Hartnagel, Anke SPD 14.03.2003

Laurischk, Sibylle FDP 14.03.2003

Lehn, Waltraud SPD 14.03.2003

Möllemann, Jürgen W. fraktionslos 14.03.2003

Müller (Gera), Bernward CDU/CSU 14.03.2003

Rühe, Volker CDU/CSU 14.03.2003

Schmidt (Eisleben), Silvia

SPD 14.03.2003

Schmidt (Salzgitter), Wilhelm

SPD 14.03.2003

Schneider, Carsten SPD 14.03.2003

Seib, Marion CDU/CSU 14.03.2003

Volquartz, Angelika CDU/CSU 14.03.2003

Wettig-Danielmeier, Inge SPD 14.03.2003

Wieczorek (Böhlen), Jürgen

SPD 14.03.2003

über multilaterale Verhandlungen dringend einer stärke-ren Beteiligung des Parlaments bedarf, wenn der Prozessder Globalisierung Akzeptanz in den Augen der Bevöl-kerung finden soll.

Es gibt einen Anspruch der interessierten Öffentlich-keit auf frühzeitige Information, auf voraussehbare Dis-kussions- und Beteiligungsformen. Es gibt einen An-spruch des Parlaments als Gesetzgeber in einer Welt, inder immer mehr Regeln und Festsetzungen über supra-nationale und multilaterale Verhandlungen herbeigeführtwerden. Soweit der Antrag von SPD und Bündnis 90/Die Grünen dieses Ziel verfolgt, unterstützen wir ihn.

Anlass und Art des Vorgehens der Koalition scheinenmir aber sehr fragwürdig zu sein, um nicht zu sagen,falsch: Es ist ein purer Zufall, dass anlässlich der Ab-gabe der Verhandlungsangebote zu den GATS-Verhand-lungen durch die Europäische Kommission dieser An-trag gestellt wird. Es ist auch zufällig, dass gerade dieGATS-Verhandlungen den Anlass für diese Diskussionund für den Antrag bieten, weil interessierte Abgeord-nete sich gerade diesen Teil der EU-Angebote ausge-sucht haben. Wir haben uns nicht mit gleicher Intensitätum andere Offers bzw. um andere Teile der Verhandlun-gen in den Verhandlungsgruppen der WTO gekümmert.

Im Prinzip habe ich überhaupt nichts dagegen, wenndie Koalition ein Exempel gegen die eigene Regierungstatuieren will, um ihr einmal zu zeigen, wie sie sich nachder Auffassung der Koalition eigentlich verhalten sollte.Ich gehöre zu denen, die seit Jahren sagen, dass wir andereFormen der vorbereitenden Beteiligung des Parlamentsbrauchen, und bin auch schon lange der Auffassung, dassdie Regierung von sich aus nicht nur eine Information,sondern eine Beteiligung des Parlaments herbeiführensoll. Wenn wir die Situation verändern wollen, dann mussallerdings das ganze Parlament darauf dringen, dass esfest geregelte, formalisierte Beteiligungsformen gibt, diebisher nicht existieren und deshalb entwickelt werdenmüssen.

Die Vorbereitung von Verhandlungspositionen wieauch wesentliche Schritte der Verhandlungen selbst müs-sen transparent sein. Auch insofern folge ich der Inten-tion des Antrages. Ich glaube, dass der Deutsche Bun-destag durch sein beharrliches Drängen auf frühzeitigeInformation und Öffentlichkeit bereits dazu beigetragenhat, dass ein großes Maß der früheren Geheimniskräme-rei aufgehört hat. Jetzt geht es darum, dass über dieKenntnisnahme der Positionen auch die Abwägung, diepolitische Diskussion und die Abschätzung der Folgen ineine geordnete Bahn gelenkt werden und ein Prozess imBundestag vereinbart wird, der die Beteiligung des Par-laments regelt.

