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Plenarprotokoll 17/130 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 130. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 Inhalt: Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- nung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Absetzung des Tagesordnungspunktes 31 . . . Nachträgliche Ausschussüberweisung . . . . . . Tagesordnungspunkt 3: a) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP einge- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än- derung des Gesetzes zur Übernahme von Gewährleistungen im Rahmen ei- nes europäischen Stabilisierungsmecha- nismus (Drucksachen 17/6916, 17/7067, 17/7130) b) Beschlussempfehlung und Bericht des Haushaltsausschusses zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP: Par- lamentsrechte im Rahmen zukünftiger europäischer Stabilisierungsmaßnah- men sichern und stärken (Drucksachen 17/6945, 17/7067, 17/7130) . Volker Kauder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Peer Steinbrück (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rainer Brüderle (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister BMF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Schlecht (DIE LINKE) . . . . . . . . Carsten Schneider (Erfurt) (SPD) . . . . . . . . . Dr. Philipp Rösler, Bundesminister BMWi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hubertus Heil (Peine) (SPD) . . . . . . . . . . . . . Klaus Ernst (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Philipp Rösler, Bundesminister BMWi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU) . . . . . . . . . Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gerda Hasselfeldt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Dr. Barbara Hendricks (SPD) . . . . . . . . . . Frank Schäffler (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Hermann Otto Solms (FDP) . . . . . . . . . . . Norbert Barthle (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Namentliche Abstimmung . . . . . . . . . . . . . . . Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sahra Wagenknecht (DIE LINKE) (Erklärung nach § 31 GO) . . . . . . . . . . . . . Andrej Hunko (DIE LINKE) (Erklärung nach § 31 GO) . . . . . . . . . . . . . Sevim Dağdelen (DIE LINKE) (Erklärung nach § 31 GO) . . . . . . . . . . . . . Dr. Diether Dehm (DIE LINKE) (Erklärung nach § 31 GO) . . . . . . . . . . . . . Inge Höger (DIE LINKE) (Erklärung nach § 31 GO) . . . . . . . . . . . . . 15203 A 15203 D 15203 D 15204 A 15204 A 15204 C 15206 C 15210 D 15213 C 15216 D 15218 D 15219 D 15221 C 15222 A 15224 A 15225 B 15225 C 15225 D 15226 A 15227 A 15227 D 15228 C 15230 A 15231 B 15232 B 15234 A 15236 C 15234 D 15235 D 15239 A 15239 D 15240 C

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Plenarprotokoll 17/130

Deutscher BundestagStenografischer Bericht

130. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011

I n h a l t :

Erweiterung und Abwicklung der Tagesord-nung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Absetzung des Tagesordnungspunktes 31 . . .

Nachträgliche Ausschussüberweisung . . . . . .

Tagesordnungspunkt 3:

a) Zweite und dritte Beratung des von denFraktionen der CDU/CSU und FDP einge-brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än-derung des Gesetzes zur Übernahmevon Gewährleistungen im Rahmen ei-nes europäischen Stabilisierungsmecha-nismus(Drucksachen 17/6916, 17/7067, 17/7130)

b) Beschlussempfehlung und Bericht desHaushaltsausschusses zu dem Antrag derFraktionen der CDU/CSU und FDP: Par-lamentsrechte im Rahmen zukünftigereuropäischer Stabilisierungsmaßnah-men sichern und stärken(Drucksachen 17/6945, 17/7067, 17/7130) .

Volker Kauder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . .

Peer Steinbrück (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Rainer Brüderle (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . .

Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister BMF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Michael Schlecht (DIE LINKE) . . . . . . . .

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Carsten Schneider (Erfurt) (SPD) . . . . . . . . .

Dr. Philipp Rösler, Bundesminister BMWi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Hubertus Heil (Peine) (SPD) . . . . . . . . . . . . .

Klaus Ernst (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Philipp Rösler, Bundesminister BMWi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU) . . . . . . . . .

Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Gerda Hasselfeldt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . .

Dr. Barbara Hendricks (SPD) . . . . . . . . . .

Frank Schäffler (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Hermann Otto Solms (FDP) . . . . . . . . . . .

Norbert Barthle (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . .

Namentliche Abstimmung . . . . . . . . . . . . . . .

Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Sahra Wagenknecht (DIE LINKE) (Erklärung nach § 31 GO) . . . . . . . . . . . . .

Andrej Hunko (DIE LINKE) (Erklärung nach § 31 GO) . . . . . . . . . . . . .

Sevim Dağdelen (DIE LINKE) (Erklärung nach § 31 GO) . . . . . . . . . . . . .

Dr. Diether Dehm (DIE LINKE) (Erklärung nach § 31 GO) . . . . . . . . . . . . .

Inge Höger (DIE LINKE) (Erklärung nach § 31 GO) . . . . . . . . . . . . .

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II Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011

Heidrun Dittrich (DIE LINKE) (Erklärung nach § 31 GO) . . . . . . . . . . . . .

Michael Schlecht (DIE LINKE) (Erklärung nach § 31 GO) . . . . . . . . . . . . .

Kathrin Vogler (DIE LINKE) (Erklärung nach § 31 GO) . . . . . . . . . . . . .

Annette Groth (DIE LINKE) (Erklärung nach § 31 GO) . . . . . . . . . . . . .

Heike Hänsel (DIE LINKE) (Erklärung nach § 31 GO) . . . . . . . . . . . . .

Sabine Leidig (DIE LINKE) (Erklärung nach § 31 GO) . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 4:

Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-schusses für Arbeit und Soziales

– zu dem Antrag der Abgeordneten AnetteKramme, Gabriele Lösekrug-Möller, IrisGleicke, weiterer Abgeordneter und derFraktion der SPD: Langfristige Perspek-tive statt sachgrundlose Befristung

– zu dem Antrag der Abgeordneten JuttaKrellmann, Klaus Ernst, Herbert Behrens,weiterer Abgeordneter und der FraktionDIE LINKE: Befristung von Arbeitsver-hältnissen eindämmen

– zu dem Antrag der Abgeordneten BrigittePothmer, Beate Müller-Gemmeke, FritzKuhn, weiterer Abgeordneter und derFraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Kein Sachgrund, keine Befristung – Be-fristete Arbeitsverträge begrenzen

(Drucksachen 17/1769, 17/1968, 17/2922,17/4180) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU) . . . . . . . . .

Klaus Barthel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . . .

Klaus Ernst (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . .

Petra Ernstberger (SPD) (zur Geschäftsordnung) . . . . . . . . . . . . . . .

Bernhard Kaster (CDU/CSU) (zur Geschäftsordnung) . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) (zur Geschäftsordnung) . . . . . . . . . . . . . . .

Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Ulrich Lange (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . .

Ottmar Schreiner (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP) . . . . . .

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Klaus Ernst (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . .

Jutta Krellmann (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . .

Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU) . . . . . . . .

Jutta Krellmann (DIE LINKE) . . . . . . . . .

Klaus Ernst (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . .

Stefan Rebmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Sebastian Blumenthal (FDP) . . . . . . . . . . . . .

Gitta Connemann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . .

Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 34:

a) Erste Beratung des von der Bundesregie-rung eingebrachten Entwurfs eines Geset-zes zum Vorschlag für eine Verordnungüber die elektronische Fassung desAmtsblatts der Europäischen Union(Drucksache 17/7144) . . . . . . . . . . . . . . .

b) Erste Beratung des von der Bundesregie-rung eingebrachten Entwurfs eines Geset-zes zu dem Abkommen vom 25. Novem-ber 2010 zwischen der BundesrepublikDeutschland und dem Fürstentum An-dorra über den Informationsaustauschin Steuersachen(Drucksache 17/7145) . . . . . . . . . . . . . . .

c) Erste Beratung des von der Bundesregie-rung eingebrachten Entwurfs eines Geset-zes zu dem Abkommen vom 19. Okto-ber 2010 zwischen der BundesrepublikDeutschland und Antigua und Bar-buda über den Informationsaustauschin Steuersachen(Drucksache 17/7146) . . . . . . . . . . . . . . .

d) Antrag der Abgeordneten TankredSchipanski, Albert Rupprecht (Weiden),Michael Kretschmer, weiterer Abgeordne-ter und der Fraktion der CDU/CSU sowieder Abgeordneten Dr. Martin Neumann(Lausitz), Dr. Peter Röhlinger, PatrickMeinhardt, weiterer Abgeordneter und derFraktion der FDP: Potenziale der Ein-richtungen des Bundes mit Ressortfor-schungsaufgaben stärken(Drucksache 17/7183) . . . . . . . . . . . . . . .

e) Antrag der Abgeordneten Agnes Malczak,Ute Koczy, Kerstin Müller (Köln), weite-rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN: Zivilpersonal inKonflikten besser betreuen(Drucksache 17/7191) . . . . . . . . . . . . . . .

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 III

in Verbindung mit

Zusatztagesordnungspunkt 2:

a) Antrag der Abgeordneten Omid Nouripour,Ute Koczy, Undine Kurth (Quedlinburg),weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Natur-landschaft Senne schützen – Militäri-sche Nutzung des Truppenübungsplatzesnach Abzug der Briten beenden(Drucksache 17/4555) . . . . . . . . . . . . . . . .

b) Antrag der Abgeordneten Dr. HaraldTerpe, Birgitt Bender, Maria Klein-Schmeink, weiterer Abgeordneter und derFraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:Wirksame Strukturreformen für einepatientenorientierte Gesundheitsver-sorgung auf den Weg bringen(Drucksache 17/7190) . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 35:

a) Zweite Beratung und Schlussabstimmungdes von der Bundesregierung eingebrach-ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab-kommen vom 21. Oktober 2010 zwi-schen der Bundesrepublik Deutschlandund dem Großherzogtum Luxemburgüber die Erneuerung und die Erhaltungder Grenzbrücke über die Mosel zwi-schen Wellen und Grevenmacher(Drucksachen 17/6615, 17/7092) . . . . . . .

b) Zweite und dritte Beratung des von derBundesregierung eingebrachten Entwurfseines Zweiten Gesetzes zur Änderungdes Agrarstatistikgesetzes(Drucksachen 17/6642, 17/7192) . . . . . . .

c) Zweite und dritte Beratung des von derBundesregierung eingebrachten Entwurfseines Ersten Gesetzes zur Änderung desSeesicherheits-Untersuchungs-Gesetzes(Drucksachen 17/6334, 17/7193) . . . . . . .

d) Beschlussempfehlung und Bericht desRechtsausschusses: zu dem Streitverfah-ren vor dem Bundesverfassungsgericht2 BvL 4/10(Drucksache 17/7035) . . . . . . . . . . . . . . . .

e) Beschlussempfehlung und Bericht desAusschusses für Umwelt, Naturschutz undReaktorsicherheit zu der Verordnung derBundesregierung: Erste Verordnung zurÄnderung der Deponieverordnung(Drucksachen 17/6641, 17/7066) . . . . . . .

f) – n)

Beratung der Beschlussempfehlungen desPetitionsausschusses: Sammelübersich-

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ten 309, 310, 311, 312, 313, 314, 315, 316und 317 zu Petitionen(Drucksachen 17/7036, 17/7037, 17/7038,17/7039, 17/7040, 17/7041, 17/7042,17/7043, 17/7044) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Zusatztagesordnungspunkt 3:

Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionder SPD: Steuerabkommen mit der Schweizund damit zusammenhängende Fragen derSteuergerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Joachim Poß (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister BMF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) . . . . . . . . . . .

Dr. Volker Wissing (FDP) . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Olav Gutting (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Norbert Walter-Borjans, Minister (Nordrhein-Westfalen) . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Birgit Reinemund (FDP) . . . . . . . . . . . . .

Martin Gerster (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Peter Aumer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . .

Lothar Binding (Heidelberg) (SPD) . . . . . . . .

Bettina Kudla (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . .

Nicolette Kressl (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Ralph Brinkhaus (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 5:

– Zweite und dritte Beratung des von denFraktionen der CDU/CSU und FDP einge-brachten Entwurfs eines NeunzehntenGesetzes zur Änderung des Bundes-wahlgesetzes (Drucksache 17/6290) . . . . . . . . . . . . . . .

– Zweite und dritte Beratung des von derFraktion der SPD eingebrachten Entwurfseines Neunzehnten Gesetzes zur Ände-rung des Bundeswahlgesetzes(Drucksache 17/5895) . . . . . . . . . . . . . . .

– Zweite und dritte Beratung des von denAbgeordneten Halina Wawzyniak, SevimDağdelen, Dr. Dagmar Enkelmann, weite-ren Abgeordneten und der Fraktion DIELINKE eingebrachten Entwurfs eines Ge-setzes zur Änderung des Grundgesetzesund zur Reformierung des Wahlrechts(Drucksache 17/5896) . . . . . . . . . . . . . . .

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IV Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011

– Zweite und dritte Beratung des von denAbgeordneten Volker Beck (Köln), IngridHönlinger, Memet Kilic, weiteren Abge-ordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfseines … Gesetzes zur Änderung desBundeswahlgesetzes(Drucksachen 17/4694, 17/7069) . . . . . . .

– Bericht des Haushaltsausschusses gemäߧ 96 der Geschäftsordnung (Drucksache 17/7070) . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Günter Krings (CDU/CSU) . . . . . . . . . . .

Thomas Oppermann (SPD) . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Stefan Ruppert (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . .

Halina Wawzyniak (DIE LINKE) . . . . . . . . .

Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Peter Altmaier (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . .

Gabriele Fograscher (SPD) . . . . . . . . . . . . . .

Jörg van Essen (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Hans-Peter Uhl (CDU/CSU) . . . . . . . . . .

Namentliche Abstimmung . . . . . . . . . . . . . . .

Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 9:

– Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-wärtigen Ausschusses zu dem Antrag derBundesregierung: Fortsetzung der Beteili-gung bewaffneter deutscher Streitkräftean der von den Vereinten Nationen ge-führten Friedensmission in Südsudan(UNMISS) auf Grundlage der Resolu-tion 1996 (2011) des Sicherheitsratesder Vereinten Nationen vom 8. Juli 2011(Drucksachen 17/6987, 17/7213) . . . . . . .

– Bericht des Haushaltsausschusses gemäߧ 96 der Geschäftsordnung (Drucksache 17/7216) . . . . . . . . . . . . . . . .

Joachim Spatz (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Christoph Strässer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . .

Philipp Mißfelder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . .

Jan van Aken (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . .

Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Jan van Aken (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . .

Dr. Reinhard Brandl (CDU/CSU) . . . . . . . . .

Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Jan van Aken (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . .

Namentliche Abstimmung . . . . . . . . . . . . . . .

Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 6:

Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-schusses für Familie, Senioren, Frauen undJugend

– zu dem Antrag der AbgeordnetenDorothee Bär, Markus Grübel, EckhardPols, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der CDU/CSU sowie der Abgeordne-ten Miriam Gruß, Florian Bernschneider,Dr. Stefan Ruppert, weiterer Abgeordneterund der Fraktion der FDP: Programmezur Bekämpfung von politischem Extre-mismus weiterentwickeln und stärken

– zu dem Antrag der Abgeordneten SönkeRix, Daniela Kolbe (Leipzig), PetraCrone, weiterer Abgeordneter und derFraktion der SPD: Demokratieoffensivegegen Menschenfeindlichkeit – Zivilge-sellschaftliche Arbeit gegen Rechts-extremismus nachhaltig unterstützen

– zu dem Antrag der Abgeordneten UllaJelpke, Jan Korte, Matthias W. Birkwald,weiterer Abgeordneter und der FraktionDIE LINKE: Auseinandersetzung mitRechtsextremismus verstärken – Bun-desprogramme gegen Rechtsextremis-mus ausbauen und verstetigen

– zu dem Antrag der Abgeordneten UllaJelpke, Jan Korte, Diana Golze, weitererAbgeordneter und der Fraktion DIELINKE: Arbeit für Demokratie undMenschenrechte braucht Vertrauen –Keine Verdachtskultur in die Projektegegen Rechtsextremismus tragen

– zu dem Antrag der Abgeordneten MonikaLazar, Sven-Christian Kindler, Tom Koenigs,weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Dauerauf-gabe Demokratiestärkung – Die Aus-einandersetzung mit rassistischen, anti-semitischen und menschenfeindlichenHaltungen gesamtgesellschaftlich ange-hen und die Förderprogramme des Bun-des danach ausrichten

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 V

(Drucksachen 17/4432, 17/3867, 17/3045,17/4664, 17/2482, 17/5435) . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Hermann Kues, Parl. StaatssekretärBMFSFJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Sven-Christian Kindler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Sönke Rix (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Florian Bernschneider (FDP) . . . . . . . . . . . . .

Petra Pau (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Monika Lazar (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dorothee Bär (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . .

Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD) . . . . . . . . . . .

Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP) . . . . . . .

Dorothee Bär (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . .

Dr. Stefan Ruppert (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . .

Eckhard Pols (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 8:

Erste Beratung des von den AbgeordnetenMemet Kilic, Josef Philip Winkler, MarkusKurth, weiteren Abgeordneten und der Frak-tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einge-brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ver-besserung der sozialen Situation vonMenschen, die ohne Aufenthaltsstatus inDeutschland leben(Drucksache 17/6167) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Memet Kilic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Michael Frieser (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . .

Rüdiger Veit (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) . . . . . . . .

Sevim Dağdelen (DIE LINKE) . . . . . . . . . . .

Dr. Peter Tauber (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . .

Rüdiger Veit (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Peter Tauber (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . .

Serkan Tören (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 7:

a) Zweite und dritte Beratung des von derBundesregierung eingebrachten Entwurfseines Gesetzes zur Verbesserung derFeststellung und Anerkennung im Aus-land erworbener Berufsqualifikationen(Drucksachen 17/6260, 17/7218) . . . . . . .

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b) Beschlussempfehlung und Bericht desAusschusses für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzung

– zu dem Antrag der Abgeordneten MarcusWeinberg (Hamburg), Albert Rupprecht(Weiden), Michael Kretschmer, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion derCDU/CSU sowie der AbgeordnetenHeiner Kamp, Patrick Meinhardt,Dr. Martin Neumann (Lausitz), weite-rer Abgeordneter und der Fraktion derFDP: Ausländische Bildungsleistun-gen anerkennen – Fachkräftepoten-tiale ausschöpfen

– zu dem Antrag der AbgeordnetenSwen Schulz (Spandau), Katja Mast,Olaf Scholz, weiterer Abgeordneterund der Fraktion der SPD: Durch Vor-rang für Anerkennung Integrationstärken – Anerkennungsgesetz fürausländische Abschlüsse vorlegen

– zu dem Antrag der AbgeordnetenSevim Dağdelen, Nicole Gohlke,Agnes Alpers, weiterer Abgeordneterund der Fraktion DIE LINKE: Füreine zügige und umfassende Aner-kennung von im Ausland erworbe-nen Qualifikationen

– zu dem Antrag der AbgeordnetenKrista Sager, Priska Hinz (Herborn),Kai Gehring, weiterer Abgeordneterund der Fraktion BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN: Brain Waste stoppen –Anerkennung ausländischer akade-mischer und beruflicher Qualifika-tionen umfassend optimieren

– zu dem Antrag der AbgeordnetenAgnes Alpers, Sevim Dağdelen, Dr.Petra Sitte, weiterer Abgeordneter undder Fraktion DIE LINKE: Anerken-nung ausländischer Bildungs- undBerufsabschlüsse wirksam regeln

– zu dem Antrag der Abgeordneten KristaSager, Memet Kilic, Ekin Deligöz,weiterer Abgeordneter und der Frak-tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: An-erkennung ausländischer Abschlüssetatsächlich voranbringen

(Drucksachen 17/3048, 17/108, 17/117,17/123, 17/6271, 17/6919, 17/7218) . . . .

Tagesordnungspunkt 10:

Antrag der Abgeordneten Gerold Reichenbach,Anette Kramme, Martin Dörmann, weitererAbgeordneter und der Fraktion der SPD: Wei-tere Datenschutzskandale vermeiden – Ge-

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VI Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011

setzentwurf zum effektiven Schutz von Be-schäftigtendaten vorlegen(Drucksache 17/7176) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 11:

Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-schusses für Umwelt, Naturschutz und Reak-torsicherheit zu der Unterrichtung durch denParlamentarischen Beirat für nachhaltige Ent-wicklung: Bericht des ParlamentarischenBeirats für nachhaltige Entwicklung zumIndikatorenbericht 2010 des StatistischenBundesamtes – und – Erwartungen an denFortschrittsbericht 2012 zur nationalenNachhaltigkeitsstrategie der Bundesregie-rung(Drucksachen 17/3788, 17/6029) . . . . . . . . . .

in Verbindung mit

Zusatztagesordnungspunkt 4:

Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDPund BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: VN-Kon-ferenz Rio+20: Nachhaltigkeit global um-setzen(Drucksache 17/7182) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 12:

Antrag der Abgeordneten Michael Groß, UweBeckmeyer, Sören Bartol, weiterer Abgeord-neter und der Fraktion der SPD: EU-Weiß-buch Verkehr – Neuausrichtung der inte-grierten Verkehrspolitik in Deutschlandund in der Europäischen Union nutzen(Drucksache 17/7177) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 13:

Zweite und dritte Beratung des von der Bun-desregierung eingebrachten Entwurfs einesGesetzes über den Rechtsschutz bei über-langen Gerichtsverfahren und strafrechtli-chen Ermittlungsverfahren(Drucksachen 17/3802, 17/7217) . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 14:

Antrag der Abgeordneten Alexander Ulrich,Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, weitererAbgeordneter und der Fraktion DIE LINKE:Eine Europäische Gemeinschaft für dieFörderung erneuerbarer Energien grün-den – EURATOM auflösen(Drucksache 17/6151) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Tagesordnungspunkt 15:

a) Erste Beratung des von der Bundesregie-rung eingebrachten Entwurfs eines Geset-zes zur Stärkung der Finanzkraft derKommunen(Drucksachen 17/7141, 17/7171) . . . . . . .

b) Antrag der Abgeordneten Katrin Kunert,Dr. Dietmar Bartsch, Diana Golze, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKE: Wer bestellt, bezahlt – Konne-xität zugunsten der Kommunen imGrundgesetz verankern(Drucksache 17/6491) . . . . . . . . . . . . . . .

c) Antrag der Abgeordneten Britta Haßelmann,Katja Dörner, Hans-Josef Fell, weitererAbgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN: Gemeindefinanz-kommission gescheitert – Jetzt finanz-schwache Kommunen – ohne Sozialab-bau – nachhaltig aus der Schuldenspiralebefreien(Drucksache 17/7189) . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 16:

Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-schusses für Menschenrechte und HumanitäreHilfe zu dem Antrag der Abgeordneten TomKoenigs, Volker Beck (Köln), MarieluiseBeck (Bremen), weiterer Abgeordneter undder Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:Seenotrettung im Mittelmeer konsequentdurchsetzen und verbessern(Drucksachen 17/6467, 17/7174) . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 17:

Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-schusses für Umwelt, Naturschutz und Reak-torsicherheit zu der Unterrichtung: Vorschlagfür eine Richtlinie des Europäischen Parla-ments und des Rates zur Beherrschung derGefahren bei schweren Unfällen mit gefähr-lichen Stoffen (inkl. 18257/10 ADD 1 und18257/10 ADD 2) (ADD 1 in Englisch) –KOM(2010) 781 endg.; Ratsdok. 18257/10(Drucksachen 17/4598 Nr. A.20, 17/5891) . .

Dr. Michael Paul (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . .

Ute Vogt (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Lutz Knopek (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Ralph Lenkert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . .

Dorothea Steiner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 VII

Tagesordnungspunkt 18:

Erste Beratung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zurUnterstützung der Fachkräftegewinnung imBund und zur Änderung weiterer dienst-rechtlicher Vorschriften(Drucksache 17/7142) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Armin Schuster (Weil am Rhein) (CDU/CSU)

Michael Hartmann (Wackernheim) (SPD) . . .

Dr. Stefan Ruppert (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . .

Frank Tempel (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 19:

Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-schusses für Menschenrechte und HumanitäreHilfe zu dem Antrag der Abgeordneten KatrinWerner, Jan van Aken, Christine Buchholz,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKE: Menschenrechte und Friedenspro-zess in Sri Lanka fördern(Drucksachen 17/2417, 17/4699) . . . . . . . . . .

Jürgen Klimke (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . .

Angelika Graf (Rosenheim) (SPD) . . . . . . . . .

Serkan Tören (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Katrin Werner (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . .

Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 20:

Zweite und dritte Beratung des von der Bun-desregierung eingebrachten Entwurfs einesNeunten Gesetzes zur Änderung des Bun-desvertriebenengesetzes(Drucksachen 17/5515, 17/7178) . . . . . . . . . .

Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU) . . . . .

Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD) . . . . . . . . . . .

Serkan Tören (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Ulla Jelpke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . .

Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Christoph Bergner, Parl. Staatssekretär BMI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 21:

Antrag der Abgeordneten Dr. Konstantin vonNotz, Krista Sager, Volker Beck (Köln), wei-

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terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN: Förderung vonOpen Access im Wissenschaftsbereich undfreier Zugang zu den Resultaten öffentlichgeförderter Forschung(Drucksache 17/7031) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Ansgar Heveling (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . .

Tankred Schipanski (CDU/CSU) . . . . . . . . . .

René Röspel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Manuel Höferlin (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Petra Sitte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . .

Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 22:

Erste Beratung des vom Bundesrat einge-brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ein-führung von Kammern für internationaleHandelssachen (KfiHG)(Drucksache 17/2163) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Jan-Marco Luczak (CDU/CSU) . . . . . . . .

Burkhard Lischka (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . .

Marco Buschmann (FDP) . . . . . . . . . . . . . . .

Jens Petermann (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . .

Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 23:

Antrag der Abgeordneten Matthias W. Birkwald,Diana Golze, Dr. Martina Bunge, weitererAbgeordneter und der Fraktion DIE LINKE:Die finanzielle Deckelung von Reha-Leis-tungen in der gesetzlichen Rentenversiche-rung aufheben – Reha am Bedarf ausrich-ten(Drucksache 17/6914) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) . . . .

Anton Schaaf (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . . .

Matthias W. Birkwald (DIE LINKE) . . . . . . .

Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 24:

Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-schusses für Familie, Senioren, Frauen undJugend zu dem Antrag der AbgeordnetenDorothee Bär, Markus Grübel, Michaela Noll,

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VIII Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011

weiterer Abgeordneter und der Fraktion derCDU/CSU sowie der Abgeordneten MiriamGruß, Nicole Bracht-Bendt, Sibylle Laurischk,weiterer Abgeordneter und der Fraktion derFDP: Neue Perspektiven für Jungen undMänner(Drucksachen 17/5494, 17/7088) . . . . . . . . . .

Dorothee Bär (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . .

Michaela Noll (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . .

Stefan Schwartze (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Marianne Schieder (Schwandorf) (SPD) . . . .

Miriam Gruß (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Yvonne Ploetz (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . .

Till Seiler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . .

Tagesordnungspunkt 25:

Antrag der Abgeordneten Katja Kipping,Diana Golze, Matthias W. Birkwald, weitererAbgeordneter und der Fraktion DIE LINKE:Existenzsicherung von Stiefkindern im Leis-tungsbezug des SGB II und des SGB XII ga-rantieren(Drucksache 17/7029) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Peter Tauber (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . .

Paul Lehrieder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . .

Angelika Krüger-Leißner (SPD) . . . . . . . . . . .

Pascal Kober (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Katja Kipping (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . .

Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 26:

Erste Beratung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zurOptimierung der Geldwäscheprävention(Drucksache 17/6804) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Peter Aumer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . .

Martin Gerster (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Björn Sänger (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Richard Pitterle (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . .

Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Hartmut Koschyk, Parl. Staatssekretär BMF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Tagesordnungspunkt 27:

Zweite und dritte Beratung des von der Bun-desregierung eingebrachten Entwurfs einesGesetzes zur Änderung des Beherber-gungsstatistikgesetzes und des Handelssta-tistikgesetzes(Drucksachen 17/6851, 17/7200) . . . . . . . . . .

Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU) . . . . . . . . .

Doris Barnett (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Hans-Joachim Hacker (SPD) . . . . . . . . . . . .

Gisela Piltz (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Michael Schlecht (DIE LINKE) . . . . . . . . . . .

Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Anlage 1

Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . .

Anlage 2

Erklärungen nach § 31 GO zur namentlichenAbstimmung über den Entwurf eines Geset-zes zur Änderung des Gesetzes zur Über-nahme von Gewährleistungen im Rahmen ei-nes europäischen Stabilisierungsmechanismus(Tagesordnungspunkt 3 a)

Herbert Behrens (DIE LINKE) . . . . . . . . . . .

Veronika Bellmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . .

Karin Binder (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . .

Nicole Bracht-Bendt (FDP) . . . . . . . . . . . . . .

Klaus Brähmig (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . .

Michael Brand (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . .

Marco Bülow (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) . . . . . . . .

Marco Buschmann (FDP) . . . . . . . . . . . . . . .

Sylvia Canel (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Peter Danckert (SPD) . . . . . . . . . . . . . . .

Reiner Deutschmann (FDP) . . . . . . . . . . . . .

Thomas Dörflinger (CDU/CSU) . . . . . . . . . .

Werner Dreibus (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . .

Alexander Funk (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . .

Dr. Thomas Gebhart (CDU/CSU) . . . . . . . . .

Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) . . . . . . . . . .

Nicole Gohlke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . .

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 IX

Josef Göppel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) . . . . . . .

Heinz-Peter Haustein (FDP) . . . . . . . . . . . . .

Dr. Matthias Heider (CDU/CSU) . . . . . . . . . .

Christian Hirte (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . .

Ulla Jelpke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . .

Katja Kipping (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . .

Harald Koch (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . .

Manfred Kolbe (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . .

Gunther Krichbaum (CDU/CSU) . . . . . . . . . .

Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP) . . . . . . . . .

Ralph Lenkert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Carsten Linnemann (CDU/CSU) . . . . . . .

Ulla Lötzer (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . .

Dorothee Menzner (DIE LINKE) . . . . . . . . . .

Cornelia Möhring (DIE LINKE) . . . . . . . . . .

Niema Movassat (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . .

Jan Mücke (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Burkhardt Müller-Sönksen (FDP) . . . . . . . . .

Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) . . . . . . . . . . .

Jens Petermann (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . .

Richard Pitterle (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . .

Yvonne Ploetz (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . .

Ingrid Remmers (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . .

Swen Schulz (Spandau) (SPD) . . . . . . . . . . . .

Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU) . . . . . . . . .

Raju Sharma (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . .

Thomas Silberhorn (CDU/CSU) . . . . . . . . . .

Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Sabine Stüber (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . .

Alexander Süßmair (DIE LINKE) . . . . . . . . .

Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE) . . . . . . .

Alexander Ulrich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . .

Arnold Vaatz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . .

Johanna Voß (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . .

Marco Wanderwitz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . .

Harald Weinberg (DIE LINKE) . . . . . . . . . . .

15422 A

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15423 B

15425 A

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15426 B

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15427 A

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15435 A

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15436 A

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15439 B

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15440 A

15440 C

15441 A

15441 D

15442 D

Anlage 3

Erklärung nach § 31 GO der AbgeordnetenDr. Axel Troost und Dr. Barbara Höll (DIELINKE): zur namentlichen Abstimmung überden Entwurf eines Gesetzes zur Änderung desGesetzes zur Übernahme von Gewährleistun-gen im Rahmen eines europäischen Stabilisie-rungsmechanismus (Tagesordnungspunkt 3 a)

Anlage 4

Erklärung nach § 31 GO der AbgeordnetenDr. h. c. Jürgen Koppelin, Dr. Lutz Knopekund Joachim Günther (Plauen) (alle FDP) zurnamentlichen Abstimmung über den Entwurfeines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zurÜbernahme von Gewährleistungen im Rah-men eines europäischen Stabilisierungsme-chanismus (Tagesordnungspunkt 3 a) . . . . . .

Anlage 5

Erklärung nach § 31 GO der AbgeordnetenWerner Schieder (Weiden), Klaus Barthel, Dr.Bärbel Kofler, Daniela Kolbe (Leipzig), HildeMattheis, René Röspel und Rüdiger Veit (alleSPD) zur namentlichen Abstimmung über denEntwurf eines Gesetzes zur Änderung des Ge-setzes zur Übernahme von Gewährleistungenim Rahmen eines europäischen Stabilisie-rungsmechanismus (Tagesordnungspunkt 3 a)

Anlage 6

Erklärung nach § 31 GO des AbgeordnetenVolker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN) zur Abstimmung über den Entwurf ei-nes Gesetzes zur Änderung des Grundgeset-zes und zur Reformierung des Wahlrechts(Tagesordnungspunkt 5) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Anlage 7

Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratungdes Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserungder Feststellung und Anerkennung im Aus-land erworbener Berufsqualifikationen (Ta-gesordnungspunkt 7)

Marcus Weinberg (Hamburg) (CDU/CSU) . .

Swen Schulz (Spandau) (SPD) . . . . . . . . . . . .

Aydan Özoğuz (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Heiner Kamp (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Sevim Dağdelen (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . .

15443 B

15444 A

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0000 A15446 D

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X Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011

Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Annette Schavan, Bundesministerin BMBF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Anlage 8

Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratungdes Antrags: Weitere Datenschutzskandalevermeiden – Gesetzentwurf zum effektivenSchutz von Beschäftigtendaten vorlegen (Ta-gesordnungspunkt 10)

Michael Frieser (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . .

Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU) . . . .

Josip Juratovic (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Gerold Reichenbach (SPD) . . . . . . . . . . . . . .

Gisela Piltz (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Petra Pau (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Anlage 9

Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung:

– Bericht des Parlamentarischen Beirats fürnachhaltige Entwicklung zum Indikato-renbericht 2010 des Statistischen Bundes-amtes – und – Erwartungen an den Fort-schrittsbericht 2012 zur nationalenNachhaltigkeitsstrategie der Bundesregie-rung

– Antrag: VN-Konferenz Rio+20 – Nach-haltigkeit global umsetzen

(Tagesordnungspunkt 11 und Zusatztagesord-nungspunkt 4)

Marcus Weinberg (Hamburg) (CDU/CSU) . .

Dr. Matthias Miersch (SPD) . . . . . . . . . . . . . .

Michael Kauch (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Ralph Lenkert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Anlage 10

Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratungdes Antrags: EU-Weißbuch Verkehr – Neu-ausrichtung der integrierten Verkehrspolitik inDeutschland und in der Europäischen Unionnutzen (Tagesordnungspunkt 12)

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Veronika Bellmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . .

Karl Holmeier (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . .

Michael Groß (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Oliver Luksic (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Sabine Leidig (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Anlage 11

Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratungdes Entwurfs eines Gesetzes über den Rechts-schutz bei überlangen Gerichtsverfahren undstrafrechtlichen Ermittlungsverfahren (Tages-ordnungspunkt 13)

Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU/CSU) .

Dr. Edgar Franke (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . .

Christian Ahrendt (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . .

Jens Petermann (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . .

Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Anlage 12

Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratungdes Antrags: Eine Europäische Gemeinschaftfür die Förderung erneuerbarer Energiengründen – EURATOM auflösen (Tagesord-nungspunkt 14)

Roderich Kiesewetter (CDU/CSU) . . . . . . . .

Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) . . . . . . . . . . .

Marco Bülow (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

René Röspel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Heinz Golombeck (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . .

Alexander Ulrich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . .

Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Anlage 13

Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung:

– Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung derFinanzkraft der Kommunen

– Antrag: Wer bestellt, bezahlt – Konnexitätzugunsten der Kommunen im Grundge-setz verankern

– Antrag: Gemeindefinanzkommission ge-scheitert – Jetzt finanzschwache Kommu-

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 XI

nen – ohne Sozialabbau – nachhaltig ausder Schuldenspirale befreien

(Tagesordnungspunkt 15 a bis c)

Peter Götz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Gabriele Hiller-Ohm (SPD) . . . . . . . . . . . . . .

Kirsten Lühmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Pascal Kober (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Katrin Kunert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . .

Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Ralf Brauksiepe, Parl. StaatssekretärBMAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Anlage 14

Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratungder Beschlussempfehlung und des Berichts:Seenotrettung im Mittelmeer konsequentdurchsetzen und verbessern (Tagesordnungs-punkt 16)

Erika Steinbach (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . .

Wolfgang Gunkel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Serkan Tören (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Annette Groth (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . .

Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 15203

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130. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011

Beginn: 9.01 Uhr

Präsident Dr. Norbert Lammert:Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichbegrüße Sie herzlich zur 130. Sitzung des Bundestages.Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundeneTagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufge-führten Punkte zu erweitern:

ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionender CDU/CSU und FDP:

Haltung der Bundesregierung zur Frage einerUmlenkung von Verkehrsinvestitionsmittelndes Bundes für die Autobahn A 100 auf andereVerkehrsprojekte des Bundes in Berlin(siehe 129. Sitzung)

ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-fahren

a) Beratung des Antrags der AbgeordnetenOmid Nouripour, Ute Koczy, Undine Kurth(Quedlinburg), weiterer Abgeordneter und derFraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Naturlandschaft Senne schützen – Militäri-sche Nutzung des Truppenübungsplatzesnach Abzug der Briten beenden

– Drucksache 17/4555 –Überweisungsvorschlag:Verteidigungsausschuss (f)Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus

b) Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Harald Terpe, Birgitt Bender, MariaKlein-Schmeink, weiterer Abgeordneter undder Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Wirksame Strukturreformen für eine pa-tientenorientierte Gesundheitsversorgungauf den Weg bringen

– Drucksache 17/7190 –

Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit (f)Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

ZP 3 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion derSPD:

Steuerabkommen mit der Schweiz und damitzusammenhängende Fragen der Steuergerech-tigkeit

ZP 4 Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

VN-Konferenz Rio+20: Nachhaltigkeit globalumsetzen

– Drucksache 17/7182 –

Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so-weit erforderlich, abgewichen werden.

Außerdem ist vorgesehen, die Tagesordnungspunk-te 7 und 9 zu tauschen. Morgen sollen der Tagesord-nungspunkt 31 abgesetzt und der Tagesordnungs-punkt 33 an diese Stelle vorgezogen werden.

Schließlich mache ich auf eine nachträgliche Aus-schussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste auf-merksam:

Der am 12. Mai 2011 überwiesene nachfolgende Ge-setzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Verkehr,Bau und Stadtentwicklung (15. Ausschuss) zur Mitbe-ratung überwiesen werden:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-rung telekommunikationsrechtlicher Regelun-gen

– Drucksache 17/5707 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und VerbraucherschutzAusschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Kultur und Medien

Redetext

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15204 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011

(A) (C)

(D)(B)

Präsident Dr. Norbert Lammert

Ich frage Sie, ob Sie mit diesen Veränderungen ein-verstanden sind. – Das ist offensichtlich der Fall. Ichhöre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich rufe unseren Tagesordnungspunkt 3 a und b auf:

a) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio-nen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Ent-wurfs eines Gesetzes zur Änderung des Geset-zes zur Übernahme von Gewährleistungen imRahmen eines europäischen Stabilisierungs-mechanismus

– Drucksache 17/6916 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Haushalts-ausschusses (8. Ausschuss)

– Drucksachen 17/7067, 17/7130 –

Berichterstattung:Abgeordnete Norbert BarthleCarsten Schneider (Erfurt)Otto FrickeRoland ClausPriska Hinz (Herborn)

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss)zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU undFDP

Parlamentsrechte im Rahmen zukünftigereuropäischer Stabilisierungsmaßnahmen si-chern und stärken

– Drucksachen 17/6945, 17/7067, 17/7130 –

Berichterstattung: Abgeordnete Norbert BarthleCarsten Schneider (Erfurt)Otto FrickeRoland ClausPriska Hinz (Herborn)

Zu dem Gesetzentwurf, über den wir später nament-lich abstimmen werden, liegen ein Änderungsantrag derFraktion Die Linke, ein Entschließungsantrag der Frak-tion der SPD, zwei Entschließungsanträge der FraktionDie Linke und ein Entschließungsantrag der FraktionBündnis 90/Die Grünen vor.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache zwei Stunden vorgesehen. – Auch da-rüber scheint es keine Meinungsverschiedenheiten zugeben, sodass wir so verfahren können.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir entscheiden un-ter diesem jetzt aufgerufenen Tagesordnungspunkt überein Projekt, das nicht wenige für das wichtigste einzelneGesetzgebungsvorhaben dieser Legislaturperiode halten.Ihm kommt tatsächlich überragende Bedeutung zu, so-wohl mit Blick auf die wirtschaftlichen und finanziellenGrößenordnungen als auch mit Blick auf die exemplari-sche neue Regelung parlamentarischer Mitwirkung beieinem Vorgang, der bislang typischerweise in die exeku-tive Zuständigkeit fiel.

Darüber ist nun wochenlang in den verschiedenstenGremien des Bundestages und in den Fraktionen verhan-delt worden. Es wird nicht wirklich überraschen, dasssich viele Kolleginnen und Kollegen mit dieser Ent-scheidung sehr schwergetan haben. Das wird sicher auchin der Diskussion deutlich werden. Ich weise deswegenschon jetzt darauf hin, dass über diese gerade vereinbarteRedezeit hinaus einzelne Kolleginnen und Kollegen, diedeutlich machen wollen, warum sie für sich am Ende zueiner anderen Abwägung gekommen sind, als es dieüberwiegende Auffassung der jeweiligen Fraktion ist,das während dieser Debatte tun können. Damit folgenwir sowohl unserem Selbstverständnis wie den Regelun-gen, die wir in unserer Geschäftsordnung dafür vorgese-hen haben.

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu-nächst dem Kollegen Volker Kauder für die CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Volker Kauder (CDU/CSU):Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!

Heute fällen wir im Deutschen Bundestag eine wichtigeEntscheidung, eine wichtige Entscheidung für die Zu-kunft unseres Landes und für die Zukunft Europas. Wirfällen nicht nur eine inhaltliche Entscheidung, sondern– der Präsident hat es angesprochen – es findet heuteauch ein kleiner, aber doch sehr bedeutender Paradig-menwechsel statt. Man kann sagen: Von einem Europader nationalen Regierungen, die in den Räten beieinan-dersitzen, sind wir auf dem Weg zu einem Europa derParlamente. Eine solche Parlamentsbeteiligung, wie wirsie heute beschließen, hat es bei Aufgaben, die zunächsteinmal rein als Regierungshandeln gesehen wurden, imDeutschen Bundestag noch nie gegeben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Selbst über das, was wir im Zusammenhang mit demEinsatz der Bundeswehr beim Parlamentsbeteiligungs-gesetz gemacht haben, gehen wir heute weit hinaus. Bis-her lief Parlamentsbeteiligung immer so ab: Die Regie-rung hat einen Antrag vorgelegt, und wir haben dazu Jaoder Nein gesagt, oder die Regierung hat verhandelt unduns Ergebnisse mitgeteilt. Heute beschließen wir, dasswir zunächst darüber entscheiden, wie sich die Vertreterunserer Regierung in den jeweiligen Gremien zu verhal-ten haben. Das ist etwas ganz Neues. Es stärkt dieRechte des Parlaments und geht weit über das hinaus,was das Bundesverfassungsgericht von uns verlangt hat.Das heißt, die ganz bedeutenden Fragen „Wer kann untereinen Schutzschirm kommen?“, „Wie sieht Hilfe aus?“und „Welche Bedingungen verlangen wir dafür, dass wirHilfe gewähren?“ werden in Zukunft hier im DeutschenBundestag entschieden, und das ist auch richtig so.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Klar ist, dass es für uns nicht einfacher wird. Wirmüssen die Themen im Deutschen Bundestag inhaltlichberaten. Es kann sein, dass wir sehr schnell entscheidenmüssen; denn bestimmte Entscheidungen lassen nicht

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 15205

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(D)(B)

Volker Kauder

auf sich warten. Dies alles wissen wir. Dazu sind wir be-reit.

Ich möchte sagen: Wir wissen sehr wohl, dassschnelle Entscheidungen intensivere Beratungen erfor-dern. Aber eines ist klar: Eine Beratung, die mehrereMonate dauert, führt nicht immer zu besseren Ergebnis-sen als eine schnellere Beratung, wenn sie intensivdurchgeführt wurde. Ich kann nur sagen: Das, was wirheute vorlegen, ist das Ergebnis eines intensiven Bera-tungsprozesses,

(Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Das stimmt!)

sowohl was die Beteiligungsrechte als auch was die in-haltliche Seite anbelangt. Ich möchte auch feststellen: Eswar ein Prozess, in dem jeder die Gelegenheit und Mög-lichkeit hatte, sich einzubringen, seine Fragen zu stellenund sich zu beteiligen. Es war ein guter Gesetzgebungs-prozess, ein gutes Gesetzgebungsverfahren. Wir fühlenuns von niemandem überfahren.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Im Übrigen: Zu manch einer Äußerung, die ich in die-sen Tagen gelesen habe – es hieß zum Beispiel: Regie-rung überfährt Parlament –, und zu all dem, was ich sohöre, kann ich nur sagen: Es sollte sich bitte niemandtäuschen. Wir sind selbstbewusst genug, um unsereRechte wahrzunehmen. Deswegen haben wir auch gro-ßen Wert darauf gelegt, dass nicht die Regierung uns ei-nen Vorschlag zur Parlamentsbeteiligung macht, sonderndass wir dies selber tun. Diesen Anspruch haben wir:Wir sind ein selbstbewusstes Parlament und nehmen un-sere Rechte wahr, so wie wir es für richtig und notwen-dig erachten, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wenn man sich die Äußerungen mancher Wirtschafts-verbände in den letzten Tagen vor Augen führt, wird klarund deutlich, dass es heute um mehr als nur um die Er-tüchtigung bzw. Erweiterung eines Rettungsschirmes inEuropa geht. Vielmehr geht es hier tatsächlich um unsereZukunft. Es geht um Arbeitsplätze. Es geht um Perspek-tiven, vor allem die der jungen Generation.

Wir haben in unserer Generation, der ersten Nach-kriegsgeneration, Europa als eine große Friedensversi-cherung angesehen, und wir haben damals gesagt: Wirmüssen in Europa zusammenkommen und eng zusam-menarbeiten, damit es in Europa nie wieder kriegerischeAuseinandersetzungen gibt. – Diesen Anspruch, den wirin unserer jungen Generation damals hatten, haben wirerfüllt. Dieses Europa ist ein friedliches Europa und hatdamit die Voraussetzung für Sicherheit und Wohlstandgeschaffen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Dieses Zusammenwachsen in Europa und dieses „Niemehr Krieg in Europa“ waren die existenziellen Voraus-setzungen dafür, dass wir es in Europa zu Wohlstand ge-bracht haben. Die heutige junge Generation wird mitdem Satz „Nie mehr Krieg in Europa“ nur relativ weniganfangen können. Sie wird ihn bestätigen und sagen:

Das ist ja in Ordnung. – Für die jetzige junge Generationbedeutet Europa eine Perspektive und die Möglichkeit,überall in Europa arbeiten, leben und sich ausbilden las-sen zu können. Das heißt, mit diesem Europa können wirim Wettbewerb auf der Welt vorankommen.

Schauen wir uns doch einmal die Situation an. Es gibtgroße starke Zentren in Asien: in China, in Indien. Selbstein starkes Deutschland wäre zu schwach, um einenWettbewerb mit ihnen aufzunehmen. Deswegen habenwir in unserer heutigen Zeit ein existenzielles nationalesInteresse an der Stabilität in Europa und an der Stabilitätdes Euro.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Heute geht es darum, dass wir ein Instrument verbes-sern bzw. schärfen, das wir brauchen, um Probleme inEuropa lösen zu können. Um dies auch den Menschen zusagen, die uns heute zuhören: Es geht nicht um Grie-chenland und um die Auszahlung von Geld an Griechen-land,

(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Ein wahres Wort!)

sondern es geht schlicht und ergreifend darum, dass wireinen Schutzschirm spannen können, dass wir denjeni-gen, die Schwierigkeiten haben bzw. in Schwierigkeitengeraten sind, unterstützend helfen und dass wir dafürsorgen, dass andere nicht angesteckt werden. Dies ist inunserem deutschen nationalen Interesse.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Wir sorgen vor, damit wir mit unserer Wirtschafts-kraft in keiner Situation unter Druck kommen. Bei man-chen Äußerungen, wie zum Beispiel „Was lädt Deutsch-land sich hier auf?“, kann ich nur sagen: Wir sorgendafür, dass wir unsere nationale Produktionskraft erhal-ten können. Wir sind in Europa noch immer die Produk-tionsnation und müssen dafür sorgen, dass das auch sobleibt und dass unser Mittelstand ausreichend mit Kapi-tal versorgt werden kann. Deswegen haben wir ein natio-nales Interesse an der Stabilität unserer Banken.

Natürlich ist dies nur ein erster Schritt, und natürlichhaben all diejenigen recht, die sagen: Wir müssen aberauch Instrumente finden, mit denen es uns möglich ist,Länder, die in Schwierigkeiten gekommen sind, zu re-strukturieren und ihnen eine Perspektive zu geben. – Ge-nau dies haben wir in einem weiteren Schritt vor, näm-lich bei dem sogenannten ESM, dem EuropäischenStabilitätsmechanismus. Wir werden dafür sorgen, dassdie Privaten noch stärker daran beteiligt werden; wirwerden Instrumente dafür schaffen, dass Länder, die inSchwierigkeiten gekommen sind, mit Perspektive re-strukturiert werden können, und wir werden dafür sor-gen, dass auch Kontrollen und Überprüfungen schärferwerden.