Unter diesem Gesichtspunkt wäre es sicher sinn-voll, wenn die Koalition ihren Antrag zurückziehenwürde. Vielleicht überlegen Sie, meine Damen undHerren von der SPD und Bündnis 90/Die Grünen nocheinmal, ob dies nicht der bessere Weg wäre. Dann wä-ren wir in der Lage, gemeinsame generelle Regeln zu

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entwickeln, in welcher Form die Bundesregierung inZukunft die zuständigen Ausschüsse des Bundestagesbei welcher Gelegenheit und in welchem Umfang undzu welcher Zeit befassen muss, um eine tatsächlicheBeteiligung des Parlaments zu gewährleisten.

Es darf in Zukunft nicht dem zufälligen Engagementeiniger Abgeordneter und dem guten Willen des Ministe-riums überlassen bleiben, ob es eine Parlamentsbeteili-gung gibt oder nicht.

Zum Antrag selbst stelle ich fest, dass man ihm sehrdeutlich anmerkt, dass er mit der heißen Nadel gestricktist. Er ist an einigen Stellen sehr oberflächlich. Er enthältformulierte Befürchtungen, die nach Kenntnis der Unter-lagen nicht haltbar sind. Einige Fragen des Antrages sindnur aufrechtzuerhalten, wenn man beharrlich nicht zurKenntnis nimmt wie das GATS konstruiert ist. Damitkein Irrtum aufkommt: Der Bundestag hat die Pflicht zurAbschätzung der Folgen von zu erwartenden internatio-nalen Vereinbarungen. Unklarheiten müssen aufgeklärtwerden. Deshalb ist die vom Wirtschaftsausschuss be-schlossene Anhörung insbesondere zu Mode 4 desGATS-Angebotes wichtig und sinnvoll.

Nach unserer Auffassung muss man dazu aber dasVerfahren zwischen Berlin, Brüssel und Genf nicht an-halten. Der Parlamentsvorbehalt ist deshalb eine über-triebene Reaktion, die auch nur zufällig an dieser Frageaufgehängt wird. Wir wissen, dass alle jetzt entwickeltenVerhandlungsangebote veränderbar sind, dass uns nichtsdaran hindert, auch im weiteren Verlauf noch Grenzeneinzuziehen, insbesondere dann, wenn es uns gelingt,das Netzwerk der nationalen Parlamente in Europa wei-ter zu verstärken.

Manches aus dem Antrag muss man auch gar nichtverstehen. Heute Morgen wurde in der Debatte zum Zu-wanderungsgesetz noch für die dort vorgesehene Aufhe-bung des Anwerbungsstopps geworben. Heute Abendgibt es große Befürchtungen bei offensichtlich sehr ge-ringen Öffnungen, die die Bundesregierung nach ihreneigenen Aussagen auch noch von Arbeitsmarktprüfun-gen abhängig machen will.

Eines muss man jedoch anerkennen: Die EU-Ange-bote sind im Vergleich zu dem, was wir von anderenLändern fordern, eher bescheiden und lösen bei Ent-wicklungsländern keinerlei Jubel aus. Wir müssen unsaber darüber im Klaren sein, dass man auf Dauer nichterwarten kann, dass andere ihre Märkte für uns öffnen,wir selbst aber in Restriktionen und Abschottung erstar-ren. Sie schreiben, meine Damen und Herren von derKoalition, mit Recht in Ihrem Antrag, dass der Teil desDienstleistungshandels noch weit hinter dem Dienstleis-tungsanteil an der Wertschöpfung Deutschlands zurück-steht. Gerade das GATS bietet deshalb große Möglich-keiten für deutsche Dienstleistungserbringer auf anderenMärkten. Dazu gehört natürlich auch das Signal, dassdieser Prozess keine Einbahnstraße ist und wir wissenaus der Erfahrung der letzten Jahrzehnte, dass nur dannauf Dauer eine hohe Leistungskraft in bestimmten Bran-chen erreicht werden kann, wenn sie auch tatsächlichdem Wettbewerb ausgesetzt ist. Dann erwecken Sie in Ih-rem Antrag erneut den Eindruck, es gebe einen Zwang