Ich habe mich sehr gefreut, dass im EuropäischenParlament einen Tag vor dieser Diskussion heute imDeutschen Bundestag ganz entscheidende und wegwei-sende Dinge vorangebracht wurden, die zu einer schärfe-ren Kontrolle und besseren Struktur führen.

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15206 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011

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Volker Kauder

(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Gegen den Widerstand der Bundesre-gierung! Jetzt freuen Sie sich schon über IhreNiederlagen!)

Dazu kann ich nur sagen: Diejenigen, die behaupten, esbewege sich in Europa nichts zum Positiven, können ei-nen Blick auf das werfen, was gestern im EuropäischenParlament geschehen ist.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wir können unseren Kolleginnen und Kollegen im Euro-päischen Parlament dazu nur gratulieren, dass dies ge-schehen ist.

(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Sie gratulieren ihnen dafür, dass siesich gegen die Bundesregierung durchgesetzthaben!)

– Lieber Herr Trittin, was Sie – das gilt auch für dieSPD – in den letzten Tagen geboten haben, ist schon be-sonders bemerkenswert. Auf bestimmte Anzeigen, diesich hart an der Grenze dessen bewegen, was man sich ineiner Demokratie noch erlauben kann, will ich gar nichtzu sprechen kommen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Mit Steuergeldern, die für Fraktionsarbeit vorgesehensind, solche Anzeigen zu schalten, ist nicht in Ordnung,liebe Kolleginnen und Kollegen, um das mal klar zu sa-gen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –Sigmar Gabriel [SPD]: Endlich reden Sie malmit uns! Gott sei Dank haben Sie sich in IhrerRede jetzt mal an uns gewandt!)

Herr Kollege Trittin, es ist durchaus richtig, wenn wirjetzt sagen: In einer solchen Situation sind wir uns unse-rer Verantwortung bewusst. – Das wird auch von Ihnenund von der SPD – wenn Sie heute zustimmen – so for-muliert. Aber so zu tun, als ob Sie dabei nie ein Erkennt-nisproblem gehabt hätten, ist schon bemerkenswert. Beiden Euro-Bonds rotierten Sie herum: Zunächst einmalhat Herr Steinbrück im Jahr 2010 gesagt, dass es sie aufgar keinen Fall geben dürfe. Dann hat er gesagt: Ja. – Siehaben auch mitgemacht. Ja, nein, ja. – Ich kann nur sa-gen: Bei uns war die Position klar: keine Vergemein-schaftung von Schulden. Wir waren immer gegen Euro-Bonds.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – La-chen bei der SPD, der LINKEN und demBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

– Wenn man erwischt wird, wie man rumeiert, nutztauch ein doofes Geschrei nichts, meine sehr verehrtenDamen und Herren auf der linken Seite des Hauses.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wir werden heute einen wichtigen Beitrag für unserLand, für die Zukunft Europas und für die Stabilität desEuro leisten. Wir werden heute, abgestimmt mit demDeutschen Bundestag, einen Beitrag leisten, der unsererRegierung bei den schwierigen Verhandlungen, die auf

europäischer Ebene stattfinden werden, den Rückenstärkt. Heute werden wir sicherlich eine breite Zustim-mung im Deutschen Bundestag, aber auch in unsererKoalition haben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Es gibt Kolleginnen und Kollegen, die heute eine andereAuffassung haben.

(Michael Schlecht [DIE LINKE]: Das ist auch gut so!)

Aber wir werden zeigen, dass diese Koalition hand-lungsfähig ist und die Probleme, die auf sie zukommen,sachgerecht lösen kann.

(Sigmar Gabriel [SPD]: Und die Sie sich sel-ber schaffen, auch?)

Wir werden zeigen: Deutschland ist bei dieser Koalitionin guten Händen, Europa auch.

(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Präsident Dr. Norbert Lammert:Nächster Redner ist der Kollege Peer Steinbrück für

die SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD)

Peer Steinbrück (SPD):Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Da-

men und Herren! Gegen den ersten Teil Ihrer Rede, HerrKauder, habe ich nicht viele Einwände. Ich hatte nur denEindruck, dass das eine Rede war, die eher auf die Frak-tionsebene – in den Fraktionssaal der CDU/CSU – ge-hörte.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Den zweiten Teil mit dem leichten Florettangriff ge-gen meine Fraktion vergessen wir schnell. Bezogen aufmeine Einwendungen und meine Position zu den Euro-Bonds haben Sie sich im Datum geirrt. Ich bin vor Aus-bruch der Krise innerhalb der Währungsunion in der Tatgegen Euro-Bonds gewesen, aber nicht mehr in derPhase, als Euro-Bonds gegebenenfalls unter bestimmtenBedingungen, unter einer gewissen Konditionalität – –

(Zurufe von der CDU/CSU und der FDP: Ah!)

– Das ist doch nichts Neues für Sie. Entschuldigen Siebitte. Sie lesen doch meine Interviews genauso wie ichIhre. Also vergessen Sie es! Und ich will mich davonnicht ablenken lassen.

Ich will mit der Bemerkung beginnen, dass wir es,wie ich glaube, gemeinsam in diesem Haus – damitmeine ich das gesamte politische Spektrum – versäumthaben, den Menschen unseres Landes rechtzeitig eineneue Erzählung von und über Europa zu liefern. Statt-dessen haben wir Europa in den vergangenen Jahren inunseren Beiträgen sehr stark reduziert: auf eine Wäh-rungsunion, einen Binnenmarkt, eine Dienstleistungs-richtlinie. Wir haben die Menschen mit finanztechni-

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Peer Steinbrück

schen Begriffen und Abkürzungen überflutet und sindselten in der Lage gewesen, uns selbst und vor allen Din-gen den Bürgerinnen und Bürgern dieses Landes dieKomplexität dessen darzustellen, was in Europa passiert.

Wir haben Europa auf eine intergouvernementale Ver-anstaltung von 26 Männern und Frau reduziert. Wir ha-ben gleichzeitig einer Entwicklung Vorschub geleistet,dass sich die Europäische Kommission in dem einenoder anderen Fall Kompetenzen aneignete, die eigentlichnicht auf ihre Ebene gehörten, sondern in den nachgela-gerten Ebenen sehr viel besser hätten organisiert werdenkönnen. Das fängt bei dem Krümmungsgrad der Salat-gurke an, geht über Regelungen zur Glühbirne bis hin zuEingriffen in den ÖPNV.

(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Das ist doch abgeschafft! Handelsklas-sen sind abgeschafft!)

Jacques Delors hat darauf hingewiesen, dass wir überdiese Debatten andere Themen verdunkelt haben. Überdie Beschäftigung mit der Währungskrise haben wir dieThemen verdunkelt, welches Verhältnis Europa zu denUSA hat, zu Russland hat, wie ein außen- und sicher-heitspolitisches Konzept aussieht, wie das soziale Eu-ropa aussieht. Vor diesem Hintergrund ist es nicht ver-wunderlich, dass heute viele Menschen eher eingewisses Unverständnis gegenüber dem, was auf der eu-ropäischen Ebene passiert, ja Skepsis, gegebenenfallssogar gewisse Ressentiments haben. Einige dieser Res-sentiments werden entweder durch naive oder unbe-dachte Äußerungen, auch aus dem Regierungslager, ehergeschürt als abgebaut.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Also müssen wir über Europa eine Neuerzählung ent-wickeln. Diese Neuerzählung beginnt dort, wo HerrKauder im ersten Teil seiner Rede gewesen ist. DieseNeuerzählung über Europa beginnt in einer kleinen Kir-che in Cornwall, in einer kleinen Kirche in der Bretagneoder in einer kleinen Kirche in der Altmark, wo man Ge-denktafeln sieht – das sage ich insbesondere denjenigender jüngeren Generation, die uns zuhören –, und zwarmit den Namen der Toten aus den Kriegen von 1914 bis1918 und 1939 bis 1945. Auf diesen Gedenktafeln sinddie Namen von Familien zu lesen, deren Ehemänner undKinder in diesen Kriegen verheizt worden sind.

Das heißt, in einer historischen Rückbetrachtung istdieses Europa die Antwort auf 1945. Es ist nicht deutlichgenug zu machen, dass seit 1945 und danach diejenigen,die mit der europäischen Integration begannen, Schuman,Monnet, De Gasperi, auch Adenauer, in einem privile-gierten – –

(Volker Kauder [CDU/CSU]: Vor allemAdenauer, heißt das! – Weitere Zurufe von derCDU/CSU)

– Sind Sie nicht in der Lage, einem solchen Redebeitrageinigermaßen ruhig zu folgen?

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE])

Wie nervös müssen Sie eigentlich sein, dass Sie eine sol-che Formulierung zum Anlass für Einlassungen neh-men?

(Beifall bei der SPD)

Mit Beginn dieses europäischen Projektes Anfang der50er-Jahre durch die Namen, die ich nannte, bewegenwir uns in einem privilegierten Ausnahmezustand, je-denfalls gemessen an der europäischen Geschichte. Dasist das eine.

Das andere ist, dass dieses Europa die Antwort aufdas 21. Jahrhundert vor dem Hintergrund ist, dass sichglobal ökonomische und politische Machtverhältnisseverändern. Wenn wir die Vorstellung haben, dassDeutschland in Europa in einer Alleinstellung diesenglobalen Veränderungen, den Machtverschiebungen, denneuen Schwergewichten, gewachsen sein könnte, danntäuschen wir uns selber.

Aber Europa ist mehr als das. Europa ist Rechtsstaat-lichkeit, Sozialstaatlichkeit, die Tatsache, dass man dieRegierung verklagen kann. Europa ist Freizügigkeit,Medien- und Pressefreiheit. Europa ist kulturelle Viel-falt. Europa ist so, dass niemand nachts Angst habenmuss, dass jemand an der Tür klingelt und einen abführt.Vor dem Hintergrund dieser Qualitäten, insbesondere derMedien- und Pressefreiheit, ist es umso beschämendergewesen, dass weder die Europäische Kommission nochder Europäische Rat noch die nationalen Parlamente ge-gen die ungarische Pressegesetzgebung so aufgetretensind, wie dies notwendig gewesen wäre.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetender LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

Es bleibt hinzuzufügen, dass es ohne das Einverneh-men und die Zustimmung unserer europäischen Nach-barn keine deutsche Wiedervereinigung gegeben hätte.Es bleibt schließlich auch hinzuzufügen – was Sie ja allewissen –, dass dieses Europa mit einem Bruttosozialpro-dukt von über 12 Billionen Euro und über 500 MillionenMenschen einen ökonomischen Stellenwert hat.

All dies ist Europa. Das ist der Hintergrund – wennSie so wollen: der Überbau – für die heutigen und kom-menden Beschlüsse, an denen wir uns orientieren soll-ten.

Sie, Frau Bundeskanzlerin werden den Vorwurf ertra-gen müssen, dass Sie diesen Hintergrund für unsere Bür-gerinnen und Bürger nicht hinreichend beleuchtet haben.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ein Leitgedanke, eine Perspektive oder eine Strategieauch unter Einschluss eines Planes B oder C ist seit Be-ginn der Krise in der europäischen Währungsunion vorungefähr anderthalb Jahren, im Frühjahr 2010, nicht er-kennbar. Sie haben mindestens lange Zeit versäumt, denBürgerinnen und Bürgern in Deutschland zu erklären,warum und dass die Bundesrepublik Deutschland einenbedeutenden und auch belastenden Beitrag zur Stabili-sierung Europas leisten muss.

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(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Sie haben Europa politisch nach innenpolitischenStimmungslagen und innerparteilichen Rücksichtnah-men betrieben. Sie haben laviert, unglaubwürdige De-mentis abgegeben, mehrfache Volten geschlagen undnach Ihren europäischen Arien in Brüssel manchmalauch deutschtümelnde Volkslieder, nicht nur im Sauer-land, gesungen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Die Widersprüche innerhalb des Regierungslagersund innerhalb Ihrer eigenen Fraktion sind offensichtlich.Es sind nicht nur Widersprüche; es sind klaffende Risse.

Ihr Satz, Frau Merkel, „Scheitert der Euro, dannscheitert Europa“ ist ja nicht falsch; denn uns allen istbewusst, dass in dem Fall, dass der Euro scheitert, auto-matisch auch die europäische Integration um zwei Jahr-zehnte zurückgeworfen wird und einer monetären Re-nationalisierung selbstverständlich auch eine politischeRenationalisierung zulasten Europas folgt.

Dieser Satz von Ihnen ist also richtig. Nur: Der CSU-Vorsitzende Horst Seehofer sieht diesen Zusammenhangim Gegensatz zu Ihnen nicht. Er glaubt auch nicht, dasseine Stärkung der europäischen Institutionen mit zusätz-lichen Kompetenzen etwas zur Lösung der aktuellenKrise beitragen könnte. Tatsächlich? Sie und wir redenaber mit Blick auf die rigidere Koordinierung der Wirt-schafts- und Fiskalpolitik, auf eine makroökonomischeÜberwachung, auf den Abbau der Staatsverschuldungund auf mögliche Sanktionen über nichts anderes alsüber eine Stärkung der europäischen Institutionen undihrer Kompetenzen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Will sagen: In welchem Orbit zieht Herr Seehofer ei-gentlich seine Umlaufbahnen?

(Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: In einemkleineren sicherlich! – Jürgen Trittin [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Zwischen Chiemseeund Starnberger See!)

Wie passt das zu Ihrer Position?

Ich habe übrigens gestern in München erfahren, dassHerr Seehofer zusammen mit Frau Stamm, der Präsiden-tin des Bayerischen Landtages, Anfang dieser Wocheeine Pressekonferenz gegeben hat, in der sie signalisier-ten, heute in der Abstimmung dem Gesetzentwurf zuzu-stimmen, aber ab morgen erklären zu wollen, warum dasnicht so gemeint sei. Warten wir also die morgigen Er-klärungen ab.

Ihre Medizin, Frau Bundeskanzlerin, Zeit zu kaufen,indem mit Hilfskrediten der Kapitaldienst Griechenlandsund anderer finanziert wird, und Griechenland paralleldazu einer radikalen Diätkur zu unterziehen, mit der dasLand dann sehen soll, wie es wieder auf die Beinekommt, ist gescheitert. Der erste Teil stellt sich als Pla-

cebo dar, und der zweite Teil, die Diätkur, als eine le-bensgefährliche Angelegenheit für Griechenland.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Der Ansatz, Zeit zu kaufen, ist übrigens auch deshalbgescheitert, weil die Zeiten immer schlechter gewordensind, seit Sie vor anderthalb Jahren damit begonnen ha-ben. An die doppelte Medizin glauben übrigens wederdie Märkte noch die Menschen, weder die Menschen beiuns noch die Menschen in Griechenland. Es ist an derZeit, dass die Politik die Bürger auch nicht mehr glaubenzu machen versucht, dass dies eine Lösung sei und dassdiese Strategie verfangen könnte.

Griechenland wird aus eigener Kraft auf absehbareZeit nicht mehr zu einigermaßen verträglichen Konditio-nen an die Kapitalmärkte zurückkehren können. Das istdie nackte Realität.

Die bloße Finanzierung seines Kapitaldienstes ändertrein gar nichts an der fundamentalökonomischen Vo-raussetzung dafür, jemals wieder Wind unter die Flügelzu bekommen, und der Rausschmiss aus der Währungs-union, der übrigens verfahrensrechtlich gar nicht vorge-sehen ist, auch nicht.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Eine Diät à la Brüning’scher Notverordnungen, über dieder Wirtschaftsmotor mit massiven Folgen für das grie-chische Wirtschaftswachstum und den Arbeitsmarkt ab-gewürgt wird, bringt den Patienten endgültig auf das La-ger und nicht mehr auf die Beine.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Die Ertüchtigung, die Mandatserweiterung des tem-porären Rettungsschirms mit dem Kürzel EFSF und dieUmsetzung des gestern in der Tat lobenswerterweisevom Europäischen Parlament verabschiedeten soge-nannten Sixpacks, also verschiedener Vorschläge der Eu-ropäischen Kommission, sind ein richtiger Schritt. Aufdie Darstellung von Einzelheiten verzichte ich in der An-nahme, dass uns allen das geläufig ist.

(Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Die An-nahme ist falsch!)

Die SPD wird daher unbenommen ihrer grundsätzli-chen Kritik am Krisenmanagement der Bundesregierungaus einer übergeordneten Verantwortung für die Geset-zesänderung stimmen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Die mit dieser Gesetzesänderung verbundene Einigungüber die Beteiligungsrechte des Bundestages im Vorfeldvon Entscheidungen des Managements über diesenFonds tragen wir ebenfalls mit. Diese Rechte stellen eineStärkung der parlamentarischen Beteiligung dar, wie sieden Vorgaben der beiden Urteile des Bundesverfas-sungsgerichts entspricht.

Richtig ist allerdings auch: Wir stimmen heute übernotwendige Schritte ab, die dazu dienen, die Europäi-

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Peer Steinbrück

sche Währungsunion zu stabilisieren. Hinreichend sindsie nicht.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ich will Ihnen die Reden und die Zitate von Frank-Walter Steinmeier, Sigmar Gabriel und mir sowie ande-ren Kolleginnen und Kollegen der SPD-Fraktion nichtaufzählen,

(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Das ist auch besser so!)

in denen wir Ihnen seit anderthalb Jahren Vorschläge ge-macht haben, aus denen hervorgeht, wie eine umfassen-dere und tiefgreifendere Strategie zur Stabilisierung derEuro-Zone aussehen könnte. Kommen Sie mir nicht im-mer wieder, Herr Kauder, mit den ewigen Hinweisen– diesen von Ihnen selbst geklebten Pappkameraden, dieSie dann hier theatralisch erwürgen –, die die Schulden-union betreffen, in die die SPD dieses Land hineinjagenwill.

(Volker Kauder [CDU/CSU]: Genau so!)

– Überhaupt nicht! Sie können überall nachlesen, waswir formuliert haben. – Diese Hinweise sind nichts ande-res als Ausdruck Ihrer eigenen Ratlosigkeit und vor al-lem Ihrer Unwahrhaftigkeit, weil Sie längst den Weg ineine Haftungsunion beschritten haben.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetendes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und desAbg. Klaus Ernst [DIE LINKE])

Sie haben diesen Weg in eine Haftungsunion durch dasVersagen des Europäischen Rates im Mai 2010 beschrit-ten, wo die EZB zu einem Ersatzakteur gemacht bzw. ge-nötigt wurde. Wenn mich nicht alles täuscht, wird inzwi-schen intern – zumindest in der Regierung, jedenfalls amRande des Treffens des IWF – eine weiter gehende Instru-mentalisierung der Europäischen Zentralbank und übermögliche Hebelwirkungen des Rettungsfonds debattiert.Ich bin gespannt, ob dies heute im Rahmen dieser Debatteoffen angesprochen wird, weil das im Hinblick auf dasAbstimmungsverhalten der beiden Regierungsfraktionensehr delikat werden könnte.

Im Übrigen hat Frau Merkel den Finger zugunsten ei-ner weiteren Haftungsgemeinschaft gehoben, als sie am21. Juli der Mandatserweiterung des Rettungsfonds zu-stimmte, die zum Inhalt hat, dass dieser auch auf den Se-kundärmärkten, also direkt von Banken, Staatsanleihenaufkaufen darf. Frau Merkel, wenn ein Land seineStaatsanleihen nicht zurückzahlen kann: Können Siedem Publikum erklären, wer dann haftet? Würden Siemir zustimmen, dass die Bundesrepublik Deutschlandpro rata mit 27 Prozent an einer solchen Haftungsge-meinschaft beteiligt ist? Ist es nicht an der Zeit, dies of-fen darzulegen und die Menschen dementsprechend zuinformieren?

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Norbert Barthle [CDU/CSU]:Steht doch im Gesetz!)

Mit dem bisherigen Krisenmanagement kommen wirjedenfalls nicht aus. Auch das Sixpack wird nicht rei-chen. Ich bin mir ganz sicher, dass wir, bezogen aufGriechenland, an einem Schuldenschnitt unter Einbezie-hung der Gläubiger nicht vorbeikommen. Warum neh-men Sie nicht das ziemlich einhellige Urteil der Fach-welt zur Kenntnis, wonach wir an einem solchenSchuldenschnitt nicht vorbeikommen? Wir reden längstnicht mehr über das Ob, sondern darüber, wie, wann undunter welcher Begleitung mögliche Kollateraleffekte mi-nimiert werden können.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

In diesem Zusammenhang wird es um die Rekapitali-sierung von Banken gehen; das ist richtig. Aber ichwürde gerne Stichworte aufgreifen, die wir schon frühergenannt haben. Es ist an der Zeit, grenzüberschreitend inEuropa auch ein Verfahren für eine Bankeninsolvenzvorzusehen, sodass einige Banken geordnet abgewickeltwerden können. Dies ist eine Antwort auf die leidigeProblematik des „too big to fail“ oder die Erpressbarkeit,der die Politik unterliegt, indem sich Banken als sys-temrelevant immunisieren, mit dem Ergebnis, dass dieSteuerzahler anschließend zahlen müssen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Griechenland wird ein wirtschaftliches Hilfspro-gramm benötigen, um die realökonomischen Vorausset-zungen dafür zu schaffen, um wieder Überschüsse zuproduzieren. Wo ist dieser Ansatz aufgegriffen worden?Wer ergreift die Initiative, die europäischen Struktur-fonds, den Kohäsionsfonds und gegebenenfalls auch dasAufkommen aus einer Umsatzsteuer auf Finanzge-schäfte zu benutzen, um Länder wie Griechenland wett-bewerbsfähiger zu machen?

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wir brauchen einen verbindlichen Fahrplan zum Ab-bau der Staatsverschuldung. Die EZB muss auf ihre al-leinige geldpolitische Funktion zurückgeführt werden,und sie darf nicht mehr fiskalpolitisch instrumentalisiertwerden, wie es in den letzten anderthalb Jahren der Fallwar.

(Beifall bei der SPD)

Finanzmarktgeschäfte sind zu besteuern, gegebenen-falls auch im Konvoi von den kontinentaleuropäischenLändern, die dazu bereit sind. Ich finde es bemerkens-wert, dass die Europäische Kommission mit Blick aufdie Besteuerung von Finanzmarktgeschäften inzwischenehrgeiziger ist als diese Bundesregierung.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es geht darum, die Wachstumsstrategie Europa 2020zu konkretisieren und Sorge dafür zu tragen, dass sienicht ebenso scheitert wie die Lissabon-Strategie für daserste Jahrzehnt dieses Jahrhunderts. Es geht darum, dieWirtschafts- und Fiskalpolitik sehr viel rigider zu koor-

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dinieren, jedenfalls damit anzufangen, bevor man langeüber die Einführung einer Wirtschaftsregierung räso-niert. Es geht darum, Steuerdumping, Steuerbetrug undSteuerhinterziehung zu bekämpfen. Das Thema der Re-gulierung der Finanzmärkte gehört dringend wieder aufdie Tagesordnung.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ich will eine abschließende Bemerkung machen.

(Zurufe von der CDU/CSU: Das ist gut!)

– Mein Gott, dieses rituelle Echo, das ich von der CDU/CSU bekomme!

(Zurufe von der CDU/CSU)

Es könnte sein, dass hinter der Finanzkrise weit mehrnoch eine politisch-legitimatorische Krise liegt. DieGrundidee der sozialen Marktwirtschaft, dass Risiko mitGewinn belohnt, aber dass Verspekulieren mit Ruin be-straft wird, gilt offenbar nicht mehr. Haftung und Risikofallen auseinander, Gewinne werden privatisiert, Ver-luste werden sozialisiert. Die Verursacher der Krise wer-den nicht an der Finanzierung der Folgekosten beteiligt,weil sie sich, wie ich gesagt habe, als systemrelevant im-munisiert haben.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD – JanKorte [DIE LINKE]: Das haben Sie doch ge-macht!)

Die Politik erscheint nicht mehr als Handelnder, sondernals Getriebener. Ich erinnere an die Daumenbewegun-gen, die Ratingagenturen vollführen.

Täuschen wir uns nicht: Das prägt die Wahrnehmungvon vielen Menschen und ihr Verhältnis zu Staat undPolitik. Der Journalist Cordt Schnibben hat in einemArtikel geschrieben: „Die ideologischen Folgen des mo-netären Kollapses sind dauerhafter als die wirtschaftli-chen, …“. – Das könnte sein. Das Paradigma der Dere-gulierung, die Fixierung auf Quartalsbilanzen, dieMargenmaximierung und die Verachtung der altenDeutschland AG haben einem ungezähmten Kapitalis-mus Raum gegeben. Dieser neigt zu Exzessen, er neigtzur Zerstörung von Vermögen, und er erschüttert auchdie Ideale der Demokratie.

(Beifall bei der SPD)

Was wir jetzt erleben – das müsste eigentlich die bei-den Regierungsfraktionen beschäftigen –, greift auch dasbürgerlich-liberale und das konservative Selbstverständ-nis von Haftung und Risiko, Belohnung und Bestrafung,Gemeinwohlverpflichtung des Eigentums, Maß undMitte an. Es sind Ihre Wählerinnen und Wähler, die da-von betroffen sind. Vielleicht waren es Ihre Wähler.Diese wollen heute jedenfalls nicht, dass Sie ihnen dasIdeal des Modells Irland wie eine Monstranz vorhalten,und können wahrscheinlich mit der Beschlusslage desLeipziger Parteitags der CDU als Antwort auf die jetzigeSituation auch nicht mehr so viel anfangen.

Das eindimensionale Programm der FDP – wenigerStaat, mehr Markt, weniger Steuern – ist jedenfalls eine

Beschädigung der Handlungsfähigkeit des Staates undwirkt nicht nur angesichts dieser Finanzkrise und Staats-verschuldung anachronistisch, die Wähler bewerten esauch zunehmend als anachronistisch.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetendes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und desAbg. Klaus Ernst [DIE LINKE])

Die Bundesregierung und die Regierungsfraktionengeben weder die Einsicht noch die Kraft zu erkennen,das Krisenmanagement von einem Durchlavieren in ei-nen umfassenderen Lösungsansatz zu überführen. Ichwette, Sie werden den Deutschen Bundestag weiterhinscheibchenweise mit Fortsetzungskapiteln konfrontie-ren.

Sie haben weder die Einsicht noch die Kraft, zu er-kennen, dass das, was über den ungezähmten Finanzka-pitalismus stattfindet, durchaus zu einer sozialen Ent-fremdung in dieser Gesellschaft beitragen könnte.

Ihnen und Ihrer Regierung, Frau Bundeskanzlerin,fehlt in Zeiten der Gefahr die wichtigste politische Qua-lität: Vertrauen. Vertrauen erwächst aus Überzeugungund Begründung, aus Konsistenz und Erkennbarkeit.Aber genau daran fehlt es dieser Regierung.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Vor diesem Hintergrund geraten Ihre großen Sprech-blasen – „Herbst der Entscheidungen“, „Jahr des Ver-trauens“ und „die geistig-moralische Wende“ – zu einersehr bitteren Pointe. Nach dem chinesischen Kalenderbefinden wir uns im Augenblick im Jahr des Hasen.Nach meiner Wahrnehmung vermittelt diese Regierungauch genau diesen Eindruck.

Vielen Dank.

(Anhaltender Beifall bei der SPD – Beifall beiAbgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

Präsident Dr. Norbert Lammert:Rainer Brüderle ist der nächste Redner für die FDP-

Fraktion.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Rainer Brüderle (FDP):Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der Tat:

Die Welt sortiert sich neu. Dies ist kein europäischesZeitalter mehr. Zwei Drittel des weltweiten Wirtschafts-wachstums stammen von Schwellenländern, etwa China,Indien, Brasilien und Russland. Europa muss sich in die-sem verschärften weltweiten Wettbewerb neu aufstellen.Ich teile die Einschätzung, dass Europa für uns Staatsrä-son ist. Deutschland darf sich nie wieder singularisieren.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Wir brauchen Europa, aber wir müssen es richtig ma-chen.

Jetzt geht es darum, dass wir die Wirtschaftskraft Eu-ropas schützen und stärken. Auch müssen wir unsere

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Währung schützen und stabil halten, damit Europa einegute Perspektive hat. Eine Lehre der Geschichte ist:Wenn das Geld schlecht wird, wird alles schlecht. –Auch das haben wir in der deutschen Geschichte gehabt:von Hyperinflation über Massenarmut bis hin zum Kriegund den fatalen Fehlentwicklungen in Deutschland.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Deshalb ist unsere Mitgift für die europäische Zukunftdie deutsche Stabilitätskultur. Deswegen schaffen wirdie EFSF als einen Zwischenschritt hin zu einem dauer-haften Mechanismus.

Die Kriterien, die wir damals mit dem Stabilitäts- undWachstumspakt – eine Wirtschafts- und Währungsunion,keine politische Union! – auf den Weg gebracht haben,wurden gerissen: als Erstes von Rot-Grün in Deutsch-land, aber auch von Frankreich. Die Kriterien wurden inder Summe 68-mal gerissen. Aber Konsequenzen undSanktionen gab es nie. Deshalb müssen wir einen Stabi-litätspakt II schaffen. Das, was wir heute beschließen, istder Zwischenschritt auf dem Weg dahin, einen Stabili-tätspakt II zu schaffen und zu gestalten.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Entscheidend ist, dass man Regeln hat, die eingehal-ten werden. Europa kann und muss rechtsstaatlich sein.Aber Rechtsstaatlichkeit heißt auch, dass man verein-barte Regeln einhält. Die Realität darf nicht sein, dassman Beschlüsse fasst und Verträge schließt, die nichteingehalten werden. Deshalb müssen wir dies neu aus-richten.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Wir brauchen quasi Automatismen. Herr Steinbrück,Sie haben sich zu dem bekannt – Stichwort „Sixpack“ –,was gestern im Europaparlament beschlossen wurde.Aber Sie wissen, dass Ihre Genossen und auch die Grü-nen dagegen gestimmt haben. Sie haben es abgelehnt,die Stabilität in Europa zu stärken. Als es ernst wurde,haben sie sich mal wieder vom Acker gemacht.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Wi-derspruch der Abg. Claudia Roth [Augsburg][BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Eines hat Rot-Grün in Europa beschlossen: WennDeutschland Exporterfolge hat, dann müssen wir sie inder Makroökonomie zurückführen. Erklären Sie einmalden Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, den Be-triebsräten und den Gewerkschaften, dass wir unsere Er-folge, die wir aufgrund von Fleiß und Anstrengungen er-reicht haben, einseitig zurückführen müssen. Das ist IhrePolitik. Das müssen Sie den Arbeitnehmern in Deutsch-land einmal erklären.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

In den Worten hart, in den Taten weich: Das erinnertan Ihren Umgang mit dem Stabilitätspakt.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Deshalb ist es entscheidend, dass es nationale Schulden-bremsen gibt und private Gläubiger beteiligt werden,dass es Tests für Wettbewerbsfähigkeit und Elemente ei-

ner staatlichen Insolvenzordnung gibt und dass die Un-abhängigkeit der Europäischen Zentralbank – HerrSteinbrück, da haben Sie recht – wiederhergestellt wird.Ihre Aufgabe ist Geldpolitik und nicht Fiskalpolitik.Deshalb schaffen wir heute dieses Instrument, damitdiese Fehlentwicklung bei der Europäischen Zentral-bank, die Gelddruckmaschine an der falschen Stelle ein-zusetzen, gestoppt wird.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:Das haben Sie doch zu verantworten!)

Volker Kauder hat zu Recht herausgestellt, dass durchunsere Beratungen etwas Modellhaftes für Europa ent-standen ist, nämlich eine umfassende Parlamentsbeteili-gung. Vielleicht werden noch andere Länder unseremBeispiel folgen. Ohne den Willen Deutschlands, ohneden Willen des deutschen Parlaments wird es eine Aus-zahlung von weiteren Mitteln nicht geben. Die klareBotschaft ist: Der Souverän, die Vertretung des Volkes,entscheidet darüber. Das ist auch richtig.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Wir müssen doch allem, worüber im Dunstkreis vonTagungen aufgeblasen diskutiert wird, klar entgegentre-ten. Der Rettungsschirm darf nicht zu einer Investment-bank werden – Stichwort „Hebelwirkung“. WarrenBuffett hat die Hebelprodukte als Massenvernichtungs-waffen bezeichnet. Dieser Unfug muss unterbleiben. Wirsollten diesen Versuchungen widerstehen.

(Peer Steinbrück [SPD]: Ja!)

Wenn wir anders handeln würden, Herr Steinbrück, dannkämen wir auf die schiefe Ebene. Da sind wir einer Mei-nung.

(Peer Steinbrück [SPD]: Das müssen Sie anderen sagen!)

– Nein, Herr Schäuble hat sich dazu klar geäußert. Ichhabe heute Morgen im Deutschlandfunk gesagt: Einemehrenwerten Finanzminister wie Wolfgang Schäuble zuunterstellen, dass er hier tarnt und täuscht, ist unredlich.Dieser Mann ist in Ordnung und hat unsere volle Unter-stützung.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:So weit ist es schon!)

– Herr Trittin, Sie haben Deutschland das Dosenpfandbeschert. Sie möchten gerne Finanzminister werden. Wirwerden verhindern, dass Sie Europa eine Blechwährungbescheren werden.

(Heiterkeit und Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Wir müssen den Finanzjongleuren ihr Spielzeug weg-nehmen. Der Entschließungsantrag der SPD heute ent-hält einen richtigen Gedanken. Dieser umfasst die Ei-genkapitalunterlegung von Risikoprodukten. Das halteich für richtig. Darüber sollten wir diskutieren, und diesmachen wir. Das Bundesverfassungsgericht hat für den

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Rettungsschirm einen klaren Deckel hinsichtlich derRettungsinstrumente gesetzt.

Herr Steinbrück, Sie haben heute ein bisschen an Ih-rem Image der Vergangenheit, an Ihrem Heiligenscheinpoliert. Das ist verständlich; denn der Wettlauf, werKanzlerkandidat der SPD wird, hat begonnen nach demMotto „Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist derschönste Sozi im Land?“.

(Heiterkeit und Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Okay, das kann man so machen.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

Aber wie war es denn bei der Lehman-Krise? Da ha-ben Sie gesagt: Das ist ein rein amerikanisches Problem.Dass uns das voll erwischt hat, das haben Sie nicht er-kannt.

(Peer Steinbrück [SPD]: Lesen Sie meine Rede!)

Das hat uns viel Zeit gekostet. Dann haben Sie über dieHypo Real Estate schwadroniert, und an der Börse hat esgebumst. Also, so doll ist es mit den Erkenntnissennicht. Sie sind da sehr selektiv.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Daraus folgt die klare Erkenntnis: Besserwisser sindnoch keine Bessermacher.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Sie haben heute vieles von dem, was Sie draußen er-zählen, nicht gesagt. Ich zitiere einmal: Griechenland istpleite – es ist so langsam Zeit, sich das einzugestehen –;ohne einen Schuldenschnitt kommt man da nicht heraus;im Extremfall geht es um ein geordnetes staatliches In-solvenzverfahren. – Wenn der Vizekanzler nur zart an-deutet, dass man das nicht völlig ausschließen kann,wird er von Ihnen massiv beschimpft. Sie predigen das.

(Peer Steinbrück [SPD]: Von mir nicht!)

– Sind Sie kein Sozialdemokrat mehr, Herr Steinbrück?

(Peer Steinbrück [SPD]: Ich bin Steinbrück!)

– Sie sind Steinbrück; das ist bemerkenswert. Sie sindnicht mehr Sozialdemokrat; Sie sind Steinbrück.

(Peer Steinbrück [SPD]: Quatsch!)

Möglicherweise ist das ein Fortschritt. HerzlichenGlückwunsch!

(Heiterkeit und Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Aber, Herr Steinbrück, wo waren Sie, wo war HerrSteinmeier, als Herr Gabriel, Ihr Parteivorsitzender, dieSPD sich bei dem ersten Hilfspaket für Griechenland hatkraftvoll enthalten lassen? Das ist eine tolle Haltung:Nicht Ja, nicht Nein; man enthält sich; „Ich weiß nicht,was ich wissen will“, meine Damen und Herren.

(Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Dem fällt nichts mehr ein!)

So kann man das nicht machen.

(Heiterkeit und Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Sie stimmen heute zu, weil es ja gar nicht anders geht.

(Sigmar Gabriel [SPD]: Das gilt aber für Sie auch!)

Vorher haben Sie gesagt: Ich weiß nicht. Vielleicht sagenSie morgen wieder Nein. Das ist Zickzack. Ihre Genos-sen in Europa sagen Nein; Sie sagen: Es ist notwendig.

(Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Das ist unwahr!)

Irgendwann müssen Sie sich einmal entscheiden, wasSie wollen, welche Meinung Sie haben, und Sie dürfendie Menschen nicht nur verwirren.

(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 2 Prozent!)

Thema Euro-Bonds. Das ist in Ihrem Entschließungs-antrag gar nicht mehr drin. Uns haben Sie dafür be-schimpft, dass wir gegen diese Vergemeinschaftung derSchulden sind. Ich empfehle Ihnen, den Arbeitnehmernan den Werkstoren einmal zu sagen, was auf sie zu-kommt, wenn Deutschland für sämtliche Schulden Euro-pas geradesteht. Das ist wie eine Enteignung breiterTeile der deutschen Bevölkerung.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Ihre Basis lehnt das ab. Das Bundesverfassungsge-richt lehnt das ab.

(Zuruf von der SPD: Was?)

Die Wirtschaftsweisen lehnen es ab. Diese neue Formvon Zinssozialismus ist der falsche Weg.

Stellen Sie sich hier einen Moment vor, wir hättenjetzt in Deutschland eine rot-grüne Regierung. Dann wä-ren wir schon längst in der Transferunion, in den Trans-fermechanismen Europas. Es ist ein Glücksfall, dassjetzt eine bürgerliche Regierung dran ist.

(Lachen bei Abgeordneten der SPD)

Solche Regierungen haben immer die Wegmarken derRepublik gesetzt: bei den europäischen Verträgen, beider Wiedervereinigung und jetzt bei der NeuausrichtungEuropas.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Eine rot-grüne Regierung wäre ein hohes Risiko für dieeuropäische und deutsche Entwicklung. Deshalb müssenSie dort bleiben, wo Sie sind: in der Opposition.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Präsident Dr. Norbert Lammert:Herr Kollege Brüderle, gestatten Sie eine Zwischen-

frage?

Rainer Brüderle (FDP):Nein, ich beantworte keine Zwischenfragen. Ich dis-

kutiere am Stück.

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Rainer Brüderle

Es war Gerhard Schröder, der den Euro als „krän-kelnde Frühgeburt“ bezeichnet hat. Die Entscheidungendieses Kanzlers wirken bis heute und sind Mitursachefür die europäische Krise: Ihre Aufnahme Griechen-lands, Ihre Fehlentscheidung bezüglich Griechenlands,Ihre Brechung des Stabilitätspaktes, das sind doch dieUrsachen der heutigen Probleme. Sie sollten in Demuthier sitzen, die Köpfe nach unten senken und keine di-cken Backen machen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Zurufe von der SPD)

Die Augen der Welt

(Christine Lambrecht [SPD]: Sind entsetzt über Ihre Rede!)

bezüglich der Euro-Rettung sind auf Deutschland ge-richtet,

(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:Aber die Ohren der Welt werden gerade zuge-halten!)

und zwar deshalb, weil Deutschland wieder Power-house der wirtschaftlichen Entwicklung ist. Das ist einErgebnis des Fleißes der Menschen in Deutschland, aberauch der richtigen Politik dieser Koalition.

(Lachen bei Abgeordneten der SPD – SigmarGabriel [SPD]: Hören Sie auf das Pfeifen imWald?)

Zu Zeiten von Rot-Grün waren wir der kranke MannEuropas. Heute sind wir das Powerhouse.

Meine Damen und Herren, es geht weit über Europahinaus. Wir müssen sehen, dass weltweit neue Strategienentwickelt werden. Die Chinesen wollen ihre Währungin den Vordergrund stellen. Außerdem spielt die Dollar-dominanz eine Rolle. Die Äußerungen des Präsidentender USA der letzten Tage – auch wenn es Wahlkampfwar – haben bei mir den Eindruck erweckt, dass dieAmerikaner möglicherweise gar kein Interesse daran ha-ben, dass der Euro in Europa eine Erfolgsgeschichte ist.

Umso wichtiger ist es, dass wir das Richtige machen.Die Bundeskanzlerin hat klare Signale zur Änderung dereuropäischen Verträge gesetzt. Wenn jemand Geldnimmt, muss er Kontrolle akzeptieren. Wenn er die Ur-sachen nicht beseitigt, muss es Durchgriffsrechte geben.Dann muss er temporär einen Teil seiner Souveränität anEuropa abtreten. Nur die Hand aufzuhalten und die Ur-sachen der Fehlentwicklung nicht zu beseitigen, ist nichtsolidarisch. Das ist unfair. Deshalb muss das ein Endehaben.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Die Chance, mit dem Stabilitätspakt II den ESM neuauszurichten, müssen wir nutzen. Der ESM könnte eineArt Wettbewerbfähigkeitsminister sein. Wir brauchenkeinen europäischen Finanzminister. Wir brauchen klareStrukturveränderungen, die Europa voranbringen.

Wir haben lange miteinander gerungen. Wir habendiskutiert, und wir haben uns entschieden. Wir stehen– und das ist gut so –, und wir werden auch weiter ste-

hen. Wir sind da, und wir bleiben da. Wir werden auch inZukunft für die richtigen Ziele kämpfen. Es ist gut, dassDeutschland Rot-Grün erspart bleibt.

Vielen Dank.

(Anhaltender Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Präsident Dr. Norbert Lammert:Das Wort erhält nun der Kollege Gregor Gysi für die

Fraktion Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)

Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr

Brüderle, ich habe Ihnen wieder gerne zugehört.

(Gunther Krichbaum [CDU/CSU]: Wir auch!)

Ich muss Ihnen allerdings eines sagen: Wenn Sie weiterso leidenschaftlich sind, bekommen Sie bald einen Herz-infarkt. Passen Sie etwas auf!

Herr Brüderle, mit Ihrer Rede haben Sie den Wahl-kampf eröffnet. Sind Sie sich so sicher, dass es Neuwah-len gibt, dass Sie glauben, jetzt schon solche Attackenreiten zu müssen? Das ist wirklich interessant.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

Herrn Steinbrück habe ich natürlich auch gern zuge-hört. Herr Steinbrück, Sie haben festgestellt, die CSUwerde heute zustimmen und morgen erklären, warum esfalsch sei. Sie haben mir aber heute schon erklärt, dass esfalsch sei und Sie trotzdem zustimmen. Darauf wollteich lediglich einmal hingewiesen haben.

(Beifall bei der LINKEN)

Das Bundesverfassungsgericht hat eine höhere Parla-mentsbeteiligung gefordert. Herr Kauder hat erklärt,diese Vorgabe sei übererfüllt. Ich sage Ihnen: Ich halte esfür einen Skandal, dass schon wieder ein Geheimaus-schuss gebildet werden soll, der entscheidet, ob Tran-chen aus dem aufgestockten Rettungsfonds ausbezahltwerden.

(Zuruf des Abg. Volker Beck [Köln] [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN])

Was heißt das denn? Die Mitglieder dieses Geheim-ausschusses dürfen noch nicht einmal die anderen Abge-ordneten, geschweige denn die Bevölkerung informie-ren. Hierbei geht es aber um das Geld der Bevölkerung.Es ist unerhört, dass die Bevölkerung nicht informiertwird, wenn dieses Geld ausgegeben wird. Das ist nichthinnehmbar. Das ist keine wirkliche Parlamentsbeteili-gung.

(Beifall bei der LINKEN)

Der Präsident der USA hat erklärt, dass die Krise inEuropa der ganzen Welt Angst mache. Außerdem hat ergesagt, dass die Regierungen in Europa nicht rasch genugund nicht konsequent genug entschieden hätten. Jeder

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Dr. Gregor Gysi

weiß, dass er damit in erster Linie die deutsche Bundes-regierung gemeint hat. Weiter hat Herr Obama gesagt,dass wir hier in Europa nicht die richtigen Schlussfolge-rungen aus der Krise des Jahres 2008 gezogen hätten.Wir hätten uns den Herausforderungen, um die es eigent-lich geht, nicht gestellt. Ich weiß nicht, ob Obama überWikiLeaks bei uns abschreibt, aber auf jeden Fall ist esgenau das, was wir Ihnen seit geraumer Zeit sagen. Nunsagt es selbst der amerikanische Präsident. Vielleicht hö-ren Sie ja wenigstens ihm zu.

(Beifall bei der LINKEN)

Am letzten Wochenende fanden zwei Jahrestagungenstatt, zum einen vom Internationalen Währungsfondsund zum anderen von der Weltbank. Da gab es, glaubeich, zwei wichtige Momente. Erstens hat der US-Finanz-minister erklärt, dass die Staatsschulden und der Ban-kenstress in Europa größte Risiken für die Weltwirt-schaft nach sich ziehen. Zweitens hat die Direktorin desInternationalen Währungsfonds, Madame Lagarde, ge-fordert, was wir ebenfalls seit Jahren fordern: die großenprivaten Banken öffentlich-rechtlich zu gestalten.

(Beifall bei der LINKEN)

Das sagt die ehemalige, konservative FinanzministerinFrankreichs!

(Beifall bei der LINKEN – Christian Lindner [FDP]: Und wer soll das bezahlen?)

Wir können diese Banken nicht privat lassen, weil dieAbhängigkeit der Regierungen und Parlamente von dengroßen privaten Banken politisch, demokratisch undauch wirtschaftlich unerträglich ist.

(Beifall bei der LINKEN)

Aber Sie vollziehen auch nicht die weiteren Schritte,die erforderlich sind. Sie alle erklären immer, wirbräuchten gegen die privaten amerikanischen Rating-agenturen endlich eine öffentlich-rechtliche Ratingagen-tur in Europa. Wo bleibt sie denn? Wo ist Ihr Vorschlag?Wo ist das Konstrukt?

(Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Richtig!)

Nichts passiert diesbezüglich! Die Frau Bundeskanzle-rin, der französische Präsident – alle sprechen jetzt vonder Finanztransaktionsteuer. Nun kommt der EU-ChefBarroso und sagt: 2014 soll sie eingeführt werden. Darfich Sie daran erinnern, dass dieser Bundestag in derLage war, zur Rettung der Banken innerhalb einer Wo-che 480 Milliarden Euro zur Verfügung zu stellen? Fürdie Finanztransaktionsteuer aber brauchen Sie sechsJahre. Noch glaubt kein Mensch, dass sie 2014 kommt.

(Beifall bei der LINKEN)

Wir brauchen – und das muss eines Tages auch dieFDP begreifen – die Unabhängigkeit der Euro-Staatenvon den großen privaten Banken, das heißt: vom derzei-tigen Finanzmarkt. Wie könnten wir das erreichen? Wirkönnten das erreichen, wenn wir endlich eine öffentlich-rechtliche Bank in Europa schüfen – oder die Europäi-sche Zentralbank dazu machten –, die berechtigt seinsoll – –

(Christian Lindner [FDP]: Die WestLB!)

– Kommen Sie mir nicht mit Ihrer blöden WestLB, dieSie mit in den Sumpf gefahren haben, und zwar weil Sieverlangt haben, dass sie wird wie die Deutsche Bank,statt zu sagen, sie soll eine öffentlich-rechtliche Banksein.

(Beifall bei der LINKEN)

Die Sparkassen sind öffentlich-rechtlich, und die sindnicht unser Problem. – Also zurück: Diese öffentlich-rechtliche europäische Bank könnte dann an Staaten wieGriechenland, Italien, Irland, Spanien oder Portugalzinsgünstige Kredite geben. Dann wären sie nicht mehrauf die privaten Banken angewiesen. Dann könnten dieprivaten amerikanischen Ratingagenturen diese Staatensogar herabstufen, solange sie wollen – es änderte janichts daran, dass sie zinsgünstige Kredite von dieserBank bekämen. Dann wäre das Problem gelöst. Warumgehen Sie denn nicht diesen Weg? Stattdessen machenSie die privaten Banken täglich mächtiger.

(Beifall bei der LINKEN)

Der Höhepunkt ist, dass eine private Bank bei der Eu-ropäischen Zentralbank – also von unser aller Geld, demGeld der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler aller Euro-Staaten – Kredite für 1,5 Prozent Zinsen bekommt. An-schließend gibt sie das Geld weiter an Griechenland für18 Prozent Zinsen. Das ist eine unvertretbare Zocke, dieSie zulassen, gegen die Sie nichts unternehmen!

(Beifall bei der LINKEN)

Jetzt passiert Folgendes: Herr Schäuble, in der EU-Kommission gibt es immer mehr Menschen, die dasGanze so sehen wie die Linke in Deutschland. Die sa-gen: Das geht so nicht weiter. Sie wollen eine europäi-sche öffentlich-rechtliche Bank, die entsprechende Kre-dite gewähren kann. Warum? Weil sie gemerkt haben,dass die Abhängigkeit von den großen Privatbanken insFiasko führt; weil sie gemerkt haben, dass die Demokra-tie schwer beschädigt wird.