zur Liberalisierung hoheitlich erbrachter Dienstleistun-gen, was nach dem Angebot der EU-Kommission in kei-ner Weise zu erwarten ist. Gerade das GATS ermöglichtes wie kein anderes Abkommen der WTO, die nationa-len Sonderheiten auch national zu regeln. Wieviel GATSjedes Land will, entscheidet es im Prinzip selbst. In demAntrag heißt es unter III., die EU-Kommission müssedie Zeitabläufe der nationalen Parlamente stärker be-rücksichtigen und auf Vertraulichkeit verzichten. Demstimmen wir im Prinzip zu; allerdings muss umgekehrtauch gesagt werden, dass die nationalen Parlamente dieZeitabläufe der multilateralen Verhandlungen berück-sichtigen müssen und dass wir selbst schneller werdenmüssen, wenn wir unsere Beteiligungsrechte wahrneh-men wollen.

Im Übrigen habe ich mich darüber gefreut, dass dieBundesregierung sich der Forderung nach schnellererÖffentlichkeit der Verhandlungsgrundlagen angeschlos-sen hat und dass Herr Lamy bei seinem Gespräch mitMitgliedern des Bundestages auch erklärt hat, dass nachder Zustimmung des Rates die EU-Position ins Interneteingestellt würde.

Im Punkt 2 des Kapitels 3 fordern Sie, die betroffenenFachausschüsse des Deutschen Bundestages müsstenfrühzeitig, regelmäßig, umfassend und detailliert überden Fortgang der GATS-Verhandlungen informiert wer-den. Das scheint mir nach allem, was wir in der Vergan-genheit erfahren haben, zu wenig zu sein. Man kann derBundesregierung nicht nachsagen, dass sie ihre, vor al-len Dingen informellen Informationen gegenüber inter-essierten Abgeordneten nicht verbessert haben. Jetztgeht es darum zu überlegen, in welcher Form ein stan-dardisiertes und formalisiertes Beteiligungsverfahren or-ganisiert werden kann.

Unter III Punkt 5 formuliert die Koalition einen Par-lamentsvorbehalt; dieser Position können wir uns nichtanschließen. Wir sind vielmehr der Meinung, dass wirdamit unserem Land und dem Fortgang des Verhand-lungsprozesses einen schlechten Dienst erweisen wür-den. Wie allen bekannt ist, gibt es ohnehin eine Reihevon Zeitüberschreitungen im Verhandlungsprozess. Wirsollten nicht dazu beitragen, dass das Verfahren nochweiter verzögert und erschwert wird.

So kann man im Übrigen nur vorgehen, wenn mannicht erkannt hat, dass im Zusammenhang mit denGATS-Verhandlungen es auch um die Durchsetzung vonnationalen Interessen und um die Gefährdung eigenerVorteile geht.

Diese Position können wir umso leichter einnehmen,als mittlerweile ja bekannt geworden ist, dass zu sensib-len Bereichen die Bundesregierung bereits einen aus-drücklichen Prüfvorbehalt eingelegt hat, sodass auchnachträgliche Korrekturen noch möglich sind. Ebensoscheint ja der Vorschlag auf eine Konditionierung durcheine „wirtschaftliche Bedarfsprüfung“ bei Sektoren miterkennbaren Arbeitsmarktproblemen ein Weg zu sein,der vorhandene Bedenken bereits berücksichtigt.

Wir sind allerdings der Meinung, dass die Bundes-regierung, auch im Gespräch mit fachkundigen Instituten

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und Verbänden, die Zweifelsfälle weiter klären soll, dieauch Gegenstand der Anhörung sein werden, sodass mansagen kann, dass die Diskussion bereits Ergebnisse ge-zeitigt hat.

Was ich überhaupt nicht verstehe und was offensicht-lich nur so zu erklären ist, dass in der SPD-Fraktion jedeArbeitsgruppe wieder ihr Steckenpferd geritten hat, ohneallzu viele Kenntnisse über die Zusammenhänge zu ha-ben, dass auch im Zusammenhang mit GATS nun alleThemen, die in der WTO überhaupt eine Rolle spielen,auf die GATS-Verhandlungen draufgesattelt werden sol-len. Ich glaube, dass wir die Themen, die zusätzlich an-gesprochen sind, wie Umwelt und Sozialstandards dortbehandeln sollten, wo sie hingehören, nämlich in den je-weils dafür vorgesehenen Vertragsverhandlungen. Mankann nicht alle Themen an einer Stelle bearbeiten.

In ihrem Antrag ist unter Ziffer 5 dann eine Frage an-gesprochen, ob „geltende nationale und EU-weite Anfor-derungen und Regelungen fortbestehen“, wobei explizitauch die Frage von Tarifverträgen und Mindestlöhneneinbezogen sein soll. Ich weiß wirklich nicht, warumman einen Prüfauftrag vergeben soll für etwas, was ausdem Text des Verhandlungsangebots der EU so unmiss-verständlich hervorgeht wie nur irgend möglich. Und imÜbrigen haben sowohl die Bundesregierung als auch derHandelskommissar Lamy das immer wieder geklärt. Ichhabe den Eindruck, dass Sie ihrer eigenen Regierungmittlerweile überhaupt nichts mehr glauben.

Weiterhin Klärungsbedarf sehe ich bei den so genann-ten „independent professionals“. In diesem Bereich gibtes sehr viel Misstrauen auch von außerhalb des Parla-ments und ich glaube, dass tatsächlich Definitionen ge-funden werden müssen, die frühzeitig klären, was sichdahinter verbirgt. Es hat keinen Sinn, Bereiche zu ver-handeln, derer Umfang im eigenen Verständnis nicht klarist.

Verwundert hat mich, dass in Ihrem Antrag erneutSorgen zum Ausdruck kommen über eine Öffnung derDienstleistungsmärkte für verschiedene Bereiche aus deröffentlichen Daseinsfürsorge. Das verwundert deshalb,weil Sie wissen, dass die Europäische Union dazu über-haupt keine Angebote gemacht hat und auch nicht beab-sichtigt zu machen. Übereinstimmen kann ich mit IhremAntrag wieder in der Forderung nach einer klaren Defi-nition der öffentlichen Daseinsvorsorge. Das würde si-cher auch in Zukunft Interpretationsschwierigkeiten ver-meiden.

Wenn Sie unter Punkt 6 formulieren, dass Flexibili-tät und Transparenz erhöht werden sollen, und danndie Forderung erheben, „dies betrifft zum einen diesouveräne Entscheidung der WTO-Mitglieder, welcheSektoren sie in welchem Ausmaß für ausländische An-bieter öffnen wollen, zum anderen, welche Sektorensie von den GATS-Verpflichtungen ausnehmen wol-len“, so würde ein solche Formulierung auf uns selbstzurückfallen und Arbeitsplätze kosten. Bei all dem,was letztendlich vereinbart wird und was nicht ohne-hin in der freien Entscheidung der Nationalstaatensteht, muss das Recht auf Gegenseitigkeit gelten, sonstmachen Abkommen keinen Sinn.

Insgesamt sind wir der Meinung, dass der Antrag inkeiner Weise geeignet ist, um die eigentlich bestehendenProbleme sachgerecht anzusprechen, und deshalb stim-men wir ihm nicht zu.