Es gibt zwei Gegner in der EU-Kommission: Bundes-kanzlerin Merkel und Bundesfinanzminister Schäuble.Ich bitte Sie, doch mal zu erklären: Was haben Sie denndagegen, ein Primat der Politik über die Banken wieder-herzustellen? Was haben Sie denn gegen mehr Demokra-tie, gegen die Unabhängigkeit der Staaten von den priva-ten Finanzmärkten, gegen eine Unabhängigkeit derEuro-Staaten gegenüber den Privatbanken? Was habenSie dagegen? Warum gehen Sie auf die Vorschläge deranderen Mitglieder der EU-Kommission nicht ein?

Übrigens, diese Unabhängigkeit erreichten wir natür-lich schneller und konsequenter, wenn wir die Bankendezentralisierten und sie eben, wie es auch Frau Lagardegefordert hat, öffentlich-rechtlich gestalteten. Ich sage esIhnen noch einmal – ich habe es schon im Zusammen-hang mit den Landesbanken gesagt –: Die Sparkassen inDeutschland waren und sind nicht unser Problem undwerden es nicht sein. Selbst Brüssel hat inzwischen auf-gehört, über die Sparkassen zu meckern. Hätten wir dieSparkassen nicht gehabt, wären wir in einer viel größe-ren Katastrophe.

(Beifall bei der LINKEN)

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Dr. Gregor Gysi

Wenn dieser staatliche Weg beschritten würde, könnteübrigens ein wirklicher Schuldenschnitt erfolgen. Ichweiß: Darüber redet noch keiner gern; aber – ich sage esIhnen – er wird kommen. Jetzt sage ich Ihnen, was ausunserer Sicht hinter der Ausweitung des Rettungs-schirms steht – wir glauben es sehr ernsthaft; darüberwird immer mehr gesprochen und niemand kann es wi-derlegen –: Über kurz oder lang wird es einen Schulden-schnitt geben. Wenn es einen Schuldenschnitt gibt, istdie Auszahlung der zweiten Tranche von 109 MilliardenEuro an Griechenland gar nicht mehr erforderlich, weilGriechenland dann sowieso nur noch die Hälfte derSchulden hat etc. Dann haben aber die großen Privatban-ken riesige Verluste. Wer erstattet sie? Der Rettungs-schirm. Deshalb wird er aufgestockt. Ich sage Ihnen: Dasist ein Rettungsschirm nicht für die Griechinnen undGriechen, sondern für die Banken. Genau deshalb sagenwir Nein dazu.

(Beifall bei der LINKEN)

Lieber Herr Brüderle, lieber Herr Kauder, Sie habenwieder mit großer Leidenschaft Euro-Bonds abgelehnt.Ich finde das unfair, und zwar deshalb, weil Sie der Be-völkerung nicht die Wahrheit sagen. Ich habe es hierschon am 7. September gesagt – ich muss mich abergleich korrigieren, weil inzwischen schon wieder dreiWochen vergangen sind und mehr passiert ist –: Die Euro-päische Zentralbank, mithin das Eigentum der Steuerzah-lerinnen und -zahler aller Euro-Staaten, damit vornehm-lich auch der deutschen Steuerzahlerinnen und -zahler, hatStaatsschulden aufgekauft; damals habe ich gesagt: „imWert von 129 Milliarden Euro“, und zwar „von Grie-chenland, Portugal, Irland, Italien und Spanien“. Ichhabe Ihnen auch gesagt: „Den privaten deutschen Ban-ken und Versicherungen hat sie ein Drittel dieser Staats-schulden abgekauft.“ Jetzt gehören sie alle uns. Da sagenSie, es gebe keine Euro-Bonds? Damit haften wir dochdafür.

In den drei Wochen ist aber etwas passiert, HerrBrüderle – Sie waren an der Regierung –: Die Europäi-sche Zentralbank hat weitere Staatsanleihen gekauft.Nun besitzt sie solche im Werte von 150 MilliardenEuro. Warum sagen Sie denn der Bevölkerung nicht,dass das längst unser Eigentum ist? Da haben Sie dochdie Euro-Bonds indirekt eingeführt. Lassen Sie doch dieDiskussion um etwas, das längst Realität geworden ist.

(Beifall bei der LINKEN)

Wir können aus diesen Gründen der Ausweitung desRettungsschirms nicht zustimmen. Aber es gibt weitereGründe: Bei Griechenland, Spanien und den anderenLändern wird ein völlig falscher Weg beschritten. Manhandelt nicht nur sozial ungerecht, sondern schwächtauch die Wirtschaft, senkt die Einnahmen des Staatesund verbuddelt damit auch unser Geld. Diese Länderbrauchen keinen Abbau der Investitionen, sondern mehrInvestitionen.

(Beifall bei der LINKEN)

Sie brauchen keinen Abbau von Löhnen, Renten und So-zialleistungen, sondern eine Steigerung, auch um dieKaufkraft zu stärken und damit die Binnenwirtschaft zu

beleben. Nur über eine solche Politik flössen Steuern andie Staaten; damit flösse das Geld, das kreditiert wird,auch an uns zurück. Alles andere – der gegenteiligeWeg, den Sie beschreiten – heißt auch, die deutschenSteuergelder zu veruntreuen. Sollte Griechenland pleite-gehen oder in der Nähe der Pleite stehen, wird der Ret-tungsschirm, den sie heute ausweiten, eben nicht ihm zu-gutekommen, sondern den privaten Banken und – ichmuss ergänzen – den Fonds, Versicherungen und Hedge-fonds. Die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler haftendafür.

Aber auch das reicht noch nicht. Es gibt Vermögendein Europa. Über dieses Vermögen muss hier gesprochenwerden.

(Beifall bei der LINKEN)

Denn die weltweite Verteilung des Vermögens, auch inEuropa und Deutschland, wird immer ungerechter. EineLinke ist keine Linke, wenn sie nicht Eigentumsgerech-tigkeit fordert; sie wird sonst von keiner Fraktion imBundestag gefordert.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich sage Ihnen dazu etwas: Sie haben festgelegt, dass dieVermögen der Vermögenden in Europa und Deutschlandnicht mit einem halben Cent zur Finanzierung der ge-samten Krise herangezogen werden; die Vermögendenhaben die Krise verursacht und sind dadurch reich ge-worden, aber sie müssen keinen halben Cent von ihremVermögen dafür zahlen. Das, was Sie hier an Ungerech-tigkeit organisieren, ist nicht hinnehmbar.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich sage es noch einmal: Die Staatsschulden der Euro-Staaten belaufen sich auf 10 Billionen Euro. Das Vermö-gen nur der Vermögensmillionäre der Euro-Zone beträgt7,5 Billionen Euro.

(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Alles weg-nehmen!)

– Nein, nein. Ich sagte: eine angemessene Steuer. Das istnicht Wegnehmen. Seien Sie doch nicht so plump! Ma-chen Sie doch einmal eine richtige Steuer! Dann könnenwir gerne miteinander reden und über die Höhe verhan-deln.

(Beifall bei der LINKEN)

Die Staatsschulden in Deutschland belaufen sich auf2 Billionen Euro. Das Vermögen der 10 Prozent, die denreichsten Teil der Bevölkerung ausmachen, beläuft sichauf 3 Billionen Euro. Die haben 1 Billion Euro mehr, alswir insgesamt an Staatsschulden haben. Diese Tatsachemuss doch einmal genannt werden.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich gebe zu: Ich war etwas naiv. Ich habe mich geirrt.Ich dachte, in der Finanzkrise nimmt die Zahl der Ver-mögensmillionäre ab; wie ich darauf gekommen bin,weiß ich heute gar nicht mehr. Die Zahl hat aber zu-genommen. Es sind jetzt 51 000 mehr. Wir haben jetzt861 000 Vermögensmillionäre, die, wie gesagt, nicht miteinem halben Cent haften.

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Dr. Gregor Gysi

Herr Brüderle, ich bitte Sie um eines – Sie spuckenhier schließlich immer große Töne für die Arbeitnehme-rinnen und Arbeitnehmer –: Erklären Sie den Arbeitneh-merinnen und Arbeitnehmern, den Rentnerinnen undRentnern, den Arbeitslosen sowie den Kleinunternehme-rinnen und Kleinunternehmern, weshalb die Löhne, dieRenten und Sozialleistungen sowie die Einnahmen seitzehn Jahren real zurückgeschraubt wurden, während Siedas Vermögen der immer zahlreicher werdenden Vermö-gensmillionäre nicht mit einem halben Cent belasten. Er-klären Sie es! Erklären Sie es der Bevölkerung!

(Beifall bei der LINKEN)

Nun komme ich zum letzten Punkt. Seitens der Regie-rung – das gilt insbesondere für Sie, Frau Bundeskanzle-rin – fehlt eine notwendige Garantieerklärung. Ichmöchte an Folgendes erinnern: Bei der ersten Finanzkriseim Jahre 2008 sind Sie zusammen mit Ihrem damaligenBundesfinanzminister vor das Mikrofon getreten – daswar übrigens die Zeit, als Sie Herrn Steinbrück noch zu-geklatscht haben; das haben Sie auch schon vergessen –und haben eine Garantieerklärung für die Sparerinnenund Sparer abgegeben. Sie haben gesagt: Die Spareinla-gen werden im Rahmen der Krise nicht gekürzt. Warummachen Sie heute nicht etwas Ähnliches? Die Frage wirdman doch stellen dürfen.

(Beifall bei der LINKEN)

Wenn der Rettungsschirm in Anspruch genommenwird, haftet die deutsche Bevölkerung für 211 MilliardenEuro. Die Deutsche Bank hat ausgerechnet, dass sich dasGanze durch die Zinslasten, die noch hinzukommen, aufbis zu 400 Milliarden Euro steigern kann. Sie organisie-ren, dass dieser Fall eintritt.

(Norbert Barthle [CDU/CSU]: So ein Blöd-sinn!)

Es stellt sich mir die Frage, wer das bezahlen soll. Wirkönnten es durch eine Millionärsteuer, einen höherenSpitzensteuersatz bei der Einkommensteuer, eine Fi-nanztransaktionsteuer, eine höhere und gerechtere Kör-perschaftsteuer und eine endlich nennenswerte Banken-abgabe finanzieren. Oder müssen etwa wieder dieArbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die Rentnerinnenund Rentner, die Arbeitslosen und die Kleinunternehme-rinnen und Kleinunternehmer das Ganze bezahlen? Aufdiese Frage antwortet niemand aus der Regierung. Eswird aber höchste Zeit, dass Sie darauf antworten.

(Beifall bei der LINKEN)

Frau Bundeskanzlerin, ich erwarte, dass Sie heuteeine Garantieerklärung abgeben und den Betroffenen sa-gen, dass sie nicht dafür bezahlen müssen.

(Beifall bei der LINKEN)

Sie haben noch etwas Zeit, Frau Bundeskanzlerin. WennSie diese Garantieerklärung nicht vor der Ratifizierungder entsprechenden Verträge abgeben, dann wissen alleBürgerinnen und Bürger, wen es treffen wird, wenn derHaftungsfall eintritt.

(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Das ist die Wahr-heit!)

Ich sage Ihnen: Es gibt wieder einen Riesenunter-schied zwischen SPD und Grünen auf der einen und unsauf der anderen Seite. Wir verlangen die Garantieerklä-rung. Sie verlangen sie nicht. Warum eigentlich nicht?Warum machen Sie das nicht wenigstens zur BedingungIhrer Zustimmung?

(Beifall bei der LINKEN)

Nun gibt es auch Abgeordnete von FDP und Union,deren Gewissen ein Nein verlangt. Aber sie stehen vorder Frage, was sie höher bewerten: ihr Gewissen oderdie Angst vor Neuwahlen. Wir werden es nachher sehen.Auf das Ja von SPD und Grünen können Sie sich verlas-sen. Unser Nein ist sicher. Ich weiß schon jetzt, dassHerr Trittin uns dann als europafeindlich bezeichnenwird. Deshalb möchte ich ihm sagen, dass er auch in die-sem Punkt schwer irrt.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich sage Ihnen, warum er sich irrt: Ich weiß aufgrundder Geschichte meiner Familie sehr gut, dass die vergan-genen Jahrhunderte von Kriegen zwischen den Ländernin Europa, die heute Mitgliedsländer der EuropäischenUnion sind, gezeichnet waren. Der große Fortschritt derEuropäischen Union ist, das verhindern zu können. Dasist eine zentrale Frage, an der in Deutschland niemandvorbeikommt. Das begrüßen wir in jeder Hinsicht.

(Beifall bei der LINKEN)

Wir wissen auch, dass die EU für die Wirtschaft wichtigist. Auch das muss man uns nicht erklären. Aber wir ha-ben bei der Einführung des Euro vor Fehlentwicklungengewarnt. Sie waren ja alle schlauer, auch die Grünen,und haben gesagt: Nichts davon wird passieren. – Viel-leicht schauen Sie sich das noch einmal an und nehmenzur Kenntnis, dass unsere Warnungen gestimmt habenund nicht die Glorifizierung der gesamten Vorgänge, dieSie an den Tag gelegt haben.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich sage Ihnen auch: Wir wollen die EU. Wir wollenauch den Euro. Wir machen ja Vorschläge zu seiner Ret-tung, aber keine unsozialen. Das ist der Unterschied. Wirwollen sogar mehr Europa. Jetzt nenne ich Ihnen denUnterschied – der Unterschied ist ganz klar –: Sie allewollen ein Europa der Banken. Wir aber wollen ein Eu-ropa der Menschen, der Bürgerinnen und Bürger, der Be-völkerungen. Das ist der eigentliche Unterschied.

(Lebhafter Beifall bei der LINKEN)

Präsident Dr. Norbert Lammert:Das Wort erhält nun der Kollege Jürgen Trittin, Bünd-

nis 90/Die Grünen.

Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber

Gregor Gysi, wer für Europa ist, wer für internationaleSolidarität ist, der darf sich heute nicht einem Instrumentverweigern, das dazu dient, Mitgliedstaaten der Europäi-schen Union vor der Spekulation an den Finanzmärktenin Schutz zu nehmen.

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Jürgen Trittin

(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Ackermann! Nicht die Bürger!)

Das ist das Versagen von Solidarität, und das ist nichteuropäisch; das ist national und klein und borniert.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie bei Abgeordneten der CDU/CSU –Klaus Ernst [DIE LINKE]: So ein Unfug!)

Genau darum geht es. Es geht nicht darum, ob wir dienächste Tranche für Griechenland zahlen.

(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Doch!)

Es geht um etwas, das diese Bundesregierung um mehrals ein Jahr verschleppt hat. Es geht darum, wie diesesgemeinsame Europa künftig mit solchen Krisen besserumgehen kann, und zwar bevor man HunderttausendeBeamte entlassen muss, bevor man die Pensionen kürzenmuss. Um solche Instrumente geht es. Die sollen heutehier verabschiedet werden. Es geht darum, liebe Freun-dinnen und Freunde von der Linken, dass Spekulationengegen den Euro und Spekulationen gegen unser gemein-sames Europa erschwert und verhindert werden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zurufe von der LINKEN)

Diese Aufgabe wird nicht länger einer getriebenenRegierung überlassen. Künftig muss die Bundesregie-rung den Bundestag fragen. Wir müssen zustimmen.Künftig gilt Schweigen nicht mehr als Zustimmung. Dasist ein Gewinn an demokratischer Souveränität. Das hatdieses Haus gegen diese Regierung durchgesetzt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie des Abg. Dr. Frank-Walter Steinmeier[SPD])

Diese Diskussion findet in einem bemerkenswertenUmfeld statt. Noch nie in der Geschichte der Europäi-schen Union war Deutschland so isoliert wie heute.

(Lachen des Abg. Hermann Gröhe [CDU/CSU])

Sie haben über ein Jahr lang den Ankauf von Staatsanlei-hen durch die Stabilisierungsfazilität blockiert, angestif-tet von den Neoliberalen und den Europafeinden ausBayern in ihren eigenen Reihen. Sie haben sich öffent-lich gegen einen europäischen Währungsfonds ausge-sprochen.

Als Nächstes geht es um den Europäischen Stabili-tätsmechanismus. Er stellt die Instrumente für eine Staats-insolvenz zur Verfügung. Er ermöglicht einen Schulden-schnitt mit privater Gläubigerbeteiligung. Und was pas-siert? Während die Welt, die USA, China und der RestEuropas, darauf drängen, dass das möglichst schnell inKraft gesetzt wird, höre ich heute Morgen von HerrnSeehofer und zuvor von Herrn Brüderle: Nein, so schnellgeht das nicht; da müssen wir noch ein bisschen nach-bessern und nachdenken. Was passiert mitten in derKrise? Diese Koalition spielt erneut auf Zeit.

Liebe Frau Bundeskanzlerin, Sie haben versucht, die-ses Auf-Zeit-Spielen bei Günther Jauch als Politik derkleinen Schritte zu verharmlosen. Aber ich sage Ihnen:

Dieses Zaudern und Zögern, diese kleinen Schritte ha-ben die deutschen Steuerzahlerinnen und Steuerzahlerviel Geld gekostet, weil sie die Krise verlängert und da-mit verteuert haben. Das ist das Ergebnis der kleinenSchritte. Diese Krise ist zu groß für kleine Schritte undoffensichtlich zu groß für Sie.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Ich neige ja manchmal auch zu Lautstärke, lieber Kol-lege Brüderle. Aber bei Ihrer Lautstärke habe ich michgefragt: Woran mag das wohl liegen? Ich will es Ihnensagen. Wann hat es so etwas schon einmal gegeben?Nicht nur Gewerkschaften, sondern auch der Bundesver-band der deutschen Industrie, die Industrie- und Han-delskammern und die deutschen Arbeitgeber mussten öf-fentlich einen Brief an die Abgeordneten Ihrer Koalitionschreiben, um sie aufzufordern, der Erweiterung desEuro-Rettungsschirms zuzustimmen. Man muss sich dasauf der Zunge zergehen lassen. Ausgerechnet diejenigen,die immer Schwarz-Gelb wollten, die Ihren Wahlkampfmit Millionen gesponsert haben,

(Unruhe bei der FDP)

müssen nun für eine Kanzlermehrheit für den Rettungs-schirm werben. Ich glaube, da haben Sie eine Erklärungfür Ihre Lautstärke. Sie wissen, dass Sie sich fürchterlichverrannt haben, meine Damen und Herren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Ja, es ist wahr. Es gibt keine gemeinsame Währungohne eine gemeinsame Wirtschaftspolitik. Es war einsehr harter Kampf, lieber Kollege Kauder, den das Euro-päische Parlament und die Kommission zu führen hat-ten, um diesen neuen Wachstums- und Stabilitätspakt aufden Weg zu bringen. Interessant ist nur, wenn Sie denenjetzt auch noch gratulieren. Gegen wen musste dieserKampf geführt werden? Er musste geführt werden gegendie deutsche Bundesregierung; denn sie war es, die nichtwollte, dass auch die Überschussländer in Ergänzung zuden Regeln dieses Stabilitäts- und Wachstumspaktsüberwacht werden. Da haben Sie eine krachende Nieder-lage erlitten, und das ist gut so. Es ist gut so, dass Siesich nicht haben durchsetzen können, sondern das Euro-päische Parlament.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es ist nämlich so, dass die Defizite der einen dieÜberschüsse der anderen sind.

(Gunther Krichbaum [CDU/CSU]: Das ist Unsinn!)

– Lieber Kollege Krichbaum, Sie wissen das als Vorsit-zender des Europaausschusses sehr gut. Es ist an derZeit, dass Deutschland seine gravierende Nachfrage-schwäche endlich behebt. Es ist Zeit dafür. Ich sage Ih-nen, es ist deswegen Zeit dafür, weil nur das dazu führenwird, dass diese Krise, die keine Krise der Defizitländerist, sondern eine Krise des gesamten Euro-Raumes,überwunden wird. Das ist der Grund, warum das Parla-

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Jürgen Trittin

ment recht hatte und die deutsche Bundesregierung dieseAuseinandersetzung zu Recht verloren hat.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir brauchen eine europäische Wirtschaftsregierung.Aber José Manuel Barroso hatte recht, als er gesternsagte: Die Kommission ist die wirtschaftspolitische Re-gierung der Union. – Ihr Versuch, Frau Merkel, dieKommission in dieser Frage zu entmachten, ist schäd-lich. Wir brauchen starke, demokratisch legitimierte eu-ropäische Institutionen. Das ist der Weg zu mehr Souve-ränität in einer globalisierten Welt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, wer der Krise begegnenwill, der muss sich auch einmal klarmachen, um was füreine Krise es sich handelt. Diese Krise ist keine staatli-che Verschuldungskrise. Diese Krise begann 2007, alsMichel Glos – ich will Ihnen nicht ersparen, zu sagen,dass auch Herr Steinbrück zu dieser Zeit im Kabinett ge-sessen hat – noch gesagt hat, das könnte nie zu uns hi-nüberschwappen. Diese Krise hat uns 6 Prozent desBruttosozialprodukts gekostet. Sie hat in Deutschland al-lein in einem Jahr 80 Milliarden Euro neue Staatsschul-den verursacht. Sie hat ein Land wie Spanien, das bei derStaatsverschuldung immer besser war als Deutschland,mittlerweile an die Kante der Maastricht-Kriterien ge-bracht.

Das Schlimme ist: Diese Krise ist nicht beendet. Bisheute haben Sie es nicht geschafft, die Krise der Bankenvon der Schuldenkrise der Staaten zu trennen. Es gibtkeine schlagkräftige europäische Bankenaufsicht. Wo istIhre Initiative für ein europäisches Insolvenzrecht? Wa-rum gibt es immer noch keine Schuldenbremse für Ban-ken? Wir brauchen sie so dringend wie für Staaten!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es gibt Alternativen – nicht die von Herrn Gysi; viel-leicht ist das für Sie kompatibler –: Schauen Sie einmalin die Schweiz. Die Schweiz hat ihre beiden Großbankenzu saftigen Erhöhungen des Eigenkapitals gezwungen.Bei uns kann die Deutsche Bank 4 Milliarden Euro Ge-winn machen, ohne dass sie gezwungen wird, ihr Eigen-kapital zu erhöhen.

(Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister: Aber wir halten uns an das Gesetz!)

Sie sabotieren Maßnahmen gegen Spekulationen. An-geblich sind Sie für eine Finanztransaktionsteuer. Ges-tern hat die Kommission ihren Vorschlag vorgelegt. Dieerste Reaktion von Herrn Brüderle? Er ist gegen dieseFinanztransaktionsteuer. Liebe Frau Merkel, ich frageSie: Wer hat in Ihrer Koalition eigentlich die Richtlinien-kompetenz,

(Zuruf von der SPD: Keiner!)

Sie oder der rheinland-pfälzische Dampfplauderer?

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Meine Damen und Herren, Ihr Zickzackkurs hat dieKrise verlängert, verschlimmert und verteuert. Ohne

diese regierungsunfähige Koalition hätten wir schonlange einen dauerhaften Krisenmechanismus, und ohnesie wären wir bei der Errichtung einer europäischenWirtschaftsregierung weiter. Nun sollen wir sogar dieUrabstimmung bei der FDP abwarten. Stellen Sie sicheinmal vor, was passieren würde, wenn sich die Mitstrei-ter von Herrn Schäffler durchsetzen würden und sich diegrößte Wirtschaftsmacht in der Europäischen Union ge-gen die Installation eines permanenten Rettungsmecha-nismus stellen würde. Ich möchte mir das nicht vorstel-len; denn das würde für Deutschland unendlich teuerwerden. Das muss verhindert werden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Herr Präsident, ich komme zum Schluss.

(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist auch besser so!)

Die Welt schaut zurzeit auf dieses Land. Müsste sie sichnur auf die Bundesregierung verlassen, wäre sie verlas-sen. Dass sich unsere Nachbarn auf Deutschland verlas-sen können, liegt auch daran, dass es in diesem Hauseeine verantwortungsbewusste und europaverlässlicheOpposition gibt.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Die bürgerlichen Tugenden, die Sie so gerne in An-spruch nehmen – dazu gehört Verlässlichkeit –, habensich in Ihrem Koalitionszoff schon lange in schwarz-gel-ben Rauch aufgelöst. Damit muss Schluss sein. Deutsch-land hat eine Verantwortung. Wir müssen dieser Verant-wortung in Europa bei dieser Krise gerecht werden. Dasgeht nicht mit dem Dauerzoff in Ihren Reihen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Präsident Dr. Norbert Lammert:Das Wort erhält nun der Bundesminister der Finanzen

Dr. Wolfgang Schäuble.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister der Finan-zen:

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Wir führen diese Debatte in einer Zeit, in der dieMenschen in unserem Lande mit großen Sorgen auf das,was wir hier zu behandeln und zu entscheiden haben,schauen. Nicht nur die Menschen in unserem Lande,sondern auch die Menschen in vielen anderen Ländern inEuropa und auf anderen Kontinenten dieser Welt ma-chen sich Sorgen, dass sich die unruhige Lage auf denFinanzmärkten – anders als 2008, aber in einer ver-gleichbaren Weise – zu einer großen Krise ausweitenkönnte. Das hat auch die Tagung von Weltbank und In-ternationalem Währungsfonds in der vergangenen Wo-che sehr geprägt. Wir müssen uns dieser Verantwortungbewusst sein.

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Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble

Wir müssen uns im Übrigen auch bewusst sein – ichglaube, das gilt auch für die Art und Weise, wie wir dieseDebatte führen, nämlich mit Respekt vor den Argumen-ten des einen und den Bedenken des anderen; denn kei-nem fällt diese Entscheidung leicht –, dass sich die großeMehrheit der Bürgerinnen und Bürger in diesem Landefragt: Ist die Politik in der Lage, diese Entwicklungen zusteuern? Sind die Entscheidungen, die wir treffen, zuverantworten? Haben wir die Chance, das, was wir inJahrzehnten erreicht haben, für die Zukunft zu sichern?

Es ist wichtig, dass man klarmacht: Wir haben im ver-gangenen Jahr, in der Nacht vom 9. auf den 10. Mai2010, beschlossen, übergangsweise eine Finanzstabili-sierungsfazilität in Europa zu schaffen, die ermöglichensoll, Ansteckungsgefahren zu bekämpfen, bis wir, umden Zeitraum zu überbrücken, eine dauerhafte Regelungin Europa zustande bringen. Das braucht in Europamanchmal mehr Zeit, als wir für wünschenswert halten;aber es ist so.

Diese ist auf ein Volumen von 440 Milliarden Eurofestgelegt worden. Diese 440 Milliarden Euro werdendurch die Entscheidungen, die wir jetzt in nationale Ge-setzgebung umsetzen, bereitgestellt. Die Mechanik die-ser Finanzstabilisierungsfazilität ist so ausgestaltet, dasswir unter der Bedingung der Bewertung mit der höchstenBonitätsstufe nur dann 440 Milliarden Euro – dieser Be-trag ist die Obergrenze – auf den Anleihemärkten auf-nehmen können, wenn die Garantien der Länder, dieüber diese Bonität verfügen, entsprechend aufgestocktwerden. Deswegen beträgt der deutsche Garantierahmen211 Milliarden Euro; er wird nicht erhöht und steht nichtzur Debatte. Das ist die Entscheidung, die getroffenwurde.

Im Übrigen treffen wir heute auch die Entscheidung– der Vorsitzende der Unionsfraktion, Volker Kauder, hatdas ausgeführt –, dass in Zukunft alle Entscheidungen indiesem Zusammenhang – niemand weiß, was die Zu-kunft bringt; das ist immer so gewesen – der Zustim-mung des Deutschen Bundestags bedürfen. Insofernsollten wir uns nicht gegenseitig fragen: Was kommt alsNächstes? Wer hat dies oder jenes vor? Entweder führtdies zu Verunsicherung oder es ist unseriös. In Wahrheitist es auch unanständig.

Herr Kollege Schneider, da gestern Vormittag unterden Sprechern im Haushaltsausschuss verabredet wor-den ist, dass die persönliche Anwesenheit des Bundes-finanzministers im Haushaltsausschuss nicht erwartetwird, sollte man abends nach der Sitzung nicht das Ge-genteil sagen. Das ist eine Form der Diffamierung, dieich persönlich für nicht in Ordnung halte.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Das istnicht verabredet worden! Sie hätten sich demstellen müssen!)

Es wird auch nichts vergeheimnist und verschwiegen.

(Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Ach ja!)

Natürlich darf man aber nicht zu jedem Zeitpunkt jedeSpekulation auf dem Markt austragen.

Herr Kollege Oppermann, von der Europäischen Fi-nanzstabilisierungsfazilität, die ein Gesamtvolumen von440 Milliarden Euro hat – auch dazu braucht es keineAufforderung; die entsprechenden Zahlen sind oft genugim Deutschen Bundestag genannt worden –, sind bisherdurch das Programm für Portugal insgesamt 26 Milliar-den Euro und durch das Programm für Irland insgesamt17,7 Milliarden Euro zulasten der EFSF belegt worden.Davon wurden jeweils die bisherigen Raten ausbezahlt,nicht mehr und nicht weniger. Das ist im Haushaltsaus-schuss zu jeder Zeit dargelegt worden. Hier wird alsonichts verschwiegen. Ich habe Ihre Aufforderung abergerne zum Anlass genommen, dies noch einmal klarzu-stellen.

Präsident Dr. Norbert Lammert:Herr Minister, darf der Kollege Schick Ihnen eine

Zwischenfrage stellen bzw. eine Zwischenbemerkungmachen?

(Zurufe von der CDU/CSU: Oh nein! – Mussdas sein? – Gegenruf der Abg. Claudia Roth[Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:Warum denn nicht?)

Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister der Finan-zen:

Bitte, ja.

Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):

Herr Minister, ich habe gestern in der Fragestunde dieFrage gestellt, ob die Bundesregierung eine Nutzungder in Washington diskutierten Instrumente, die einLeveraging bezüglich der Garantien im Rahmen derEFSF vorsehen, ausschließt. Daraufhin hat der Staatsmi-nister bei der Bundeskanzlerin, Herr von Klaeden, ge-sagt: Ja. Dann hat Herr Kampeter weitere Ausführungengemacht, mit denen er meine Frage aber nicht beantwor-tet hat.

Ich möchte gerne von Ihnen wissen, was Sie mit derFormulierung der effizienten Nutzung der EFSF, die Siein Washington getroffen haben, gemeint haben – alleFachleute verstehen darunter die Hebelung der EFSF;das heißt, dass mit den gewährten Garantien ein wesent-lich größerer Umfang an Krediten ausgereicht werdenkann – und ob diese Hebelung vor dem Hintergrund derEntscheidung, die der Bundestag heute zu treffen hat,möglich ist oder ob es dazu einer neuen Parlamentsent-scheidung bedarf. Wenn es dazu nämlich keiner neuenParlamentsentscheidung bedarf, dann müssen die Abge-ordneten dieses Hauses wissen – das gilt auch mit Blickauf die Öffentlichkeit –, dass sie mit ihrer heutigen Ent-scheidung auch eine Hebelung ermöglichen. MeinKenntnisstand dazu ist, dass darüber bereits verhandeltwird. Ich finde, dem Bundestag muss bekannt sein, obdem so ist oder nicht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

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Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister der Finan-zen:

Herr Kollege, die Antwort ist völlig eindeutig: DieGuidelines, die für die erweiterte EFSF angewendet wer-den, sind noch nicht abschließend verhandelt.

(Zuruf von der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Aha!)

– Warten Sie vor dem „Aha“ doch meinen zweiten Satzab. – Der Bundestag hat die Absicht, zu beschließen– genau das steht in dem Gesetzentwurf, den wir hier inzweiter und dritter Lesung behandeln –, dass dieseGuidelines der Zustimmung des Deutschen Bundestagsbedürfen. Danach werden wir das in diesem Rahmen be-handeln. Deswegen ist jede Verdächtigung und jedeVerunsicherung unanständig und unangemessen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Im Übrigen bleibt es dabei: Wir beschließen einendeutschen Garantierahmen von 211 Milliarden Euro. Derist hoch genug.

(Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Was ist mit den Hebeln?)

– Ich habe das doch gerade beantwortet. Durch Wieder-holung der Frage wird es nicht besser. Herr KollegeSchneider, Ihre Methoden habe ich gerade an einem kon-kreten Beispiel dargelegt.

(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Können Sie es ausschließen?)

Die Sache ist zu ernst,

(Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Ja, eben!)

als dass Sie die Bevölkerung, die verunsichert genug ist,auf diese Weise weiter durch falsche Behauptungen undInsinuierungen verunsichern sollten, wenn Sie mit unsgemeinsam Verantwortung dafür tragen wollen, dass wirEuropas Sicherheit und unsere Währung erhalten.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Ich will eine zweite Bemerkung machen. Herr Kol-lege Steinbrück, man muss sich entscheiden. Wir sindübereinstimmend der Auffassung, dass die EuropäischeZentralbank auch in Extremsituationen – Sie wissen,was alles Extremsituationen sein können; Sie haben dasim Amt des Bundesfinanzministers erlitten – nicht dieAufgabe hat oder nicht haben sollte, am Sekundärmarktzu intervenieren. Gerade deswegen ist es richtig, dasswir der EFSF diese Möglichkeit unter engen Vorausset-zungen einräumen. Es bedarf in jedem Fall eines Memo-randum of Understanding, und auf jeden Fall ist durchdas, was wir heute beschließen, die Beteiligung desDeutschen Bundestages an diesen Entscheidungen si-chergestellt. Das eine oder das andere müssen wir ma-chen. In Ihrer Rede haben Sie beides kritisiert. Das wareines zu viel. Darauf wollte ich aufmerksam machen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, jetzt noch einmal ingroßer Klarheit: Wir sind in einer außergewöhnlichschwierigen Lage, weil die Nervosität an den Finanz-märkten hoch ist und weil die Gefahr besteht, dass sich

die Beunruhigung der Finanzmärkte auch auf die Real-wirtschaft auswirken kann.

(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sagen Sie einmal der FDP!)

Das haben wir erlebt. Sie haben das vor drei Jahren nichtfür möglich gehalten. Es ist dann so gekommen; mankennt die Zukunft nicht genau im Vorhinein. Deswegenist es klug, dass wir unsere Verantwortung mit großemErnst wahrnehmen und dass über jeden Schritt offen dis-kutiert und auch entschieden wird.

Ich will daher die nächsten Schritte beschreiben: Wirgehen jetzt hinsichtlich des Kreditprogramms für Grie-chenland, das im April des vergangenen Jahres beschlos-sen wurde, weiter vor. Internationaler Währungsfonds,Europäische Zentralbank und Europäische Kommis-sion, die zu prüfen haben, ob die Voraussetzungen fürdie Auszahlung der nächsten Tranche gegeben sind, wer-den ihre Mission heute wieder aufnehmen. Nur wenndiese Voraussetzungen gegeben sind, wird die nächsteTranche ausgezahlt werden. Darüber wird voraussicht-lich in der Sitzung der Euro-Gruppe am 13. Oktober2011 eine Entscheidung zu treffen sein. Die Entschei-dung ist offen, weil wir den Bericht noch nicht haben.Erst wenn wir den Bericht haben, werden und könnenwir entscheiden.

Dann wird sich zeigen – darüber haben wir im Juniund Juli schon diskutiert –, welche Voraussetzungen er-füllt werden müssen, damit Griechenland auf längereSicht tragfähig wird. Der griechische Ministerpräsidenthat in diesen Tagen auch auf Initiative der deutschenBundesregierung – Herr Kollege Rösler, wir beide habenuns da sehr engagiert – mit vielen verantwortlichen Ver-tretern der deutschen Wirtschaft darüber geredet, ob diedeutsche Wirtschaft bereit ist, sich stärker am Aufbau ei-ner wettbewerbsfähigen Wirtschaft in Europa zu beteili-gen.

Die Europäische Kommission soll die Fonds noch ef-fizienter und noch schneller nutzen können. Die Bundes-regierung drängt darauf; die Staats- und Regierungschefshaben das verlangt. Aber jeder weiß: Die Entscheidungs-prozesse in Brüssel sind nicht so schnell und einfach,wie wir uns das gelegentlich wünschen würden.

Um auch dieses zu sagen: Ich bin froh, dass die Euro-päische Kommission endlich – ich habe anderthalb Jahredarauf gedrängt – eine Initiative für eine Finanztransak-tionsteuer ergriffen hat; denn sie alleine hat das Rechtfür solche Initiativen. In den letzten anderthalb Jahrenhaben wir hier wieder und wieder darüber geredet. Ges-tern hat sie endlich den Vorschlag gemacht. Sie könnensich darauf verlassen, dass die Bundesregierung alles da-ransetzen wird, dass diese Initiative so schnell wie mög-lich zu einem Erfolg gebracht wird. Ich glaube, dass dasein weiterer guter Schritt ist.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zu-ruf des Abg. Sigmar Gabriel [SPD])

– Wir sind uns doch in diesen Fragen einig. Das ist einegemeinsame Position der Bundesregierung. Die Staats-

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Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble

und Regierungschefs der Euro-Zone haben das am21. Juli wieder gefordert.

Übrigens, das, was jetzt in den fast sechs Gesetzge-bungsvorschlägen zur Verstärkung des Stabilitäts- undWachstumspaktes im Parlament akzeptiert worden ist,geht auf die Arbeiten der Taskforce unter dem Ratspräsi-denten Van Rompuy zurück, die auf Initiative der Bun-deskanzlerin zur Stärkung des Stabilitäts- und Wachs-tumspaktes im vergangenen Jahr eingeleitet wurden. Daswird jetzt umgesetzt, und ich bin froh, dass es endlich er-reicht worden ist.

Herr Kollege Trittin, mit allem Respekt: Überschüsseund Defizite sind etwas Unterschiedliches. Im Gesetz-gebungspaket ist genau festgelegt, dass das nicht dasGleiche ist. Die Euro-Zone als Ganzes hat ein Gleichge-wicht nur deswegen, weil Deutschland einen Leistungs-bilanzüberschuss hat. Sonst wäre der Euro eine Defizit-währung. Gott sei Dank hat Deutschland einenLeistungsbilanzüberschuss, mit dem wir Europa insge-samt stabilisieren können. Deswegen sollten Sie dasnicht kritisieren und nicht sagen, die Überschüsse seienschuld an den Problemen. Nein, die Schulden und dieDefizite sind die Ursache der Probleme, und die müssenwir gemeinsam bekämpfen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich will auch sagen: Wir werden jede Möglichkeitnutzen. Was wir national noch an Gesetzgebungsspiel-raum hatten, haben wir ausgeschöpft. Wir haben inDeutschland im Gegensatz zu anderen ein Restrukturie-rungsgesetz für die Banken verabschiedet. Wir haben imGegensatz zu anderen im Alleingang – viel kritisiert –bereits im vergangenen Jahr ungedeckte Leerverkäufenational verboten.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Mehr Spielraum hat der nationale Gesetzgeber nicht.Aber wir werden darauf drängen – ich hoffe, alle im Eu-ropäischen Parlament, auch Ihre Kollegen und Freunde –,dass wir mehr und schneller regulieren. Ich bin in der Tatder Meinung, dass die Frage, ob die Politik für dieMärkte schnell genug ist, so beantwortet werden muss,dass wir als Politik die Märkte so regeln, dass klar ist,dass die demokratisch legitimierte Politik die Regelnmacht, Grenzen setzt und dies auch durchsetzt.

Es darf nicht sein, dass wir wegen des Arguments derStandortvorteile am Ende nicht in der Lage sind, zu Ent-scheidungen zu kommen. Nein, wir wollen besser regu-lierte Märkte. Wir wollen die strukturierten Produktetransparenter und besser regulieren. Bei jedem Schritt indiese Richtung werden wir im europäischen und welt-weiten Rahmen darauf drängen, so schnell wie möglichvoranzukommen. Es muss klar sein: Gerade bei derFrage der demokratischen Legitimation geht es einer-seits darum, dass die Märkte der Welt nicht sicher sind,ob die westlichen Demokratien noch schnell genug dienotwendigen Entscheidungen treffen können –

Präsident Dr. Norbert Lammert:Herr Minister, lassen Sie noch eine weitere Frage zu?

Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister der Finan-zen:

– Herr Präsident, ich würde gerne den Satz zu Endeführen –, und andererseits darum, dass unsere Bürgerin-nen und Bürger hinsichtlich der Frage verzweifeln, obdie Märkte die Oberhand haben oder ob die Politik ent-scheidet. Wenn die freiheitlich und rechtsstaatlich ver-fasste Demokratie stabil bleiben will, muss sie klarma-chen, dass sie die Regeln setzt und diese auch durchsetzt,und dazu ist die Bundesregierung entschlossen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Herr Präsident.

Präsident Dr. Norbert Lammert:Es gab noch den Wunsch nach einer Zwischenbemer-

kung durch den Kollegen Schlecht, die ich, auch wenndie gemeldete Redezeit eigentlich überschritten ist, nochgerne zulassen würde, weil sie vorher angemeldet war,wenn Sie damit einverstanden sind.

Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister der Finan-zen:

Bitte, Herr Präsident.

Michael Schlecht (DIE LINKE):Herr Minister, Sie haben eben die Außenhandelsüber-

schüsse Deutschlands angesprochen und behauptet, sieseien nicht das eigentliche Problem, sondern das eigent-liche Problem sei die Verschuldung. Sie müssten schonnoch einmal erläutern, weshalb jenseits der deutschenGrenzen – rauf und runter – insbesondere die deutschenAußenhandelsüberschüsse und die Schwäche des deut-schen Binnenmarktes im Grunde genommen als eine derzentralen Ursachen dafür benannt wird, dass die Ver-schuldung der anderen Länder spiegelbildlich zu dieserEntwicklung zustande gekommen ist. Man muss konsta-tieren: Wir haben in Deutschland über die letzten zehnJahre einen aufsummierten Außenhandelsüberschussvon 1,2 Billionen Euro. Dieser wurde nur möglich, weilsich die anderen Länder verschulden mussten.

(Norbert Barthle [CDU/CSU]: Hanebüchene Logik!)

Die Frage ist, weshalb Sie diesen Zusammenhang ein-fach negieren und nicht sehen, dass wir in Deutschlandetwas dafür tun müssen, dass dieser Außenhandelsüber-schuss abgebaut wird, insbesondere durch eine Stärkungder Binnennachfrage.

(Beifall bei der LINKEN)

Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister der Finan-zen:

Schauen Sie, Herr Kollege, das Problem liegt darin:Wenn man wie die Linke davon überzeugt ist, dass eineWirtschaft möglichst staatlich durchreguliert und zentra-lisiert verwaltet werden muss

(Zurufe von der LINKEN)

– lassen Sie mich doch die Frage beantworten –, undman nicht an die Überlegenheit einer Ordnung, die aufMarkt und Wettbewerb gründet, glaubt, dann hält man

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natürlich den Wettbewerb für etwas Negatives. Wennman aber an den Wettbewerb glaubt, dann heißt das, dassderjenige, der erfolgreicher ist, von den anderen natür-lich etwas beneidet wird. Es ist leicht, zu sagen: Wärt ihrnicht so erfolgreich, würde unsere Schwäche nicht soauffallen. – Aber Europa hängt an der Stärke der deut-schen Wirtschaft.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Deswegen, liebe Freunde: Die Solidarität der Deut-schen ist klar. Sie muss sich auch darin zeigen, dass wirweiterhin eine Finanz- und Wirtschaftspolitik betreiben,die dafür sorgt, dass Deutschland ein Anker der Stabilitätin Europa und ein Motor des europäischen Wachstumsbleibt. Die Bundesregierung wird auf diesem erfolgrei-chen Weg weiter vorangehen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Präsident Dr. Norbert Lammert:Das Wort erhält nun der Kollege Carsten Schneider

für die SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD)

Carsten Schneider (Erfurt) (SPD):Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eu-

ropa ist in einer kritischen Situation. Aber noch viel kri-tischer als die Situation an den Finanzmärkten in Europaist die Situation dieser Koalition; denn nicht anders kannich die Büttenrede interpretieren, die Sie, Herr Brüderle,heute an die Adresse Ihrer Koalition gerichtet gehaltenhaben.

(Beifall bei der SPD)

Sie war weder angemessen noch in der Sache irgendwieberechtigt.

Herr Minister Schäuble, Sie haben eben gesagt, wirhätten darauf verzichtet, Sie gestern im Haushaltsaus-schuss zu hören. Das Gegenteil ist richtig: Ich habe be-antragt, dass Sie uns im Haushaltsausschuss, bevor wirhier im Bundestag über diesen Gesetzentwurf abstim-men – das auch nach Ihren Aussagen das wichtigste Ge-setz dieser Legislaturperiode ist –, Klarheit darüber ver-schaffen, ob weitere Maßnahmen geplant sind odernicht, ob wir in Richtung einer weiteren Verschuldunggehen oder nicht. Sie sind diese Antwort, auch im Rah-men der Frage des Kollegen Schick, schuldig geblieben.Ich finde das nicht hinnehmbar!

Ich habe den Eindruck, dass wir, insbesondere vordem Hintergrund der wackligen Koalitionsmehrheit, hin-ter die Fichte geführt werden sollen. Worum geht es indiesem Paket? Es wird nicht nur um die 750 MilliardenEuro gehen. Es wird auch um die Frage gehen, ob dasRisiko eventuell noch höher ist. Das wird mit dem Be-griff „Hebel“ beschrieben.

Ich will zitieren, was in der heutigen Ausgabe desHandelsblatts steht:

Berlin habe Barroso „dringend gebeten“, das heikleThema in seiner Grundsatzrede zur Lage der EU am

Mittwoch im Straßburger Europaparlament nicht zuerwähnen, sagte ein hochrangiger Vertreter derEuro-Zone. … Dabei ist der Hebel längst beschlos-sene Sache. Frankreichs Premier François Fillonhat ihn vorgestern im französischen Parlament be-reits angekündigt: „Wir werden Vorschläge ma-chen, um den Kampf gegen die spekulativen An-griffe auszuweiten.“ Dabei sprach er ausdrücklichvon einer „Hebelung der Mittel“ des Fonds.

Herr Minister, ich finde, Sie wären Ihrer Verantwor-tung als Bundesfinanzminister vor dem deutschen Volk,aber auch vor den Kollegen, die hier im Bundestag ab-stimmen, dann gerecht geworden, wenn Sie Auskunftdarüber gegeben hätten, was Sie beim InternationalenWährungsfonds beraten und bereits zugesagt haben.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Es ist nicht so, dass der Deutsche Bundestag darüberentscheiden wird, ob es diesen Hebel geben wird. Es istso, dass der Haushaltsausschuss darüber entscheidenwird. Jeder, der heute diesem Gesetzentwurf seineStimme gibt, muss wissen, dass er diese Entscheidung andie Mitglieder des Haushaltsausschusses delegiert. Dasmuss man wissen, bevor man abstimmt! Sie wollen dasaber nicht transparent machen, weil Sie Angst um die ei-gene Mehrheit in Ihrer Koalition haben. Das ist derGrund.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Diese Angst und Unsicherheit ziehen sich ebenso wie Ihrpermanenter Zickzackkurs, wenn überhaupt von einemKurs die Rede sein kann, durch die gesamte Griechen-land-Krise.

Ich will kurz daran erinnern, wie das Ganze abgelau-fen ist. Im Februar 2010 haben Sie gesagt: Griechenlandist kein Problem. Es wird kein deutsches Geld geben. –Im Mai haben wir ein Hilfspaket in Höhe von 22 Milliar-den Euro beschlossen. Der Kollege Fricke sagte hiernoch: 22 Milliarden Euro und keinen Cent mehr. Demhat keiner von Ihnen widersprochen. Am selben Tag, aneinem Freitag, ist die Bundeskanzlerin nach Brüssel ge-fahren und hat dort ein Paket über 123 Milliarden Eurovereinbart.

Meine Damen und Herren, Sie sind in Europa Getrie-bene der Märkte. Sie führen nicht. Sie haben Deutsch-land isoliert, und Sie haben mit Ihrem fehlerhaftenKrisenmanagement die Krise verschärft, statt zu deeska-lieren.

(Beifall bei der SPD)

Dass Sie Angst um Ihre eigene Mehrheit haben, kannich nachvollziehen. Denn bei allem, was Sie bisher be-schlossen haben, ist das Gegenteil eingetreten; denn Siesind von den Märkten und der Notwendigkeit, die ande-ren europäischen Länder zu überzeugen, überholt wor-den.

Ich habe einen Entschließungsantrag herausgesucht,den die Fraktionen der CDU/CSU und der FDP am

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Carsten Schneider (Erfurt)

26. Oktober 2010 zu dem Thema vorgelegt haben. Daringeht es um den Stabilitätspakt, der gestern im Europäi-schen Parlament beschlossen worden ist. Unter Punkt 3des Antrags steht – ich zitiere –:

Diese Sanktionen müssen zudem früher als bisherund weitgehend automatisch zum Einsatz kommen.