Michaele Hustedt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Dass eine funktionierende Dienstleistungswirtschaft, bei-spielsweise in Sektoren wie der Finanzwirtschaft, der Te-lekommunikation oder dem Verkehr weltweit von Bedeu-tung ist und als eine entscheidende Voraussetzung für diewirtschaftliche Entwicklung gelten kann, wird heute sel-ten bestritten. Seit jetzt mehr als zehn Jahren entwickeltsich gerade der Dienstleistungssektor als dynamischsterBereich der Weltwirtschaft. Fast ein Fünftel des gesamtenWelthandels mit Gütern und Dienstleistungen entfällt aufden Bereich der Dienstleistungen. Schätzungen gehen da-von aus, dass im Jahr 2020 der Anteil der Dienstleistun-gen am grenzüberschreitenden Handel 50 Prozent ausma-chen wird. Bereits heute entfallen mehr als die Hälfte derweltweiten ausländischen Direktinvestitionen auf denDienstleistungssektor. Also gewinnt dieses Thema ge-rade auch für eine exportorientierte Volkswirtschaft wiedie unsere an Bedeutung. Die EU ist sowohl der größteImporteur als auch der größte Exporteur von Dienstleis-tungen weltweit. Schon daraus lässt sich ablesen, welcheBedeutung die Dienstleistungswirtschaft für die gesamteWirtschaftsentwicklung der Mitgliedstaaten hat. Dies giltmithin auch für Deutschland. So liegt beispielsweise aufder Hand, dass der Markt für Umweltdienstleistungen inallen Weltregionen in den kommenden Jahren massivwachsen wird. Hieraus ergeben sich erhebliche Poten-ziale für deutsche Unternehmen.

Andererseits erstreckt sich das Dienstleistungsabkom-men potenziell auch auf Sektoren, die als äußerst sensi-bel anzusehen sind, beispielsweise den Bereich deraudiovisuellen Dienstleistungen, der Bildung, der Was-serversorgung oder der Gesundheitsdienstleistungen,also auch auf so genannte hoheitliche Aufgaben.

Die GATS-Verhandlungen sind ein Teil der laufendenWelthandelsrunde. Sie sollen also gemeinsam mit der sogenannten „Entwicklungsagenda“ (Doha DevelopmentAgenda), den Agrarverhandlungen, über die wir heuteebenfalls im Bundestag diskutieren, und der Präzisierungdes Abkommens zum Schutz des geistigen Eigentums zueinem ausgewogeneren internationalen Handelssystemsführen.

Aktuell ist unsere Debatte über die GATS-Verhand-lungen, da die Europäische Kommission derzeit ihr Ver-handlungsangebot im Rahmen der Welthandelsrunde derWelthandelsorganisation WTO für das AllgemeineÜbereinkommen über den Handel mit Dienstleistungen(GATS-Abkommen) vorbereitet. Dazu sind die Mitglied-staaten aufgefordert, bis zum Ende dieses Monats denEntwurf des Kommissionsvorschlags zu bewerten und indie Welthandelsorganisation einzubringen.

Sollen die Schulen von McDonald’s übernommenwerden, die Krankenhäuser von Red Bull?, so Verdi undAttac in einem gemeinsamen Flugblatt über die GATS-Verhandlungen. Unbewusst oder bewusst werden damit

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Ängste geschürt gegen die Globalisierung und Liberali-sierung. Ich halte das nicht für verantwortungsbewusst.Über Bildung, Gesundheit, Kultur und Warenversorgung,das hat die EU mit ihrem Verhandlungsangebot klar ge-macht, wird gar nicht verhandelt. Und niemand – so sinddie Verhandlungsstrukturen – kann die EU dazu zwin-gen. Für die grüne Fraktion möchte ich erklären, dasswir es außerordentlich begrüßen, dass die EuropäischeUnion in ihrer Verhandlungsposition die Bereiche Bil-dung, Kultur und audiovisuelle Dienstleistungen sowieGesundheitsdienstleistungen von den Liberalisierungs-verhandlungen ausgenommen hat. Gerade hier hat es inder Öffentlichkeit Einwände und Befürchtungen gege-ben, die sich im Lichte des EU-Angebots nicht bestäti-gen werden. Wir erwarten, dass in diesen Bereichenauch durch die Dynamik der Verhandlungen, an derenAnfang wir ja erst stehen, von der Kommission keineweiteren Angebote gemacht werden. Also: Lasst unssachlich über die tatsächlichen Verhandlungspunkte zumBeispiel Modus 4 und die Auswirkungen auf die freienBerufe wie zum Beispiel Architekten sprechen und da-bei nicht nur die Gefahren, sondern auch die Chancensehen.

Dass die Diskussion über das GATS-Abkommen inder Öffentlichkeit erhebliche Sorgen und Befürchtungenausgelöst hat, ist aber zu einem erheblichen Teil auf einzentrales hausgemachtes Problem der EuropäischenKommission und der WTO-Verhandlungen insgesamtzurückzuführen: Und das besteht in mangelnder Trans-parenz.

Ein zentrales Motiv des Koalitionsantrages ist es also,die Transparenz der laufenden Verhandlungen zu erhö-hen. Eine transparente, partizipatorische Beteiligung al-ler WTO-Staaten, der demokratisch legitimierten Parla-mente und der Zivilgesellschaft ist die Voraussetzung fürden erfolgreichen Abschluss der Verhandlungen. Geradedie Parlamente können ein wichtiges Scharnier zwischenZivilgesellschaft und Verhandlungen bilden.

Was bei anderen internationalen Verhandlungen gangund gäbe ist – die Veröffentlichung zentraler Dokumenteim Internet –, muss auch bei diesen Verhandlungen gel-ten. Daher fordere ich ganz ausdrücklich, die relevantenForderungen und Angebote entsprechend zu veröffent-lichen.

In den bisherigen Parlamentsberatungen wurde mitRecht beklagt, dass die Zeit nicht ausreicht, sich intensivmit den Auswirkungen des GATS-Abkommens zu befas-sen. Wir Grünen sprechen uns dafür aus, dies in allen re-levanten Ausschüssen zu tun. Der Wirtschaftsausschusswird zu diesem Zweck Anfang April eine Anhörung zumThema durchführen.

So gibt es beispielsweise im Bereich der grenzüber-schreitenden, zeitlich begrenzten Dienstleistungen durchPersonen (so genannter Modus 4) eine Reihe von offe-nen Fragen, die wir im Parlament mit Vertretern vonVerbänden und Nichtregierungsorganisationen beratenmüssen. Nicht zuletzt deshalb halte ich es für richtig, voreinem abschließenden, bindenden Votum dem Parlamentdie Möglichkeit zu geben, seine geplanten Anhörungen

durchzuführen und die parlamentarische Willensbildungzügig fortzusetzen.

Entwicklungsländer drängen auf die Ausweitung derLiberalisierungsverpflichtungen für den grenzüberschrei-tenden Verkehr natürlicher Personen zur Erbringung vonDienstleistungen. Obwohl mir bekannt ist, dass es sichhier teils um sensible Fragen handelt, sollte sich die EU alseiner der Hauptexporteure und -importeure von Dienst-leistungen gegenüber den Anliegen aus Entwicklungslän-dern aufgeschlossen zeigen.

Generell gilt, dass wir vor der Übernahme von Ver-pflichtungen im Rahmen des GATS-Abkommens poli-tisch und gesellschaftlich transparent über die Folgen aufdie einzelnen Dienstleistungssektoren debattieren müs-sen. Dabei sollte das Tempo der Verhandlungen nicht zu-lasten der Gründlichkeit gehen. Schon jetzt zeichnet sichab, dass viele Entwicklungsländer von der Vielzahl derVerhandlungen überfordert sind. Aber auch die gesell-schaftliche Debatte in den Industrieländern braucht mehrZeit.

An dieser Stelle ist mir wichtig, einige Grundanliegenbezogen auf die GATS-Verhandlungen aufzugreifen. DieEU sollte selbstverständlich keine Verpflichtungen ein-gehen, die geltendes EU-Recht unterlaufen oder die Ver-einbarung hoher Standards und Normen innerhalb derEU erschweren würde. Die Flexibilität des GATS-Ab-kommens sollte erhalten bleiben. Dies betrifft vor allemdie souveräne Entscheidung von Staaten über das Aus-maß der Liberalisierung und das Recht, einzelne Sekto-ren von den GATS-Verpflichtungen auszunehmen.