Genau diesen Automatismus hat die Bundeskanzlerin ei-nen Tag später in Deauville geopfert. Der Stabilitätspaktwar nicht Bestandteil ihrer Verabredung mit HerrnSarkozy. Erst das Europäische Parlament hat ihn wiedereingebracht.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Unter Punkt 5 des Antrags steht:

Dies beinhaltet zur Vermeidung von Fehlanreizenden Verzicht auf die Einrichtung eines dauerhaftenFonds für überschuldete Staaten, in dem andereStaaten der Währungsunion oder die EU Krediteoder Garantien bereitstellen müssen. Auch eineEntfristung des gegenwärtigen Rettungspakets wirdabgelehnt …

Heute beschließen wir wieder das glatte Gegenteil vonall dem, was Sie uns vor einem Jahr vorgetragen haben.

(Beifall bei der SPD)

Das, was wir heute beschließen wollen, ist zwar rich-tig, es hätte aber ein Jahr früher kommen müssen. Dannhätte es erst gar keine Krisensituation in Italien und Spa-nien gegeben, die dazu führt, dass wir heute mit mehrGeld gegen die Finanzmärkte vorgehen müssen. DiesenPunkt muss man Ihnen vorhalten; denn Sie sind nicht be-reit, Führung zu übernehmen und der deutschen Öffent-lichkeit zu sagen, was für Vorteile wir von Europa ha-ben. Sie setzen auf Populismus, sind damit aber letztlichzu Recht gescheitert.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Sie machen uns, die wir die Verantwortung mittragen,Vorwürfe. Wir sind an dieser Stelle von Ihrer Seite be-schimpft worden. Ich habe in Washington viele Gesprä-che mit Vertretern anderer Länder geführt. Ihre ersteFrage war immer: Wird denn die Opposition mit dafürstimmen? Das ist uns wichtig. Denn auch wir wissen,dass diese Regierung nicht mehr lange hält, und wirbrauchen Sicherheit in Europa.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

All das, was dazu geführt hat, dass wir in Europa sostark sind, dass wir wirtschaftlich prosperieren und dassdie Arbeitslosigkeit sinkt, haben Sie abgelehnt. Sie ha-ben die Konjunkturprogramme, das Kurzarbeitergeldund die Investitionsprogramme abgelehnt. Das alles abermacht uns heute stark. Nichts davon ist Ihr Thema gewe-sen. Sie haben das in der Oppositionszeit abgelehnt undkeine Alternativen gehabt.

(Beifall bei der SPD)

Sie sollten still sein und dankbar dafür sein, dass Sietrotz dieser Regierung eine breite Mehrheit im Bundes-tag bekommen werden.

Zum Thema Schuldenbremse: Sie tun jetzt so, als wä-ren Sie der intellektuelle Urheber gewesen. Wenn ichmich richtig entsinne, geht der Entwurf der Schulden-bremse – die hoffentlich auch in anderen nationalen Par-lamenten eingeführt wird und dazu führt, dass Europaauch eine Stabilitätsunion wird und letzten Endes stärkerdaraus hervorgeht als bisher, dass die Länder zusammen-rücken, die Finanzpolitiken vereinheitlicht werden unddas bisherige Steuerdumping unterbunden wird – aufPeer Steinbrück zurück. Wie haben Sie sich damals inder Abstimmung im Deutschen Bundestag verhalten,Herr Brüderle? Sie haben sich enthalten. Sehr mutig!

(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Zurufe von SPD: Oh! – Hört! Hört!)

Wir Sozialdemokraten werden heute dem Gesetzent-wurf zustimmen. Wir sind der Auffassung, dass wir einwehrhaftes Europa brauchen, das zusammenhält, undzwar unter der klaren Kondition, die Haushalte zu sanie-ren und die Wettbewerbsfähigkeit herzustellen, aberauch den sozialen Zusammenhalt in Europa nicht zu ge-fährden. Das bedeutet, auch die Finanzmärkte an denKosten der Krise zu beteiligen. Das haben Sie in denletzten Jahren verhindert.

(Beifall bei der SPD)

Das bedeutet, dass die Finanzmärkte, diejenigen, dieSpekulationsgewinne erzielen und noch heute enormeGewinne mit griechischen Papieren machen, besteuertwerden und dass die daraus resultierenden Steuereinnah-men genutzt werden, um die Investitionstätigkeit inGriechenland und anderen südeuropäischen Ländern vo-ranzubringen. Reines Sparen ist zu wenig. Wir braucheneinen Ansatz, der die Investitionstätigkeit wieder anregt.

(Beifall bei der SPD)

All dies bleiben Sie leider schuldig. Meine Hoffnungist, dass die anderen europäischen Länder Sie so wie bis-her auf den rechten Weg bringen. Eine weitere Hoff-nung, die ich habe, ist: Jede Abstimmung in diesem Par-lament wird zu einem Lackmustest für diese Regierung.Über kurz oder lang werden Sie daran zerbrechen. Heutewerden Sie vielleicht noch einmal die Mehrheit bekom-men. Aber das wird nicht auf Dauer so sein. Je früherIhre Regierungszeit endet, desto besser für Europa undfür Deutschland!

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetendes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN –Norbert Barthle [CDU/CSU]: Wunschbilderder Opposition! Das kann man nicht verste-hen!)

Präsident Dr. Norbert Lammert:Das Wort erhält nun der Bundesminister für Wirt-

schaft, Philipp Rösler.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

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Dr. Philipp Rösler, Bundesminister für Wirtschaftund Technologie:

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrtenDamen und Herren! Wir haben in Deutschland nicht nurgroßartige Wachstumszahlen.

(Zurufe von der SPD: Trotz Ihrer Partei! – Aber nicht bei der FDP!)

Gerade heute hat Frau von der Leyen auch großartigeZahlen zu verkünden, was die Beschäftigung anbelangt.Im September ist die Zahl der Arbeitslosen in Deutsch-land unter 2,8 Millionen gesunken.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Dass wir Wachstum, Wohlstand und Beschäftigung ha-ben, ist unter anderem ein Verdienst eines starken, ge-meinsamen Europas und eines starken, stabilen Euro.Deswegen ist es richtig, dass wir alles dafür tun, beidezu stärken. Wir brauchen ein starkes gemeinsames Eu-ropa, aber auch eine gemeinsame, starke Währung, ebeneinen stabilen Euro.

Das ist das Problem: Die Menschen haben längst dasVertrauen verloren.

(Zurufe von der SPD: Ja! – In euch! – KlausErnst [DIE LINKE]: In Ihre Partei! –Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Wir habenleider eine geordnete Insolvenz der FDP! –Weitere Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN)

– Ich komme gleich auf Sie zu sprechen, aber dasSchreien nutzt Ihnen nichts. – Es schadet der Politik ins-gesamt, dass die Menschen das Vertrauen verloren ha-ben. Sie glauben nicht, dass ihnen Europa guttut unddass Europa richtig ist. Deswegen müssen wir alles dafürtun, das Vertrauen zurückzugewinnen. Jeder, der pro-europäisch denkt und fühlt, muss alles dafür tun, die Ak-zeptanz Europas zu erhöhen.

(Zuruf von der SPD: Wo haben Sie Ihre Wahl-plakate in Berlin gelassen?)

Das heißt, man muss alles, was man macht, vernünftigerklären. Man muss die Frage beantworten, in welcheRichtung sich Europa in den nächsten Jahren entwickelnsoll. Wir beantworten diese Frage sehr klar. Wir wollennicht wie Sie ein Schuldeneuropa, sondern endlich eineechte Stabilitätsunion in Europa.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Sie haben die Maastricht-Kriterien aufgeweicht. Siewollen Euro-Bonds für alle. Obwohl Sie hier anders re-den, haben Rot und Grün gestern im Europäischen Parla-ment gegen eine Verschärfung der Stabilitätskriteriengestimmt. Das hat nichts mit proeuropäischer Geistes-haltung zu tun und erst recht nichts mit wirtschaftspoliti-scher Kompetenz.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Präsident Dr. Norbert Lammert:Herr Minister, darf der Kollege Heil Ihnen eine Zwi-

schenfrage stellen?

Dr. Philipp Rösler, Bundesminister für Wirtschaftund Technologie:

Nein.

Es ist richtig, dass wir heute gemeinsam über dieEFSF und das Gesetz zum Stabilisierungsmechanismusdiskutieren.

(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Wie, wir diskutieren heute doch nichtmehr darüber! Was ist das denn schon wieder? –Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Wir stimmenheute ab!)

Denn hier werden klare Kriterien vorgegeben. Rettungs-pakte sind immer nur das letzte Mittel.

(Zuruf von der SPD: Wir wollen Guido wie-derhaben!)

Sie können und dürfen niemals der Ersatz für verfehlteHaushaltspolitik und verfehlte Wirtschaftspolitik in an-deren Mitgliedstaaten der Euro-Zone sein. Künftig wirdes Hilfen nur unter klar definierten Bedingungen geben.Ob es solche Hilfen gibt, wird dann positiv beschieden,wenn Einstimmigkeit in den entsprechenden Gremienherrscht. Das ist ein eindeutiger Vorteil im Vergleich zuanderen Gremien, in denen Deutschland wie in der EZBüberstimmt werden kann und Entscheidungen manchmalvielleicht gegen die ordnungspolitische Vernunft undden ordnungspolitischen Sachverstand getroffen werden.Das wird jetzt durch die zu beschließenden Maßnahmeneindeutig besser werden.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Die Haftungsobergrenze ist selbstverständlich festge-legt. Natürlich kann es hier nur mithilfe des DeutschenBundestages zu Änderungen kommen. Das heißt, das,was immer gefordert wurde und was vollkommen richtigist, nämlich dass der Haushaltsgesetzgeber immer dasletzte Wort hat, wird hiermit verwirklicht. Damit bleibtes dabei: Das Königsrecht, das Haushaltsrecht, bleibtbeim Parlament. Das ist eine richtige und kluge Ent-scheidung und eine vernünftige Ausgestaltung der imÄnderungsgesetz enthaltenen Maßnahmen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich kann deswegen nur an Sie appellieren, nicht ausparteitaktischen Erwägungen zuzustimmen, sondernweil Sie wissen, dass Sie damit den richtigen Weg inRichtung einer Stabilitätsunion gehen, die klare Regelnvorgibt. So muss die Schuldenbremse in allen Mitglied-staaten verankert werden, es muss ein Wettbewerbs-fähigkeitstest, für den wir heute im Anschluss im Wett-bewerbsfähigkeitsrat werben werden, eingeführt werden,und es müssen Maßnahmen für all die Staaten ergriffenwerden, die nicht aus eigener Kraft in der Lage sind, diewirtschaftliche Leistungsfähigkeit herzustellen. Dafür

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Bundesminister Dr. Philipp Rösler

brauchen diese Staaten die neuen Instrumente der EFSFund später des ESM. Das zeigt, dass wir mit den Maß-nahmen, die jetzt noch anstehen, genau die richtigenSchritte in eine Stabilitätsunion tun; denn man muss denMenschen die Frage beantworten: Wohin soll sich Eu-ropa in den nächsten Jahren entwickeln? Nur wenn mandiese Frage beantworten kann, dann wird man wiederVertrauen in die Politik insgesamt herstellen können.Dafür steht die Regierungskoalition aus CDU/CSU undFDP.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Präsident Dr. Norbert Lammert:Ich mache jetzt einige wenige geschäftsleitende Be-

merkungen. Es gibt zwei Wünsche auf Kurzintervention,und zwar des Kollegen Heil und des Kollegen Ernst. DieKollegen werde ich gleich der Reihe nach aufrufen. Da-nach wird der Minister Gelegenheit haben, darauf zuantworten.

Des Weiteren will ich, wie von Einzelnen gewünscht,gerne darauf aufmerksam machen, dass im weiteren Ver-lauf der Debatte sowohl der Kollege Willsch als auch derKollege Schäffler das Wort erhalten, sie aber nicht fürdie jeweiligen Fraktionen, denen sie angehören, reden.Sie machen von dem Rederecht Gebrauch, das sie alsMitglieder des Deutschen Bundestages selbstverständ-lich haben, mit und ohne Zugehörigkeit und Zuordnungzur jeweiligen Fraktion. Ich denke, es entspricht sowohlunserem Selbstverständnis als auch der völlig unmiss-verständlichen Verfassungslage, dass wir diesem An-spruch Rechnung tragen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Nun bekommt der Kollege Heil die Gelegenheit zu ei-ner Kurzintervention.

Hubertus Heil (Peine) (SPD):Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Bundesminister

Rösler, Sie haben eben davon gesprochen, dass es darumgehe, eine klare proeuropäische Position zu beziehen,dazu zu stehen und Vertrauen zu schaffen. Ich frage Siedeshalb, warum Sie als Vorsitzender der FDP in den Ta-gen vor der Berliner Abgeordnetenhauswahl, als IhrePartei in dieser Stadt in unverantwortlicher Art undWeise plakatiert und mit antieuropäischen Ressenti-ments gespielt hat, wobei die Strategie Gott sei Dank ge-scheitert ist, so beredt geschwiegen haben, wenn es Ih-nen angeblich um Verantwortung geht. Im Gegenteil: Siehaben die Stimmung noch befeuert.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetendes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und derLINKEN)

Bei aller persönlichen Wertschätzung, Herr Rösler,kann ich Ihnen einen Vorwurf nicht ersparen. Mich hatIhr Verhalten, kurz vor der Wahl populistische Strömun-gen Ihrer Partei nicht nur laufen zu lassen, sondern siesogar noch zu befeuern, an das Verhalten Ihres Vorgän-

gers, der neben Ihnen sitzt, in einer Wahlkampfsituationmit Herrn Möllemann erinnert. Ich sage Ihnen: Wenn Sienicht verhindern, dass Ihre Partei – wir werden gleichHerrn Schäffler hören – in unverantwortlicher Art undWeise antieuropäischen Populismus schürt, dann tragenSie dazu bei, dass sich die Bevölkerung in diesem Landin die falsche Richtung orientiert. Herr Rösler, erklärenSie einmal den Menschen hier, warum Sie heute so re-den, vor einigen Wochen aber geschwiegen oder denPopulismus sogar noch befeuert haben.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten derLINKEN)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Nun hat Kollege Ernst Gelegenheit zu einer Kurzin-

tervention.

Klaus Ernst (DIE LINKE):Herr Rösler, ich habe eigentlich eine sehr einfache

Frage. Können Sie in dem Fall, dass die vielen Bürg-schaften und Verpflichtungen, die wir heute, wenn wirIhrem Antrag folgen würden, in Deutschland eingehen,wirksam werden, ausschließen, dass nicht die Bürgerin-nen und Bürger in der Bundesrepublik Deutschlanddurch sinkende Renten, durch sinkende Löhne und durchsinkende Sozialleistungen zur Kasse für das gebetenwerden, was wir hier beschließen?

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Herr Minister, Sie haben Gelegenheit zur Antwort.

Dr. Philipp Rösler, Bundesminister für Wirtschaftund Technologie:

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrtenDamen und Herren Abgeordnete! Sehr geehrter HerrAbgeordneter Heil, Sie haben von antieuropäischen Ten-denzen gesprochen. Ich habe die Wortmeldung des Ab-geordneten eben sehr wohl als antieuropäisch verstan-den. Das ist aber ausdrücklich nicht unsere Linie. Ichhabe immer gesagt: proeuropäische Ausrichtung gepaartmit wirtschaftspolitischer Vernunft. Daran werden Sieunsere Worte, aber auch unser Handeln messen müssen.

Jetzt frage ich Sie – am Abstimmungsverhalten solltihr sie erkennen –: Wo ist denn Ihre proeuropäische Hal-tung gewesen, als Sie das aufgeweicht haben, was unsereVorväter bei der Einführung des Euro bedacht haben,nämlich die Maastricht-Kriterien?

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Wo ist denn Ihre proeuropäische Haltung, wenn es beiDiskussionen um Euro-Bonds genau darum geht, sol-chen Wortbeiträgen wie gerade entgegenzutreten? Wirwollen nicht, dass Schulden vergemeinschaftet werden.Die Menschen dürfen auch nicht das Gefühl haben, eswürde in Deutschland so kommen. Wo waren Sie denngestern, als die Sozialdemokraten und die Grünen im

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Bundesminister Dr. Philipp Rösler

Europäischen Parlament bei den wichtigen Abstimmun-gen zu den weiteren Stabilitätsmaßnahmen und Stabili-tätsmechanismen auf europäischer Ebene ihre Zustim-mung verweigert haben? Am Abstimmungsverhaltensollt ihr sie erkennen. Sie haben klar entgegen dem euro-päischen Geist und auch klar gegen wirtschaftspolitischeVernunft gehandelt.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –Klaus Ernst [DIE LINKE]: Herr Rösler, wasist mit meiner Frage?)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Das Wort hat nun Klaus-Peter Willsch.

Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU):Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Ich hätte es auch noch selbst gesagt: Ich sprecheheute leider nicht für meine Fraktion und bin dem Bun-destagspräsidenten dankbar dafür, dass ich meine Ge-danken gleichwohl hier vortragen kann.

Ich kämpfe zeit meines politischen Lebens dafür, dasswir in dieser Konstellation christlich-liberal miteinanderarbeiten. Der Wirtschaftsminister hat die Erfolge geradeaufgezählt, die sich sehen lassen können: 3,6 ProzentWirtschaftswachstum im letzten Jahr, und die Arbeitslo-sigkeit liegt unter 2,8 Millionen. Das ist eine stolze Leis-tung. Wir haben hier gut vorgelegt.

Da ich jetzt in einer Sachfrage nicht folgen kann,möchte ich erläutern, was ich an diesem Weg für falschhalte.

Erster Punkt: Im letzten Mai haben wir begonnen, unsmit dem Griechenland-Paket auf eine schiefe Ebene zubegeben. Danach gab es bekanntlich kein Halten mehr:einmalig, befristet, konditioniert – aber es wurde immermehr. Das Konzept, zu versuchen, mit immer mehrSchulden übermäßige Schulden zu bekämpfen, gehtnicht auf.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Es funktioniert nicht, Disziplin in Haushaltsfragen zu er-reichen, indem man Zinsen heruntersubventioniert. Daseinzige Mittel gegen eine übermäßige Verschuldung sindhohe Zinsen. Ich befürchte, dass dieser Weg viel Geldkosten wird, das wir nicht haben.

Das Geld, das sich in Bürgschaften ausdrückt undsich jetzt auf 211 Milliarden Euro summiert, wenn heutehier entsprechend abgestimmt wird – alleine für dieEFSF; Griechenland kommt noch hinzu –, haben wirnicht. Ich glaube, das Risiko, das wir den kommendenGenerationen damit aufladen, ist zu groß. Wir leihen die-ses Geld, das wir ins Schaufenster stellen, von unserenKindern und Enkeln; wir haben es nicht.

(Beifall der Abg. Arnold Vaatz [CDU/CSU] und Frank Schäffler [FDP])

Auch deshalb kann ich das nicht mittragen. – Das ist derzweite Punkt.

Der dritte Punkt: Wir haben, als wir den Euro einge-führt haben, viel Überzeugungsarbeit leisten müssen. Die

D-Mark, die als weltweites Markenzeichen und als Aner-kennung des Wiederaufstiegs, des wirtschaftlichen Er-folgs nach dem Krieg galt, hatte für uns Deutsche einenhohen Symbolwert. Als wir die D-Mark aufgegeben ha-ben, haben wir den Menschen versprochen: Der Eurowird genauso sicher und genauso stabil, wie die D-Markes war. Zudem wird er nachhaltig von der EuropäischenZentralbank geschützt, die der Geldwertstabilität ver-pflichtet ist. – Der Euro ist stark. Er ist mit 88 US-Centgestartet und liegt jetzt je nach Tagesform zwischen 130und 145 US-Cent. Der Euro ist in dieser Zeit stabil ge-wesen. Aber ich befürchte, diese Stabilität werden wirnicht aufrechterhalten können, wenn wir diesen Wegweiter gehen.

Wir haben den Menschen ein weiteres Versprechengegeben. Wir haben gesagt: Niemand wird für die Schul-den eines anderen Staates in diesem Währungsraum auf-kommen müssen. Jeder muss seinen Haushalt selbst aus-gleichen. Genau das brechen wir mit dieser Schirm-Politik.

(Beifall des Abg. Frank Schäffler [FDP])

Ich halte dies ökonomisch für den absolut falschenWeg, der meinen Grundüberzeugungen widerspricht.Natürlich gibt es Alternativen. Wir haben nach derFinanzkrise Instrumente geschaffen, um Banken stützenund rekapitalisieren zu können. Es wäre aber ein sehrviel treffsicherer Weg, wenn wir sagen würden: Lasst dieGläubiger ihren Teil tragen! Erst wenn es Probleme gibt,sollten wir unterstützend helfen, damit systemrelevanteBereiche unserer Volkswirtschaft nicht infiziert werden.

Zum Thema Gläubigerbeteiligung. Wir müssen unseinmal einen Moment zurückbesinnen und uns fragen,über was wir da eigentlich reden. Es gibt ein Vertrags-verhältnis zwischen dem Gläubiger, also demjenigen,der Geld gibt, und dem Schuldner, also demjenigen, derden Kredit in Anspruch nimmt. Wenn der Kredit ausfällt,dann ist das Sache des Gläubigers. Dass wir jetzt darüberreden, ob nur ein Teil des Kreditausfalls von den Gläubi-gern getragen werden muss und ob nicht vielmehr derStaat für dieses private Geschäft automatisch im Obligoist, zeigt, dass wir hier die Dinge auf den Kopf gestellthaben. Wir sollten uns daher bemühen, die Diskussionwieder vom Kopf auf die Füße zu stellen.

Ich appelliere im Interesse der nachfolgenden Gene-rationen an Sie alle, dass wir diesen Weg möglichstschnell beenden, anstatt ihn mit immer höheren Volumenzu verlängern. Ich glaube, dass wir ansonsten dem Euround Europa schaden würden. Es wird in den Hauptstäd-ten nicht mehr gegen die jeweiligen Regierungen de-monstriert, sondern gegen Europa und einzelne Länderwie Deutschland. Wir können nicht jedem unsere Art zuleben aufdrängen. Wir können aber auf der Einhaltungselbstakzeptierter Regeln bestehen. Genau das solltenwir tun.

Ich bedanke mich ausdrücklich, dass es mir möglichwar, hier vorzutragen. Mit Blick auf meine eigene Frak-tion sage ich: Danke, dass ihr das ertragen habt.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

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Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Das Wort hat nun Priska Hinz für die Fraktion Bünd-

nis 90/Die Grünen.

Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Redenaus den Reihen der Koalition zeigen bislang ganz deut-lich, dass Sie ein echtes Problem haben. Ihnen fehltschlichtweg die Orientierung in dieser Krise.

(Manfred Grund [CDU/CSU]: Ach was!)

Das hängt damit zusammen, dass der Regierung einKompass fehlt und damit jegliche Überzeugungskraft,wie man diese Krise in Europa, in der EuropäischenUnion, in der Euro-Zone überwinden kann.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das findet Ausdruck in Ihrer Salamipolitik. Seit an-derthalb Jahren markieren Sie rote Linien, die Sie regel-mäßig übertreten haben. Zunächst hieß es: kein Cent fürGriechenland; dann gab es das Rettungspaket für Grie-chenland. Die nächste rote Linie war: kein Rettungs-schirm; dann gab es umgehend diesen Rettungsschirm.Dann hieß es: kein dauerhafter Rettungsschirm; jetztwird es den ESM geben. Dann wurde gesagt: keine An-käufe auf dem Sekundärmarkt, und heute werden wir siebeschließen. Euro-Bonds haben Sie heute wieder ausge-schlossen. Über die Frage der Hebelung der jetzt erwei-terten EFSF wird in der Regierung schon wieder trefflichgestritten. Zumindest hat der Finanzminister dies vorhinnicht ausgeschlossen. Es wäre aber notwendig, dass Sievor Abstimmungen der Bevölkerung und nicht nur denParlamentariern die Wahrheit sagen, damit Sie Vertrauenin diesen Kurs herstellen können.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Dieses Verfahren kostet nicht nur Zeit und Geld, son-dern es kostet vor allen Dingen Vertrauen in der Bevöl-kerung. Herr Bundesminister Rösler, ich fand es schonvergnüglich, dass Sie hier vom fehlenden Vertrauen indas Handeln der Regierung und in ihre Fähigkeit, dieEuro-Krise zu überwinden, sprechen. Sie tragen dochhöchstpersönlich dazu bei, dass dieses Vertrauen fehlt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Sie fabulierten über die Insolvenz Griechenlands. Dabeihaben wir noch keinen Mechanismus für eine geordneteInsolvenz. Die FDP war gegen Aktionen auf dem Sekun-därmarkt. Das führte dazu, dass die EZB tätig werdenmusste, was Sie hinterher umgehend wieder kritisiert ha-ben. Sie sind gegen Finanzmarktregulierung und spre-chen sich noch heute gegen eine Finanztransaktionsteueraus. Wie soll da Vertrauen in Regierungshandeln entste-hen?

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Auch wir Grünen führen Diskussionen. Auch wirGrünen haben viele Fragen bezüglich der Euro-Rettung

und fragen, ob der eingeschlagene Weg richtig ist. Wis-sen Sie aber, was den Unterschied ausmacht? Wir habenein Ziel vor Augen: ein geeintes, starkes, soziales Eu-ropa.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie der Abg. Heidemarie Wieczorek-Zeul[SPD])

Wir wollen den Erhalt der Euro-Zone, und wir wollenweitere Schritte der politischen Integration. Danach kön-nen wir die ergriffenen Maßnahmen bewerten. Wir sagenIhnen seit über einem Jahr: Ihre Trippelschritte reichennicht aus. Wir sagen das nicht, weil wir immer alles bes-ser wissen, sondern weil wir einen Maßstab haben, andem wir diese Maßnahmen messen können.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir sind für umfangreiche Lösungen, und Sie folgenuns ja auch immer – allerdings leider nur mit Verzöge-rung. Wir brauchen die Entkopplung von Schulden- undBankenkrise. Wir brauchen die schnellere Einführungdes dauerhaften Rettungsschirms. Wir brauchen einestrengere haushalts- und finanzpolitische Koordinierung,und wir brauchen mindestens die Finanztransak-tionsteuer als wichtigen Teil der Finanzmarktregulie-rung. Außerdem brauchen wir künftig gute Euro-Bondsunter bestimmten Konditionen. Wenn es weitere Ände-rungen der europäischen Verträge für eine bessere euro-päische Integration braucht, dann müssen wir dafürkämpfen. Dafür brauchen wir aber eine proeuropäischeRegierung und keine zaudernde Regierung.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Norbert Barthle [CDU/CSU]: Oje, oje!)

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (SPD):Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Schluss kom-

men.

Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):

Eine letzte Bemerkung. – Meine Damen und Herren,das Gesetz ist nicht hinreichend, aber notwendig, undwir stimmen ihm zu – nicht wegen, sondern trotz der Re-gierung. Europa hat nämlich Besseres verdient als dieTatsache, dass eine Regierung auf zufällige schwarz-gelbe Mehrheiten im Parlament angewiesen ist.

Danke schön.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Das Wort hat nun Gerda Hasselfeldt für die CDU/

CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Gerda Hasselfeldt (CDU/CSU):Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Thema der

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Gerda Hasselfeldt

heutigen Debatte verdient meines Erachtens eine ernst-hafte Auseinandersetzung mit den Fakten, den konkretenEntscheidungsalternativen und deren Konsequenzen. Ineiner solch ernsthaften Debatte haben Spekulationen,Unterstellungen oder gar Fehlinterpretationen keinenPlatz.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Deshalb will ich für die CSU klarstellen: Für uns – auchfür mich persönlich – ist Europa das größte Friedenspro-jekt unserer Geschichte.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Dazu gehört die gemeinsame europäische Währung, derEuro. Zur Wahrheit gehört auch, dass wir in Deutschlanddavon auch ökonomisch profitiert haben und profitieren.Deshalb haben wir eine ganz besondere Verantwortungfür die Stabilität dieser Währung und für den Zusam-menhalt in Europa.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Wir sind für den Europäischen Stabilitätsmechanis-mus in dieser Form, weil damit Solidarität verankertwird, und zwar nicht wegen irgendeines einzelnen Lan-des, sondern wegen des gemeinsamen Euro-Raumes,wegen unserer gemeinsamen Währung und wegen unse-rer nationalen Betroffenheit und Verantwortung. Es gehtalso einerseits um Solidarität und andererseits um die Ei-genverantwortung der einzelnen Nationalstaaten. Bei-des gehört zusammen und ist im Projekt des Europäi-schen Stabilitätsmechanismus sowie im Projekt derErtüchtigung der EFSF enthalten.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Der Debatte darüber, was sonst noch notwendig ist,will ich hinzufügen: Dieses Europa, wie wir es verste-hen, ist ein Europa souveräner Nationalstaaten. WennKompetenzen abgegeben werden, muss ganz genau un-tersucht werden, ob das notwendig ist, ob das der Stabili-tät Europas und der Stabilität der gemeinsamen Wäh-rung dient, ja nicht nur, ob das der Stabilität dient,sondern auch, ob das unabdingbar notwendig ist. Dasmuss geprüft werden, weil wir an der nationalen Verant-wortung festhalten.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Zur Klarstellung gehört aber auch, dass das Problemdurch die Nichteinhaltung von Regeln entstanden ist.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Die rot-grüne Koalition hat damals nicht nur ein biss-chen dazu beigetragen, sondern sie hat die Weichen da-für gestellt, dass diese Regeln nicht eingehalten werden.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP – Peer Steinbrück [SPD]: Dassind doch Unterstellungen!)

Das gehört auch zur Wahrheit. Die Konsequenzen darauswaren nämlich das Aufweichen der Stabilitätskriterien,der Weg in die Verschuldung einiger Euro-Staaten unddie fehlende Wettbewerbsfähigkeit einer Reihe vonEuro-Staaten, die zum Teil schon gegeben war, aberdann noch verstärkt wurde. All das wirkt sich auf dengesamten Euro-Raum und somit auch auf uns aus. Des-halb stehen wir mit in der Verantwortung.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin

Hendricks?

Gerda Hasselfeldt (CDU/CSU):Ja.

Dr. Barbara Hendricks (SPD):Frau Kollegin Hasselfeldt, wir mögen uns persönlich

sehr. Außerdem glaube ich, dass wir in der Finanzpolitikähnliche Herangehensweisen haben. Deshalb will ich Ih-nen auch nicht zum Vorwurf machen, was ich jetzt sage.Vielmehr möchte ich ein für alle Mal für das ganze Hausklarstellen – das habe ich schon häufiger versucht –: Alsdie Stabilitätskriterien in Europa geändert wurden, in derTat auf Betreiben der französischen und der deutschenRegierung

(Zuruf von der CDU/CSU: Aha!)

– das ist gar nicht zu bestreiten –, wurden dieMaastricht-Kriterien neu gefasst.

(Zuruf von der CDU/CSU: Aufgeweicht!)

Das ist offenbar Teufelszeug für die andere Seite desHauses.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

Bitte nehmen Sie zur Kenntnis, dass die Schulden-bremse, die in unserer Verfassung steht und die wir nachganz Europa exportieren wollen, genau diesenMaastricht-Kriterien nachgebildet worden ist. Das ist of-fenbar aber kein Teufelszeug.

(Beifall bei der SPD)

Wir sollten einfach einmal fachlich und redlich mitei-nander umgehen. Außerdem sollte die andere Seite die-ses Hauses diese falsche Behauptung einfach nicht mehraufstellen.

(Beifall bei der SPD)

Gerda Hasselfeldt (CDU/CSU):Frau Kollegin Hendricks, ich lege großen Wert da-

rauf, dass meine Behauptung nicht falsch war. Im Ge-genteil, Sie haben sie sogar noch bekräftigt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Sie haben zugegeben, dass auf deutsches und franzö-sisches Betreiben hin die Stabilitätskriterien auf euro-päischer Ebene geändert und damit in ihrer Wirkungaufgeweicht wurden. Das ist unbestritten. Die Schul-

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 15229

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Gerda Hasselfeldt

denbremse im nationalen Bereich hingegen ist auf einenationale Entscheidung zurückzuführen, die mit der eu-ropäischen nichts zu tun hatte. Diese finanzpolitischeBindung der Haushalte des Bundes und der Länder hatnichts mit der europäischen Regelung zu tun.

(Petra Merkel [Berlin] [SPD]: Doch!)

Diese hat im Übrigen eine ganz andere Qualität, weil wirkeine gemeinsame Finanzpolitik auf europäischer Ebenehaben. Auf nationaler Ebene haben wir aber sehr wohleine gemeinsame Finanzpolitik.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Jetzt bin ich bei der Situation in Europa. Gestern hatdas Europäische Parlament die Verschärfung des Stabili-tätspakts beschlossen; das wurde schon angesprochen.Ich muss schon sagen: Sie haben keine Konsequenzenaus Ihren Fehlern gezogen; denn hier haben Sie den glei-chen Fehler gemacht. Die Grünen, die Sozialdemokratenund die Linken haben bei der Abstimmung über die Ver-schärfung des Stabilitätspakts wieder den Versuch unter-nommen, die Kriterien aufzuweichen und zwischen gu-ten Schulden und schlechten Schulden zu unterscheiden.Sie wollten differenzieren und haben, weil das nicht ge-lungen ist, nicht zugestimmt. Den gleichen Fehler, denSie damals gemacht haben, begehen Sie jetzt wieder.Das ist wirklich unverantwortlich.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Sie haben wohl nichts aus dem gelernt, was wir in denletzten Monaten erlebt haben.

Aufgrund unserer Erfahrungen aus der Aufweichungder Kriterien und der Verschuldungssituation einigerLänder haben wir einen europäischen Rettungsschirmaufgespannt mit den entsprechenden Garantien und Kre-ditmöglichkeiten, aber auch in Verbindung mit strengenAuflagen. Dass das Konzept grundsätzlich richtig ist,zeigen die Entwicklungen in Irland und in Portugal. Dafunktioniert dieser Rettungsschirm mit genau diesemMechanismus. Das ist ein Zeichen dafür, dass wir mitunserem Grundansatz richtig liegen.

Was wir mit der Verabschiedung dieses Gesetzes an-streben, ist eine Ertüchtigung dieses Rettungsschirms,und zwar in dreierlei Hinsicht: Erstens kann sich dieEZB wieder auf ihre geldpolitische Verantwortung kon-zentrieren. Zum Zweiten kann die EZB Vorsorgemaß-nahmen treffen. Zum Dritten – das ist das Wichtigste –stehen bei definitiver Zahlungsunfähigkeit eines LandesInstrumente zur Verfügung, um das Überschwappen derKrise eines Landes auf die anderen Länder im Euro-Raum zu verhindern.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Das ist der Kern dessen, was wir heute beschließen.Wenn wir diese Instrumente nicht bekommen sollten,dann riskieren wir eine Krise mit verheerenden undunkalkulierbaren Auswirkungen auf Arbeitsplätze, Spar-einlagen, Versicherungen und unsere Wirtschaft – nicht

nur in Deutschland, sondern in ganz Europa, vielleichtsogar darüber hinaus. Das ist nicht zu verantworten.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Klar ist aber auch – das haben wir schon bei der Ein-richtung des Rettungsschirms entschieden –, dass dasGanze nur als Ultima Ratio in Betracht kommt, dass Ein-stimmigkeit herrschen muss und dass es vor allem ver-bunden sein muss mit strengen Auflagen und der Über-prüfung dieser Auflagen. Mindestens so wichtig wie dieAuflagen selbst sind die Überprüfung der Auflagen unddie konsequente Einhaltung der Sanktionen, also dieNichtkreditgewährung, wenn die Auflagen nicht einge-halten werden.

Das ist etwas ganz anderes als das, was Rot-Grün im-mer wieder vorschlägt und wovon Sie sich jetzt zu dis-tanzieren versuchen: die Euro-Bonds. Damit wären näm-lich keine Auflagen für die einzelnen nationalen Staatenverbunden. Damit wären auch nicht der Druck zurDurchsetzung von Reformen sowie der Druck hin zuVeränderungen der Strukturen verbunden. Ebenso wenigwäre damit die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeitder einzelnen Nationen verbunden. Das wäre der Weg ineine unbegrenzte Schuldenunion – zulasten der deut-schen Steuerzahler noch dazu.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Diesen Weg kann niemand verantworten. Diesen Wegwerden wir mit Sicherheit nicht durchgehen lassen. Siehaben schon einmal eine falsche Weichenstellung vorge-nommen. Noch einmal werden wir Sie diesen Fehlernicht machen lassen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Mit dem heute vorliegenden Gesetzentwurf haben wirdurch die intensive Diskussion über die Fraktionsgren-zen hinweg eine umfassende, fast einmalige Parlaments-beteiligung erreicht. Diese Parlamentsbeteiligung gehtweit über das hinaus, was wir bisher bei vergleichbarenEntscheidungen erlebt haben. Bei jeder einzelnen Maß-nahme, über die auf europäischer Ebene im Zusammen-hang mit dem Rettungsschirm entschieden wird, mussnämlich vorher die Zustimmung des Parlaments, min-destens eines Parlamentsgremiums, eingeholt werden.Dieses Votum des Parlaments ist dann bindend. Dasheißt, der deutsche Vertreter ist quasi an der Leine desParlaments.

(Norbert Barthle [CDU/CSU]: So ist das!)

Man muss sich das einmal vor Augen halten. Ich finde,das, was die Kolleginnen und Kollegen hier fraktions-übergreifend in den Verhandlungen erreicht haben, istein großartiger Erfolg, der bei der Gesamtabstimmungdeutlich macht: Der Herr des Verfahrens ist das nationaleParlament. Das, meine Damen und Herren, ist nicht etwagegen die Regierung durchgesetzt worden, sondern imEinvernehmen mit der Regierung.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

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Gerda Hasselfeldt

Nun wissen wir alle, dass sich keiner und keine vonuns heute die Entscheidung leicht macht. Wir haben vieldiskutiert, nicht nur in vielen Gremien des Parlaments,sondern darüber hinaus mit vielen Fachleuten, die unsim Übrigen ganz unterschiedliche Ratschläge gegebenhaben. Die einzige Bemerkung, die bei all diesen Rat-schlägen einhellig fiel, lautete: Aber die Verantwortunghabt ihr.

Für mich ist klar, dass der vorgesehene Weg besserverantwortbar ist als jeder andere Weg, der bisher disku-tiert wurde. Er gibt uns Instrumente, um einen mögli-chen Flächenbrand einzugrenzen. Er stärkt der Regie-rung bei den schwierigen Verhandlungen auf EU-Ebeneden Rücken. Ich bin fest davon überzeugt, dass dies inder schwierigen Situation, die wir zu bewältigen haben,der richtige Weg ist. Deshalb empfehle ich Ihnen die Zu-stimmung zu diesem Gesetz.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Das Wort hat nun der Abgeordnete Frank Schäffler.

Frank Schäffler (FDP):Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Am 11. Februar 2010 haben sich die Staats- und Re-gierungschefs der Europäischen Union zum kollektivenRechtsbruch verabredet. Griechenland sollte auf jedenFall finanziell geholfen werden. Damit haben die Staats-und Regierungschefs nichts anderes verkündet als denBruch der Nichtbeistandsklausel in den europäischenVerträgen.

Uns wurde im Deutschen Bundestag versprochen,dass die Griechenland-Hilfe eine einmalige Hilfe ist, dieabsolute Ausnahme, und sonst nichts. Die Tinte warnoch nicht trocken, schon wurde einen Tag später inBrüssel der jetzige Schuldenschirm, die Einrichtung derEFSF, vereinbart. Als der Deutsche Bundestag das soge-nannte Euro-Rettungspaket verabschiedete, wurde hiererklärt, dass ohnehin niemand unter diesen Schirmflüchten wird. Bereits wenige Monate später drängtensich erst Irland, dann Portugal und bald auch Griechen-land unter den Schirm.

Am 27. Oktober 2010 erklärten Sie, Frau Bundes-kanzlerin, hier im Hohen Hause:

Er läuft 2013 aus. Das haben wir auch genau so ge-wollt und beschlossen. Eine einfache Verlängerungkann und wird es mit Deutschland nicht geben, weilder Rettungsschirm nicht als langfristiges Instru-ment taugt, weil er Märkten und Mitgliedstaatenfalsche Signale sendet und weil er eine gefährlicheErwartungshaltung fördert.

Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren,keine vier Wochen später galt all dies nichts mehr.

Am 11. März 2011 wurde dann in Brüssel sogar einWeg zur Änderung der europäischen Verträge einge-schlagen, der erstens ein Weg zur Ausweitung des beste-henden Euro-Schuldenschirms ist, die der Bundestag niewollte, der zweitens ein Weg zur unbefristeten Verlänge-

rung der Laufzeit des Euro-Schuldenschirms ist, die derBundestag nie wollte, und drittens ein Weg zur qualitati-ven Veränderung der europäischen Wirtschaftsverfas-sung ist, die der Bundestag nie wollte.

Allen Bekundungen zum Trotz hat bereits die ersteGriechenlandhilfe die Situation für Griechenland nichtentschärft, sondern verschärft. Griechenland nimmt we-niger Steuern ein als 2010 und gibt – absolut und prozen-tual, auch ohne Zinsen – mehr Geld aus. Allen Be-kundungen zum Trotz hat der Schuldenschirm dieÜberschuldungskrise von Staaten und Banken nicht ent-schärft, sondern verschärft. Es wird nur teure Zeit ge-kauft. Doch Griechenland kann aus seiner Überschul-dung nicht herauswachsen, erst recht nicht mit nochmehr Schulden.

Die angeforderten Hilfen und die Aufstockung desSchuldenschirms werden die Lage noch weiter verschär-fen. Am 17. März und am 10. Juni dieses Jahres habenwir hier in diesem Hohen Hause beschlossen:

Der Deutsche Bundestag erwartet aus verfassungs-rechtlichen, europarechtlichen und ökonomischenGründen, dass gemeinsam finanzierte oder garan-tierte Schuldenaufkaufprogramme ausgeschlossenwerden.

Genau diese Schuldenaufkaufprogramme sind Ge-genstand des heutigen Gesetzes. Not bricht nicht jedesGebot. Der Verfassungsbruch ist nicht alternativlos!Papst Benedikt XVI. zitierte in seiner großen Rede vordem Deutschen Bundestag den Heiligen Augustinus mitden Worten: „Nimm das Recht weg – was ist dann einStaat noch anderes als eine große Räuberbande?“

(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Räuberbandenkoalition!)

Nun wird beim Internationalen Währungsfonds, beider Zentralbank und bei der Kommission in Brüssel be-reits über die Vervierfachung des Schuldenschirms ge-sprochen. Sie wollen ihn hebeln.

(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das istdie Zukunft der FDP! Das ist die Zukunft derRegierung!)

Die Wirkung wird dann jedoch sein, dass der Schulden-schirm dieselben Risiken ermöglicht wie ein Hedge-fonds. Er wird auf Kredit spekulieren. Die europäischenSteuerzahler aber haften für diese Spekulationen.

(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das istdie FDP! Das ist Teil Ihrer Regierung! EineSchande!)

Angst war schon immer ein schlechter Ratgeber. Abermit Angst wird seit September 2007 eine Politik ge-macht, die Recht und Freiheit schleift. Sie fördert dieAngst vor dem Zusammenbruch unseres Finanzsystems.

Das vereinte Europa ist von seinen Gründervätern alsein Ort der Freiheit gegen alle Formen der Diktatur, Un-freiheit und Planwirtschaft erträumt worden. Das heutigeEuropa ist auf dem Weg in die monetäre Planwirtschaftund in den politischen Zentralismus. Wir sind auf demWeg in die Knechtschaft, weil wir uns aus Angst vor ei-

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Frank Schäffler

nem Zusammenbruch des Finanzsystems erpressen las-sen.

Die Gründerväter Europas wollten ein Europa desRechts und der Rechtsstaatlichkeit. Die heutigen Regie-rungen des Euro-Raums, die EU-Kommission und dieZentralbank verabreden sich hingegen wiederholt zumkollektiven Rechtsbruch, obwohl die EU-Kommissionals Hüterin der Verträge und die nationalen Regierungenzum Schutz des Rechts verpflichtet sind.

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.

Frank Schäffler (FDP):Sie nutzen die Angst vor einem Zusammenbruch des

Finanzsystems, um Europa in eine neue Stufe des Zen-tralismus zu leiten.

Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Das Wort hat nun Kollege Hermann Otto Solms für

die FDP-Fraktion.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –Christian Lange [Backnang] [SPD]: KlärenSie den Kollegen mal auf! Das ist ja ein Trau-erspiel, was hier vorgeführt wird!)

Dr. Hermann Otto Solms (FDP):Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als wir im

Mai letzten Jahres die EFSF eingeführt haben, habe ichdamals schon der Einführung nicht zugestimmt, weil ichfolgende Sorge hatte – ich will das aus meiner persönli-chen Erklärung von damals zitieren –:

Die institutionellen Veränderungen bedeuten einenirreversiblen Schritt hin zur Transferunion, bei derdie Steuerzahler der stabilitätsorientierten Länderautomatisch für die Disziplinlosigkeit und Ver-schwendungssucht der anderen Staaten haften.

Das galt es zu verhindern. Wir haben aber jetzt eine an-dere Erfahrung gemacht. Deswegen komme ich jetzt zueiner anderen Schlussfolgerung als die Kollegen Willschund Schäffler.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Die letzten anderthalb Jahre haben gezeigt, dass derProzess zurück zur Stabilitätsunion zwar nicht schlagar-tig, aber doch langsam und mühsam begonnen wordenist und Früchte gezeigt hat. Man muss sich doch nur ein-mal die Ergebnisse und die Fakten anschauen: Irland wareines der am schwersten belasteten Länder. Irland wirdheute schon zu niedrigeren Zinsen auf den Märkten be-wertet als noch vor wenigen Wochen. Das zeigt: DieMärkte haben den Aufschwung und die Entwicklung ak-zeptiert. Portugal und Griechenland unternehmen riesigeAnstrengungen. Portugal hat ebenfalls eine sehr positivePerspektive. Griechenland ist ein extremer anderer Fall.

Spanien hat die Schuldenbremse in seiner Verfassungbereits eingeführt.

(Jörg van Essen [FDP]: So ist es!)

Wer hätte vor einem halben Jahr gedacht, dass das soschnell ginge? Italien und Frankreich haben im Übrigenzugesagt, sie ebenfalls einführen zu wollen, und habenSparprogramme auf den Weg gebracht. Das heißt, diePhilosophie „Zurück zum Stabilitätspakt“ hat gezündet.Was wir mit dieser Ertüchtigung des EFSF jetzt machen,ist nichts anderes, als diesen Weg noch fachlicher zu be-gleiten, mit noch klareren Konditionen zu verbinden unddie Instrumente nachzureichen, die wir im Moment nichthaben.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

In diesem Zusammenhang möchte ich zwei Dingeganz besonders herausheben:

Erstens. Endlich wird die Möglichkeit vorgesehen, imFalle einer Krise eine Bankenrekapitalisierung zu finan-zieren. Das wird die Union in die Lage versetzen, sichaus der Situation einer ständigen Erpressung durch dieFinanzmärkte zu befreien. Dann kann dieser Infektions-prozess – von Bank zu Bank, von Land zu Land – nichtmehr stattfinden. Wenn das Geld bereitsteht, ist es mög-lich, die gefährdeten Banken zu sichern, so wie das 2008bei der Commerzbank gemacht worden ist. Sie habengesehen, dass die Commerzbank den größten Teil desDarlehens bereits mit Zinsanteil zurückgezahlt hat.

(Norbert Barthle [CDU/CSU]: Genau so ist es!)

Das war für den Staat und den Steuerzahler die vielpreiswertere Variante.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Das Zweite ist: All diese finanzwirksamen Entschei-dungen stehen unter dem Vorbehalt der Zustimmungdurch den Deutschen Bundestag.

(Beifall des Abg. Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP])

Das ist eine fundamentale Veränderung im Verhältniszwischen Bundestag und Bundesregierung. Das wirdden Mitgliedern der Bundesregierung nicht immer ganzangenehm sein.

(Otto Fricke [FDP]: Ist aber gut so!)

Es hilft ihnen aber auch. Es stärkt ihre Position in denVerhandlungen mit den anderen Staaten.

Herr Gysi hat sich wegen dieses kleinen Gremiumsaufgeregt. Das ist doch klar: Wenn am Wochenende eineKrise wegen einer oder zwei Banken entsteht, dann mussschnell gehandelt werden. Dann können wir nicht denDeutschen Bundestag einberufen, sondern dann mussein kleines Gremium handeln, und zwar vertraulich, weildiese Banken sonst sofort in eine Krise geraten würden.Das ist eine Selbstverständlichkeit. Der Bundestag kannaber die Zuständigkeit für diese Genehmigung immer ansich ziehen, sodass die Verdächtigungen, die in dieseRichtung zielen, wirklich unberechtigt sind.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

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Dr. Hermann Otto Solms

Lassen Sie mich noch eine letzte Bemerkung machen.Wir haben uns bei der Einführung der Schuldenbremsefür Deutschland gemeinsam mehrere Jahre Zeit genom-men, nämlich von 2011 bis 2016. Wir können von unse-ren Partnerländern nicht verlangen, dass sie das alles vielschneller hinbekommen, obwohl sie eine schlechtereAusgangsposition haben. Auch diese Länder brauchennatürlich einige Jahre der Anpassung. Diese Jahre derAnpassung müssen begleitet werden, auch durch diesegemeinschaftlichen Finanzinstrumente. Es müssen aberimmer strikte Bedingungen und Auflagen bestehen, da-mit der Weg zur Stabilitätsunion gesichert ist.