Nicht nur die Industrieländer, sondern auch gerade Ent-wicklungsländer sollten bei der Erbringung von Dienstleis-tungen in ihrem Hoheitsgebiet, Dienstleistungssektoren imEinklang mit den nationalen politischen Zielsetzungenregulieren können. Grünes Ziel ist es, sicherzustellen,dass die Verhandlungsergebnisse auch zur wirtschaftli-chen und sozialen Entwicklung in Entwicklungsländernbeitragen.

Das GATS-Abkommen ist ein äußerst komplexes Ab-kommen, dessen Nuancen und Fallstricke sich nicht im-mer direkt erschließen. Wir sollten als Parlamentariermit Selbstbewusstsein die Zeit einfordern, die eine ange-messene Befassung mit dem Thema erfordert, denn wirsind diejenigen, die die Verhandlungsergebnisse in die-sem Hause ratifizieren müssen.

Gerade bei komplexen internationalen Verhandlungenhat das Parlament auch die Aufgabe der „Übersetzung“bzw. Vermittlung neuer internationaler Vereinbarungenund Verträge in die Gesellschaft. Dem gerecht zu wer-den, auch das zeigen die GATS-Verhandlungen, ist eineäußerst schwierige Aufgabe.

Anlage 3

Amtliche Mitteilungen

Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse habenmitgeteilt, dass der Ausschuss gemäß § 80 Abs. 3 Satz 2

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der Geschäftsordnung von einer Berichterstattung zu dennachstehenden Vorlagen absieht:

Haushaltsausschuss

– Unterrichtung durch die Bundesregierung

Finanzplan des Bundes 2002 bis 2006

– Drucksachen 14/9751, 15/345 Nr. 46 –

– Unterrichtung durch die Bundesregierung

Bericht über den Stand und die voraussichtliche Ent-wicklung der Finanzwirtschaft des Bundes

– Drucksachen 15/151, 15/402 –

Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung

– Unterrichtung durch die Bundesregierung

Fortschreibung des Rheumaberichtes der Bundesregie-rung

– Drucksachen 13/8434, 15/345 Nr. 66 –

Ausschuss für Verkehr, Bau und Wohnungswesen

– Unterrichtung durch die Bundesregierung

Nationaler Radverkehrsplan 2002 bis 2012 „FahrRad“ –Maßnahmen zur Förderung des Radverkehrs inDeutschland

– Drucksachen 14/9504, 15/345 Nr. 70 –

– Unterrichtung durch die Bundesregierung

Jahresbericht 2002 der Bundesregierung zum Stand derDeutschen Einheit

– Drucksache 14/9950 –

Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung

– Unterrichtung durch die Bundesregierung

Berufsbildungsbericht 2002

– Drucksachen 14/8950, 15/345 Nr. 74 –

Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

– Unterrichtung durch die Bundesregierung

Bericht der Bundesregierung über ihre Bemühungenzur Stärkung der gesetzgeberischen Befugnisse des Eu-ropäischen Parlaments 2002

– Drucksachen 15/340, 15/389 Nr. 1.3 –

Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse habenmitgeteilt, dass der Ausschuss die nachstehenden EU-Vorlagen bzw. Unterrichtungen durch das EuropäischeParlament zur Kenntnis genommen oder von einer Bera-tung abgesehen hat.

PetitionsausschussDrucksache 15/173 Nr. 1.9Drucksache 15/173 Nr.1.10

FinanzausschussDrucksache 15/339 Nr. 2.11Drucksache 15/339 Nr. 2.12Drucksache 15/339 Nr. 3.1