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.

Dr. Hermann Otto Solms (FDP):Herr Präsident, ich komme zum Schluss.

(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Kommt noch einmal jemand von der FDP?)

Deswegen bin ich überzeugt davon, dass die heutigeEntscheidung eine richtige ist, die man gerade auch alskritisch denkender Ökonom mit voller Überzeugungtreffen kann. Wir werden zustimmen.

Danke.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Nun hat Norbert Barthle für die CDU/CSU-Fraktion

das Wort.

(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Sprechen Siejetzt für die Fraktion? – Jürgen Trittin [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie sprechen jetztnicht für die FDP, oder?)

Norbert Barthle (CDU/CSU):Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten

Damen und Herren! Lassen Sie mich zunächst zwei Vor-bemerkungen machen:

Erstens. Das, was die Kollegen Schneider und Schickhier versucht haben, nämlich die Glaubwürdigkeit derBundesregierung zu untergraben, halte ich für einenwirklich unanständigen Vorgang.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wie kann man von der Bundesregierung Aussagen zu ei-nem Vorgang erwarten, der noch gar nicht abgeschlossenist? Sich abschließend zu den Guidelines zu äußern, dieerst verhandelt werden, ist schlechterdings unmöglich.

(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Aber Sie können uns doch sagen, wieSie das haben möchten!)

Nebenbei bemerkt: Wenn wir dieses Gesetz heute be-schließen und der Bundespräsident unterschrieben hat,dann muss über diese Guidelines zuerst im Haushalts-ausschuss entschieden werden, bevor der Bundesfinanz-minister auf europäischer Ebene zustimmen kann. Das

weiß der Kollege Schneider ganz genau. Deshalb halteich sein Vorgehen für schäbig.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Zweite Vorbemerkung. Es ist sicherlich ein bemer-kenswerter Vorgang, dass zwei der bekannten Neinsagerin dieser regulären Debatte reden konnten.

(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Als Fraktionslose! – HubertusHeil [Peine] [SPD]: Weil Sie ihnen keine Re-dezeit abgegeben haben!)

Ich denke, das ist einerseits bemerkenswert, aber ande-rerseits auch Ausweis einer besonderen demokratischenKultur; denn in der Öffentlichkeit wurde ständig der Ein-druck erweckt, die sogenannten Abweichler würden un-terdrückt oder gar gemobbt. Heute haben wir das Gegen-teil dessen erlebt. Darauf kann dieses Parlament auchstolz sein.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –Johannes Kahrs [SPD]: Dann sollten die aufIhre eigene Fraktionszeit reden! Das ist dochunglaublich!)

Jetzt zur Sache. Ich glaube, abschließend kann mandrei Aspekte nochmals in den Vordergrund rücken:

Erstens. Verantwortung für Stabilität muss gelebteKultur aller Mitgliedstaaten der Europäischen Wäh-rungsunion sein. Das ergibt sich, meine Damen und Her-ren, schon aus der Architektur dieses Rettungsschirms;denn der Rettungsschirm dient der zielgerichteten, be-fristeten Krisenhilfe, die immer an strikte Auflagen fürReformen und für Haushaltskonsolidierung geknüpft ist.Es wird also aus diesem Fonds keine dauerhafte Unter-stützung überschuldeter Staaten, keine Transferunion ge-ben.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Aus diesem Rettungsfonds resultiert auch kein Einfalls-tor für die sogenannten Euro-Bonds; denn wir agierengenerell nach dem Prinzip der Hilfe zur Selbsthilfe. Wirgeben also betroffenen Ländern mehr Zeit, um sichselbst helfen zu können. An dieser Stelle sage ich ein-deutig und klar: Ich bin froh, dass Rot-Grün dieses Landderzeit nicht regiert; dann hätten wir nämlich die Euro-Bonds schon.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Deshalb ist es gut für unser Land, dass wir eine christ-lich-liberale Regierung haben. Es ist gut für unser Land,dass wir regieren.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU undder FDP – Johannes Kahrs [SPD]: Aber dashört auch bald auf!)

Nebenbei bemerkt, liebe Kolleginnen und Kollegen: Er-freulicherweise lernt die SPD bei dieser Frage inzwi-schen dazu und distanziert sich vorsichtig von der Ideeder Euro-Bonds.

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Norbert Barthle

Was ist Ursache all dieser krisenhaften Entwicklun-gen? Das, meine Damen und Herren, sind unsolideStaatsfinanzen. Deshalb sind unsolide Staatsfinanzenauch der Ansatzpunkt für die Lösung der Probleme. Des-halb brauchen wir einen Wandel der Stabilitätskultur.Aus diesem Grunde ist dieses Projekt in den betroffenenLändern nicht nur ein ökonomisches Projekt. Es ist – er-lauben Sie mir, dies zu sagen – auch ein soziokulturellesProjekt. Wir sollten alles dafür tun, dass bei den soge-nannten Wackelkandidaten genau dieser Gesinnungs-wandel unterstützt wird. Das betrifft auch das Europäi-sche Parlament. Das betrifft selbstverständlich aucheuropäische Institutionen, die entsprechend gestärktwerden müssen. Da halte ich die gestrigen Entscheidun-gen zum sogenannten Sixpack für einen ersten wichtigenund guten Schritt.

Für alle, meine Damen und Herren, die an der Wirk-samkeit dessen zweifeln, kann ich nur sagen: VonSchlittschuhläufern wissen wir, dass das richtige Maß anDruck auch das härteste Eis zum Schmelzen bringt, unddann flutscht es. Genau in dem Sinne gehen wir weitervoran.

Was wir derzeit an Veränderungen in Griechenlanderleben, sollten wir mit großem Respekt zur Kenntnisnehmen; denn es geht letztlich um die simple Einsicht:Ohne Verantwortung für Stabilität kann die Währungs-union nicht funktionieren. Genau deshalb ist auch unsereSchuldenbremse mittlerweile für ganz Europa einExportschlager geworden. Wir setzen darauf, dass Stabi-lität Grundlage ist für Vertrauen in der Wirtschaft undfür Vertrauen in den Märkten. Darin unterscheiden wiruns übrigens auch von einigen anderen Staaten. Wir hal-ten eben nichts davon, die Notenpresse anzuwerfen undletztlich über Inflation Haushalte zu sanieren, sondernwir setzen auf Stabilität.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Ein zweiter Aspekt. Dieser größere Rettungsfonds re-duziert die Gefahr, dass kleine Länder die Stabilität dergesamten Euro-Zone gefährden. Gerade deshalb ist dieAusweitung, die Ertüchtigung dieses Rettungsschirmsvon so großer Bedeutung. Um es auf den Punkt zu brin-gen – auch im Hinblick auf die Reden unserer beidenNeinsager –: Derjenige, der ein gefährdetes Euro-Landretten will, muss der Ausweitung der EFSF zustimmen.Aber auch derjenige, der die Insolvenz eines Landes inKauf nehmen will, muss diesem Rettungsschirm zustim-men, damit wir die Folgen besser beherrschen können.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

An dieser Stelle haben diejenigen, die diesem Gesetzent-wurf nicht zustimmen, einen echten Bruch in der Logikihrer Argumentation. Diesen Vorwurf kann ich ihnennicht ersparen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

Lassen Sie mich auf den dritten wichtigen Aspekt, derschon von mehreren Vorrednern benannt wurde, nocheinmal zusammenfassend eingehen. Mit diesen neuenRegeln zur Parlamentsbeteiligung wird die demokrati-sche Legitimation europäischer Entscheidungen massivgestärkt. Wir erleben eine Weichenstellung, die mit Si-cherheit Strahlkraft auch auf zukünftige europäischeProjekte ausüben wird, denn es geht um eine bessere de-mokratische Legitimation fundamentaler Entscheidun-gen auf europäischer Ebene, die aber die nationale Poli-tik im Kern betreffen.

Unsere Aufgabe als Parlamentarier ist, die Arbeit die-ses Rettungsschirms in Zukunft konstruktiv und auchkritisch zu begleiten und dabei immer das Haushalts-recht des deutschen Parlaments zu wahren. Darum gehtes im Kern. Deshalb bin ich überzeugt: Mit der Rege-lung, die wir getroffen haben, mit dem abgestuften Ver-fahren der Parlamentsbeteiligung, haben wir eineLösung gefunden, die Entscheidungen der Bundesregie-rung künftig auf eine ganz neue Form der demokra-tischen Legitimation stellt. Das ist ein Quantensprung indieser Richtung. Ich danke an dieser Stelle HerrnRegling, dass er – dies hat er in der Anhörung gesagt –darin keine Nachteile für die Wirksamkeit der EFSFsieht. Das ist eine bedeutsame Aussage.

Ich komme zum Schluss und darf zusammenfassendsagen: Die Erweiterung des europäischen Rettungsfondsist ein wichtiger Schritt hin zu einer stabileren und zu-kunftsfähigeren Währungsunion. Der italienische Fi-nanzminister Tremonti hat kürzlich gesagt:

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Herr Kollege, Sie müssen wirklich zum Schluss kom-

men.

Norbert Barthle (CDU/CSU):Ich bin am Schluss. – „Jetzt hängt alles an Europa und

Europa hängt von Deutschland ab“. In diesem Sinnebitte ich alle, der Verantwortung, die wir haben, gerechtzu werden und diesem Gesetzentwurf mit großer Einig-keit zuzustimmen.

Danke.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den von denFraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Ent-wurf eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zurÜbernahme von Gewährleistungen im Rahmen eines eu-ropäischen Stabilisierungsmechanismus. Der Haushalts-ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschluss-empfehlung auf Drucksachen 17/7067 und 17/7130, denGesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und FDPauf Drucksache 17/6916 in der Ausschussfassung anzu-nehmen.

Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion DieLinke vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt

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Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse

für den Änderungsantrag der Fraktion Die Linke aufDrucksache 17/7179? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen derFraktionen der CDU/CSU, FDP, SPD und Grünen gegendie Stimmen der Linken abgelehnt.

Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf inder Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand-zeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – DerGesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit denStimmen von CDU/CSU, SPD, FDP und Grünen gegendie Stimmen der Linken angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Wir stimmen nun über denGesetzentwurf namentlich ab. Dazu liegen eine ganzeReihe schriftlicher Erklärungen vor.1) Ebenso haben elfAbgeordnete der Fraktion der Linken beantragt, mündli-che Erklärungen zur Abstimmung abzugeben. Diese Er-klärungen werden nach den Abstimmungen zu diesemThema abgegeben, damit wir jetzt eine reibungslose Ab-stimmung haben.

Ich bitte nun die Schriftführerinnen und Schriftführer,die vorgesehenen Plätze einzunehmen. – Vorne rechtsfehlen noch Schriftführer. – Ich glaube, jetzt kann dieAbstimmung beginnen.

Ich eröffne die Abstimmung.

Nun die obligate Frage: Haben alle anwesenden Mit-glieder des Hauses ihre Stimme abgegeben? – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist das offensichtlich der Fall.Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführe-rinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu begin-nen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen späterbekannt gegeben.2)

Wir kommen zu den Abstimmungen über die Ent-schließungsanträge.

(Unruhe)

– Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie herzlich,Platz zu nehmen, damit wir diese Abstimmungen ord-nungsgemäß, also übersichtlich, durchführen können.Vor allem vor der Regierungsbank ist eine gewisse Un-übersichtlichkeit eingetreten.

(Johannes Kahrs [SPD]: Die Regierung ist un-übersichtlich!)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, könnten Sie Platz neh-men?

Wir kommen zum Entschließungsantrag der Fraktionder SPD auf Drucksache 17/7175. Wer stimmt für diesenEntschließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmender CDU/CSU, der FDP und der Linken gegen die Stim-men der SPD und der Grünen abgelehnt.

Wir kommen zum Entschließungsantrag der FraktionDie Linke auf Drucksache 17/7180. Wer stimmt für die-sen Entschließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? –

1) Anlagen 2 bis 52) Ergebnis Seite 15236 C

Enthaltungen? – Der Entschließungsantrag ist gegen dieStimmen der Fraktion Die Linke von allen anderen Frak-tionen abgelehnt worden.

Wir kommen zum Entschließungsantrag der FraktionDie Linke auf Drucksache 17/7194. Wer stimmt für die-sen Entschließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? –Enthaltungen? – Der Entschließungsantrag ist mit dengleichen Mehrheitsverhältnissen wie zuvor abgelehnt.

Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/DieGrünen auf Drucksache 17/7195: Wer stimmt für diesenEntschließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmenvon CDU/CSU, FDP und Linken gegen die Stimmen derSPD und der Grünen abgelehnt.

Wir setzen die Abstimmungen zu der Beschlussemp-fehlung und dem Bericht des Haushaltsausschusses aufden Drucksachen 17/7067 und 17/7130 fort.

Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seinerBeschlussempfehlung, den Antrag der Fraktionen derCDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/6945 mit demTitel „Parlamentsrechte im Rahmen zukünftiger europäi-scher Stabilisierungsmaßnahmen sichern und stärken“für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschluss-empfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen vonCDU/CSU, FDP, Grünen und der Linken bei Stimment-haltung der SPD angenommen.

Bevor wir zum nächsten Tagesordnungspunkt kom-men, kommen wir nun zu den mündlichen Erklärungennach § 31 unserer Geschäftsordnung. Aus der Fraktionder Linken haben elf Kolleginnen und Kollegen ver-langt, solche mündlichen Erklärungen abzugeben. Dasgeschieht nun nacheinander und könnte eine Stunde dau-ern; mal sehen, wie lange es dauert.

Es beginnt Sahra Wagenknecht.

(Beifall bei der LINKEN)

Sahra Wagenknecht (DIE LINKE):Werte Kolleginnen und Kollegen! Ich muss schon sa-

gen: Ich habe selten eine Parlamentsdebatte im Deut-schen Bundestag erlebt, in der so viel und so schamlosgeheuchelt und gelogen wurde wie in der heutigen De-batte.

(Beifall bei der LINKEN – Hartwig Fischer[Göttingen] [CDU/CSU]: Das ist doch Ihr Me-tier! – Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Oh!)

Ich habe gegen die Erweiterung des sogenanntenEuro-Rettungsschirms gestimmt;

(Max Straubinger [CDU/CSU]: Jo mei!)

denn durch diesen Euro-Rettungsschirm wird die euro-päische Währung nicht gerettet, und schon gar nichtwerden die Lebensverhältnisse der Menschen in Europaabgesichert und gerettet. Das Einzige, was durch diesenRettungsschirm wirklich gerettet wird, sind die Gewinneder Banken, der Hedgefonds und der Spekulanten, unddas ist perfide.

(Beifall bei der LINKEN)

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Sahra Wagenknecht

Dass Sie das hier dann auch noch mit schönen Wortenund schönen Ideen verklären, ist unglaublich, zumal Sieden Leuten noch nicht einmal reinen Wein darüber ein-schenken, wie hoch die Haftung wirklich ist, die hiereingegangen wird – gerade auch vor dem Hintergrundder aktuellen Pläne zur weiteren Hebelung.

(Norbert Barthle [CDU/CSU]: Nebelkerze!)

Das ist kein Programm für weniger Schulden, sonderndas ist ein Programm für mehr Schulden und mehr Ver-schuldung,

(Norbert Barthle [CDU/CSU]: Ohne Hand und Fuß!)

und zwar einerseits in der Bundesrepublik Deutschland,wenn nämlich all diese Bürgschaften irgendwann tat-sächlich bedient werden müssen, und andererseits ist esein Programm für mehr Schulden und mehr Verschul-dung in den betroffenen Ländern, denen damit angeblichgeholfen werden soll. In Wirklichkeit müssen diese Län-der ihre Wirtschaft aber mit martialischen Sparprogram-men in die Knie zwingen. Es sollte Ihnen schon irgend-wie zu denken geben, dass Griechenland eineinhalbJahre nach Beginn der angeblichen Rettung 20 Milliar-den Euro mehr Schulden als vorher hat.

Wer Schulden wirklich reduzieren will, der muss ers-tens auch Vermögen reduzieren, aber bitte schön nichtdie Vermögen der einfachen Leute, die mit diesem gan-zen Desaster nichts zu tun haben, sondern bitte schön dieVermögen derer, die profitiert haben von der steigendenStaatsverschuldung,

(Beifall bei der LINKEN – Max Straubinger[CDU/CSU]: So wie es die Kommunisten im-mer getan haben!)

profitiert haben von Steuerdumping, profitiert haben vonder Bankenrettung, profitiert haben von der ganzen Spe-kulation. Es ist doch kein Zufall, dass die Vermögen derMillionäre und Multimillionäre in Europa in den letztenJahren ähnlich explodiert sind wie die Schulden derStaaten. Das hängt doch zusammen. Das sind zwei Sei-ten einer Medaille.

(Max Straubinger [CDU/CSU]: So wie SEDund PDS es in der Vergangenheit getan ha-ben!)

Darüber reden Sie nicht, weil Sie darüber nicht redenwollen.

(Beifall bei der LINKEN)

Wer Schulden wirklich reduzieren will, der musszweitens dieses aberwitzige System beenden, das dafürsorgt, dass die Finanzierungsspielräume der Staaten amEnde davon abhängen, ob Banker oder Ratingagenturenden Daumen heben oder senken. Das ist ein völlig absur-des System. Wer nichts dafür tut, die Staaten aus derGeiselhaft dieser Finanzhaie zu befreien, der hat die De-mokratie abgeschrieben.

(Max Straubinger [CDU/CSU]: Warum war denn die Staatsbank in der DDR pleite?)

Sie haben die Demokratie abgeschrieben, und Sie ha-ben auch abgeschrieben, einen wirklichen Ausweg ausdieser Krise zu finden, und zwar nicht, weil es keineAuswege gibt, sondern weil Sie alle – die Regierung undauch die angebliche Opposition aus SPD und Grünen,die heute wieder einmal belegt hat, dass sie mit der Re-gierung in solchen Fragen absolut einer Meinung ist –schlicht und ergreifend zu feige und zu devot sind, einePolitik zu machen, die sich mit den Bankern anlegt unddie gegen die Banker gerichtet ist. Das tun Sie alle nicht.

(Beifall bei der LINKEN)

Der Weg, den Sie gehen, ist unverantwortlich; denn esist das hart erarbeitete Steuergeld von Millionen Men-schen, das hier verpulvert wird, um die Ackermännerzufriedenzustellen. Der Weg, den Sie gehen, ist ökono-mischer Aberwitz; denn er wird am Ende sehr wahr-scheinlich die Währungsunion sprengen. Und der Weg,den Sie gehen, ist antieuropäisch; denn er trägt dazu bei,das Vertrauen der Menschen in das europäische Projektrestlos zu untergraben. Das ist das eigentliche Problem.

(Beifall bei der LINKEN)

Deswegen meine ich: Jeder, dem die europäische Ideeoder die ökonomische Vernunft irgendwie am Herzenliegt, musste bei dieser Abstimmung gegen die Erweite-rung des sogenannten Rettungsschirms stimmen.

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Nun hat Andrej Hunko das Wort.

Andrej Hunko (DIE LINKE):Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich gebe

eine persönliche Erklärung zur Abstimmung zur EFSFals jemand ab, der aus der Europastadt Aachen kommt,der dort im Dreiländereck Belgien-Niederlande-Deutschland aufgewachsen ist und der in der Parlamen-tarischen Versammlung des Europarates aktiv an der eu-ropäischen Integration beteiligt ist. Ich gebe sie auch alsMitglied von Attac ab, einer europaweiten Organisation,die schon sehr frühzeitig etwa die Finanztransaktion-steuer gefordert hat.

Diese Debatte heute hat allerdings nichts mit proeuro-päisch oder antieuropäisch zu tun, sondern sie hat etwasdamit zu tun, wer für die Kosten der Krise zahlen soll.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich habe die EFSF erstens abgelehnt, weil sie in ersterLinie ein Airbag für die Finanzindustrie sowie für dieSpekulanten und Finanzhaie ist, die aus Steuermittelngerettet werden sollen. Anstatt die Gläubiger an denKosten der Krise zu beteiligen, wird ein Mechanismuszur Risikoabsicherung der Spekulationsgewinne, einedauerhafte Pipeline aus Steuergeldern in den Finanzsek-tor, geschaffen.

Der zweite Grund, warum ich das ablehne, ist, dassdie mit dieser EFSF verknüpften Austeritätsprogrammedie Krise gerade in Griechenland weiter verschärfenwerden. Anstatt etwa in Griechenland Sozialleistungen

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Andrej Hunko

zu kürzen und öffentliches Eigentum dem Ausverkaufpreiszugeben, wäre in Griechenland ein sozial-ökologi-sches Aufbauprogramm, finanziert durch Gläubigerbe-teiligung, kräftige Vermögensabgaben und Reduzierungder überhöhten Militärausgaben, notwendig.

(Beifall bei der LINKEN)

Drittens lehne ich die EFSF ab, weil sie innerhalb derEuropäischen Union eine Entdemokratisierung – geradeauch gegenüber dem griechischen Parlament; Griechen-land ist ja die Wiege der Demokratie in Europa – bedeu-tet. Gerade jetzt in der Krise wäre es notwendig, zu ei-nem Mehr an Demokratie zu kommen – etwa auch zueiner Beteiligung der Bevölkerung durch Referendenwie zum Beispiel in Island, wo darüber abgestimmtwurde, wer die Kosten der Krise im Fall der Icesave-Bank zahlen soll. Wir brauchen mehr Demokratie undkeine Entdemokratisierung in der Krise.

(Beifall bei der LINKEN)

Die Euro-Krise steht im Zusammenhang mit den ex-orbitant gestiegenen privaten Vermögen, die in etwa dengesamten Staatsschulden auf EU-Ebene entsprechen, so-wie mit den extremen Leistungsbilanzunterschieden in-nerhalb des Euro-Raums. Um die Krise zu lösen, müssendie Staatsschulden durch eine kräftige Vermögensabgabereduziert, die deutschen Exportüberschüsse durch nach-haltige Lohnerhöhungen ausgeglichen und die Finanz-märkte endlich reguliert werden. All das ist in der EFSFnicht vorgesehen.

Besonders peinlich bin ich von dem Brief des griechi-schen Parlamentspräsidenten berührt, der uns allen vor-gestern zugestellt wurde. Er bittet uns um Würdigung allder Kürzungen im Sozialbereich, die er detailliert auflis-tet: Rentenkürzungen, Kürzungen im öffentlichen Dienstusw. Sie kennen die Liste.

Ich kann diese Politik nicht würdigen. Ich kann ihrauch nicht entsprechen. Im Gegenteil: Dieses Programmfindet nicht in meinem Namen und nicht im Namen derFraktion Die Linke statt. Ich würdige hingegen den Wi-derstand der griechischen Bevölkerung gegen die sozialeBarbarei, die dort stattfindet, und gegen die wirtschaft-liche Unvernunft.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich möchte auch würdigen, dass jetzt von der spani-schen Bewegung „¡Democracia real YA!“ versucht wird,in Zusammenarbeit mit Attac europaweit endlich eineBewegung von unten zu schaffen: für ein anderes Eu-ropa, ein soziales Europa. Ich möchte dazu aufrufen,beim europaweiten Aktionstag am 15. Oktober vor derEuropäischen Zentralbank in Frankfurt mitzumachen.Das ist der Weg der direkten Bürgerbeteiligung. Wirbrauchen ein anderes Europa, ein Europa, das sozial ist,sonst wird uns diese EU um die Ohren fliegen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Meine Damen und Herren, zwischendurch darf ich,

damit die Ungeduld nicht zu groß wird, das von denSchriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergeb-nis der namentlichen Abstimmung zum Entwurf einesGesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Übernahme vonGewährleistungen im Rahmen eines Europäischen Stabi-lisierungsmechanismus, Drucksachen 17/6916, 17/7067und 17/7130, mitteilen: abgegebene Stimmen 611. MitJa haben gestimmt 523, mit Nein haben gestimmt 85,Enthaltungen 3. Der Gesetzentwurf ist damit angenom-men.

Endgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen: 611;davon

ja: 523nein: 85enthalten: 3

Ja

CDU/CSU

Ilse AignerPeter AltmaierPeter AumerDorothee BärThomas BareißNorbert BarthleGünter BaumannErnst-Reinhard Beck

(Reutlingen)Manfred Behrens (Börde)Dr. Christoph BergnerPeter Beyer

Steffen BilgerClemens BinningerPeter BleserDr. Maria BöhmerWolfgang Börnsen

(Bönstrup)Norbert BrackmannKlaus BrähmigMichael BrandDr. Reinhard BrandlHelmut BrandtDr. Ralf BrauksiepeDr. Helge BraunHeike BrehmerRalph BrinkhausCajus CaesarGitta ConnemannAlexander DobrindtMarie-Luise DöttDr. Thomas FeistEnak FerlemannIngrid FischbachHartwig Fischer (Göttingen)Dirk Fischer (Hamburg)

Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land)

Dr. Maria FlachsbarthKlaus-Peter FlosbachDr. Hans-Peter Friedrich

(Hof)Michael FrieserErich G. FritzDr. Michael FuchsHans-Joachim FuchtelIngo GädechensDr. Thomas GebhartNorbert GeisAlois GerigEberhard GiengerMichael GlosPeter GötzDr. Wolfgang GötzerUte GranoldReinhard GrindelHermann GröheMichael Grosse-BrömerMarkus GrübelManfred Grund

Monika GrüttersOlav GuttingFlorian HahnDr. Stephan HarbarthJürgen HardtGerda HasselfeldtDr. Matthias HeiderHelmut HeiderichMechthild HeilUrsula Heinen-EsserFrank HeinrichRudolf HenkeMichael HennrichJürgen HerrmannAnsgar HevelingErnst HinskenPeter HintzeChristian HirteRobert HochbaumKarl HolmeierFranz-Josef HolzenkampJoachim HörsterAnette HübingerThomas Jarzombek

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 15237

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(D)(B)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang T

Dieter JasperDr. Franz Josef JungAndreas Jung (Konstanz)Dr. Egon JüttnerBartholomäus KalbHans-Werner KammerSteffen KampeterAlois KarlBernhard KasterSiegfried Kauder (Villingen-

Schwenningen)Volker KauderDr. Stefan KaufmannRoderich KiesewetterEckart von KlaedenEwa KlamtVolkmar KleinJürgen KlimkeAxel KnoerigJens KoeppenDr. Rolf KoschorrekHartmut KoschykThomas KossendeyMichael KretschmerGunther KrichbaumDr. Günter KringsRüdiger KruseBettina KudlaDr. Hermann KuesGünter LachDr. Karl A. Lamers

(Heidelberg)Andreas G. LämmelDr. Norbert LammertKatharina LandgrafUlrich LangeDr. Max LehmerPaul LehriederDr. Ursula von der LeyenIngbert LiebingMatthias LietzPatricia LipsDr. Jan-Marco LuczakDaniela LudwigDr. Michael LutherKarin MaagDr. Thomas de MaizièreHans-Georg von der MarwitzAndreas MattfeldtStephan Mayer (Altötting)Dr. Michael MeisterDr. Angela MerkelMaria MichalkDr. h. c. Hans MichelbachDr. Mathias MiddelbergPhilipp MißfelderDietrich MonstadtMarlene MortlerDr. Gerd MüllerStefan Müller (Erlangen)Dr. Philipp MurmannBernd Neumann (Bremen)Michaela NollDr. Georg NüßleinFranz ObermeierEduard OswaldHenning OtteDr. Michael PaulRita Pawelski

hierse

Ulrich PetzoldDr. Joachim PfeifferSibylle PfeifferBeatrix PhilippRonald PofallaChristoph PolandRuprecht PolenzEckhard PolsThomas RachelDr. Peter RamsauerEckhardt RehbergKatherina Reiche (Potsdam)Lothar RiebsamenJosef RiefKlaus RiegertDr. Heinz RiesenhuberJohannes RöringDr. Norbert RöttgenDr. Christian RuckErwin RüddelAlbert Rupprecht (Weiden)Anita Schäfer (Saalstadt)Dr. Wolfgang SchäubleDr. Annette SchavanDr. Andreas ScheuerKarl SchiewerlingNorbert SchindlerTankred SchipanskiGeorg SchirmbeckChristian Schmidt (Fürth)Patrick SchniederDr. Andreas SchockenhoffNadine Schön (St. Wendel)Dr. Kristina SchröderDr. Ole SchröderBernhard Schulte-DrüggelteUwe SchummerArmin Schuster (Weil am

Rhein)Detlef SeifJohannes SelleReinhold SendkerDr. Patrick SensburgBernd SiebertJohannes SinghammerJens SpahnCarola StaucheDr. Frank SteffelErika SteinbachChristian Freiherr von StettenDieter StierGero StorjohannStephan StrackeMax StraubingerKarin StrenzThomas Strobl (Heilbronn)Lena StrothmannMichael StübgenDr. Peter TauberAntje TillmannDr. Hans-Peter UhlArnold VaatzVolkmar Vogel (Kleinsaara)Stefanie VogelsangAndrea Astrid VoßhoffDr. Johann WadephulMarco WanderwitzKai WegnerMarcus Weinberg (Hamburg)

Peter Weiß (Emmendingen)Sabine Weiss (Wesel I)Ingo WellenreutherKarl-Georg WellmannPeter WichtelAnnette Widmann-MauzElisabeth Winkelmeier-

BeckerDagmar G. WöhrlDr. Matthias ZimmerWolfgang ZöllerWilli Zylajew

SPD

Ingrid Arndt-BrauerRainer ArnoldHeinz-Joachim BarchmannDoris BarnettDr. Hans-Peter BartelsKlaus BarthelSören BartolBärbel BasSabine Bätzing-LichtenthälerDirk BeckerUwe BeckmeyerLothar Binding (Heidelberg)Gerd BollmannKlaus BrandnerWilli BraseBernhard Brinkmann

(Hildesheim)Edelgard BulmahnMarco BülowMartin BurkertPetra CroneDr. Peter DanckertMartin DörmannElvira Drobinski-WeißGarrelt DuinSebastian EdathyIngo EgloffSiegmund EhrmannDr. h. c. Gernot ErlerPetra ErnstbergerKarin Evers-MeyerElke FernerGabriele FograscherDr. Edgar FrankeDagmar FreitagSigmar GabrielMichael GerdesMartin GersterIris GleickeGünter GloserUlrike GottschalckAngelika Graf (Rosenheim)Kerstin GrieseMichael GroschekMichael GroßHans-Joachim HackerBettina HagedornKlaus HagemannMichael Hartmann

(Wackernheim)Hubertus Heil (Peine)Rolf HempelmannDr. Barbara HendricksGustav HerzogGabriele Hiller-Ohm

Petra Hinz (Essen)Frank Hofmann (Volkach)Dr. Eva HöglChristel HummeJosip JuratovicOliver KaczmarekJohannes KahrsDr. h. c. Susanne KastnerUlrich KelberLars KlingbeilHans-Ulrich KloseDr. Bärbel KoflerDaniela Kolbe (Leipzig)Fritz Rudolf KörperAnette KrammeNicolette KresslAngelika Krüger-LeißnerUte KumpfChristine LambrechtChristian Lange (Backnang)Dr. Karl LauterbachSteffen-Claudio LemmeBurkhard LischkaGabriele Lösekrug-MöllerKirsten LühmannCaren MarksKatja MastHilde MattheisPetra Merkel (Berlin)Ullrich MeßmerDr. Matthias MierschFranz MünteferingDr. Rolf MützenichAndrea NahlesDietmar NietanManfred NinkThomas OppermannHolger OrtelAydan ÖzoğuzHeinz PaulaJohannes PflugJoachim PoßFlorian PronoldDr. Sascha RaabeMechthild RawertStefan RebmannGerold ReichenbachDr. Carola ReimannSönke RixRené RöspelDr. Ernst Dieter RossmannKarin Roth (Esslingen)Michael Roth (Heringen)Marlene Rupprecht

(Tuchenbach)Anton SchaafAxel Schäfer (Bochum)Bernd ScheelenMarianne Schieder

(Schwandorf)Werner Schieder (Weiden)Ulla Schmidt (Aachen)Silvia Schmidt (Eisleben)Carsten Schneider (Erfurt)Swen Schulz (Spandau)Ewald SchurerFrank SchwabeDr. Martin SchwanholzRolf Schwanitz

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15238 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011

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Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang T

Stefan SchwartzeRita Schwarzelühr-SutterDr. Carsten SielingSonja SteffenPeer SteinbrückDr. Frank-Walter SteinmeierChristoph SträsserKerstin TackDr. h. c. Wolfgang ThierseFranz ThönnesWolfgang TiefenseeRüdiger VeitUte VogtDr. Marlies VolkmerAndrea WickleinHeidemarie Wieczorek-ZeulDr. Dieter WiefelspützUta ZapfDagmar ZieglerManfred ZöllmerBrigitte Zypries

FDP

Christian AhrendtChristine Aschenberg-

DugnusDaniel Bahr (Münster)Florian BernschneiderSebastian BlumenthalClaudia BögelNicole Bracht-BendtKlaus BreilRainer BrüderleAngelika BrunkhorstErnst BurgbacherMarco BuschmannHelga DaubReiner DeutschmannDr. Bijan Djir-SaraiPatrick DöringMechthild DyckmansRainer ErdelJörg van EssenUlrike FlachOtto FrickePaul K. FriedhoffDr. Edmund Peter GeisenDr. Wolfgang GerhardtHans-Michael GoldmannHeinz GolombeckMiriam GrußJoachim Günther (Plauen)Dr. Christel Happach-KasanHeinz-Peter HausteinManuel HöferlinElke HoffBirgit HomburgerDr. Werner HoyerHeiner KampMichael KauchDr. Lutz KnopekPascal KoberDr. Heinrich L. KolbGudrun KoppDr. h. c. Jürgen KoppelinSebastian KörberHolger KrestelPatrick Kurth (Kyffhäuser)Heinz Lanfermann

hierse

Sibylle LaurischkHarald LeibrechtSabine Leutheusser-

SchnarrenbergerLars LindemannChristian LindnerDr. Martin Lindner (Berlin)Michael Link (Heilbronn)Dr. Erwin LotterOliver LuksicHorst MeierhoferPatrick MeinhardtGabriele MolitorJan MückePetra Müller (Aachen)Burkhardt Müller-SönksenDr. Martin Neumann

(Lausitz)Dirk NiebelHans-Joachim Otto

(Frankfurt)Cornelia PieperGisela PiltzDr. Christiane Ratjen-

DamerauDr. Birgit ReinemundDr. Peter RöhlingerDr. Stefan RuppertBjörn SängerChristoph SchnurrJimmy SchulzMarina SchusterDr. Erik SchweickertWerner SimmlingJudith SkudelnyDr. Hermann Otto SolmsJoachim SpatzDr. Max StadlerDr. Rainer StinnerStephan ThomaeFlorian ToncarSerkan TörenJohannes Vogel

(Lüdenscheid)Dr. Daniel VolkDr. Guido WesterwelleDr. Claudia WintersteinDr. Volker WissingHartfrid Wolff (Rems-Murr)

BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Kerstin AndreaeMarieluise Beck (Bremen)Volker Beck (Köln)Cornelia BehmBirgitt BenderViola von Cramon-TaubadelEkin DeligözKatja DörnerHarald EbnerHans-Josef FellDr. Thomas GambkeKai GehringKatrin Göring-EckardtBritta HaßelmannBettina HerlitziusPriska Hinz (Herborn)Dr. Anton Hofreiter

Bärbel HöhnIngrid HönlingerThilo HoppeUwe KekeritzKatja KeulMemet KilicSven-Christian KindlerMaria Klein-SchmeinkUte KoczyTom KoenigsSylvia Kotting-UhlOliver KrischerAgnes KrumwiedeFritz KuhnStephan KühnRenate KünastMarkus KurthUndine Kurth (Quedlinburg)Monika LazarDr. Tobias LindnerNicole MaischAgnes MalczakJerzy MontagKerstin Müller (Köln)Beate Müller-GemmekeIngrid NestleDr. Konstantin von NotzOmid NouripourFriedrich OstendorffDr. Hermann E. OttLisa PausBrigitte PothmerTabea RößnerClaudia Roth (Augsburg)Krista SagerManuel SarrazinElisabeth ScharfenbergChristine ScheelDr. Gerhard SchickDr. Frithjof SchmidtTill SeilerDorothea SteinerDr. Wolfgang Strengmann-

KuhnDr. Harald TerpeMarkus TresselJürgen TrittinDaniela WagnerWolfgang WielandDr. Valerie WilmsJosef Philip Winkler

Nein

CDU/CSU

Wolfgang BosbachThomas DörflingerHerbert FrankenhauserAlexander FunkDr. Peter GauweilerJosef GöppelManfred KolbeDr. Carsten LinnemannThomas SilberhornKlaus-Peter Willsch

SPD

Wolfgang Gunkel

FDP

Jens AckermannFrank SchäfflerTorsten Staffeldt

DIE LINKE

Jan van AkenAgnes AlpersDr. Dietmar BartschHerbert BehrensKarin BinderMatthias W. BirkwaldHeidrun BluhmSteffen BockhahnEva Bulling-SchröterDr. Martina BungeRoland ClausSevim DağdelenDr. Diether DehmHeidrun DittrichWerner DreibusDr. Dagmar EnkelmannKlaus ErnstWolfgang GehrckeNicole GohlkeDiana GolzeAnnette GrothDr. Gregor GysiHeike HänselDr. Rosemarie HeinInge HögerDr. Barbara HöllAndrej HunkoUlla JelpkeKatja KippingHarald KochJan KorteJutta KrellmannKatrin KunertCaren LaySabine LeidigRalph LenkertMichael LeutertStefan LiebichUlla LötzerDr. Gesine LötzschThomas LutzeUlrich MaurerDorothee MenznerCornelia MöhringKornelia MöllerNiema MovassatWolfgang NeškovićPetra PauJens PetermannRichard PitterleYvonne PloetzIngrid RemmersPaul Schäfer (Köln)Michael SchlechtDr. Ilja SeifertKathrin Senger-SchäferRaju SharmaDr. Petra SitteKersten SteinkeSabine StüberAlexander SüßmairDr. Kirsten Tackmann

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 15239

(A) (C)

(B)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang T

Frank TempelDr. Axel TroostAlexander UlrichKathrin VoglerJohanna VoßSahra Wagenknecht

hierse

Halina WawzyniakHarald Weinberg

BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Hans-Christian Ströbele

Enthalten

CDU/CSU

Veronika Bellmann

SPD

Ottmar Schreiner

FDP

Sylvia Canel

(D)

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie der Abg. Dr. Barbara Hendricks [SPD])

Wir setzen jetzt die Serie der mündlichen Erklärungenfort. Ich erteile das Wort Kollegin Sevim Dağdelen.

(Beifall bei der LINKEN)

Sevim Dağdelen (DIE LINKE):Verehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren!

Ich habe heute gegen die Erweiterung des sogenanntenEuro-Rettungsschirms gestimmt, weil ich es einfach ver-antwortungslos finde, dass jetzt schon wieder Milliardenan Steuergeld versenkt werden, um Bankprofite undSpekulationsgewinne zu sichern.

(Beifall bei der LINKEN)

Die Erweiterung des sogenannten Euro-Rettungs-schirms wird weder den Euro retten, noch Europa retten,noch wird es den Menschen in Griechenland, Portugal,Irland oder irgendwo anders helfen. Das Gegenteil istder Fall: Die wirtschaftlich unsinnigen und sozial unge-rechten Kürzungsprogramme in den Krisenländern sindRettungsringe aus Blei, die zu noch mehr Schulden füh-ren werden und diese Länder weiter in die Rezessiontreiben werden. Das können wir ja aktuell in Griechen-land beobachten.

Sie sagen, Sie wollen die Demokratie retten. Dabeihaben Sie heute wieder eine Politik gegen die Mehrheitder Menschen im Land gemacht. Sie setzen heute dasDiktat der Finanzmafia um, statt den Willen der Mehr-heit der Bevölkerung in Deutschland, die gegen die Er-weiterung dieses Rettungsschirms ist. Zu Recht ist dieMehrheit der Bevölkerung gegen diesen Rettungs-schirm; denn für die mindestens 253 Milliarden EuroBürgschaft Deutschlands muss letztlich der Steuerzahlergeradestehen. Ich werde mich nicht daran beteiligen, we-der heute noch morgen, dass weiterhin die kleinen Leutefür die Party der Zockerbuden und der Superreichen zah-len sollen. Deshalb habe ich heute die Erweiterung die-ses sogenannten Euro-Rettungsschirms abgelehnt.

Sie sagen, Sie wollen die Schulden reduzieren und ab-bauen. Wer die Schulden aber wirklich abbauen will, dermuss auch die Vermögen reduzieren. Die Schuldenkriseund auch der wachsende private Reichtum der Vermö-genden sind nämlich zwei Seiten einer Medaille.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich habe heute diesen sogenannten Rettungsschirmabgelehnt, weil ich eine Politik ablehne, die sich denProfitwünschen der Banken und Konzerne bedingungs-los unterordnet. Ich sagte heute Nein zu einer Politik, dienicht den Interessen der Mehrheit der Bevölkerung, son-

dern vor allem denen der Banken, Spekulanten und obe-ren Zehntausend dient.

(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Was für ein Unsinn!)

Ihre Solidarität gilt nur diesen Zockerbanden, derFinanzmafia. Unsere Solidarität gilt stattdessen denMenschen in den Ländern, die diese Krise aufgrund dervon Ihnen betriebenen deutschen Wirtschaftspolitik, diein den letzten Jahre zu Lohndumping führte, durchlebenmüssen. Unsere Solidarität gilt den Menschen, die sichin Griechenland gegen die Kürzungsprogramme und dieRettungsringe aus Blei, die Sie ihnen vorwerfen, erhe-ben. Wir sind solidarisch mit den Menschen in Portugalund Irland, die Nein sagen zu einem Europa, das unso-zial und ungerecht ist. Deshalb habe ich heute mit Neingestimmt.

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Die nächste mündliche Erklärung gibt Diether Dehm

ab.

(Beifall bei der LINKEN – Hans-MichaelGoldmann [FDP]: Na endlich! Singen Sie sieam besten!)

Dr. Diether Dehm (DIE LINKE):Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich

habe heute gegen die Aufstockung der EFSF gestimmt,

(Jörg van Essen [FDP]: So eine Über-raschung!)

weil mit dem Gesetzentwurf erneut gegen die großartigeIdee eines friedlichen und sozialen Europa verstoßenwird. Mit der EFSF-Aufstockung werden nicht die Grie-chen gerettet, sondern die Besitzer griechischer Schuld-verschreibungen.

Die mit der EFSF verordnete Austeritätspolitik fürGriechenland hat antieuropäische Konsequenzen, übri-gens so wie das deutsche Lohndumping, das den Exportverbilligt und zu den Überschüssen führt. Wenn man,wie in Deutschland, innerhalb von zehn Jahren die Real-löhne um 4,5 Prozent senkt,

(Max Straubinger [CDU/CSU]: Wir haben mehr Arbeitsplätze in Deutschland!)

dann werden zwar der Export verbilligt und die Export-überschüsse gesteigert, dann führt das aber auch dazu,dass die Binnennachfrage nicht steigt, und das in demLand mit der höchsten Bevölkerungszahl in Europa.

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(D)(B)

Dr. Diether Dehm

Ich weiß nicht, ob Herr Brüderle noch anwesend ist.Er verbreitet sich ja gelegentlich in Interviews darüber,dass der Druck auf die Griechen weiter verschärft wer-den muss. Aber richten Sie bitte den Blick auf die Kon-sequenzen: Die Streichung von 174 000 Stellen im öf-fentlichen Dienst bis Ende dieses Jahres, wie es diegriechische Regierung vorhat, und zwar 84 000 letztesJahr und 90 000 dieses Jahr, entspräche in Deutschlanddem Statistischen Bundesamt zufolge der Streichungvon 917 000 Stellen im öffentlichen Dienst.

Die Kürzung der Sozialausgaben in Griechenland, dieSie verordnen, entspricht 1,5 Prozent des griechischenBIP. Auf Deutschland übertragen entspräche das131,8 Milliarden Euro, also fast einem Viertel der imEinzelplan für Arbeit und Soziales veranschlagten Aus-gaben.

Unter den europäischen Völkern zählen die Deut-schen gewiss eher zu den duldsamen. Aber mit diesenKürzungen würden Sie auch in diesem Land ein Pulver-fass anrühren.

Das alles geschieht, ohne die Ackermänner und Groß-profiteure der Krise in Deutschland und die Jachtbesitzerin Griechenland zur Steuerkasse zu bitten.

(Lachen des Abg. Hans-Michael Goldmann [FDP])

Ich denke, auch der soziale Frieden ist ein Wirtschafts-faktor. Jedenfalls wurde das an diesem Rednerpult in derVergangenheit oft gesagt.

Wo der Staat seine in Art. 20 unseres Grundgesetzesverbriefte Sozialstaatlichkeit aufgibt, verspielt er dasVertrauen der Bürgerinnen und Bürger und nährt dieRechtspopulisten, die sich europaweit in einem einzigenSiegeszug wähnen. Die deutsche und griechische Politikverwalten den Mangel. Überall wird gekürzt. Aber dieeuropäischen Banken haben allein in diesem Jahr bereitsDividenden in Höhe von 40 Milliarden Euro ausgeschüt-tet.

Die Großzocker werden weder gezähmt noch regu-liert noch gerecht zur Kasse gebeten. Eine echte Gläubi-gerbeteiligung findet nicht statt. Bei der Deutschen Bankist bei einem gesamten Bilanzvolumen von 2 000 Mil-liarden Euro nur ein hartes Eigenkapital von 30 Milliar-den Euro vorhanden. Das entspricht nicht dem, was wiruns von der Aufstockung des Eigenkapitals erwartet ha-ben.

Dieser unsozialen und ungerechten Politik, die nichtzugunsten der Opfer, sondern zugunsten der Ackermän-ner und anderer Täter auf dem Rücken der Bürgerinnenund Bürger ausgetragen wird, kann ich nach bestemWissen und Gewissen meine Stimme nicht geben.

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Die nächste mündliche Erklärung gibt Inge Höger ab.

(Beifall bei der LINKEN)

Inge Höger (DIE LINKE):Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich lehne

die Ausweitung und Stärkung des sogenannten EU-Ret-tungsschirmes ab. Das Gesetz ist eine schlechte Nach-richt für die Menschen in Europa. Es ist eine schlechteNachricht für die Beschäftigten in Griechenland. Sie sol-len dank der EU-Auflagen künftig noch weniger Geld inder Tasche haben, dafür aber länger arbeiten – wie irr-witzig! Es ist eine schlechte Nachricht für GriechenlandsRentnerinnen und Rentner. Auch sie sollen für eineKrise zahlen, die sie nicht verursacht haben.

Den Beschäftigen des öffentlichen Dienstes droht nunArbeitslosigkeit. Und die Menschen in Griechenland, dieauf öffentliche Daseinsvorsorge angewiesen sind, sinddie Leidtragenden dieses ungerechten Krisenmanage-ments. Ich denke zum Beispiel an kranke Menschen, diees sich nicht leisten können, die hohen Kosten in privati-sierten Krankenhäusern zu tragen. Der Rettungsschirmsieht nämlich weitere Privatisierungen vor. Das ist aucheine schlechte Nachricht für die Studierenden, die sichkeine Studiengebühren leisten können. Zweiklassenbil-dung, Zweiklassenmedizin, Zweiklasseneuropa!

Das alles gilt letztendlich nicht nur für Griechenland,sondern übt auch Druck auf andere EU-Länder aus. Ichfrage die Abgeordneten, die dafür gestimmt haben: Wis-sen Sie eigentlich, was Sie da anrichten? Ich befürchte,einige von Ihnen wissen es. Der EU-Rettungsschirm isteine gute Nachricht für die europäischen Eliten, einegute Nachricht für die Konzerne und Banken, die anGriechenland Kredite vergeben haben, denn sie könnenweiter ungehindert Geschäfte machen – ich denke da be-sonders an die deutsche Rüstungsindustrie –, eine guteNachricht für Europas Spekulanten, denn sie könnenweiter zocken in dem Vertrauen, dass es eine EU gibt,die für ihren Schaden aufkommt. Zahlen müssen wiederdie kleinen Leute. Ich kann nur hoffen, dass die Protesteund Streiks in Griechenland und anderswo so viel wiemöglich von dem verhindern, was Sie heute beschlossenhaben.

(Beifall bei der LINKEN)

Ihre Euro-Rettung ist auch eine gute Nachricht fürdiejenigen, die die Menschen in Europa gegeneinanderaufbringen wollen; denn das Problem sind nicht in ersterLinie die griechischen Staatsfinanzen. Schließlich sindandere Staaten auch hoch verschuldet. Das Problem istvielmehr die Finanzmarktliberalisierung, die Rot-Grün2004 eingeführt hat. Sie lenken von dieser gescheitertenPolitik im Interesse der Ackermänner ab. Sie machen dieGriechinnen und Griechen zu Sündenböcken und gebendamit Anlass für rassistische Hetzkampagnen. Sie spie-len damit Faschisten und Nazis in die Hände. Was dasmit Völkerverständigung, Solidarität oder europäischerIntegration zu tun haben soll, soll mir mal einer erklären.

Ich kann nur wiederholen, was in den Reihen der eu-ropäischen Linkspartei in diesen Tagen des Öfteren ge-sagt wird: Die EU wird entweder demokratisch, sozialund solidarisch werden, oder sie wird nicht bestehen.

(Beifall bei der LINKEN)

Page 51: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/dip21/btp/17/17130.pdfDeutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitz ung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 III in Verbindung

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 15241

(A) (C)

(D)(B)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Nächste persönliche Erklärung, Heidrun Dittrich.

(Beifall bei der LINKEN)

Heidrun Dittrich (DIE LINKE):Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen

und Herren! Ich stimmte gegen das Gesetz, weil ich ge-gen Ihre Politik des Lohndumpings stimme. Diese Poli-tik hat erst recht in die Krise geführt. Sie wird fortge-setzt, sie wird aber keine Lösung bieten; denn das istkeine Europarettung. Das ist ein Angriff auf die arbei-tenden Menschen in ganz Europa. Diesem Angriff wi-dersetzen wir uns hier als Linke.

(Beifall bei der LINKEN)

Den Griechen wurde mit den Finanzhilfen der EU einKürzungsprogramm aufgezwungen. Das ist unsozial.Die Menschen in Griechenland mussten Rentenkürzun-gen, Erhöhungen des Renteneintrittsalters und Preiser-höhungen im öffentlichen Nahverkehr um 30 Prozenthinnehmen. Die Mindestlöhne wurden gesenkt und derKündigungsschutz gelockert. Es ist noch nicht einmal si-cher – so hat es der griechische Finanzminister im Fern-sehen gesagt –, ob die Löhne und Renten überhaupt nochausgezahlt werden können. Wenn das auch der deut-schen Bevölkerung droht, dann werden alle aufwachen.

Ich verstehe nicht: Aus welchem Grund müssen dieSchüler, die Rentner und die Beschäftigten die Krise al-lein bezahlen? Ich stimmte dagegen, weil ich meine,dass die Verursacher und die Profiteure der Krise zurKasse gebeten werden müssen.

(Beifall bei der LINKEN)

Das sind die Banken, die Investmentfonds und die Versi-cherungen. Es ist die Aufgabe des Deutschen Bundesta-ges, zum Wohle des Volkes zu handeln und nicht zumWohle der Finanzmärkte.

Allein das Gesamtvermögen der Millionäre in Europa– das wurde heute schon gesagt – beläuft sich auf7,5 Billionen Euro. Dem stehen Staatsschulden in Höhevon 10 Billionen Euro gegenüber. Da muss man nichtgroß rechnen, sondern es wird klar: Besteuert die Super-reichen, und es ist Geld da, um die Schuldenkrise zuüberwinden.

(Beifall bei der LINKEN – Hans-MichaelGoldmann [FDP]: Das sollten Sie noch malnachlesen!)

Europa besteht nicht nur aus Vorstandsmitgliedernund Bankiers. Es besteht vor allem aus vielen Völkern.Mein Respekt gilt den streikenden Menschen in Grie-chenland, in Spanien und in Großbritannien, wo die Ge-werkschaften für den 2. Oktober zur Verteidigung desSozialstaats aufgerufen haben.

Ich stimmte dagegen, weil die Linke für ein sozialesEuropa eintritt. Ich hätte dafür gestimmt, wenn wir so-ziale Mindeststandards eingeführt, höhere Mindestlöhnefestgelegt und das Renteneintrittsalter gesenkt hätten.Europa kann nur funktionieren, wenn der Lebensstan-dard verbessert wird. Ebenso wie meine Kollegin vorhin

möchte ich François Mitterand zitieren, der bereits 1973festgestellt hat: Europa wird sozial sein, oder es wirdnicht sein.

Danke für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Es folgt Michael Schlecht.

(Beifall bei der LINKEN)

Michael Schlecht (DIE LINKE):Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich

habe mit Nein gestimmt, weil alle sogenannten Hilfskre-dite mit scharfen Lohn- und Sozialkürzungen verbundensind, die das Leben der Menschen in Griechenland undin anderen Ländern wie zum Beispiel in Portugal nurnoch weiter verschlechtern. Dies ist nicht nur unsozial,sondern die betroffenen Länder werden noch weiter indie Krise gestürzt. Deshalb habe ich mit Nein gestimmt.Ich habe auch mit Nein gestimmt, weil diese Euro-Ret-tung in Wirklichkeit ein Rettungsring aus Blei ist, der al-les nur noch schlimmer macht.

(Beifall bei der LINKEN)

Wohin dies führt, kann man am brutalsten am Bei-spiel von Griechenland sehen: 2009, als in Deutschlanddie Wirtschaft um 5 Prozent einbrach, ging es Griechen-land noch einigermaßen gut. Aber als dann Griechenlandim Jahr 2010, maßgeblich durch Intervention der deut-schen Regierung, die ersten Schritte hin zu einer Auste-ritätspolitik und die ersten Lohn- und Sozialkürzungenaufgezwungen worden sind, brach das Wirtschafts-wachstum in Griechenland um 4,5 Prozent ein. Es stehtzu befürchten, dass es im Jahr 2011 noch schlimmerwird. Die Experten schätzen, dass das Wachstum inGriechenland um mindestens weitere 5 Prozent ein-bricht. Das führt dazu, dass sich die Wirtschaft Grie-chenlands schlechter entwickelt; denn die Leute habenkein Geld mehr, um Einkäufe zu tätigen, und die Unter-nehmer haben weniger zu tun. Es ist vollkommen klar,dass in einer solchen Situation die Steuereinnahmennoch stärker zurückgehen. Dadurch ist man von demZiel der Haushaltskonsolidierung und einer besserenwirtschaftlichen Entwicklung nunmehr himmelweit ent-fernt. Ich plädiere dafür, dass man die Lohn- und Sozial-kürzungen in Griechenland und den anderen Ländernstoppt und die Massenentlassungen, die jetzt diesen Län-dern aufgebürdet werden, verhindert.

Ich habe auch deswegen gegen das Gesetz gestimmt,weil nicht erkennbar ist, dass man dadurch dringend not-wendige Maßnahmen auf den Weg bringt. Ich nenne alsBeispiel Aufbauhilfen für Griechenland und andere Län-der. Das wäre wirklich notwendig; denn auch Deutsch-land wurde nach dem Zweiten Weltkrieg geholfen. Es istein Skandal, dass das nicht im Fokus der Debatte steht.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich habe auch deshalb dagegen gestimmt, weil wederdas Gesetz noch die Debatten, die wir erlebt haben, da-von zeugen, dass auch nur annähernd ein Verständnis da-

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Michael Schlecht

für herrscht, wo die eigentlichen Ursachen der Krise lie-gen. Hier wird nur von der Verschuldung derKrisenländer wie Griechenland und Portugal geredet undso getan, als ob das deren eigene Schuld sei. Es gibtüberhaupt keinen Anhaltspunkt, dass verstanden würde,dass die eigentlichen Ursachen dieser sogenannten Euro-Krise in Deutschland liegen. Von den anderen vier Frak-tionen in diesem Haus ist in den letzten zehn Jahren ins-besondere mit der Agenda 2010 über Befristungen,Leiharbeit, die Einführung von Minijobs und Hartz IVein Repressionssystem am Arbeitsmarkt eingeführt wor-den, das dazu geführt hat, dass die Tariferosion deutlichzugenommen hat und die Löhne in Deutschland gesun-ken sind.

(Max Straubinger [CDU/CSU]: Ist Arbeitslo-sigkeit besser als Arbeit? – Dr. JohannWadephul [CDU/CSU]: Das ist doch keine Er-klärung mehr!)

Ich habe gegen den Gesetzentwurf gestimmt, weilnicht erkennbar ist, dass auf dieser Grundlage irgendwel-che Verbesserungen erreicht werden. Denn die Ursachendes Problems bestehen darin, dass die deutschen Exportedurch das Lohndumping immer stärker und der Binnen-markt immer schwächer geworden sind. Dadurch konn-ten die anderen Länder immer weniger importieren. DerAußenhandelsüberschuss ist dramatisch auseinanderge-gangen, und die deutschen Unternehmer haben andereMärkte erobert. Das hat dazu geführt, dass die Verschul-dung in den anderen Ländern dramatisch angestiegen ist.Das deutsche Lohndumping ist also die Ursache für dieVerschuldung dieser Länder.

Ich habe gegen den Gesetzentwurf gestimmt, weil erüberhaupt keine Elemente enthält, mit denen diesemProblem begegnet und das Ganze wieder rückgängig ge-macht werden kann.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der LINKEN – Max Straubinger [CDU/CSU]: Das war wirklich schlecht!)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Nun Kathrin Vogler.

(Beifall bei der LINKEN)

Kathrin Vogler (DIE LINKE):Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Ich habe gegen die Erweiterung des soge-nannten Euro-Rettungsschirms gestimmt. Dies habe ichals überzeugte Europäerin getan.

(Lachen des Abg. Max Straubinger [CDU/CSU])

Ich sage ganz klar Ja zu Europa; denn ich komme ausder deutsch-niederländischen Grenzregion und weiß,was Europa für uns, die wir dort leben, bedeutet. Ichsehe, wie wir uns unseren niederländischen Nachbarin-nen und Nachbarn annähern, wie wir den Austausch ver-bessert haben und welche Erleichterung es für uns ist,den Euro als gemeinsame Währung zu haben. Auch bin

ich Mitglied der Deutsch-Niederländischen Parlamen-tariergruppe, weil es mir wichtig ist, die Beziehungen zuvertiefen und zu pflegen.

Dieser sogenannte Rettungsschirm ist aber nicht pro-europäisch. Er ist unsozial, ökonomisch unsinnig und einweiterer Schritt zur Spaltung Europas.

(Beifall bei der LINKEN)

Die Auflagen, die Sie, liebe Kolleginnen und Kolle-gen, dem griechischen Volk heute verordnen wollen,sind absolut kontraproduktiv. Statt die griechische Wirt-schaft anzukurbeln, werden Löhne und Gehälter gekürzt.Das Ergebnis dieser falschen Politik ist absehbar: Eswird einen weiteren Rückgang der Wirtschaftsleistungmit der Folge eines massiven Anstiegs der Arbeitslosig-keit geben. Gewerkschaften rechnen schon mit 26 Pro-zent Arbeitslosigkeit in Griechenland. In Spanien stehteine Generation gut ausgebildeter junger Leute bereit,denen der Einstieg in den Arbeitsmarkt vollständig ver-schlossen ist. Das ist eine soziale Katastrophe. Darankann ich mich nicht beteiligen.

(Beifall bei der LINKEN)

Hinzu kommt: Die Wählerinnen und Wähler in mei-nem Wahlkreis und auch in den benachbarten Niederlan-den verstehen überhaupt nicht, dass die Europäische Zen-tralbank Geld für 1,5 Prozent an Privatbanken verleiht,die dieses Geld dann für Wucherzinsen zum Beispiel anGriechenland weitergeben. Dabei haben die Privatbankenüberhaupt kein Risiko; denn wenn Griechenland nichtzahlen kann, müssen die Steuerzahlerinnen und Steuer-zahler in Europa, also die Verkäuferin bei Lidl und derniederländische Tulpenzüchter, dieses Risiko tragen.Deshalb ist dieser Euro-Rettungsschirm aus meiner Sichtein Rettungsschirm für die Banken und nicht für die Men-schen.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich hätte zugestimmt, wenn wir die Banken mit einementsprechenden Programm unter öffentliche Kontrollebekommen hätten, wenn das Finanzsystem reguliertworden wäre, damit Ratingagenturen und Hedgefondskünftig nicht genauso weitermachen können wie bisher,und wenn die Sozialleistungen und Löhne in Europa er-höht worden wären. Dann könnte nämlich nicht nur derEuro gerettet werden, sondern dann könnte das ProjektEuropa als soziales Friedensprojekt wieder von mehrMenschen akzeptiert werden.

Deshalb ist es mir gerade als Europäerin wichtig, dassdieses erfolgreiche Friedensprojekt – und das ist die Eu-ropäische Union – nicht einer falschen Wirtschaftspoli-tik und den Profiten der Banken sowie ihrer Aktionäregeopfert wird. Dafür kann ich meine Stimme nicht abge-ben.

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Nun Annette Groth.

(Beifall bei der LINKEN)

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Annette Groth (DIE LINKE):Auch ich habe heute gegen den sogenannten Ret-

tungsschirm gestimmt, weil ich absolut davon überzeugtbin, dass dieser Bleischirm weitere soziale Verwerfun-gen nach sich ziehen und die Krise weiter verschärfenwird.

(Beifall bei der LINKEN)

Als überzeugte Europäerin, aber auch als Internati-onalistin kämpfe ich seit langem für ein soziales, öko-logisches und gerechtes Europa. Die Einhaltung derMenschenrechte und die Durchsetzung von sozialer Ge-rechtigkeit sind dabei von zentraler Bedeutung. DiesenWeg hat die EU seit dem Maastrichter Vertrag aufgege-ben. Mit der Aufnahme der durch den damaligen Bundes-finanzminister Waigel durchgesetzten Stabilitätskriterienwurde der Weg in die Krise der EU vertraglich festge-schrieben.

Mit dem Rettungsschirm werden die Parlamente aufweitere Haushaltskürzungen verpflichtet. Mit dem an-geblichen Ziel der Schuldenreduzierung werden Sozial-leistungen, Renten und Löhne gekürzt. Massensteuernwie die Mehrwertsteuer dagegen werden erhöht. Dasheißt, Arme und Bezieher mittlerer Einkommen werdenimmer stärker belastet. Reiche bleiben außen vor. Das,was ich hier so kritisiere, ist das neoliberale Grundkon-zept.

(Beifall bei der LINKEN)

Wir alle, glaube ich, wissen, dass mit diesen Maßnah-men eine Schuldenreduzierung nicht möglich ist. Sieversuchen aber, es uns glaubhaft zu machen. Eine effek-tive Schuldenreduzierung geht nur mit effektiven Um-schichtungen des beispiellosen Privatvermögens von10 Billionen Dollar. Profiteure der Krise sind Kapitalbe-sitzer, Großbanken und Hedgefondsmanager. Sie müs-sen an der Finanzierung beteiligt werden, sonst wird dasnichts.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich habe bis heute nicht verstanden, warum die dama-ligen Versprechungen von Frau Merkel und anderen,Hedgefonds und andere toxische Papiere zu verbieten,nicht eingehalten worden sind. Hätten Sie das gemacht,wäre die Krise heute wesentlich kleiner.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich habe auch die Befürchtung, dass diese Politik derRegierungsparteien die europafeindlichen und rechts-populistischen Grundströmungen in einem Teil unsererGesellschaft noch weiter befördern wird. Damit werdennationalistische und sozialdarwinistische Positionen ge-stärkt. Das will ich nicht verantworten.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Ich will ein soziales und gerechtes Europa. Darum binich solidarisch und stelle mich hinter die vielen Millio-nen Menschen, die seit Monaten in anderen europäi-schen Ländern auf die Straße gehen und ihren Protest ge-gen Lohnkürzungen und Sozialkürzungen vehementzum Ausdruck bringen.

(Beifall bei der LINKEN)

Weil ich ab und zu selbst auf der Straße protestiere,gehe ich natürlich am 15. Oktober nach Brüssel. Ichmöchte, dass dieser europäische Aktionstag ein Riesen-erfolg wird. Wir müssen zeigen, dass ein anderes Europamöglich und sehr, sehr nötig ist.

Danke.

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Nun Heike Hänsel.

(Beifall bei der LINKEN – Dr. MatthiasZimmer [CDU/CSU]: Habt ihr sie bald alledurch?)

Heike Hänsel (DIE LINKE):Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich

habe heute gegen die Erweiterung des Rettungsschirmsgestimmt, weil ich nicht länger zusehen will, wie die Fi-nanzmärkte die Politik weiter vor sich hertreiben. Ichfrage mich wirklich: Wo sind wir eigentlich angekom-men, wenn Angela Merkel frühmorgens erst einmal dieKommentare der Ratingagenturen und die Börsenkurseanschauen muss, bevor sie ins Kabinett geht und ihrePolitik weiterentwickelt? Das ist ein Versagen jeglicherDemokratie.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich kann das in dieser Form nicht verantworten.

Die ganze Politik, alles, was hier heute beschlossenwurde, wird die Umverteilung von unten nach oben vo-rantreiben. Die Umverteilung ist eine Ursache dieserKrise. Deswegen hilft diese Politik nicht aus der Kriseheraus; vielmehr verschärft diese Politik die Krise.

(Beifall bei der LINKEN)

Es wurde schon mehrfach angesprochen: Diese Poli-tik gefährdet ernsthaft jeglichen Ansatz einer europäi-schen Integration. Wir erleben in vielen Ländern, wierechtspopulistische Parteien und Bewegungen die Wutund das Gefühl der Ohnmacht der Menschen zu instru-mentalisieren versuchen. Eine Politik, die diese Ent-wicklung ignoriert, ist verantwortungslos. Wir müsseneine soziale Politik für die Menschen dagegenstellen.Nur so können wir auch rechten Bewegungen eine klareAbsage erteilen.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich habe auch deswegen gegen den sogenannten Ret-tungsschirm gestimmt, weil darin viel Geld gebundenwird, das wir für gute, zukunftsweisende Ideen in Eu-ropa bräuchten. Wir könnten ganz Europa auf regenera-tive Energien umstellen. Wir könnten völlig neue Ent-wicklungen befördern. Das dafür benötigte Geld wirdgebunden, und das steht der Zukunft Europas entgegen.Diese Politik ist negativ und zerstörerisch, und deswe-gen habe ich heute gegen diesen Gesetzentwurf ge-stimmt.

(Beifall bei der LINKEN)

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Heike Hänsel

Ich möchte, dass wir ein Europa der Menschen entwi-ckeln und nicht ein Europa der Banken. Dieses Signalmuss von diesem Parlament ausgehen. Die Krise könnenwir nur überwinden, wenn das Finanzkasino – anderskann man es gar nicht mehr nennen – endlich geschlos-sen wird und die Staaten sich unabhängig von Kapital-märkten finanzieren können. Deshalb ist die Schaffungeiner Bank für öffentliche Anleihen so wichtig. Ich sageIhnen: Früher oder später wird es eine solche Bank ge-ben. Wir haben letztes Jahr vor so vielen Dingen ge-warnt, und vieles ist mittlerweile eingetreten. Ich betone:Diese Entwicklung wird so stattfinden.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Wie bereits angesprochen wurde, werden nicht dieVerursacher und die Profiteure der Krise zur Verantwor-tung gezogen – auch das ist ein Grund, gegen diesenRettungsschirm zu stimmen –, sondern das Ganze wirdauf dem Rücken der Mehrheit der Bevölkerung ausgetra-gen.

Ich war schockiert, als ich vor einigen Wochen inGriechenland war und dort mit vielen Menschen gespro-chen habe. Die Lebenssituation vieler dort ist sehrschwierig. Viele fühlen sich von dieser Politik, die auchdie Bundesregierung vorantreibt, gedemütigt. Es ist ei-gentlich beschämend, zu sehen, dass bei der Vergangen-heit Griechenlands, die Deutschland zu verantwortenhat, heute ausgerechnet die Bundesregierung und AngelaMerkel den Menschen in Griechenland die Politik diktie-ren wollen. Ich wiederhole: Das ist beschämend. Deswe-gen habe ich heute gegen den Rettungsschirm gestimmt.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich möchte mich mit den Menschen solidarisieren, diesich gegen diese Politik wehren. Ich unterstütze die For-derung der Griechen und Griechinnen, zum Ausdruckgebracht auf dem Syntagma-Platz in Athen. Diese Men-schen sagen: Wir brauchen einen umfassenden Schul-denschnitt für Griechenland; anders wird es keine Zu-kunft für unser Land geben. – Außerdem solidarisiereich mich mit den Menschen, die dahin gehend mobilisie-ren, dass am 15. Oktober ein großer Marsch der Empör-ten nach Brüssel stattfindet, weil sie meinen: So kann esnicht weitergehen. – Es erschüttert die ganze Demokra-tie in Europa, wenn wir den aktuellen Entwicklungennicht endlich eine Politik der Menschen entgegenstellen.Diese Menschen machen sich auf den Weg, und das un-terstütze ich.

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Letzte Rednerin derer, die eine mündliche Erklärung

abgeben, ist nun Kollegin Sabine Leidig.

(Beifall bei der LINKEN)

Sabine Leidig (DIE LINKE):Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Ich habe

aus verschiedenen Gründen mit Nein gestimmt:

Erstens. Es macht mich zutiefst misstrauisch, dass dieInvestmentbank Goldman Sachs derzeit empfiehlt, ge-

gen den Euro und gegen Europa zu wetten, und dass die-selbe Investmentbank zum Beraterstab der europäischenRegierungen gehört.

(Zuruf von der Linken: Unglaublich!)

Es macht mich zutiefst misstrauisch, dass der Chef die-ser Bank, Alexander Dibelius, die Bundesregierung be-rät – ein Mann, der explizit erklärt, dass er bei den Ban-ken keinerlei Verantwortung für das Allgemeinwohlsieht.

Ich habe mit Nein gestimmt, weil mit dieser Art derEuro-Rettung die Allgemeinheit in Haft genommenwird, um die Kapitalanleger zu bedienen. Die Macht derInvestmentbanken hingegen wird nicht angetastet. Es istnicht vorgesehen, dass große Geldvermögen abgeschöpftwerden. Keines der grundlegenden Probleme der Euro-päischen Union und auch keines der Krisenprobleme derWeltwirtschaft wird auf diese Art und Weise auch nurangepackt.

(Beifall bei der LINKEN)

Im Gegenteil: Die verordneten Sparmaßnahmen werdenvor allem die kleinen Leute treffen. Wir werden in eineSituation hineinmanövriert, die der großen Schulden-krise der 80er-Jahre ähnlich ist, von der die lateinameri-kanischen Länder betroffen waren. Damals hat der IWFdie Spardiktate, die Schuldknechtschaft ausgesprochen.Dabei war völlig klar, dass damit die Masse der Bevöl-kerung in unerträgliche Zustände gebracht wurde.

Dieselbe Linie verfolgen Sie mit den Spardiktaten,die jetzt beschlossen worden sind; und mit dem Sixpack,das gestern im Europäischen Parlament verabschiedetworden ist, werden die Zustände noch massiv verschärft.Maastricht hoch zwei wird die Situation für die Men-schen in Europa dramatisch verschlimmern, und zwarauch in der Bundesrepublik.

(Beifall bei der LINKEN)

An dieser Stelle möchte ich etwas sagen, was michwirklich sehr bewegt. Ich kann nachvollziehen, dass dieGewerkschaften in einer bestimmten Situation hoffenund glauben, dass es, wenn es den deutschen Unterneh-men besser geht, wenn die Unternehmen besser durchdie Krise kommen, auch den Beschäftigten besser geht.

Ich selbst bin seit 32 Jahren Gewerkschaftsmitgliedund war zehn Jahre lang hauptamtlich tätig. In dieserZeit haben wir über den Pakt für Wettbewerb, Ausbil-dung und Arbeit diskutiert, der zur Folge hatte, dass sichdie Situation der Beschäftigten durch die Stärkung derWettbewerbssituation der deutschen Unternehmen ins-gesamt verschlechtert hat. Die Gewinne der DAX-Kon-zerne platzen aus allen Nähten; sie haben in der Nachkri-senzeit um 134 Prozent zugelegt.

Was ist davon bei den Beschäftigten angekommen?Ich schaue meinen Kollegen an, der weiß, wovon ichspreche. Ich glaube, dass die Gewerkschaften sich kei-nen Gefallen tun, wenn sie auf dieselbe Weise versu-chen, die eigenen Beschäftigten zu stützen, aber nicht er-kennen, dass Europa nicht nur ein Europa des Friedens,sondern auch ein Europa der Kultur ist. Das ist ganz

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Sabine Leidig

wichtig. Europa ist ein großer Schatz. Man darf abernicht vergessen, dass es in Europa auch oben und untengibt. Die Beschäftigten in Griechenland stehen den Be-schäftigten hier deutlich näher, wenn es um die Durch-setzung gemeinsamer Interessen geht.

(Beifall bei der LINKEN)

Schließlich möchte ich sagen, dass nicht nur dieLinke diesen Stabilitätspakt ablehnt. Das europäischeAttac-Netzwerk – es wurde schon angesprochen –, demich angehöre, appelliert an die Parlamentarierinnen undParlamentarier: Es ist an der Zeit, Nein zu sagen, Neinzum Angriff auf soziale und demokratische Rechte inEuropa. Diesem Appell folge ich aus voller Überzeu-gung.

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Damit sind wir am Ende der Liste der mündlichen Er-

klärungen von der Fraktion der Linken.

Wir kommen nunmehr zum Tagesordnungspunkt 4:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales(11. Ausschuss)

– zu dem Antrag der Abgeordneten AnetteKramme, Gabriele Lösekrug-Möller, IrisGleicke, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der SPD

Langfristige Perspektive statt sachgrundloseBefristung

– zu dem Antrag der Abgeordneten JuttaKrellmann, Klaus Ernst, Herbert Behrens, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKE

Befristung von Arbeitsverhältnissen ein-dämmen

– zu dem Antrag der Abgeordneten BrigittePothmer, Beate Müller-Gemmeke, Fritz Kuhn,weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Kein Sachgrund, keine Befristung – Befris-tete Arbeitsverträge begrenzen

– Drucksachen 17/1769, 17/1968, 17/2922,17/4180 –

Berichterstattung:Abgeordnete Gitta Connemann

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ichhöre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlos-sen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile KollegenMatthias Zimmer für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU):Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach dem

für mich persönlich manchmal sehr ermüdenden Reigenpersönlicher Erklärungen bin ich froh, dass wir jetzt wie-der in die eigentliche Debatte einsteigen.

(Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Jetzt ein-mal eine schwungvolle Rede, KollegeZimmer!)

Wir diskutieren die sachgrundlose Befristung von Ar-beitsverträgen. Wenn Parlamentarier eine Rede vorberei-ten, schauen sie in der Regel in der Bibliothek nach, wases zu den betreffenden Themenstellungen an Literaturgibt. Dabei bin ich auf folgende interessante Aussage ge-stoßen, die ich mit Erlaubnis des Präsidenten zitierenwill:

… die Möglichkeit, bis zur Dauer von zwei Jahrenbefristete Arbeitsverträge abzuschließen, die nichtdurch einen sachlichen Grund gerechtfertigt seinmüssen … ist vor allem eine beschäftigungspoli-tisch sinnvolle Alternative zur Überstundenarbeit.Zugleich bekommen Arbeitsuchende, insbesondereauch solche, die längere Zeit arbeitslos waren, dieGelegenheit, wieder im Berufsleben Fuß zu fassen,ihre Eignung und Leistungsfähigkeit zu beweisenund damit ihre Chancen auf eine unbefristete Wei-terbeschäftigung zu verbessern.

Das Zitat stammt aus der Antwort der Bundesregierungauf eine Kleine Anfrage im Februar 2005, also unterRot-Grün.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Zur historischen Einordnung: Im Zuge des Arbeits-marktreformgesetzes wurde zum 1. Januar 2004 dieMöglichkeit einer sachgrundlosen Befristung in den ers-ten vier Jahren nach Unternehmensgründung für dieDauer von bis zu vier Jahren eingeführt. Auch haben Sie– Rot-Grün – die Altersschwelle für die erleichterte Be-fristung Älterer drastisch gesenkt,

(Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: So ist es!)

im Jahr 2001 auf 58 Jahre und noch einmal im Jahr 2003auf 52 Jahre. Das heißt, der Anteil der befristeten Be-schäftigung ist vor allem durch die Weichenstellung derRegierung Schröder kontinuierlich gestiegen. SPD undGrüne beklagen mit ihren Anträgen die Ergebnisse ihrereigenen Politik.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Das lässt zwei Schlussfolgerungen zu: Entweder Siewaren sich über die Folgen Ihrer Politik nicht ganz imKlaren; dann waren Sie zum Regieren nicht fähig. OderSie wussten es, und Sie verabschieden sich jetzt vondem, was Sie einmal als richtige Politik gepriesen haben.Sie reden also in der Regierung anders als in der Opposi-tion. Ich weiß ja, dass nach Karl Marx das gesellschaft-liche Sein das Bewusstsein bestimmt, aber was sollen Ih-nen die Menschen denn überhaupt noch glauben?

Nun zu den Anträgen selbst. Sie behaupten, dass dieMöglichkeit sachgrundloser Befristung keine positive

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Dr. Matthias Zimmer

arbeitsmarktpolitische Wirkung habe. Das IAB hingegenhat die sachgrundlose Befristung nicht negativ evaluiert.Es stellt zwar eine Ambivalenz zwischen Brücken- undFlexibilisierungsfunktion befristeter Beschäftigung fest,kommt jedoch auch zu dem Ergebnis, dass befristet Be-schäftigte nicht unbedingt schlechte Chancen auf eineEntfristung ihres Arbeitsverhältnisses haben.

(Lachen des Abg. Klaus Barthel [SPD])

Wäre ausschließlich die arbeitsmarktpolitische Wirkungder Maßstab, dürfte die sachgrundlose Befristung nichtinfrage gestellt werden.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: So ist das!)

Im Übrigen ist – auch dies entnehme ich der Studiedes IAB – das subjektive Teilhabeempfinden der Men-schen in befristeter Beschäftigung höher als das bei Ar-beitslosigkeit und auch höher als bei denjenigen, die inZeitarbeit stehen. Das würde ich nicht geringschätzen.

Bestimmte Formen der Arbeit können krankmachen;längere Arbeitslosigkeit aber macht beinahe sicherkrank, weil sie das Bewusstsein der Ausgrenzung undder mangelnden Teilhabe forciert.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wer einmal Paul Lazarsfelds Studie über die Arbeitslo-sen von Marienthal gelesen hat, weiß, welche verheeren-den individuellen und auch kommunitären Wirkungenaus der Arbeitslosigkeit erwachsen. Wer vor diesem Hin-tergrund das Instrument befristeter Beschäftigung leicht-fertig über Bord werfen will, handelt grob fahrlässig.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Die ursprüngliche Intention des Gesetzgebers war es,einerseits den Arbeitgebern zu ermöglichen, flexibel aufschwankende Auftragslagen zu reagieren, und anderer-seits Arbeitnehmern eine Alternative zur Arbeitslosig-keit zu bieten und eine Brücke zur Dauerbeschäftigungzu öffnen.

Problematisch wird es dann, wenn es zu Befristungs-ketten kommt. Noch ist das Normalarbeitsverhältnis dieRegel. Allerdings nimmt die Zahl befristeter Beschäfti-gungsverhältnisse zu.

(Klaus Barthel [SPD]: Eben!)

Die Folgen sind unter anderem bei der Lebensplanungder Menschen zu beobachten. Die Befristung begünstigtdas Aufschieben von Lebensentscheidungen. Daher willich an dieser Stelle ganz klar sagen: Befristungen dürfennur aus gutem Grund eingesetzt werden,

(Klaus Barthel [SPD]: Also nur mit Sach-grund!)

nicht als verlängerte Probezeit, nicht als Instrument, Be-legschaften einfacher abzubauen. Befristungen müssendosiert eingesetzt werden, damit das Normalarbeitsver-hältnis nach wie vor die Regel bleibt.

Ich hoffe sehr, dass auch in der Wirtschaft ein Um-denken vonstatten geht. In Zeiten eines Mangels an qua-lifizierten Arbeitskräften kann man keine Loyalität zu ei-ner Firma erwarten, die nur befristete Arbeitsverträge

anbietet. Die modernen Arbeitsnomaden mit befristetenVerträgen werden nicht sesshaft, und sie haben nur einebegrenzte Bindung zum Arbeitgeber. Sosehr ich denWunsch nach Flexibilität verstehen kann, tut sich hierdoch eine Rationalitätenfalle auf: Je mehr Flexibilität ichin einem Unternehmen anstrebe, desto bindungslosersind meine Mitarbeiter. Darunter leidet nicht nur das Ar-beitsklima, sondern auch die Arbeitseffizienz und dieBereitschaft, für die und in der Firma Verantwortung zuübernehmen. Dies wiederum kann betriebswirtschaftlichmassiv zu Buche schlagen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Wir haben das Thema der heutigen Debatte vor knappeinem Jahr im Ausschuss besprochen. Damals standenwir noch unter dem Eindruck der gerade beendeten Wirt-schaftskrise. Heute sprechen wir von einem Mangel anqualifizierten Arbeitskräften. Innerhalb weniger Monatehat sich also der Referenzrahmen unserer Debatte voll-kommen geändert.

Nicht geändert hat sich jedoch meine politische Fan-tasie in dieser Frage. Ich stelle mir eine Arbeitswelt vor,in der die Firmen von sich aus Wert darauf legen, quali-fizierte Mitarbeiter zu halten, weil dies den langfristigenFirmenzielen entspricht.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das gibt es schon!)

Ich stelle mir eine Arbeitswelt vor, in der Befristungennur aus gutem Grund eingesetzt werden, nicht aber, umProbezeiten zu verlängern oder Belegschaften einfacherabbauen zu können.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das machen die meisten Unternehmen heute schon!)

Ich stelle mir eine Arbeitswelt vor, in der gerade jungeMenschen eine sichere Arbeitsperspektive haben, die esihnen erlaubt, Wurzeln zu schlagen und Familien zugründen. Ich stelle mir vor, dass die SPD einmal zu demsteht, was sie gemacht hat;

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Der letzte Punktwird schwierig! Bei den anderen sieht es schongut aus!)

aber zumindest das ist nur sehr schwer vorstellbar.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Das Wort hat Klaus Barthel für die SPD-Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Klaus Barthel (SPD):Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Erst einmal sage ich an die Adresse der Linken: Ich weißnicht, ob Sie uns einen Gefallen damit getan haben, hiereine Stunde lang Erklärungen zur Abstimmung abzuge-ben; denn damit haben Sie dafür gesorgt, dass dasThema der Befristung von Arbeitsverhältnissen, dasviele Menschen bei uns quält, aus der Kernzeit herausge-

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Klaus Barthel

schoben wurde, ohne dass die letzte Stunde mit Ihren Er-klärungen einen großen Erkenntnisgewinn gebrachthätte.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg.Sebastian Blumenthal [FDP] – Dr. GesineLötzsch [DIE LINKE]: Stimmt doch über-haupt nicht! Es ist doch erst Mittagszeit!)

Eigentlich steht in den Anträgen, die vorliegen, genugzu den befristeten Arbeitsverhältnissen. Es gibt genü-gend Gründe, die Befristung gesetzlich zurückzudrängenund vor allen Dingen die sachgrundlose Befristung abzu-schaffen. Denn wir haben jetzt ein Vierteljahrhundert Er-fahrungen mit befristeten Arbeitsverhältnissen gesam-melt und wissen: Sie schaffen keinen einzigenzusätzlichen Arbeitsplatz. Sie sind ein Mittel, die Men-schen unter Druck zu setzen und die Würde und denWert der Arbeit zu mindern. Vor allen Dingen sind siekeine Brücke in den Arbeitsmarkt, in eine feste Beschäf-tigung. Vielmehr zeigt die Ausweitung der sachgrund-losen Befristung über alle Krisen und Aufschwünge hin-weg, dass sie neben der Leiharbeit, den Minijobs, denPraktika und der Niedriglohnbeschäftigung eine der vie-len Formen der Flexibilisierung von Arbeit darstellt,

(Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Wer hat das alles denn eingeführt?)

die dazu führen, dass sichere Arbeitsverhältnisse – alsogute Arbeit – in prekäre Arbeitsverhältnisse – also in un-sichere, schlechter bezahlte Arbeit – umgewandelt wer-den. Das ist alles, was die sachgrundlose Befristung inden letzten 25 Jahren bewirkt hat, und daraus müssenwir alle hier Lehren ziehen.

Eines will ich ganz deutlich sagen – ich kenne dieDebatten der letzten Monate; Herr Zimmer hat diesenPunkt ebenfalls angesprochen –: Auch wir Sozialdemo-kraten ziehen solche Lehren. Ich sage das auch, um dieAntwort auf entsprechende Redebeiträge, die noch kom-men werden, vorwegzunehmen. Zur Geschichte der be-fristeten Arbeitsverhältnisse seit 1985 ist in unseremAntrag – man kann das nachlesen – genug gesagt, auchzu unserer Verantwortung. Die Frage ist heute doch nichtmehr, wer wann was warum gemacht hat; darüber habenwir uns längst ausgetauscht und tun das immer wieder.Heute ist die Frage interessant: Was lernen wir daraus?Was tun wir?

(Beifall der Abg. Gabriele Hiller-Ohm [SPD])

Keines der Versprechen der Neoliberalen, der Arbeit-geberverbände und der Gutgläubigen hat sich erfüllt.Das sieht man zum Beispiel bei den älteren Arbeitneh-merinnen und Arbeitnehmern, die nach geltendem Rechtbesonders einfach in den Genuss sachgrundloser Befris-tung der Beschäftigung kommen sollen; ausgerechnetbei den Älteren gibt es die Möglichkeit der erweitertenBefristung, kombiniert mit Zuschüssen, Subventionenund Erleichterungen, die sogenannte Einstellungshemm-nisse beseitigen sollen. Das Ergebnis ist: Selbst währenddes Aufschwungs in den Jahren 2010 und 2011, währenddes „Beschäftigungswunders“, haben die Unternehmendavon kaum Gebrauch gemacht. Trotz allen Fachkräfte-mangels und aller Kampagnen für über 55-Jährige ist

nicht nur der Anteil der Älteren an den Arbeitslosen undden Langzeitarbeitslosen gestiegen, sondern auch die ab-solute Zahl der älteren Arbeitslosen. Das muss man sicheinmal auf der Zunge zergehen lassen, wenn man überbefristete Beschäftigung als Brücke in den Arbeitsmarktredet. Es gibt also keinerlei positive Sachgründe für diesachgrundlose Befristung, weder bei den Jungen nochbei den Älteren.

Es gibt nicht nur arbeitsmarkt- und sozialpolitischeGründe, nicht nur Gründe, die etwas mit Würde und An-stand zu tun haben, sondern es gibt auch handfeste wirt-schaftliche Gründe, die gegen die massenhafte Befris-tung sprechen. Die haben natürlich etwas mit demThema zu tun, mit dem wir uns eben beschäftigt haben:der Situation zum Beispiel in der europäischen Wirt-schaft. Befristete Beschäftigung, Leiharbeit, Nied-riglöhne, die ganze Verwilderung der Sitten auf dem Ar-beitsmarkt haben die Krise selbstverständlich mitverursacht. Wer ständig Angst um seine Weiterbeschäfti-gung haben muss, wer daran gehindert wird, Betriebsratzu werden oder Betriebsräte zu wählen, wer nicht weiß,wie er in den nächsten Monaten seine Existenz finanzie-ren soll, der befindet sich nicht nur in einem würdelosenZustand, sondern er muss auch alle Zumutungen akzep-tieren.

Derzeit sind fast die Hälfte aller neu abgeschlossenenArbeitsverhältnisse befristet. Das drückt das Selbstbe-wusstsein, die Löhne und wirkt sich negativ auf die Ar-beitsbedingungen aus. Das hat – die Zahlen zeigen es –ökonomische Folgen: Nur noch die Hälfte der Beschäf-tigten steht unter dem Schutz von Tarifverträgen, in im-mer mehr Betrieben gibt es keinen Betriebsrat mehr, undder Niedriglohnsektor weitet sich aus. Befristete Verhält-nisse spielen dabei eine entscheidende Rolle.

(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowiebei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

Das alles führt dazu, dass die Nettoeinkommen der Ar-beitnehmer seit 20 Jahren real stagnieren, zeitweise so-gar zurückgehen. Die Lohnquote sinkt, das Geld fehlt– weil die Sozialbeiträge ja auch zurückgehen – im So-zialstaat, was zu Kürzungen von sozialen Leistungenführt. Alles zusammen bewirkt einen Rückgang derMassenkaufkraft. Das Geld fließt auf die internationalenFinanzmärkte, mit der Folge, dass die Reichen immerreicher werden und die Mitte der Gesellschaft schwin-det.

Was passiert dann? Dann entsteht der Stoff, aus demdie Spekulation und die Krisen sind. Deutschland warbei der Umverteilung leider besonders erfolgreich. Nir-gendwo in den Industrieländern, außer vielleicht in denUSA, war die Umverteilung so massiv, sind die Löhneund Lohnstückkosten so sehr zurückgeblieben und dieMillionäre so viel reicher geworden wie in Deutschland.Die Unternehmen haben im Durchschnitt der letztenzehn Jahre 130 Milliarden Euro pro Jahr mehr erlöst, alsim Inland verbraucht worden sind. Jeder Cent von diesen130 Milliarden Euro – in den letzten elf Jahren mehr als1,5 Billionen Euro – wäre in den Händen der Arbeitneh-merinnen und Arbeitnehmer und ihrer Familien, der

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Niedriglöhner, der Rentner und in den öffentlichenHaushalten besser aufgehoben gewesen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

All das hat erhebliche Auswirkungen auf die Tarifab-schlüsse und auf die Kampfkraft der Gewerkschaften.Erst wenn wieder Recht, Ordnung, Anstand und Würdedurchgesetzt sind, erst wenn endlich die sachgrundloseBefristung abgeschafft, Leiharbeit neu geregelt und derMindestlohn gesetzlich durchgesetzt ist, kann es mit denLöhnen wieder bergauf gehen. Erst wenn es mit denLöhnen wieder bergauf geht, wird auch die Binnennach-frage wieder steigen. Dann werden die Ursachen der Fi-nanz- und Wirtschaftskrise bekämpft, und erst dann kön-nen wir die Schuldenberge abbauen. So herum wird einSchuh draus.

(Beifall bei der SPD – Dr. Matthias Zimmer[CDU/CSU]: Erst produziert ihr was, dannmuss es wieder abgeschafft werden!)

Allen, die heute das Lied von Flexibilisierung undWettbewerbsfähigkeit singen – auch Sie haben das ja ge-tan –,

(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Das haben wir von euch gelernt!)

möchte ich Folgendes sagen: Sie verwehren den Men-schen nicht nur einen sicheren Arbeitsplatz, sondern Sieerweisen auch der Wirtschaft einen Bärendienst. DieZahl der psychischen Erkrankungen nimmt zu, und dieArbeitswelt wird, so sagt die IG Metall jetzt, immermehr zu einer „Gefahrenzone“ für die Beschäftigten.

Herr Zimmer, Sie haben es doch eben selber amSchluss zugegeben. Das sind genau die Sonntagsreden,in denen beklagt wird, dass die jungen Leute nicht mehrverwurzelt sind, keine Familie mehr gründen und nichtmehr ehrenamtlich tätig sind. Dann müssen Sie aberauch endlich die Konsequenzen daraus ziehen und aufdem Arbeitsmarkt wieder Recht und Ordnung schaffen.Sie würden einen guten Anfang machen, wenn Sie IhrenKoalitionsvertrag, zumindest in diesem Punkt, in dieTonne schmeißen und die sachgrundlose Befristung end-lich wieder abschaffen würden, anstatt zuzuschauen, wiedas Bundesarbeitsgericht die Möglichkeiten dafür immermehr erweitert.

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Eduard Oswald:Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächster Redner in un-

serer Debatte ist für die Fraktion der FDP unser KollegeDr. Heinrich Kolb. Bitte schön, Kollege Heinrich Kolb.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der

Kollege Barthel hat ein tiefschwarzes – man könnte auch

sagen: ein dunkeldunkelrotes – Bild des deutschen Ar-beitsmarktes gezeichnet.

(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Es gibtkeinen Übergang von dunkelrot zu tief-schwarz!)

Gott sei Dank sieht die Realität anders aus.

Die Bundesagentur hat heute die Zahlen für den Mo-nat September bekannt gegeben. Das ist wirklich eineeinzigartige Erfolgsstory, die auch in diesem Monat fort-geschrieben worden ist.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –Klaus Barthel [SPD]: Und das alles wegen derBefristungen, oder?)

Wir haben jetzt weniger als 2,8 Millionen Arbeitslose. Dassind 141 000 weniger als im Vormonat und 231 000 weni-ger als noch vor einem Jahr. Das heißt, 231 000 Menschenweniger sind arbeitslos. Das sind 231 000 Menschen mehr,die einen Arbeitsplatz haben, denen die Teilhabe am Er-werbsleben ermöglicht wird, und zwar dank der Politikdieser schwarz-gelben Bundesregierung.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP und derCDU/CSU – Klaus Barthel [SPD]: Durch be-fristete Arbeitsverhältnisse!)

Wir haben 41,3 Millionen Erwerbstätige. Das sind515 000 mehr als im August des Vorjahres. Wir haben28,36 Millionen sozialversicherungspflichtige Beschäf-tigungsverhältnisse. Das sind 672 000 mehr als noch voreinem Jahr. Das ist ein unglaublicher Anstieg, den wir zuverzeichnen haben.

Das führt übrigens nicht nur dazu, dass sich die Steu-erkassen füllen, sondern auch dazu, dass sich die Lageder Sozialversicherungen stabilisiert, Herr KollegeBarthel. Das gilt zum Beispiel für die Kasse der Bundes-agentur für Arbeit in Nürnberg. Deswegen vergießen Siesicherlich keine Krokodilstränen, was im Übrigen dasLeitmotiv Ihrer Rede war.

(Klaus Barthel [SPD]: Und dann braucht sie 12 Mil-liarden Subventionen für Aufstocker!)

Warum sind diese Erfolge möglich? Weil wir nichtwie Sie unsere Meinung geändert haben. Als Sie regierthaben, haben Sie das noch anders gesehen. Man mussdas ja hier einmal laut sagen: Das Teilzeit- und Befris-tungsgesetz ist in der heutigen Fassung von Rot-Grünverabschiedet worden. Damals haben Sie das Hoheliedder Flexibilität gesungen, und heute wollen Sie mit all-dem nichts mehr zu tun haben. So geht das nicht. Wirstehen weiter für Flexibilität.

(Beifall der Abg. Gitta Connemann [CDU/CSU])

Wir halten das für richtig, und der Erfolg gibt uns recht.Die Hälfte der entstandenen Stellen sind unbefristeteVollzeitstellen; die Hälfte der Beschäftigungsverhält-nisse sind befristet. Ein Viertel, also die Hälfte derHälfte, ist sachgrundlos befristet. Die SPD sagt: Wirwollen auf die sachgrundlose Befristung verzichten. DieLinken sagen: Wir wollen überhaupt keine Befristung

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Dr. Heinrich L. Kolb

mehr. Und die Grünen schließen sich, wenn ich das rich-tig gelesen habe, der Meinung der Linken an.

(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Nein! Wir wollen die sachgrundloseBefristung abschaffen!)

Sie wären bereit, auf ein Viertel bzw. die Hälfte derheute neu entstehenden Arbeitsverhältnisse zu verzich-ten.

(Klaus Barthel [SPD]: So ein Quatsch!)

Das ist die Wahrheit. Wir wollen, dass auch künftigMenschen eine Beschäftigungschance haben, mit Befris-tung, sachgrundlos und auch mit Sachgrund.

(Klaus Barthel [SPD]: Sie hätten so auch einen Arbeitsplatz, weil sie gebraucht werden!)

– Herr Kollege Barthel, Sie machen manchmal Milch-mädchenrechnungen auf. Ich will Ihnen ein Beispiel ausunserem Themenfeld nennen, den Mindestlohn. Nach ei-ner Prognos-Studie wären alle Probleme gelöst, wennwir in Deutschland einen Mindestlohn von 8,50 Euroeinführen würden. Dann würden die Einnahmen der So-zialversicherungen sprudeln. Dann wäre alles toll. Schla-raffenland! Diese Studie basiert auf einer Annahme:Man geht davon aus, dass die Beschäftigungseffekte derEinführung eines Mindestlohns gleich null wären. Dasist in der Praxis aber nicht zu erwarten.

Sie gehen von Folgendem aus: Auch wenn wir heutedie Befristungsmöglichkeiten streichen, würde in glei-chem Umfang eingestellt werden. Aber das wird nichtfunktionieren. Ich habe Ihnen das schon vor einem Jahrgesagt, als wir uns in der Frühphase des Aufschwungsbefanden. Wenn Unternehmen die Zukunft nicht ab-schätzen können, stellen sie vernünftigerweise – daswürden Sie, wenn Sie Unternehmer wären, auch nichtanders handhaben – befristet ein. Auch heute, ein Jahrspäter – wir sind über die Spitze des Aufschwungs mög-licherweise schon hinweg; jedenfalls sind die Zeiten un-sicherer geworden –, finde ich es noch gut, dass Unter-nehmen die Möglichkeit haben, befristet einzustellen.Das ist besser, als wenn sie überhaupt nicht einstellen,sondern versuchen, die Aufträge mit der bestehendenBelegschaft und mithilfe von Überstunden abzuarbeiten.