HaushaltsausschussDrucksache 15/392 Nr. 2.45

Ausschuss für Wirtschaft und ArbeitDrucksache 15/103 Nr. 2.28Drucksache 15/173 Nr. 1.3Drucksache 15/173 Nr. 1.8Drucksache 15/173 Nr. 1.15Drucksache 15/173 Nr. 2.5Drucksache 15/173 Nr. 2.6Drucksache 15/173 Nr. 2.9Drucksache 15/173 Nr. 2.10Drucksache 15/173 Nr. 2.13Drucksache 15/173 Nr. 2.14Drucksache 15/173 Nr. 2.17Drucksache 15/173 Nr. 2.18Drucksache 15/173 Nr. 2.19Drucksache 15/173 Nr. 2.21Drucksache 15/173 Nr. 2.22Drucksache 15/173 Nr. 2.23Drucksache 15/173 Nr. 2.29Drucksache 15/173 Nr. 2.30Drucksache 15/173 Nr. 2.32Drucksache 15/173 Nr. 2.35Drucksache 15/173 Nr. 2.36Drucksache 15/173 Nr. 2.37Drucksache 15/173 Nr. 2.40Drucksache 15/173 Nr. 2.42Drucksache 15/173 Nr. 2.43Drucksache 15/173 Nr. 2.47Drucksache 15/173 Nr. 2.62Drucksache 15/173 Nr. 2.67Drucksache 15/173 Nr. 2.71Drucksache 15/173 Nr. 2.76Drucksache 15/173 Nr. 2.82Drucksache 15/173 Nr. 2.83Drucksache 15/173 Nr. 2.88Drucksache 15/173 Nr. 2.90Drucksache 15/268 Nr. 2.25Drucksache 15/268 Nr. 2.27Drucksache 15/268 Nr. 2.28Drucksache 15/268 Nr. 2.31Drucksache 15/268 Nr. 2.36Drucksache 15/268 Nr. 2.42Drucksache 15/268 Nr. 2.43Drucksache 15/268 Nr. 2.44Drucksache 15/268 Nr. 2.45Drucksache 15/268 Nr. 2.46

Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und LandwirtschaftDrucksache 15/103 Nr. 2.69Drucksache 15/103 Nr. 2.111Drucksache 15/103 Nr. 2.112Drucksache 15/268 Nr. 2.4Drucksache 15/268 Nr. 2.8Drucksache 15/268 Nr. 2.9Drucksache 15/268 Nr. 2.11Drucksache 15/268 Nr. 2.13Drucksache 15/268 Nr. 2.14Drucksache 15/268 Nr. 2.15Drucksache 15/268 Nr. 2.16Drucksache 15/268 Nr. 2.18Drucksache 15/268 Nr. 2.30Drucksache 15/339 Nr. 2.30

Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendDrucksache 15/103 Nr. 2.7

Ausschuss für Gesundheit und soziale SicherungDrucksache 15/103 Nr. 2.5Drucksache 15/103 Nr. 2.66

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2552 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2003

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Drucksache 15/173 Nr. 2.33Drucksache 15/173 Nr. 2.53Drucksache 15/268 Nr. 2.3Drucksache 15/345 Nr. 67

Ausschuss für Verkehr, Bau und Wohnungswesen

Drucksache 15/392 Nr. 2.61

Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

Drucksache 15/103 Nr. 1.9Drucksache 15/173 Nr. 2.78Drucksache 15/173 Nr. 2.80Drucksache 15/173 Nr. 2.81Drucksache 15/173 Nr. 2.87Drucksache 15/268 Nr. 2.22Drucksache 15/268 Nr. 2.34Drucksache 15/268 Nr. 2.39Drucksache 15/268 Nr. 2.47Drucksache 15/339 Nr. 2.9

Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co., Buch- uVertrieb: Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft mbH, Postfach 13 20,

ISSN 07

Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe

Drucksache 15/345 Nr. 73

Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung

Drucksache 15/339 Nr. 2.25Drucksache 15/339 Nr. 2.35

Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Drucksache 15/345 Nr. 78Drucksache 15/345 Nr. 79Drucksache 15/345 Nr. 80Drucksache 15/345 Nr. 81Drucksache 15/345 Nr. 82Drucksache 15/392 Nr. 1.3

Ausschuss für Kultur und Medien

Drucksache 15/173 Nr. 1.14

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