Uns geht es darum, möglichst viele Menschen in Be-schäftigung zu bringen. Dabei sind wir erfolgreich. Wirlassen uns auch von Ihnen nicht beirren. Wir werdenweiter versuchen, möglichst viele Menschen in Arbeit zubringen. Dabei werden wir die volle Breite, den gesam-ten Mix an Beschäftigungsformen, die uns zur Verfü-gung stehen, nutzen: Vollzeit wie Teilzeit, befristet wieunbefristet, Zeitarbeit, Mini- und Midijobs.

Sie wollen Rosinenpickerei betreiben. Aber damitsind die Erfolge am Arbeitsmarkt, die wir derzeit erfreu-licherweise in Deutschland haben, nicht zu erreichen.Das unterscheidet uns von Ihnen. Im Interesse der Men-schen, die arbeitslos sind und einen Eintritt in den Ar-beitsmarkt suchen, werden wir weiter die erfolgreichePolitik dieser Bundesregierung fortsetzen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Vizepräsident Eduard Oswald:Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Kolb. – Jetzt für die

Fraktion Die Linke unser Kollege Klaus Ernst. Bitteschön, Kollege Ernst.

(Beifall bei der LINKEN)

Klaus Ernst (DIE LINKE):Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Wir haben gerade wieder eine Rede gehört, HerrDr. Kolb, die das Ziel der FDP klar definiert. Sie wolleneine Deregulierung der Arbeitsmärkte,

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das Wort „Dere-gulierung“ habe ich nicht in den Mund genom-men!)

um die Löhne zu senken; denn Sie wissen, Herr Dr. Kolb– das unterstelle ich Ihnen jetzt einfach einmal –, dassbei befristet Beschäftigten die Angst, nach der Befris-tung nicht übernommen zu werden, dazu führt, dass dieBetroffenen bereit sind, für weniger Lohn zu arbeiten,auch einmal eine Überstunde ohne Bezahlung zu ma-chen oder längere Arbeitszeiten zu akzeptieren. Sie sindbereit, auch Demütigungen am Arbeitsplatz hinzuneh-men. Wenn Sie hier der Befristung das Wort reden, zeigtdas: Sie sind mit diesen Verhältnissen einverstanden.Das ist der Grund dafür, dass die FDP bei den Umfragenso schlecht dasteht, Herr Kolb, und das mit Recht, umdas einmal in aller Klarheit zu sagen.

(Beifall bei der LINKEN – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das ist die Realität!)

Nahezu jeder Zweite – fast 50 Prozent – derjenigen,die zurzeit neu eingestellt werden, wird nur noch befris-tet eingestellt. Ich habe auch einmal etwas Anständigesgelernt, nämlich Elektromechaniker.

(Gitta Connemann [CDU/CSU]: Wären Sie es besser geblieben!)

Das ist schon eine Zeit her. Es war damals völlig selbst-verständlich, dass man nach der Ausbildung in dem Be-ruf, den man erlernt hat, übernommen wurde. Da ist überdie Frage einer Befristung nicht einmal diskutiert wor-den. War das damals eigentlich eine schlechtere Situa-tion für die Menschen, oder war das eine bessere Situa-tion? Wenn Sie so tun, Herr Kolb, als sei die Situationjetzt besser, dann verkennen Sie, dass von den 2,7 Mil-lionen, die gegenwärtig einen befristeten Arbeitsvertraghaben, nur 2,5 Prozent sagen: Ja, wir sind damit einver-standen, dass das befristet ist. – Die überwältigendeMehrheit der Betroffenen möchte eine ganz normale, un-befristete Beschäftigung.

Diejenigen, die nicht über eine unbefristete Beschäfti-gung verfügen, finden eine ganz andere Situation in ih-rem Leben vor. Haben Sie schon einmal versucht, zumBeispiel mit einem 21-, 22-Jährigen zu reden, der nur ei-nen befristeten Arbeitsvertrag hat und einen Kredit ha-ben möchte, weil er möglicherweise eine Familie grün-den will? Was glauben Sie, was die Bank zu dem sagt?Oder stellen Sie sich vor, er sucht eine Wohnung. DerVermieter fragt: Wo schaffst Du denn? – In der und derFirma. – Bist du da unbefristet beschäftigt? – Sagt der:

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Für ein halbes Jahr oder für ein Jahr. – Glauben Sie, dassder dann die Wohnung kriegt, wenn ein anderer kommt,der einer unbefristeten Arbeit nachgeht? Was glaubenSie eigentlich, wie es darum bestellt ist, eine Familie zugründen, wenn die Menschen überhaupt keine Perspek-tive, keine Zukunftssicherheit haben, wenn sie nicht wis-sen, wie es mit ihnen nach einem Jahr, nach eineinhalboder nach zwei Jahren weitergeht, weil sie nur noch be-fristete Jobs haben? Mit der Position, die Sie hier vertre-ten, Herr Dr. Kolb, gefährden Sie die Zukunftsperspek-tive insbesondere der jungen Leute, und das ist einSkandal. Ich sage in aller Klarheit: Das ist ein Skandal.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-neten der SPD – Matthias W. Birkwald [DIELINKE]: Und dann über den Geburtenrück-gang schwadronieren!)

Ich sage Ihnen auch: Insbesondere die Jungen kom-men in ganz hohem Maße nur noch in befristete Arbeits-verhältnisse. Die IG Metall hat 2009 festgestellt, dass40 Prozent der bis 24-Jährigen nur befristete Arbeitsver-träge haben. Das ist ein ungeheuerlicher Zustand.

Meine Damen und Herren, Herr Dr. Kolb, ich möchteversuchen, Ihnen das an einem sehr einfachen und ei-gentlich sehr nachvollziehbaren Punkt deutlich zu ma-chen. Arbeit hat auch etwas mit Würde zu tun.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist richtig!Arbeitslosigkeit ist aber eine schlechte Alter-native!)

Würde ist dann gegeben, wenn man in einigermaßenabgesicherten Verhältnissen lebt und nicht Freiwild fürden Arbeitgeber ist, der ohne Kündigungsschutz einenbefristet Eingestellten nach Ablauf der Befristung wie-der aus dem Betrieb entfernen kann. Es hat etwas mitWürde zu tun, dass man sozial abgesichert ist.

(Abg. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP] meldet sich zu einer Zwischenfrage)

– Ich glaube, ich lasse es einmal zu.

Vizepräsident Eduard Oswald:Dann ist die Zwischenfrage schon erlaubt. – Bitte

schön, Herr Kollege Kolb. – Ich stoppe auch die Zeit,damit nichts angerechnet wird. – Bitte schön.

Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):Ihre Redezeit drohte zu Ende zu gehen. Deswegen,

glaube ich, kommt Ihnen die Frage ganz recht, KollegeErnst.

Klaus Ernst (DIE LINKE):Ich weiß, dass Sie mich mögen, Herr Dr. Kolb.

Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):Wir fragen uns ja durchaus gerne einmal zu wechseln-

den Zeitpunkten. Meine Frage ist folgende. Sie sagen,dass Arbeit etwas mit Würde zu tun hat.

(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Richtig!)

Würden Sie mir recht geben, dass es würdevoller ist,wenn ein Mensch in Arbeit ist statt arbeitslos?

(Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Und dann? –Klaus Barthel [SPD]: Ist das die Alternative? –Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das isteine Frage der Qualität der Arbeit!)

Wissen Sie, dass das IAB – das ist nicht das Zentralor-gan der FDP, sondern ein anerkanntes Institut – uns ge-sagt hat, dass jede zweite befristete Stelle in ein unbe-fristetes Arbeitsverhältnis mündet?

(Klaus Barthel [SPD]: Warum nicht gleich?)

Würden Sie mir vor diesem Hintergrund recht geben,dass es für die Würde der Betroffenen – da reden wirwirklich über jeden einzelnen Fall – besser ist, sich ausder Arbeitslosigkeit zunächst mit einem befristeten Ar-beitsverhältnis, von denen 50 Prozent in ein unbefriste-tes Arbeitsverhältnis übergehen, zu befreien? Ich bin derMeinung: Wenn die Alternative Arbeitslosigkeit ist, istdas eindeutig der bessere und würdevollere Weg.

(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das ist ja nicht die Alternative!)

Klaus Ernst (DIE LINKE):Diese Alternative, die Sie darstellen, gibt es nur des-

halb, weil der Gesetzgeber bis jetzt nicht geregelt hat,dass solche Befristungen ohne Grund nicht möglichsind.

(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: So ist es!)

Wäre die Befristung ohne Grund nicht möglich, müsstesich der Arbeitgeber, der jemanden einstellt, überlegen:Will ich, dass die Tätigkeit verrichtet wird, oder nicht?Wenn er will, dass sie verrichtet wird, muss er jemandeneinstellen. Wenn die gesetzlichen Regelungen stimmen,muss er unbefristet einstellen. Deshalb sagen wir: Wirwollen, dass die sachgrundlose Befristung verbotenwird.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Ein Weiteres. Herr Dr. Kolb, es ist geradezu schön,dass Sie diesen Punkt ansprechen. Wenn Sie sagen, dasses würdevoller ist, eine Arbeit zu haben, frage ich: Ist esvielleicht auch würdevoll, eine bestimmte Arbeit unterbestimmten Bedingungen nicht machen zu müssen?Wenn Sie die Auffassung vertreten, dass jede Arbeit,egal welche – das ist der Punkt –, immer würdevoller istals nicht zu arbeiten

(Johannes Vogel [Lüdenscheid] [FDP]: Das hat er nicht gesagt!)

– tut mir leid, das haben Sie gerade gesagt, HerrDr. Kolb –,

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Es wird inDeutschland niemand in Handschellen in einUnternehmen geführt! Die Menschen gehenalle freiwillig zur Arbeit!)

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Klaus Ernst

dann sage ich Ihnen: Wenn es tatsächlich so ist, dass jedeArbeit sinnvoller und würdevoller ist als nicht zu arbei-ten, dann sagen Sie damit, dass die Sklaven im altenRom würdevolle Arbeit geleistet haben. Das haben sieaber nicht.

(Beifall bei der LINKEN)

Sie haben nicht einmal Lohn bekommen.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Nein! Die Leutegehen freiwillig und erhobenen Hauptes zurArbeit!)

– Herr Dr. Kolb, jetzt bin ich dran; Sie können mir gernenoch eine Zwischenfrage stellen. Ich würde sie auch be-antworten.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das wäre zu viel des Guten!)

Mit Ihrer Position sagen Sie Folgendes: Es ist in Ord-nung, weil auch die Sklaven im alten Rom gearbeitet ha-ben. Sie haben zwar überhaupt kein Geld bekommen,aber es war gut, dass sie Arbeit hatten. Denn das ist bes-ser, als keine Arbeit zu haben.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Nein! Nein!)

– Ich bin noch nicht ganz fertig. – Herr Dr. Kolb, ichsage Ihnen: Es ist sinnvoll, dass wir Arbeit so organisie-ren, dass sie würdevoll ist. Sie zeigen dauernd eine Al-ternative auf, die es in der Realität so nicht gibt.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg.Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN] – Matthias W.Birkwald [DIE LINKE]: Sozial ist, was Würdeschafft, sozial ist nicht, was Arbeit schafft!)

Herr Dr. Kolb, wir wollen, dass dies nicht weiter sostattfindet. Ich zitiere jetzt den Vorsitzenden des DGB,Michael Sommer. Es sagte – es müsste uns allen hier zudenken geben, dass der Vorsitzende des DGB das sagt –:Inzwischen haben wir in Deutschland den Zustand, dassArbeit so billig ist wie Dreck.

Dazu sage ich Ihnen: Das hat damit zu tun, dass wirArbeit nicht vernünftig reguliert haben. Zur Regulierungder Arbeit gehört, dass wir die Regeln wieder so gestal-ten, dass die Menschen tatsächlich würdevolle Arbeit er-halten. Dazu brauchen sie eine unbefristete Beschäfti-gung. Wenn sie dann tatsächlich nicht beschäftigtwerden können, Herr Dr. Kolb, dann müssen sie ebendas Recht in Anspruch nehmen können, zum Beispieleine Kündigungsschutzklage zu führen. Sie wollen denMenschen, die dann nicht mehr gebraucht werden, dasRecht nehmen, eine Kündigung vom Arbeitsgerichtüberprüfen zu lassen. Letztendlich heißt Befristung:Ausschluss der Möglichkeit, eine Kündigung vom Ar-beitsgericht überprüfen zu lassen. Das wollen Sie. Dieseliberale Position ist auch ein Grund, warum Sie zurzeitin den Umfragen nicht besonders gut dastehen.

Zum Schluss möchte ich darstellen, zu was Ihre Poli-tik führt: Bei VW Salzgitter sind von 7 000 Beschäftig-ten 1 100 nur noch in befristeten Beschäftigungsver-hältnissen, bei Siemens in Bad Neustadt sind von

2 500 Beschäftigten 450 nur noch in befristeten Be-schäftigungsverhältnissen, bei der IB GmbH sind von2 000 Beschäftigten annähernd die Hälfte nur noch inbefristeten Arbeitsverhältnissen. Sie machen den Aus-nahmetatbestand, dass man jemanden für einen kurzenZeitraum einstellen kann, weil es dafür einen sachlichenGrund gibt, zur Regel. Wir wollen – da sind wir uns inder Opposition, glaube ich, alle einig – wieder Regulie-rung auf dem Arbeitsmarkt und kein Wildwest à la FDP.

Danke für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Vizepräsident Eduard Oswald:Vielen Dank, Herr Kollege Ernst. – Bitte schön, Frau

Kollegin Ernstberger.

Petra Ernstberger (SPD):Herr Präsident, im Namen meiner Fraktion möchte

ich die Herbeizitierung der Ministerin beantragen, da essich um ein existenzielles und wichtiges Thema für dieArbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer handelt.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetender LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

Im Vorfeld des G-20-Treffens halte ich es für angemes-sen, dass die Ministerin hier im Plenarsaal erscheint.

Vizepräsident Eduard Oswald:Zur Geschäftsordnung der Herr Kollege Kaster.

Bernhard Kaster (CDU/CSU):Wir hatten eine angeregte und inhaltsreiche Debatte.

Die Regierungsbank war bzw. ist durch Staatssekretärevertreten.

(Lachen bei der SPD, der LINKEN und demBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Klaus Ernst[DIE LINKE]: Ja, „war“! Sie war vertreten!)

Ich denke, wenn es Ihnen mit diesem Thema ernst ist,dann sollten wir mit der gebotenen Sachlichkeit debattie-ren. Sie sollten hier aber keine Geschäftsordnungskaspe-reien machen.

(Petra Ernstberger [SPD]: Na, na!)

Wir werden einen solchen Antrag unsererseits ablehnen.

(Petra Ernstberger [SPD]: Dann stimmen wirab! – Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Dannmüssen wir abstimmen!)

Vizepräsident Eduard Oswald:Ich will nur noch geklärt haben, ob die Ministerin

überhaupt erreichbar ist

(Widerspruch bei der SPD – Klaus Barthel [SPD]: Das stellen wir nachher fest!)

oder ob sie entschuldigt ist.

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Vizepräsident Eduard Oswald

(Petra Ernstberger [SPD]: Nein! Sie war dochda! – Weiterer Zuruf von der SPD: Entschul-digt ist sie nicht! – Dr. Johann Wadephul[CDU/CSU]: Ach, was soll denn das? DerStaatssekretär ist doch da!)

– Sie ist also nicht entschuldigt.

Herr Kollege Kolb zur Geschäftsordnung.

(Petra Ernstberger [SPD]: Wir wollen abstim-men! – Weiterer Zuruf von der SPD: Na, HerrKolb, habt ihr jetzt rumtelefoniert?)

Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich

finde, dass der bisherige Verlauf der Debatte gezeigt hat,dass wir unsere Argumente ausgetauscht haben.

(Petra Ernstberger [SPD]: Das ist Zeitschinde-rei! – Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Also, Herr Kolb, was wollen Siesagen?)

– Frau Kollegin Pothmer, hören Sie mir doch erst einmalzu.

(Petra Ernstberger [SPD]: Wir wollen abstim-men!)

Ich stelle fest, dass das Ministerium in der Persondes Parlamentarischen Staatssekretärs Hans-JoachimFuchtel, eines ebenso beliebten wie kompetenten Kolle-gen,

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Oh! Oh!Oh! – Klaus Barthel [SPD]: Wer ist denn das?)

hier vertreten ist. Ich stelle auch fest, dass im bisherigenVerlauf der Debatte das Bundesministerium für Arbeitund Soziales und auch die Bundesministerin für Arbeitund Soziales,

(Zuruf von der SPD: Das ist doch Zeitschinde-rei!)

Frau Dr. Ursula von der Leyen,

(Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Zeitschin-derei!)

mit keinem einzigen Wort erwähnt worden sind.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)

– Ja, da darf man gerne auch einmal applaudieren.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Insofern nimmt es wunder – das muss ich ganz deutlichsagen –,

(Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Zeitschin-derei! – Klaus Barthel [SPD]: Reden Sie zurGeschäftsordnung, nicht nur irgendetwas!)

dass plötzlich von der SPD beantragt wird, dass dieMinisterin höchstpersönlich für die Bundesregierung er-scheinen soll.

(Gitta Connemann [CDU/CSU]: Genau! – Zu-ruf von der SPD: Dürfen wir das verlangen,oder dürfen wir das nicht?)

Ich will deutlich sagen: Wir haben genug Materialund Stoff.

(Ottmar Schreiner [SPD]: Aha!)

Die vorliegenden Anträge der Fraktion der Linken, derFraktion der SPD und der Fraktion der Grünen sindThema und Gegenstand der heutigen Debatte.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP und derCDU/CSU – Ottmar Schreiner [SPD]: Sagdoch auch mal was zum FDP-Antrag!)

Es gibt zahlreiche Kollegen, die in dieser Debatte bereitsdas Wort ergriffen haben oder es noch ergreifen werden.

(Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Filibustern!)

Vor diesem Hintergrund, glaube ich, wir sind gut beraten– das ist auch vollkommen ausreichend –,

(Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Ist das zur Geschäftsordnung?)

wenn wir diesen Tagesordnungspunkt unter uns beraten,wenn wir uns gegenseitig zuhören – das sollte übrigensohnehin gute parlamentarische Übung sein – und wennwir alle nach dem Ende der Beratungen – das wünscheich mir sehr – in uns gehen und überlegen, was wir ge-meinsam tun können, um bei Abstimmungen Mehrhei-ten zu erzielen.

Ich glaube, gerade signalisiert die SPD, dass sie ihrenGeschäftsordnungsantrag zurückziehen will. Interpre-tiere ich das richtig?

(Petra Ernstberger [SPD]: Nein! Wir wollenabstimmen! – Klaus Barthel [SPD]: Nein! Wirwollen die Ministerin!)

– Ach so, Sie wollen, dass wir abstimmen. Dann habeich das falsch verstanden. Ich dachte, Sie würden denAntrag zurückziehen. Das hätte mir die weitere Argu-mentation an dieser Stelle ersparen können.

(Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Abstimmen! Abstimmen! Abstimmen!)

So wie die Situation jetzt ist, müssen wir über den Ge-schäftsordnungsantrag abstimmen.

(Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Ja! Naendlich! – Klaus Barthel [SPD]: Na also! Esgeht doch!)

Dann werden wir sehen, wie die Mehrheitsverhältnissesind.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Vizepräsident Eduard Oswald:Die Geschäftsordnung ist ziemlich eindeutig: Die

Möglichkeit einer Runde der Parlamentarischen Ge-schäftsführer ist gegeben. Jetzt lasse ich über den Antragabstimmen.

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Vizepräsident Eduard Oswald

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LIN-KEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-NEN)

Jede Fraktion hat sich geäußert; so sieht es die Ge-schäftsordnung vor. Wer für den Antrag der Fraktion derSPD ist, den bitte ich um das Handzeichen. –

(Petra Ernstberger [SPD]: Eindeutig!)

Gegenprobe! –

(Bernhard Kaster [CDU/CSU]: Das ist dieMehrheit! – Beate Müller-Gemmeke [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war die Minder-heit!)

Im Präsidium besteht Uneinigkeit.

(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Oh nein! – Petra Ernstberger[SPD]: Unglaublich!)

Deshalb kommen wir nun zu dem bewährten Verfahrendes Hammelsprungs. – Ich bitte Sie, den Saal zu verlas-sen.

Ich unterbreche die Sitzung, bis dieses Verfahren er-öffnet wird.

(Unterbrechung von 13.25 bis 13.35 Uhr)

Vizepräsident Eduard Oswald:Es haben alle den Saal verlassen. Ich bitte, die Türen

zu schließen.

Die Abstimmung ist eröffnet.

Ich frage die Schriftführer, ob sich noch jemand in derLobby befindet. – Ich höre und sehe, dass das nicht derFall ist. Dann können wir die Türen schließen. Ich bittedie Schriftführer, mir das Ergebnis bekannt zu geben.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn Sie Platz neh-men wollen, dann haben Sie dazu die Möglichkeit. Siekönnen das Ergebnis aber auch stehend zur Kenntnisnehmen.

Ich gebe das Ergebnis des Hammelsprungs be-kannt: Mit Ja haben gestimmt 176 Kolleginnen und Kol-legen. Mit Nein haben gestimmt 260 Kolleginnen undKollegen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –Volker Kauder [CDU/CSU], an die SPD ge-wandt: Schämt euch!)

Enthalten hat sich niemand. Damit ist der Antrag derFraktion der Sozialdemokraten auf Herbeizitierung derFrau Bundesministerin abgelehnt.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie haben selbstver-ständlich die Gelegenheit, bei der laufenden Debatte an-wesend zu sein und sie zu verfolgen.

(Beifall des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE])

Wenn Ruhe eingekehrt ist, gebe ich das Wort dernächsten Rednerin in unserer Debatte.

Ich erteile nun das Wort unserer Kollegin Frau BeateMüller-Gemmeke für die Fraktion Bündnis 90/Die Grü-nen. Bitte schön, Frau Kollegin, Sie haben das Wort.

Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen! Die Zahlen sprechen eine klare Spra-che. Zwischen 1996 und 2010 hat sich die Zahl derbefristeten Beschäftigungsverhältnisse auf über 2,5 Mil-lionen nahezu verdoppelt. Entscheidend ist aber: Mittler-weile hat jede zweite neue Stelle ein Verfallsdatum, istalso befristet. Wir Grüne sehen diese Entwicklung mitSorge

(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Das ist der Erfolg eurer Politik!)

und kritisieren die Tendenz hin zu immer mehr atypi-scher und prekärer Beschäftigung.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Auch Rot-Grün trägt hierfür Verantwortung; das wis-sen wir. Das haben wir schon häufig gesagt. Wir hattendamals die Hoffnung, dass die sachgrundlose Befristungeine Brücke in Dauerbeschäftigung insbesondere für Äl-tere ist und zu mehr Arbeitsplätzen insgesamt führt.

Aber es funktioniert nicht. Herr Kollege Kolb, Politikmuss hin und wieder lernen und sollte nicht krampfhaftan Positionen festhalten.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Die Zahlen spre-chen eine klare Sprache!)

Das schafft übrigens auch Vertrauen. Das kann geradedie FDP momentan gut gebrauchen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-KEN)

Zu viele Arbeitgeber nutzen nur den vorhandenen ge-setzlichen Rahmen und stellen ohne Not befristet ein,statt reguläre, unbefristete Beschäftigungsverhältnisse zuschaffen. Sie, die Regierungsfraktionen, behaupten im-mer noch, dass sachgrundlose Befristung arbeitsmarkt-politisch Sinn macht. Unkritisch setzen Sie auf Flexibili-tät für die Arbeitgeber und ignorieren, dass der Preis fürdie Beschäftigten zu hoch ist. Befristete Jobs werdendeutlich schlechter vergütet. Befristet Beschäftigte habenein größeres Armutsrisiko, sie werden schneller arbeits-los. Eine Familien- und Lebensplanung gestaltet sichschwierig.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das wussten Siedoch alles, als Sie das Gesetz damals geänderthaben!)

Wer befristet angestellt ist, macht sich auch mehr Sorgenüber Arbeitslosigkeit, Krankheit und Armut im Alter.Die Flexibilität der Arbeitgeber geht voll und ganz zu-lasten der Beschäftigten. Diese Fehlentwicklung ist füruns nicht mehr akzeptabel.

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Beate Müller-Gemmeke

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der SPD sowie bei Abgeordneten derLINKEN)

Eine Entwicklung beschäftigt mich ganz besonders.Die Befristungsmöglichkeit, aber auch die Personalpoli-tik der Arbeitgeber treiben eine ganze Generation – ichmeine die Jungen – in unsichere Jobs. Die Arbeitgeberbegnügen sich nicht mehr mit einer Probezeit von sechsMonaten. Mit befristeten Arbeitsverträgen werden jungeMenschen zwei Jahre hingehalten. Nur noch 25 Prozenthaben Glück und werden übernommen, die anderen75 Prozent müssen wieder von vorne beginnen. Wir ha-ben nicht nur eine Generation Praktikum, sondern wirhaben mittlerweile auch die Generation Probezeit.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE])

Für junge Menschen wird der Schwebezustand damitzum Dauerzustand, und das Fehlen von Zukunftsplänenwird zur Normalität. Lebensplanung ist ein Begriff, überden viele jüngere Beschäftigte nur noch müde lächelnkönnen. Befristung bedeutet beim Berufseinstieg aberauch weniger Lohn. Es dauert sehr lange, bis diese Ver-dienstlücke zwischen befristet und unbefristet Beschäf-tigten wieder geschlossen ist. Laut einer Studie brauchenMänner dafür zwölf Jahre. Bei Frauen geht es schneller.Sie brauchen nur sechs Jahre, aber sie verdienen auchweniger als die Männer.

Viel zu viele junge Menschen haben also einen langenund unsicheren Berufseinstieg. Das ist nicht nur unge-recht, sondern vor allem auch unverantwortlich.

(Beifall der Abg. Gabriele Hiller-Ohm [SPD])

Es muss also damit Schluss sein, dass Arbeitgeber dasunternehmerische Risiko auf die Beschäftigten übertra-gen, auf billigere Löhne spekulieren und mithilfe vonBefristungen den Kündigungsschutz umgehen. Deshalbfordern wir in unserem Antrag auch die Streichung imTeilzeit- und Befristungsgesetz.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der SPD sowie bei Abgeordneten derLINKEN)

Wenn der Blick auf die Beschäftigten und auf die un-sichere Lebenssituation die Regierungsfraktionen nichtüberzeugen kann, dann hätte ich abschließend noch einweiteres Argument für unseren Antrag: Zu viele befris-tete Jobs schwächen auch die Gewerkschaften; denn be-fristet Beschäftigte sind weniger organisiert.

(Klaus Barthel [SPD]: Das wollen die da drüben ja!)

Wenn die Fluktuation im Betrieb groß ist, dann habendie Gewerkschaften und Betriebsräte weniger Möglich-keiten, neue Mitglieder zu werben. Mit unserem Antragwollen wir also auch die Gewerkschaften stärken.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Dieses Argument müsste eigentlich auch die Regie-rungsfraktionen überzeugen, die stets die Tarifautonomie

hochhalten und damit gesetzgeberische Maßnahmen ab-lehnen.

Ich komme zum Schluss. Mit unserem Antrag wollenwir den Arbeitgebern nicht jegliche Flexibilität nehmen.Sie haben weiterhin die Möglichkeit, befristet einzustel-len, sofern ein Grund vorliegt. Unser Ziel ist aber, eineneue, eine gerechte Balance herzustellen, die den Interes-sen der Arbeitgeber und der Beschäftigten gleichermaßengerecht wird. Wir wollen keine Spaltung zwischen regu-lär und prekär Beschäftigten; denn die Menschen brau-chen soziale Sicherheit.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der SPD sowie bei Abgeordneten derLINKEN)

Vizepräsident Eduard Oswald:Vielen Dank, Frau Kollegin Müller-Gemmeke.

Nächster Redner in unserer Debatte ist für die Frak-tion der CDU/CSU unser Kollege Ulrich Lange. Bitteschön, Kollege Ulrich Lange.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ulrich Lange (CDU/CSU):Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Zum wiederholten Male in diesem Haus beschäftigenwir uns heute mit dem Thema der sachgrundlosen Be-fristung. Es ist ein wiederholter Versuch, ein bewährtes,inzwischen fest eingeführtes Instrumentarium im Kanondes deutschen Arbeitsrechtes – ich sage es so deutlich –zu schleifen. Dabei waren Sie es zu mutigen rot-grünenZeiten – dies ist heute schon mehrfach angesprochenworden –,

(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Aber deswegen brauchen Sie es nichtnoch einmal anzusprechen! – Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:Wir haben dazu schon öfter etwas gesagt! Ein-fach zuhören!)

die das TzBfG eingeführt haben. Wir hatten vorher keineechte Regelung für Befristungen. Wir haben uns bis zum1. Januar 2001 immer wieder durch viel Rechtsprechunggearbeitet. Trotz aller Kritik am Anfang gilt das TzBfGaus dem Jahre 2001 in der Fachwelt heute, auch wennSie es nicht hören mögen, durchaus als gelungen.

(Klaus Barthel [SPD]: Bei den Professoren,die alle eine lebenslange Beschäftigung ha-ben!)

Gleiches hat die Anhörung am 4. Oktober letzten Jahresdeutlich zum Ausdruck gebracht. Ich möchte in diesemZusammenhang an den Beitrag von Professor Thüsingerinnern, der ganz klar gesagt hat, dass die Abschaffungder sachgrundlosen Befristung ein Schritt zur Verkom-plizierung des deutschen Befristungsrechtes sei. Auchhat er das Thema der Zuvor-Arbeitsverhältnisse, die inkeinem sachlichen Zusammenhang stehen, angespro-chen.

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Ulrich Lange

Gerade in diesem Punkt hat das Bundesarbeitsgerichtim April dieses Jahres ein durchaus bemerkenswertesUrteil gefällt, indem es auf die Klage einer studentischenHilfskraft, die dann als Lehrerin eingestellt wurde, fest-gestellt hat, dass es sich nach mehr als drei Jahren Unter-brechung um kein Zuvor-Arbeitsverhältnis handelt. DasBAG hat also ganz klar den Dauerausschluss, von demwir arbeitsrechtlich bisher ausgegangen sind, abgelehnt.

(Klaus Barthel [SPD]: Aufgeweicht!)

Diese Entscheidung entspricht nicht nur den Bedürfnis-sen der Praxis, sondern sie hat in der Fachwelt durchausgroße Zustimmung erfahren.

(Klaus Barthel [SPD]: Was ist denn das für eine Fachwelt?)

Liebe Kolleginnen und Kollegen der Opposition, ins-besondere der Gewerkschaften – Herr Kollege Barthel,Sie sind ja bei Verdi –, ich habe mir das Protokoll überdie Anhörung angeschaut und dabei erfreut festgestellt,dass die Kollegin des DGB festgehalten hat – anders alsin der Rede auf dem Verdi-Bezirkstag –, dass bei der Ab-schaffung der sachgrundlosen Befristung die Gefahr be-stehe, dass andere atypische Beschäftigungsverhältnissezunähmen. Das heißt im Ergebnis – so ist es im Wortpro-tokoll festgehalten –, dass dann mit einer Zunahme vonLeiharbeit und sonstigen Dienstverhältnissen gerechnetwerden müsse.

(Klaus Barthel [SPD]: Deswegen müssen wir die auch neu regeln!)

Genau deshalb sollten Sie sich sehr gut überlegen, woSie die Axt anlegen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –Klaus Barthel [SPD]: Das geht nachher alles ineinem Aufwasch!)

– Nein, die Kollegin des DGB denkt nicht theoretischwie Sie, sondern sie steht mit beiden Beinen in der Ar-beitswelt und weiß, wie es in den Betrieben zugeht. Sievertritt damit die Interessen der Menschen, die arbeitenund arbeiten wollen und die Hoffnung auf den Klebeef-fekt und auf eine Brücke hin zu unserem deutschen Ar-beitsmarkt haben.

(Klaus Barthel [SPD]: Das stimmt überhauptnicht! Der DGB ist gegen die sachgrundloseBefristung!)

– Lesen Sie selbst! Sie waren wahrscheinlich bei der An-hörung nicht dabei.

(Stefan Rebmann [SPD]: Ich bin Vorsitzender des DGB-Bezirks Nordbaden!)

– Dann lesen Sie nach, was Ihre Sachverständige gesagthat. Schicken Sie doch das nächste Mal eine andereSachverständige, wenn Ihnen das, was bei einer Anhö-rung herauskommt, nicht passt.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wir erwarten von Sachverständigen in einer Anhörung,dass sie offen und ehrlich antworten. Sonst könnten wiruns das sparen.

Ich möchte noch einen anderen Punkt ansprechen,nämlich dass befristete Arbeitsverhältnisse ein Wenigeran Rechten darstellen. Das ist definitiv nicht der Fall.

(Beifall des Abg. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP])

Auch für befristet Beschäftigte gelten Tarifverträge undUrlaubsansprüche. Auch die Wahl in den Betriebsrat istselbstverständlich möglich.

(Stefan Rebmann [SPD]: Theoretisch, ja!)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube nicht, dasshier die Befristung mit Sachgrund eine Lösung ist. Ichwill jetzt nicht auf das Thema Probezeit eingehen; denn– ohne hier jetzt ins Detail zu gehen – die Probezeit in§ 622 BGB meint eine andere Erprobung als§ 14 TzBfG.

Eines ist klar geworden: Was heute gesagt worden ist,nämlich dass die Generation Praktikum keine Anschluss-chance im gleichen Betrieb hat, wurde durch die neueRechtsprechung des BAG im April dieses Jahres korri-giert. Diejenigen, die in einem Unternehmen studenti-sche Hilfskräfte waren, können nach dieser im Urteil ge-nannten Dreijahresfrist in ebendiesem Betrieb Arbeitfinden. Wir sollten uns auf den Weg machen, die De-tailfragen im Lichte dieser Entscheidung zu klären.

Ich halte fest: Die sachgrundlose Befristung hat eineBrückenfunktion.

(Zuruf der Abg. Katja Mast [SPD])

Sie bietet Flexibilisierungsmöglichkeiten, die wir benö-tigen. Ich möchte in aller Deutlichkeit sagen, dass wirnicht der Theorie folgen, die der Kollege Ernst präsen-tiert hat. Was er mit Blick auf das alte Rom gesagt hat,halte ich für unwürdig; denn unsere Arbeitsverhältnissesind keine Sklavenarbeit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wir sind ein moderner Rechtsstaat, in dem Arbeitnehme-rinnen und Arbeitnehmer sehr wohl Rechte haben.

(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Sie las-sen Stundenlöhne von 3,50 Euro zu!)

Ich glaube auch nicht, dass wir mit einer billigen Neid-kampagne weiterkommen. Wir sollten froh sein, dasswir statt 5 Millionen Arbeitslose weniger als 3 MillionenArbeitslose haben.

Aufgrund der sachgrundlosen Befristung ist ein Wegin die Unternehmen möglich. Natürlich wünschen wiruns unternehmerischen Erfolg sowie gute und fleißigeMitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Unternehmen.Dann ist es möglich, Dauerarbeitsverhältnisse zu schaf-fen. Sie sind die Idealarbeitsverhältnisse. Die Politiksollte die Menschen aber nicht glauben machen, dass eseine arbeitsrechtliche Vollkaskogesellschaft geben kann,indem die befristeten Arbeitsverhältnisse abgeschafftwerden.

(Klaus Barthel [SPD]: Sie sind für Tage-löhnerei!)

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Ulrich Lange

Denn auch in einem unbefristeten Arbeitsverhältnis istdie Kündigung unter bestimmten rechtlichen Vorausset-zungen jederzeit möglich.

(Zuruf des Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE])

Lassen Sie uns also den Gedanken des DGB aufneh-men, die sachgrundlose Befristung beizubehalten, umnicht mehr atypische Arbeitsverhältnisse zu bekommen.Arbeiten wir an den genauen Leitplanken, die uns dasBundesarbeitsgericht vorgegeben hat. Wir sind dann,was das Befristungsrecht angeht, auf einem guten underfolgreichen Weg für die Beschäftigung in unseremLand.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsident Eduard Oswald:Vielen Dank, Kollege Lange. – Jetzt spricht für die

Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege OttmarSchreiner. Bitte schön, Kollege Ottmar Schreiner.

(Beifall bei der SPD)

Ottmar Schreiner (SPD):Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es

ist zurzeit etwas schwierig, die Position der Koalitionherauszuarbeiten, weil hier sehr unterschiedliche Redengehalten worden sind. Am einfachsten hat es der KollegeKolb von der FDP, der sagt:

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Der weiß, was er will!)

Alles, was ist, ist gut. Sozial ist, was Arbeit schafft.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ja!)

Ich will gar nicht auf die Sklavenarbeit zurückkommen,die Herr Ernst angesprochen hat. Aber Sie wissen, dasses 400-Euro-Jobs gibt, in denen überwiegend Frauen aufder Basis von Vollzeitarbeit 32, 34 und auch 36 Stundenzu Stundenlöhnen arbeiten, die irgendwo zwischen 2 und 3Euro liegen.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Aber das ist nicht die Masse der Menschen!)

Wenn Sie sagen, das sei sozial hinnehmbar, dann kannich nur fragen, ob Sie noch alle Tassen im Schrank ha-ben. Es geht einfach nicht, dass die Menschen mit diesenHungerlöhnen nach Hause geschickt werden.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetender LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN – Gitta Connemann [CDU/CSU]:Das hat Dr. Kolb nicht gesagt!)

Herr Zimmer, ich habe sehr viel Verständnis für IhrePosition. Aber nach dieser Logik müssten Sie den vorlie-genden Anträgen zustimmen. Ich will Sie einmal zitie-ren. Sie haben soeben gesagt, Sie wünschten sich eineArbeitswelt, in der Befristungen nur noch aus gutenGründen erfolgen. Die Befristung ohne Sachgrund abzu-schaffen, ist exakt der Sinn der Anträge.

(Heiterkeit bei der SPD)

Sie haben gesagt, Sie wünschten sich eine Arbeitswelt,in der vor allen Dingen junge Menschen sichere Arbeits-bedingungen vorfinden. Sie wissen genau, dass mehr alsdie Hälfte der jungen Leute unter 30 Jahren in prekärenBeschäftigungsverhältnissen mit überwiegend zeitlicherBefristung sind. Sie wissen genauso gut wie wir, dass ar-beitsrechtlich nichts familienfeindlicher ist als die prekä-ren, instabilen, unsicheren Beschäftigungsverhältnisse.

(Gitta Connemann [CDU/CSU]: Doch! Ar-beitslosigkeit!)

Schließlich trauen sich manche betroffene junge Leutenicht mehr, Kinder in die Welt zu setzen, weil sie nichtwissen, ob sie ihre Kinder nach Ablauf der zeitlichenBefristung noch angemessen ernähren und kleiden kön-nen.

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und demBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – GittaConnemann [CDU/CSU]: Herr Schreiner, washaben Sie denn beschlossen?)

Sie haben soeben gesagt, die Befristung begünstigedie Aufschiebung von Lebensentscheidungen. Es kanndoch nicht ernsthaft der Wille des Gesetzgebers sein, Re-gelungen zu dulden, durch die notwendige Lebensent-scheidungen von Menschen aufgeschoben werden. Folgtman der Logik Ihres Vortrages, Herr Zimmer, müsstenSie eigentlich – herzlichen Glückwunsch! – für zumin-dest einen der vorliegenden drei Anträge sein. Wenn dasdie Position der Unionsfraktion ist, dann sage ich eben-falls: Herzlichen Glückwunsch! Das Ganze ist so ähnlichwie beim Mindestlohn. Ich habe gelesen, dass die FrauMinisterin inzwischen für allgemeine Mindestlöhne ist.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das habe ichnoch nicht gelesen! Da haben Sie sie falschverstanden!)

Sie sind auf einem guten Weg. Jetzt müssen Sie nur nochsehen, dass Sie mit dem Bremsklotz FDP zurande kom-men. Das ist das eigentliche Problem in der Koalition.

Der Kollege Lange hat hier zahlreiche Sachverstän-dige bemüht. Das Argument „Wenn ihr die sachgrund-lose Befristung streicht, dann gibt es mehr Leiharbeit“zu bemühen, ist ungefähr so, als wenn man sagt: Wennihr nicht ins Fegefeuer wollt, dann kommt ihr gleich indie Hölle. Das ist eine Argumentation, die wirklich unterIhrem Niveau ist, Herr Kollege Lange. Da bin ich Besse-res gewohnt. Ich weiß nicht, von wem Sie diese Argu-mentation – –

(Gitta Connemann [CDU/CSU]: Das war nicht Herr Lange!)

– Sie sollten jetzt einmal eine Weile schweigen. Daswäre einmal hilfreich, Frau Kollegin Connemann.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Sie wären wirklich die letzte Kandidatin für ein Klostermit Schweigegelübde. Das könnte nicht funktionieren;denn bereits nach fünf Minuten wären Sie als Nonne ent-lassen.

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Ottmar Schreiner

(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD, derLINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN – Gitta Connemann [CDU/CSU]:Das wünschen Sie sich!)

Das ist eine Vorstellung, die ich jetzt nicht weiter aus-führen will.

Die SPD-Fraktion hat den Antrag gestellt, die Minis-terin herbeizuzitieren. Von Herrn Kollege Kolb ist da-rauf hingewiesen worden, dass wir einen beleibten undsachkundigen Staatssekretär haben.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ist er auch!)

– Ja, das ist er: „Beleibt und sachkundig“ haben Sie ge-sagt.

(Zurufe von der CDU/CSU: Beliebt!)

– „Beliebt“ und sachkundig, okay. Sie haben gesagt,dass Sie einen beliebten und sachkundigen Staatssekre-tär hätten. Das ist ebenfalls in Ordnung. Er ist hier. Herz-lichen Glückwunsch!

Ich will jetzt aus einem Agenturbericht von vorges-tern zitieren. Daraus kann man vielleicht ableiten, wa-rum es angemessen wäre, wenn die Ministerin an diesenDebatten teilnähme. Vorgestern ist in einer thüringischenZeitung nach einer Meldung der AFP ein Artikel er-schienen, in dem es heißt:

Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenar-beit und Entwicklung (OECD) forderte zu Beginndes zweitägigen Treffens

– der europäischen Arbeits- und Sozialminister –

„bessere Arbeitsplätze“ – es sei Besorgnis erregend,dass die Einkommensungleichheit ständig zu-nehme, dass es immer mehr befristete Arbeitsver-hältnisse gebe und dass die Reallöhne in vielenLändern stagnierten oder sogar zurückgingen …

Alle drei Vorhaltungen treffen auf die BundesrepublikDeutschland uneingeschränkt zu: massive Zunahme vonzeitlich befristeten Beschäftigungsverhältnissen, eineseit Jahren rückläufige Reallohnentwicklung, eine sin-kende Lohnquote, eine steigende Gewinnquote und eineständig zunehmende Einkommensungleichheit. Das istdie Vorhaltung der OECD, gemacht auf dem Treffen– nochmals – der europäischen Arbeits- und Sozial-minister.

In diesem Text heißt es weiter:

Die G-20-Minister sollten nicht nur darüber nach-denken, wie mehr Arbeitsplätze geschaffen werdenkönnten, forderte die Organisation, sondern sie soll-ten auch Maßnahmen ergreifen, „die zu fairen undhochwertigen Beschäftigungsverhältnissen führen“.

Jetzt bitte ich um die Stellungnahme der Bundesregie-rung. Das, was ich zitiert habe, ist eine Aussage derOECD. Sie ist keine Vorfeldorganisation irgendeinerOppositionsfraktion hier. Sie ist eine international aner-kannte Organisation. Wenn sie sagt, sie sei besorgt da-rüber, dass es in Deutschland immer mehr befristete,prekäre Beschäftigung, immer geringere Löhne und zu

wenig faire und hochwertige Beschäftigung gebe, dannmüsste doch die Bundesregierung in Gestalt des belieb-ten Staatssekretärs dazu etwas sagen können, und esdürfte kein Schweigen im Walde herrschen. Was ist diePosition der Koalition zu ebendiesen Vorhaltungen?

Jetzt sehe ich, dass ich mit meinem Manuskript über-haupt noch nicht begonnen habe, meine Redezeit aberfast zu Ende ist.

(Heiterkeit – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Lange geredet, nichts gesagt!)

Das ist ein bedauerlicher Vorgang.

Herr Kollege Lange, Sie haben ständig Sachverstän-dige zitiert. Ich will Ihnen sagen: Es gibt Sachverständi-genbefragungen, die eindeutig sind. Es ist nicht gut, nurProfessoren zu befragen. Professoren haben nämlich ei-nen lebenslang gesicherten Job, in der Regel mit sehr gu-ten Arbeitsbedingungen und sehr guten Einkommens-verhältnissen. Ihre Tätigkeit unterliegt keinen zeitlichenBefristungen usw.

Fragen Sie einmal die einfachen Leute auf der Straßedanach, wie sie sich gute Arbeit vorstellen. Dann be-kommen Sie fast zu 100 Prozent die gleiche Antwort:Unter guter Arbeit stelle ich mir ein auf Dauer angeleg-tes, stabiles Arbeitsverhältnis mit auskömmlichem Lohn,von dem ich meine Familie und mich ernähren kann, undmit einer angemessenen sozialen Sicherung vor. – Dasist die Antwort von nahezu 100 Prozent der befragtenLeute auf der Straße, die die für uns wichtigen Sachver-ständigen sind. Deshalb können mir die Aussagen eini-ger von Ihnen erwähnten Professoren ziemlich egal sein.

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und demBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. HeinrichL. Kolb [FDP]: Das ist das Ziel! Die Frage istaber, wie kommen wir dahin!)

Das sogenannte normale Arbeitsverhältnis ist in derTat modernisierungsbedürftig. Dazu kann ich aufgrundder mir noch zur Verfügung stehenden Redezeit abernichts mehr sagen. Die eigentliche Aufgabe besteht nichtdarin, darüber nachzudenken, wie die prekäre Beschäfti-gung ausgeweitet werden kann, wie es die Koalition an-droht. Die eigentliche Frage lautet vielmehr, wie wir dassogenannte normale Arbeitsverhältnis an modernen Ent-wicklungen orientieren können wie zum Beispiel an dergleichberechtigten Arbeit von Mann und Frau.

Das Normalarbeitsverhältnis orientiert sich eher amalthergebrachten Bild des Mannes als Ernährer der Fa-milie. Diese Zeiten sind aber unwiderruflich vorbei.Also müsste in das Normalarbeitsverhältnis die Mög-lichkeit eingebaut werden, Auszeiten und Phasen verrin-gerter Arbeitszeiten in Anspruch zu nehmen, und zwaraus Pflegegründen, aus Erziehungsgründen oder ausWeiterbildungsgründen. Außerdem müssten Regelungengeschaffen werden, damit diejenigen Männer undFrauen, die von dieser Option Gebrauch machen, wiederin reguläre Beschäftigung zurückkehren können.

Das wäre ganz überschlägig gesehen die Modernisie-rung des normalen Arbeitsverhältnisses. Ich will dazunoch einen letzten Satz sagen.

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Vizepräsident Eduard Oswald:Ich bitte darum.

Ottmar Schreiner (SPD):Der letzte Satz, Herr Präsident. – Das normale Ar-

beitsverhältnis ist deshalb ein historisches Ereignis, weilzum ersten Mal in der Geschichte von Arbeit auch fürdiejenigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, diekeine großen Vermögen haben und die nur von ihrer Ar-beit leben, eine soziale Sicherung geschaffen worden ist,sodass in Zeiten der Nichtarbeit – Krankheit, Unfall, Ar-beitslosigkeit, Alter – stabile und sichere Verhältnissegegeben sind. Das sollten wir nicht leichtfertig aufsSpiel setzen.

Deshalb besteht die Hauptaufgabe im Zurückdrängenvon prekärer Beschäftigung und in einem Ausbau desmodernisierten Normalarbeitsverhältnisses. Wenn Siesich dazu bereitfinden könnten, wäre schon viel erreicht.Sie sind ein hoffnungsloser Fall, Herr Kollege Kolb,aber es gibt Anzeichen dafür, dass man die Kollegen vonder Union dafür gewinnen könnte. Dann wären wir indiesem Hohen Haus einen Riesenschritt weiter, nicht inunserem Interesse, sondern im Interesse der abhängigBeschäftigten.

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Eduard Oswald:Kollege Schreiner, bei nächster Gelegenheit unterhal-

ten wir beide uns über die Länge eines Satzes.

Nächster Redner in unserer Debatte ist für die Frak-tion der FDP unser Kollege Johannes Vogel. Bitte schön.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP):Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Herr Kollege Schreiner, ich finde es wirklich gut, dassSie auf die Untersuchungen der OECD verweisen. DieseUntersuchungen beschäftigen sich aber nicht nur mitDeutschland, sondern mit sämtlichen OECD-Ländern.

Sie haben recht: Es ist natürlich berechtigt, nach derQualität von Arbeit zu fragen. Diese Frage sollten wiruns alle stellen. Mir gefällt aber nicht, dass Sie scheinbarvöllig aus dem Auge verloren haben, dass Quantität vorQualität steht. Bevor man sich nach der Qualität einesArbeitsverhältnisses fragen kann – Kollege Kolb hat üb-rigens nicht gesagt, dass sozial ist, was Arbeit schafft –,muss zunächst einmal ein Arbeitsverhältnis gegebensein.

Deshalb ist es wichtig, zunächst einmal auf die Lagein Deutschland hinzuweisen. Wir haben weniger als2,8 Millionen Arbeitslose. Liebe Kolleginnen und Kolle-gen von den Linken, da Sie immer auf die Statistik ver-weisen, möchte ich Sie darauf aufmerksam machen, dassauch die Unterbeschäftigung um eine halbe Millionniedriger ist als noch vor einem Jahr. Das ist eine guteNachricht.

Zur Jugendarbeitslosigkeit muss ich nichts sagen. Wirstehen im europäischen Vergleich exzellent da. Ich kannnachvollziehen, dass Sie sich immer aufregen, wenn Ih-nen vorgehalten wird, was Sie damals unter Rot-Grüngemacht haben.

(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Das war ein Fehler, den korrigierenwir!)

Wenn es ein Fehler wäre, wäre es richtig, diesen zu kor-rigieren. Die Wahrheit ist aber, dass es kein Fehler war.Vielmehr war es richtig, den Arbeitsmarkt zu flexibili-sieren, weil dies nicht die einzige, aber eine wesentlicheUrsache für das deutsche Jobwunder ist. Deshalb ist esrichtig, bei der Befristung zu bleiben und Ihren Anträgennicht zuzustimmen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Jetzt sagen Sie, das gelte nicht mehr; denn durch dieBefristung sei alles schlimm. Ich habe mir einmal IhreArgumente aufgeschrieben. Kollege Barthel hat vorhingesagt, die befristete Beschäftigung sei erstens keineBrücke in unbefristete Beschäftigung. Zweitens würdenimmer mehr unbefristete Beschäftigungen umgewandelt,es gebe immer mehr „schlechte“ Arbeit und immer mehrBefristungen.

Ein kluger Sozialdemokrat, Kurt Schumacher, hateinmal gesagt: „Politik beginnt mit der Betrachtung derWirklichkeit.“

(Ottmar Schreiner [SPD]: Das war nicht Kurt Schumacher!)

Ich halte das für sehr richtig und wahr. Schauen wir unsdoch einmal die Lage im Bereich der Befristung an.Richtig ist: Mitte der 90er-Jahre gab es 5 Prozent befris-tet Beschäftigte, heute sind es 9 Prozent. Zur Betrach-tung der Wirklichkeit gehört aber auch die Analyse, dassdie Statistik verändert wurde.

(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Darum geht es doch gar nicht!Jede zweite Stelle ist befristet!)

Das wissen Sie alles so gut wie wir. Weil die Statistikverändert wurde, ist der Prozentsatz gestiegen; denn jetztwerden Saisonarbeiter – Arbeitskräfte im Weihnachtsge-schäft, Erntehelfer – mit in die Statistik einbezogen.

(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Jede zweite Beschäftigung ist be-fristet!)

Es ist eben nicht so, dass der Anteil der befristet Be-schäftigten weiter explodieren würde. Das ist schlichtnicht wahr.

(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Jede zweite Beschäftigung ist be-fristet!)

– Das ist richtig, Frau Kollegin Müller-Gemmeke. –Kommen wir zu den Neueinstellungen. Davon sind ins-besondere junge Leute betroffen, übrigens gerade Hoch-qualifizierte. Es gibt viele Bereiche, in denen der Anteil

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Johannes Vogel (Lüdenscheid)

der Befristungen in der Tat hoch ist: in der Wissenschaft,im öffentlichen Dienst, auch beim DGB, Herr KollegeSchreiner. Der DGB stellt seit 2004 grundsätzlich nurnoch befristet ein.

(Gitta Connemann [CDU/CSU]: Unglaub-lich!)

Wir können mit den jeweiligen Akteuren einmal das Ge-spräch suchen, wie man das verändern kann.

(Klaus Barthel [SPD]: Wollen Sie das jetzt beklagen?)

– Nein, ich beklage das nicht. Nur, Herr Kollege Barthel:Es wird behauptet, dass immer mehr umgewandelt wirdund befristete Beschäftigung nicht in unbefristete führt.Das ist schlicht nicht wahr. Über die Hälfte derjenigen,die einen befristeten Arbeitsvertrag bekommen, erhaltenanschließend einen unbefristeten Arbeitsvertrag beimselben Arbeitgeber. Das heißt: Der Einstieg funktioniert.Man bleibt nicht in der befristeten Beschäftigung hän-gen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Bei jungen Menschen 23 Pro-zent!)

Überhaupt: Frau Kollegin, nur 15 Prozent derjenigen,

(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 23 Prozent!)

die einen befristeten Arbeitsvertrag haben, haben fünfJahre später – –

(Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE] meldet sich zu einer Zwischenfrage)

– Der Kollege Ernst will eine Zwischenfrage stellen.

Vizepräsident Eduard Oswald:Ja, er will eine Zwischenfrage stellen. Sie gestatten

das auch, Herr Kollege?

Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP):Aber gerne, mit Blick auf die Redezeit umso mehr.

Vizepräsident Eduard Oswald:Bitte schön, Herr Kollege Ernst.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ist doch Verlass auf den Kollegen Ernst!)

Klaus Ernst (DIE LINKE):Herr Vogel, Sie haben eben angesprochen, dass die

Hälfte derer, die einen befristeten Arbeitsplatz hatten,danach eine unbefristete Stelle bekommen hätten. Ist dasnicht Beweis dafür, dass es sich offensichtlich um eineunbefristete Stelle gehandelt hat, die allerdings nur be-fristet besetzt wurde?

(Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Nein!)

Ist dieser Zustand für den Menschen, der diese Stelleinnehat, nicht ein Zustand der wirklich großen Unsicher-heit? Er kann sich nämlich nicht darauf verlassen, dass

er hinterher beschäftigt wird, sondern er muss sich solange wohl verhalten, bis seine befristete Stelle in eineunbefristete umgewandelt wird. Bis dahin wird erschlechtere Bedingungen akzeptieren als andere.

Können Sie sich vorstellen, Herr Vogel, dass dieMenschen, die sich in einer solchen Situation befinden,sich natürlich botmäßiger verhalten und damit das Lohn-niveau und die Arbeitsbedingungen eines ganzen Betrie-bes nach unten drücken?

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das entspricht nicht der Realität!)

Wollen Sie solche Arbeitsbedingungen? Wenn Sie sienicht wollen, warum sind Sie dann nicht mit uns derAuffassung, dass – wenn es schon um unbefristete Jobsgeht, von denen Sie reden – diese Jobs nicht von Anfangan, mit einer bestimmten Probezeit versehen, unbefristetbesetzt werden müssen?

(Beifall bei der LINKEN)

Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP):Herr Ernst, erstens danke ich Ihnen für die Frage drei

Sekunden vor Ende meiner Redezeit. Zweitens zeigtmeiner Meinung nach diese Statistik im Hinblick auf dendeutschen Arbeitsmarkt vor allem – aus vielen Gründen,unter anderem wegen unseres Kündigungsschutzrechts,das wir alle so wollen –, dass die Unternehmer sich dieMenschen erst einmal anschauen wollen.

(Klaus Barthel [SPD]: Also doch! – Klaus Ernst [DIE LINKE]: Probezeit!)

Ich bin der Meinung, dass sie eben nicht von vornhereinein unbefristetes Arbeitsverhältnis schaffen wollen. Drit-tens, Herr Ernst, zeigt die Statistik, dass das Ganze funk-tioniert, weil es eben nicht so ist, dass die Menschen inder Unsicherheit verbleiben,

(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Das war doch nicht meine Frage!)

weil die Hälfte der Beschäftigten in den jeweiligen Be-trieb übernommen wird. Überhaupt, Herr Ernst – daswill ich noch sagen: – Nur 15 Prozent derjenigen, die miteinem befristeten Vertrag beginnen, sind fünf Jahre spä-ter noch befristet angestellt. Die übergroße Mehrheit istdann unbefristet beschäftigt. Der Einstieg über die Flexi-bilität funktioniert. Sie wollen das kaputtmachen.

(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Weniger als dieHälfte! – Gegenruf des Abg. Dr. Heinrich L.Kolb [FDP]: Die Dynamik müssen Sie sehen!Sie denken zu statisch! – Klaus Ernst [DIELINKE]: Meine Frage war eine ganz andere! –Gegenruf des Abg. Dr. Heinrich L. Kolb[FDP]: Er kann doch antworten, was er will!)

Herr Ernst, ich habe es Ihnen gerade erklärt. Wenn Siees nicht verstehen wollen, kann ich Ihnen nicht helfen.Ich kann mich in die Lage der Betroffenen sehr gut hi-neinversetzen, weil ich im engsten Freundes- und Fami-lienkreis Menschen kenne, die über eine befristete Stelledie unbefristete Stelle beim selben Arbeitgeber bekom-men haben, die die Chance, sich mit ihrer guten Arbeit

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zu beweisen und sich beim Arbeitgeber bekannt zu ma-chen, genutzt haben.

(Beifall bei der FDP)

Herr Ernst: Es kann doch – gerade mit Blick auf den in-ternationalen Vergleich – nicht gut sein, die Chancen, dieuns die Flexibilität am Arbeitsmarkt bringt, kaputtzuma-chen. Diese Menschen haben überhaupt erst eine Per-spektive, weil sie einen Arbeitsplatz haben.

Wir sollten uns gemeinsam fragen: Wie sorgen wir fürdie notwendige Qualität der Arbeit? Was können wir inder Politik gemeinsam tun, damit es bei mehr Menschenweitergeht, also Einstieg auch Aufstieg bedeutet, und siesich im Unternehmen weiterentwickeln können? DasBeste, was wir politisch dafür tun können – das wissenwir alle, die wir Statistiken des IAB lesen –, ist, in dieQualifizierung der Mitarbeiter zu investieren.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP – KlausBarthel [SPD]: Warum sollte man jemandenqualifizieren, den man befristet einstellt?)

Dazu nenne ich nur ein Beispiel: Die Koalition hathier am letzten Freitag ein Gesetz verabschiedet, das da-für sorgt, dass die Weiterbildung von Mitarbeitern in al-len kleinen und mittleren Unternehmen – von Beschäf-tigten, Herr Ernst, die den Einstieg geschafft haben –durch die Bundesagentur für Arbeit kofinanziert werdenkann. Das ist ein echter Baustein des Arbeitsmarkts derZukunft, der für eine bessere Perspektive der Menschensorgt.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP sowie des Abg. Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU])

Sie haben dagegen gestimmt. Dies passt leider ins Bild.Wir haben den Eindruck, dass Sie die guten Errungen-schaften einer gesteigerten Flexibilität, die Sie selber zuRecht eingeführt haben, kaputtmachen wollen und sichnicht wirklich mit uns Gedanken machen wollen, wiewir die Perspektive aller Betroffenen verbessern können.Ich finde das schade. Ihre Anträge werden wir ablehnen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Vizepräsident Eduard Oswald:Vielen Dank, Kollege Vogel. – Jetzt spricht für die

Fraktion Die Linke unsere Kollegin Frau JuttaKrellmann. Bitte schön, Frau Kollegin Krellmann.

(Beifall bei der LINKEN)

Jutta Krellmann (DIE LINKE):Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Vorletzte Woche wurde in der ZeitungDie Welt ein Artikel mit dem Titel „Die befristete Gene-ration“ veröffentlicht. Über der Überschrift stand nichtdie Kategorie „befristete Arbeitsverhältnisse“, sonderndas Wort „Zeitarbeit“, nicht „Leiharbeit“. Befristete Ar-beit ist demnach Zeitarbeit. In dem Artikel sind jungeMenschen zu Wort gekommen und hatten die Möglich-keit, ihre prekäre Situation zu schildern. Das waren aberkeine unqualifizierten Menschen, sondern hochqualifi-

zierte junge Menschen, unter anderem eine Physiothera-peutin, die es, obwohl die Vorgesetzten ihr während derganzen Zeit Hoffnungen gemacht haben, in drei Jahrennicht hinbekommen hat, einen festen Arbeitsplatz zu fin-den.

Das andere Beispiel betraf eine junge Frau, die tech-nische Übersetzerin in einem Unternehmen in Deutsch-land geworden ist, nachdem sie in Schweden einen un-befristeten Arbeitsvertrag hatte. In Schweden gab es dasnicht; da hatte sie einen unbefristeten Arbeitsvertrag.Wenn sie dort keinen unbefristeten Arbeitsplatz gehabthätte – jetzt in Deutschland ist das Arbeitsverhältnis be-fristet –, hätte sie kein Kind in die Welt gesetzt; das sagtsie ganz offen. Das sind Beispiele für das, was von un-terschiedlichen Personen schon angesprochen wurde: dieAuswirkungen von Befristungen und prekärer Beschäfti-gung.

Diese und die vorherige Bundesregierung zeichnensich dadurch aus, dass sie in den letzten Jahren nichts ge-macht haben, was im Interesse der Beschäftigten gewe-sen wäre. Die Überschrift heißt – das hat mein KollegeKlaus Ernst schon gesagt – „Deregulierung“, und dasjetzt schon über Jahre hinweg. Es gibt keine Verbote.Lohndumping auf breiter Front ist überall erlaubt, überdie Möglichkeiten der Befristung, der Leiharbeit, derWerkverträge, der Flexibilisierung, bis zum Erbrechen.Junge Fachkräfte bekommen keine Chance auf eine gesi-cherte Perspektive.

Am Samstag, dem 1. Oktober, also in zwei Tagen,protestieren die Jugendlichen der IG Metall in Köln ge-gen genau diese Lebensperspektive der prekären Be-schäftigung,

(Beifall bei der LINKEN)

unter dem Motto:

„Laut und stark“ – Zukunft und Perspektive für diejunge Generation

15 000 Jugendliche werden erwartet, davon allein 1 500aus Niedersachsen.

Arbeitgeber, besonders im Metallbereich, klagen überFachkräftemangel;

(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Genau!)

aber gleichzeitig müssen betroffene junge Beschäftigtefür die Übernahme nach der Ausbildung kämpfen. NachAussage der IG Metall hangeln sich viele Jugendlichevon Praktika zu einem befristeten Arbeitsverhältnis oderwerden in die Leiharbeit gedrängt. Über 15 Prozent derjungen Menschen zwischen 15 und 25 sind erwerbslos.Allein das ist schon ein unglaublicher Skandal.

(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. BeateMüller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN])

25 Prozent der zwischen 20- und 25-Jährigen arbeiten inbefristeten Beschäftigungsverhältnissen. Ergebnis einerUmfrage der IG Metall, bei der circa 5 000 Betriebsrätebefragt wurden, war, dass 42 Prozent der Neueinstellun-gen einen befristeten Arbeitsvertrag erhalten und 43 Pro-

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Jutta Krellmann

zent in der Leiharbeit landen. In der Summe sind das85 Prozent. Das bedeutet: Nur 15 Prozent haben dieChance, in ein gesichertes Arbeitsverhältnis zu kommen.

Herr Lange, ein Wort zu dem, was Sie über die Ge-werkschaft Verdi erzählt haben. Ich als Metaller sage: Ichfürchte, Verdi hat recht. Das Beispiel belegt das doch.Was ist denn die Konsequenz? Die Konsequenz kanndoch nicht sein, dass man nichts gegen befristete Be-schäftigungsverhältnisse unternimmt! Die Konsequenzmuss sein, dass wir auch die Leiharbeit neu regeln. Wirmüssen dafür sorgen, dass der Grundsatz „Gleiches Geldfür gleiche Arbeit“ gilt.

(Beifall bei der LINKEN und der SPD)

Wenn es nach uns ginge, käme noch ein Zuschlag inHöhe von 10 Prozent dazu. Dann hätten wir das ThemaLeiharbeit gleich mit geregelt.

(Klaus Barthel [SPD]: Das haben wir allesschon beantragt! – Dr. Heinrich L. Kolb[FDP]: Den Antrag bringt ihr in der nächstenWoche ein!)

Stichwort „Fachkräftemangel“. Ich persönlich haltees für unerträglich, wenn in solchen Diskussionengleichzeitig permanent über den Fachkräftemangel ge-sprochen wird. Wir reden über Fachkräftemangel in al-len wirtschaftlichen Bereichen: in Dienstleistungsberei-chen, in Industriebereichen und in der Pflegebranche.Überall gibt es Befristungen. Sie nehmen nirgendwo ab,sondern immer nur zu.

(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Richtig!)

Im Grunde lässt die Bundesregierung, und damit wiralle, die junge Generation ohne Schutzschirm im Regenstehen.

(Beifall bei der LINKEN)

Meine Aufforderung an alle ist, jetzt endlich im Inte-resse der jungen Menschen und der jungen Gewerk-schafter, die am Wochenende in Köln auf die Straße ge-hen werden, zu handeln. Wir sind in der Lage, innerhalbkürzester Zeit – das haben wir heute erlebt – Milliardenauszugeben, aber für die Lösung von sozialen Proble-men, die es an den unterschiedlichsten Stellen gibt, brau-chen wir Jahre bzw. kommen überhaupt nicht voran.

Wir als Linke sagen: Als ersten Schritt brauchen wirdie Abschaffung der sachgrundlosen Befristungen. Esgeht nicht um die Abschaffung der Befristung an sich.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Haben Sie den Antrag gelesen? Da stand etwas anderes!)

Wegen Schwangerschaft und Krankheit wird es weiter-hin Befristungen geben.

Wir bitten darum, unserem Antrag zuzustimmen. Wirwerden den Anträgen von SPD und Grünen zustimmen.Es geht uns um die Sache. An dieser Stelle muss endlichetwas passieren.

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsident Eduard Oswald:Vielen Dank, Frau Kollegin Krellmann. – Jetzt spricht

für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unsere KolleginFrau Brigitte Pothmer. Bitte schön, Frau KolleginPothmer.

Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben

es in Deutschland inzwischen mit einem doppelt gespal-tenen Arbeitsmarkt zu tun. Wir haben nicht nur eineSpaltung zwischen den Arbeitslosen und den Beschäftig-ten, sondern wir haben auch eine Spaltung zwischen derRandbelegschaft und der Stammbelegschaft. Wir müs-sen feststellen, dass sich die letztgenannte Spaltung aufdem Vormarsch befindet. Wir haben eben keine durch-lässigen Übergänge zwischen den Teilarbeitsmärkten.

(Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Doch!)

Die Teilarbeitsmärkte sind weitgehend starr voneinanderabgeschottet.

Lieber Herr Kolb,

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Jetzt kommt es!)

Ihr Jobwunder, das Sie immer gebetsmühlenartig vortra-gen, hat viele Verlierer. Ich nenne die Leiharbeiter, dieMinijobber, den Niedriglohnsektor insgesamt und auchdie befristet Beschäftigten.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das hat doch al-les Rot-Grün auf den Weg gebracht!)

Vor allen Dingen für Berufsanfänger ist eine befristeteBeschäftigung – das wurde bereits ausgeführt – nichtmehr die Ausnahme, sondern die Regel.

Ich will nicht so tun, als sei befristete Beschäftigungschlechter als Arbeitslosigkeit.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Aha!)

Das Gegenteil ist der Fall.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Immerhin!)

Aber als Brücke in ein normales Arbeitsverhältnis eignetsich das befristete Beschäftigungsverhältnis in nur sehrgeringem Maße.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das IAB sagt da etwas anderes!)

Insbesondere für gering Qualifizierte ist die befristeteBeschäftigung kein Sprungbrett in eine gute beruflicheZukunft,

(Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Zu 50 Prozent, Frau Kollegin!)

sondern sie ist eine Sackgasse.

(Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Für die Hälfte: ja!)

Sie führt in einen Teufelskreis aus Arbeitslosigkeit,Leiharbeit und Befristungsketten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Deswegen gibt es dringenden Handlungsbedarf.

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Brigitte Pothmer

Wir wollen nicht so tun, als würde dieser Handlungs-bedarf nur von der Opposition gesehen. Er wird dochlängst auch in der Union gesehen. Wer Herrn Zimmeraufmerksam zugehört hat, der hat das zwischen den Zei-len herauslesen können. Herr Zimmer, Ihre Rede war ge-spalten. Da hat eine gespaltene Persönlichkeit geredet.

(Lachen bei der CDU/CSU)

Sie haben hier geredet als jemand, der die CDU reprä-sentiert, aber gleichzeitig als jemand, der CDA-Vorsit-zender in Hessen ist.

(Klaus Barthel [SPD]: So gespalten wie der Arbeitsmarkt!)

Was steht denn in dem CDA-Antrag, der auf demBundesparteitag der CDU eingebracht werden soll? Dawird nicht nur für einen Mindestlohn gekämpft. Da wirdnicht nur eingetreten für gleichen Lohn für gleiche Ar-beit am gleichen Ort. Nein – jetzt hören Sie einmal zu –,da wird auch für die Einschränkung befristeter Beschäf-tigung geworben. In diesem Antrag werden die Auswir-kungen der befristeten Beschäftigung für die Betroffe-nen hinlänglich formuliert. Ich will aus dem Antragzitieren:

(Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Sehr gut!)

Die Folgen sind unter anderem bei der Lebenspla-nung zu beobachten. Befristung verunsichert undbegünstigt das Aufschieben von Lebensentschei-dungen. Empirisch erwiesen ist, dass befristete Be-schäftigung die Bereitschaft zur Familiengründunghemmt.

(Beifall der Abg. Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] undAnton Schaaf [SPD] – Klaus Barthel [SPD]:Da sagt der Herr Kolb nichts mehr!)

Ich empfehle dieser Regierung, dass sie ihre unter-schiedlichen politischen Ziele miteinander in Einklangbringt. Auf der einen Seite wird das Elterngeld einge-führt, um junge Familien anzuregen, die Familiengrün-dung voranzutreiben. Auf der anderen Seite wird in derArbeitsmarktpolitik einer Flexibilität das Wort geredet,die genau dies konterkariert.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das war Rot-Grün, um das mal wieder in Erinnerung zu ru-fen!)

So kommen wir nicht weiter.

Wir wollen, wie im CDA-Antrag beschrieben, dieEinschränkung der befristeten Beschäftigung. Wir wol-len die befristete Beschäftigung nicht abschaffen, aberwir wollen sehr wohl die Flexibilitätsanforderungen inden Betrieben mit den Sicherheitsbedürfnissen der Be-schäftigten in Einklang bringen. Wenn wir die Möglich-keit der sachgrundlosen Befristung streichen, gibt es im-mer noch acht Tatbestände, aus denen heraus Verträgebefristet werden können. Das ist eine Menge Flexibilität,die wir den Betrieben weiterhin zugestehen.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Und den öffent-lichen Verwaltungen!)

Was wir nicht wollen, ist, dass die Probezeit auf zweiJahre ausgedehnt wird.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie bei Abgeordneten der SPD –Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Warum habt ihrdas denn damals gemacht?)

Das betrifft inzwischen die Hälfte aller befristeten Ver-träge. Die CDA hat erkannt, dass es Verwerfungen aufdem Arbeitsmarkt gibt – das wird in ihrem Antrag deut-lich –, und sie will diesen Verwerfungen entgegentreten.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das hat Rot-Grün gemacht! Das ist so! Das kann man nichtbestreiten!)

– Jetzt wende ich mich einmal an Sie. Sie sollten besserzuhören, wenn Ihr Parteivorsitzender und Minister Inter-views gibt.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Können wir ein-mal den Namen des Vorsitzenden nennen?)

Er hat in einem Interview im Deutschlandfunk daraufhingewiesen, wie schwierig es für junge Menschen ist,unbefristete Arbeitsverträge zu bekommen. Das hat erbeklagt. Die CDA sieht das so, Ihr Parteivorsitzendersieht die Probleme,

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Nur ich nicht!)

nur Sie haben ein Brett vor dem Kopf, Herr Kolb.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Anton Schaaf [SPD])

Vor diesem Hintergrund können Sie unseren Antragnicht einfach ablehnen. Unterbreiten Sie wenigstens sel-ber einen Vorschlag, wie das korrigiert werden kann.Ablehnen können Sie den Antrag nicht, jedenfalls nicht,wenn Sie glaubwürdig bleiben wollen.

Ich danke Ihnen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der SPD – Sebastian Blumenthal[FDP]: Sehr charmant, Frau Kollegin!)

Vizepräsident Eduard Oswald:Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nächster Redner in un-

serer Debatte ist für die Fraktion der CDU/CSU unserKollege Dr. Johann Wadephul. Bitte schön, HerrDr. Wadephul.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU):Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass wirin einer Zeit über derartige Anträge diskutieren, in derwir die Arbeitslosenzahl in Deutschland unter die Markevon 2,8 Millionen gesenkt haben,

(Gitta Connemann [CDU/CSU]: Genau!)

in der wir eine Beschäftigungsquote haben, von der wirvor einigen Jahren noch geträumt haben, in der wir of-fene Stellen haben, in der Arbeitgeber die besten Köpfe

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Dr. Johann Wadephul

suchen, in einigen Fällen aber überhaupt keine Fach-kräfte mehr finden.

(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Und trotzdem befristet! Das istdoch paradox!)

In dieser Situation malen Sie hier, im Deutschen Bundes-tag, ein Bild, als wären Prekariat, Unsicherheit, Arbeits-losigkeit und Beschäftigungslosigkeit auf dem deutschenArbeitsmarkt der Regelfall. Diese Schwarzmalerei hatmit der Realität überhaupt nichts zu tun. Sie stellt die Er-folgsgeschichte der deutschen Wirtschaftspolitik schlichtund ergreifend in Abrede.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Niemand in diesem Hause bestreitet, dass ein befriste-tes Arbeitsverhältnis weniger gut ist als ein unbefristetesArbeitsverhältnis. Ich kenne niemanden, der ein befriste-tes Arbeitsverhältnis für wünschenswert hält. Wenn Siejetzt in Ihren Anträgen darauf hinweisen, welche Folgendas für die Familiengründung hat – da haben wir Sieendlich an unserer Seite – oder dass man deswegenkrank zur Arbeit geht oder sich nicht als Betriebsrat zurVerfügung stellt, dann muss ich Ihnen sagen: Wenn dasdenn alles so schlimm ist, dann war es erst rechtschlimm und bedrückend für die Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmer im Jahre 2001, als Sie von Rot-Grün dieseRegelungen hier in Kraft gesetzt haben. Insofern fälltdiese Argumentation auf Sie selbst zurück.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP – Widerspruch beim BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN)

An dieser Stelle können Sie nicht sagen, dass Sie dasin dieser Debatte schon fünf- oder sechsmal eingeräumtund „mea culpa“ in den Raum gerufen haben. 2001wurde nicht erstmalig Befristungsrecht in Deutschlandkodifiziert, sondern – das steht in den Anträgen undwurde heute, glaube ich, auch schon gesagt – wir habenseit 1985, und zwar durch das Beschäftigungsförde-rungsgesetz von Norbert Blüm, eine derartige Gesetzge-bung in Deutschland. Deswegen war das nach 15 Jahrennichts Neues. Sie haben – wenn es denn so schlimm war –den Menschen zu Beginn der Jahrtausendwende mit Ih-rer Agenda 2010 noch viel mehr zugemutet, als man ih-nen heute zumuten würde. Wenn es denn verantwor-tungslos war, dann war es 2001 erst rechtverantwortungslos, so etwas zu machen. Das fällt vollauf Sie zurück.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU undder FDP – Klaus Barthel [SPD]: Was folgt dennjetzt daraus? – Klaus Ernst [DIE LINKE]: Wa-ren Sie jetzt dafür oder dagegen? Was ist dennIhre Position?)

– Ich komme gleich dazu. Ich habe noch ein bisschenRedezeit, und Sie können auch gleich eine Frage dazustellen, Herr Kollege Ernst.

Jetzt müssen wir uns im Einzelnen mit der Beurtei-lung der befristeten Arbeitsverhältnisse auseinanderset-zen.

(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Sehr lobenswert!)

Ich möchte erstens festhalten, dass es in der Tat wün-schenswert ist, ein unbefristetes Arbeitsverhältnis zu ha-ben. Zweitens möchte ich sagen, dass aber die Gleichstel-lung, die hier der eine oder andere Redner vorgenommenhat – auch Sie, Frau Kollegin Müller-Gemmeke –, näm-lich von vornherein zu sagen, ein befristetes Arbeitsver-hältnis sei automatisch ein prekäres Arbeitsverhältnis,falsch ist. Das entspricht nicht der Wirklichkeit. Das müs-sen wir ganz eindeutig festhalten. Die Alternative zu ei-nem befristeten Arbeitsverhältnis ist in aller Regel die Ar-beitslosigkeit.

(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: So ist es!)

Deshalb bleiben wir im Grundsatz bei unserer Aussage:Sozial ist, was Arbeit schafft.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Jeder Arbeitsplatz, auch wenn es nur ein befristeter ist,ist ein guter Arbeitsplatz.

Herr Kollege Ernst, Sie sind etwas verfangen in denMarx’schen Ideen und sehen deshalb den Sklavenstaatals eine Vorstufe der Arbeitswelt im 19. Jahrhundert.

(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Das hat etwas mit Logik zu tun, nicht mit Marx!)

Wir sind im 21. Jahrhundert, lieber Herr Kollege Ernst.

(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Eben! Und Siemachen das Mittelalter daraus! Das ist dasProblem!)

Das haben Sie und Ihre Partei noch nicht bemerkt. Wirhaben halt ein paar andere Probleme als zu Zeiten vonKarl Marx.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Vielleicht holen Sie noch auf. Sie haben noch einen wei-ten Weg vor sich.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Karl Marx hatte keinen Porsche!)

Ich halte fest: Ein befristetes Arbeitsverhältnis ist zu-nächst ein sozialversicherungspflichtiges Arbeitsverhält-nis, das ein Haushaltseinkommen von etwa 91 Prozentdes Einkommens von unbefristet Beschäftigten ermög-licht. Das ist an dieser Stelle immerhin ein guter und er-folgreicher Zwischenschritt, den wir für richtig halten.

(Klaus Barthel [SPD]: Vorhin haben wir doch gehört, die kriegen den vollen Lohn!)

Nun sagen Sie – das ist vollkommen richtig, das un-terstützen wir; das hat auch Kollege Zimmer gesagt undist von unserer Seite nie bestritten worden –, dass das be-fristete Arbeitsverhältnis natürlich nicht das Regelar-beitsverhältnis in Deutschland, insbesondere für Berufs-einsteiger, werden soll.

(Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Aber so läuftes! – Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ist es schon!)

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Dr. Johann Wadephul

Das stellen wir uns nicht vor. So ist es in aller Regelauch nicht.

(Zurufe von der LINKEN und dem BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN: Doch!)

Man muss sich ganz genau anschauen, warum Ar-beitsverhältnisse befristet werden und in welcher Artund Weise Ihre Vorschläge geeignet sind, um die Pro-bleme zu minimieren. Ich sage Ihnen: In kleinen, mittle-ren und größeren Betrieben hätte die Umsetzung IhrerVorschläge ganz unterschiedliche Wirkungen.

Ein großes Unternehmen mit vielen Hundert Beschäf-tigten wird, wenn Sie die Möglichkeit der sachgrundlo-sen Befristung streichen, gar kein Problem haben, einenBefristungsgrund zu finden.

(Gitta Connemann [CDU/CSU]: Das ist genauder Punkt! Die Rechtsabteilungen machen dasschon!)

In letzter Zeit wurden in den Medien einige solcher Fälleöffentlich erörtert. Beim Internetversandhandel bei-spielsweise soll es der Regelfall sein, dass befristet be-schäftigt wird. Ich halte das für skandalös, um das ganzklar zu sagen. Ich bin der Meinung: Wir müssen überle-gen, was wir hier tun können.

(Klaus Barthel [SPD]: Und was machen wirda? – Klaus Ernst [DIE LINKE]: Was denn?Wo ist Ihr Vorschlag?)

Nur, diese Unternehmen werden in aller Regel einen Be-fristungsgrund finden.

(Gitta Connemann [CDU/CSU]: Ja, immer! Die haben eine Rechtsabteilung usw.!)

Nicht finden wird ihn ein Handwerksmeister mit 15 Be-schäftigten, der – zu Recht – den Regelungen des Kündi-gungsschutzgesetzes unterworfen ist.

(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Aber die stellen auch nicht befristetein!)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich finde esetwas traurig, dass in dieser Debatte zwar richtigerweisevon den Problemen der Arbeitnehmerinnen und Arbeit-nehmer die Rede ist, dass aber noch kein Redner daraufhingewiesen hat, dass auch die Arbeitgeber eine Rollespielen.

(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Was? Ich habe das gesagt!)

In Deutschland gibt es glücklicherweise zum BeispielHandwerksmeister, die kleine Betriebe führen und15 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beschäftigen.Diesen Arbeitgebern nehmen Sie an dieser Stelle jedeMöglichkeit, auf die aktuelle Auftragslage zu reagieren.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Das Beschäftigungswunder, das es in Deutschland gab,hat nur zu einem gewissen Teil in den großen Unterneh-men stattgefunden.

(Abg. Jutta Krellmann [DIE LINKE] meldet sich zu einer Zwischenfrage)

Zur Stärke Deutschlands –

Vizepräsident Eduard Oswald:Herr Kollege.

Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU):– wenn ich diesen Satz vollenden darf – tragen insbe-

sondere die kleinen und mittelständischen Betriebe unddas Handwerk bei.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –Klaus Barthel [SPD]: Und warum befristen dieeinen mehr als die anderen?)

Dem Handwerk verunmöglichen Sie aber, auf die aktu-elle Auftragslage flexibel zu reagieren. – Herr Präsident,Sie wollten mich unterbrechen?

Vizepräsident Eduard Oswald:Ich will das nicht. Aber die Frau Kollegin Krellmann

hat eine Zwischenfrage, die Sie, wenn ich es richtig ver-folgt habe, auch herbeigesehnt haben.

(Heiterkeit des Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE])

Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU):Nein. So weit gehen meine Sehnsüchte noch nicht.

(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsident Eduard Oswald:Dann korrigiere ich mich. – Bitte schön, eine Zwi-

schenfrage der Frau Kollegin Krellmann.

Jutta Krellmann (DIE LINKE):Herr Wadephul, ist Ihnen bekannt, dass ausgerechnet

kleine Betriebe, zum Beispiel Handwerksbetriebe, amseltensten befristete Arbeitsverträge abschließen?

(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Genau! So ist das!)

Diese Betriebe machen von dieser Möglichkeit am we-nigsten Gebrauch. Das, was Sie gesagt haben, stimmtnicht. Ist Ihnen das bekannt?

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN, derSPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-NEN)

Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU):Frau Kollegin Krellmann, vor Ihnen steht jemand, der

seit 15 Jahren mitten in Schleswig-Holstein in der ar-beitsrechtlichen Praxis als selbstständiger Anwalt tätigist, wenn auch in letzter Zeit aufgrund der parlamentari-schen Tätigkeit etwas eingeschränkt. Die Masse derMandanten, die zu mir kommen – das gilt sowohl für dieArbeitnehmer- als auch für die Arbeitgeberseite –,kommt aus dem mittelständischen Bereich. Das sind in

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der Tat Handwerksbetriebe und mittelständische Be-triebe; wir haben in Schleswig-Holstein nämlich fastkeine Großbetriebe.

(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Dann ist ja klar, wa-rum keiner kommt, wenn sie keine haben!)

– Ich will Ihnen das ganz nüchtern sagen. – Denen darfman keinen bösen Willen unterstellen.

Sie dürfen aber nicht jedem Arbeitgeber und Be-triebsinhaber – da sind Sie in Ihrer Gedankenwelt etwasverfangen, um es vornehm zu formulieren –,

(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Wenn es keineGroßbetriebe gibt, kann keiner zu Ihnen kom-men!)

der einen größeren Auftrag bekommt, absieht, dass er inden nächsten ein, zwei Jahren etwas mehr zu tun habenwird, sich fragt: „Wie kann ich mich für die Zeit danachabsichern? Ich möchte ja nicht den Betrieb insgesamtund andere Arbeitsplätze in Gefahr bringen“, und sichentscheidet, zur Absicherung des Betriebes insgesamtzur Befristung zu greifen, unterstellen, dass er Arbeit-nehmerinnen und Arbeitnehmer ausnutzen möchte undetwas Böses im Schilde führt. Das ist schlichtweg dieVoraussetzung dafür, dass unser Mittelstand funktioniert.Wir müssen einem Arbeitgeber im Falle eines größerenAuftragsschubes die Möglichkeit zum Atmen und in derZeit danach die Möglichkeit zur Schrumpfung geben.

(Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE] meldet sich zu einer Zwischenfrage)

Sonst wird man nicht dauerhaft Arbeitsplätze inDeutschland schaffen. Das ist schlicht und ergreifend dieRealität, mit der Sie sich insgesamt auseinandersetzensollten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Das führt mich insgesamt dazu – –

(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Sie haben die Frage nicht beant-wortet!)

Vizepräsident Eduard Oswald:Es gibt den Wunsch nach einer weiteren Zwischen-

frage, diesmal vom Kollegen Ernst. Gestatten Sie sie?

Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU):Ja. Unter Geschlechtergesichtspunkten

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Was?)

muss ich bei der Linksfraktion eine Gleichbehandlungermöglichen.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ach so, okay! –Beifall bei Abgeordneten der LINKEN unddes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Hei-terkeit bei der CDU/CSU und der FDP)

Klaus Ernst (DIE LINKE):Das ist ja ein ganz neuer Aspekt. – Ich habe den Ein-

druck, Sie haben gerade unterstellt, dass ein Arbeitgeber,

der Arbeit zu vergeben hat, niemanden einstellt, derdiese Arbeit erledigen soll, wenn es nicht die Möglich-keit der Befristung gibt. Würde das nach dieser Logiknicht bedeuten, dass die Arbeit dann einfach nicht ge-macht wird, dass also der Arbeitgeber, obwohl er einenAuftrag hat, die Arbeit nicht erledigen lässt, weil er nie-manden unbefristet einstellen will?

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Überstunden!)

Das ist doch vollkommen an den Haaren herbeigezogen!Können Sie sich vorstellen, dass inzwischen gerade ingrößeren Betrieben Arbeitgeber mit Betriebsräten übereine bestimmte Quote bei Befristungen verhandeln wol-len – bei Siemens zum Beispiel ist sie mit 5 oder 10 Pro-zent relativ hoch –, weil sie das Risiko der Beschäfti-gung ganz bewusst auf die einzelnen Mitarbeiterverlagern und es nicht mehr selbst als Arbeitgeber tragenwollen? Können Sie sich vorstellen, dass das ein Motivder Arbeitgeber sein könnte und dass es sinnvoll wäre,dem als Gesetzgeber einen Riegel vorzuschieben?

(Beifall bei der LINKEN – Anton Schaaf [SPD]: So sieht das der Laumann auch!)

Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU):Herr Ernst, ich will den Versuch machen, Ihnen noch

einmal das Beispiel – da haben Sie eingehakt – zu erklä-ren, das für viele gilt. Ich habe insbesondere auf kleineund mittelständische Unternehmen abgehoben. Diesebewerben sich auf eine Ausschreibung hin um einen be-stimmten Auftrag, den sie bekommen können. Diese Be-werbungen müssen in einer Wettbewerbssituation natur-gemäß knapp kalkuliert sein. Die Unternehmen sagensich: Bewerbe ich mich um diesen Auftrag, gehe ich indiese Auseinandersetzung hinein, dann brauche ich,wenn ich den Zuschlag erhalte, mehr Beschäftigte. Ichkann nicht sicher sagen, dass ich dem Beschäftigten hin-terher Lohn und Brot geben kann, dass das also eine dau-erhafte Anstellung sein wird. – Sie fragen sich, michoder auch andere, die sie beraten: Wie kann ich so eineSituation handhaben? Ich möchte den Auftrag anneh-men, wodurch der Wirtschaft insgesamt geholfen wird,weil eine Wertschöpfung stattfindet, gleichzeitig sollaber gewährleistet sein, dass ich mich hinterher von denArbeitnehmern trennen kann – leider. Das macht keinemeinzigen Arbeitgeber Freude, sondern sie haben liebermehr Beschäftigte, weil sie dann mehr Aufträge undUmsätze haben und größer werden. Nur wenige wollenkleiner werden. Aber sie brauchen auch die Möglichkeit,sich hinterher von diesen Arbeitnehmerinnen und Ar-beitnehmern wieder zu trennen.

(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Gibt es doch: dieKündigung! Gab es früher doch auch! Be-triebsbedingte Kündigung ist nichts Neues!)

– Herr Ernst, dass es den deutschen Kündigungsschutzgibt, ist richtig und vollkommen in Ordnung, aber das istnicht ganz einfach. Die Erfahrung eines Arbeitgebers inso einer Situation ist nämlich regelmäßig die, dass einebetriebsbedingte Kündigung nicht ganz einfach, sondernschwierig ist

(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Es soll ja nicht einfach sein! Das ist gut!)

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und dass Abfindungszahlungen geleistet werden müs-sen.

(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Ja, zum Beispiel!)

– Ja, das alles finden Sie gut. Nur, all das, was Sie stän-dig ausgeben wollen, muss von irgendjemandem – unddas wollen Sie nicht wahrhaben – erwirtschaftet werden.Das verkennen Sie die ganze Zeit. Das muss der Mittel-stand erst einmal verdienen, bevor es ausgegeben wer-den kann.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Deswegen sage ich Ihnen: Es ist ein Zerrbild, davonauszugehen, dass die befristete Beschäftigung sozusagender Regelfall auf dem deutschen Arbeitsmarkt ist. Dasist sie nicht. In einigen Unternehmen bestimmter Bran-chen – das ist von unserer Seite auch eingeräumtworden – gibt es offensichtlich die Unsitte, dass das re-gelhaft gemacht wird. Darum muss man sich kümmern.Ihre Vorschläge dazu sind bisher aber unzureichend.

(Klaus Barthel [SPD]: Was passiert denn jetzt?)

Daher glaube ich, dass wir in der Tat eine weitere an-geregte Fachdiskussion im Ausschuss brauchen. Siekönnen sich sicher sein, dass die Koalition fachgerechteVorschläge dazu machen wird.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –Anton Schaaf [SPD]: Fragen Sie mal denLaumann! Der hat gute Vorschläge!)

Vizepräsident Eduard Oswald:Vielen Dank, Herr Kollege. – Jetzt für die Fraktion

der Sozialdemokraten unser Kollege Stefan Rebmann.Bitte schön, Kollege Stefan Rebmann.

(Beifall bei der SPD)

Stefan Rebmann (SPD):Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Erst einmal herzlichen Glückwunsch zum ge-wonnenen Hammelsprung vorhin. Ein wenig Bewegungtut uns allen gut.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ja, genau!)

Meinen herzlichen Glückwunsch auch zum Ergebnis dernamentlichen Abstimmung heute Morgen.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ja, sehr gut!)

Das ist gut für Europa. Eigentlich ist es auch für die Re-gierungsbank noch einmal gut gegangen,

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Sehr gut sogar!)

weil die Falken in Ihren Reihen nicht die Oberhand ge-wonnen haben und Sie weiterwurschteln dürfen.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wenn alle so ab-gestimmt hätten wie wir, dann wäre es gut ge-wesen!)

Gut für Deutschland und für die Arbeitnehmerinnenund Arbeitnehmer ist Ihr Weiterregieren aber leidernicht.

(Sebastian Blumenthal [FDP]: Das sehen wir an den Arbeitslosenzahlen!)

Das sehen wir an dem jetzigen Tagesordnungspunkt.

(Ulrich Petzold [CDU/CSU]: Und an den Arbeitslosenzahlen!)

Sie behaupten zum Beispiel, die in der Anhörung zu un-serem Antrag anwesenden Experten hätten sich – ich zi-tiere wörtlich – „unisono“ ablehnend geäußert. Dasstimmt so aber nicht, und das wissen Sie ganz genau. Sieignorieren Herrn Dr. Holst von der Uni Jena, der gesagthat, die jetzige Praxis führe dazu, dass Unternehmen ihreRisiken auf die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmerabwälzen

(Anton Schaaf [SPD]: So ist das!)

und dass vor allem junge, gering qualifizierte Arbeits-kräfte mit Migrationshintergrund mit befristeten Arbeits-verträgen abgespeist werden. Daneben warnt er auch vorder Prekarisierung der Arbeitsgesellschaft durch genaudiese Praxis. Sie ignorieren bzw. verstehen die Expertendes IAB, des Deutschen Gewerkschaftsbundes und desHugo-Sinzheimer-Instituts nicht, die sich klar positio-niert haben, für die die Zunahme der Zahl befristeter Ar-beitsverhältnisse gesellschaftlich problematisch ist unddie eindeutig für eine Begrenzung in diesem Bereich ein-treten.

(Beifall bei der SPD)

Ich frage Sie: Warum ignorieren Sie eigentlich dieseExpertinnen und Experten so konsequent? Sagen sie ir-gendetwas, was nicht in Ihr Weltbild passt? Können Sieihnen nicht folgen? Oder reden sie Ihnen nicht nach demMund? Was sind denn eigentlich Ihre Argumente füroder gegen unseren Antrag? Sie sagen im Grunde: Be-fristungen flexibilisieren den Arbeitsmarkt. Sie redenvon der großen Brücke hin zu Dauerbeschäftigungen.Sie sagen: Befristungen verhindern Arbeitslosigkeit undgeben den Arbeitgebern Spielräume. Deshalb darf sichnichts ändern.

Sie tun gerade so, als wollten wir die Arbeitgeberdazu zwingen, nur noch unbefristet einzustellen. Dasstimmt so nicht. Wir wollen, dass ein Arbeitgeber einenüberprüfbaren Grund angibt, warum er einen Arbeitneh-mer befristet einstellen will.

(Beifall bei der SPD)

Das Teilzeit- und Befristungsgesetz – Kollegin Pothmerhat das vorhin schon gesagt – sieht dafür acht verschie-dene Gründe vor. Ich finde, es ist nicht zu viel verlangt,dass man sich erklären muss, wenn man Arbeitnehmerbefristet beschäftigen will.

(Klaus Barthel [SPD]: So ist es!)

Aber vielleicht wollen Sie das gar nicht.

Laut einer Umfrage des WSI aus 2006 geben zweiDrittel der befragten Unternehmen an, die Möglichkeit

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der Befristung ohne Sachgrund zu nutzen, um auf Auf-tragsschwankungen reagieren zu können. Eine Studiedes IAB aus 2010 kommt genau zu dem gleichen Ergeb-nis.

Die Arbeitskraft, das Wissen und die Fähigkeit derbefristet Beschäftigten werden gerne angenommen undgewinnbringend genutzt, am liebsten sogar als billigeArbeitskraft. Wenn die Menschen wegen ihrer befriste-ten Arbeitsverträge dazu noch gefügig sind und aufRechte verzichten, zum Beispiel auf die Bezahlung vonÜberstunden, dann ist das für manche umso besser. Fak-tisch heißt dies: Das viel zitierte Unternehmerrisiko wirdkomplett auf die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmerverlagert und wird zum Arbeitnehmerrisiko. Eine solchePraxis darf der Gesetzgeber meines Erachtens nicht zu-lassen.

(Beifall bei der SPD)

Wenn ein Arbeitgeber auf Konjunkturschwankungenreagieren will, dann sagen wir: nicht über den Weg dersachgrundlosen Befristung. Dann soll er eben Kurzarbeitbeantragen oder den Weg einer ordentlichen Kündigunggehen – mit allen Konsequenzen. Dann kann sich derArbeitnehmer entsprechend wehren. Wir wollen keinenFreifahrtschein für kurzfristige Einsparungen auf Kostender Arbeitnehmer, und wir wollen schon gar keine Hire-and-fire-Kultur.

(Zurufe von der CDU/CSU: Oje!)

Jetzt werden Sie sagen – das haben Sie schon getan –:Es ist doch besser, jemanden ohne Begründung befristeteinzustellen als überhaupt nicht. Damit sind Sie beiNorbert Blüm bzw. in den 80er-Jahren stehen geblieben.Sie haben sich nicht weiterentwickelt. Ich sage Ihnen:Sie haben ein Problem. Bei Gelegenheit müssten Sie ein-mal nachweisen, dass befristete Beschäftigungen über-haupt Arbeitslosigkeit verhindern. Das können Sie nicht.Sie verweisen auf steigende Beschäftigungszahlen ausZeiten der Hochkonjunktur. Mit dieser Methode kannman natürlich alles erklären. Deshalb ist es auch keinWunder, dass diejenigen, die sich damit wissenschaftlichbeschäftigt haben, zu einem anderen Schluss als Siekommen.

Das Rheinisch-Westfälische Institut für Wirtschafts-forschung und das Institut für Sozialforschung und Ge-sellschaftspolitik haben 2006 eindeutig festgestellt: Esgab keine positiven Beschäftigungseffekte durch befris-tete Arbeitsverträge. 96 Prozent der befragten Unterneh-men gaben an, dass diese Regelung bei ihnen zu keiner-lei Veränderungen geführt hat. Das wurde durch ihreEinstellungspraxis belegt.

(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: 2006! Das ist doch fünf Jahr her! Neue Zahlen!)

Es gibt also keine belegbaren positiven Auswirkungen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetender LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: IAB!Aktuell!)

Ich sage Ihnen eines: Im Gegensatz zu Ihren Kreiß-saal-Hörsaal-und-Plenarsaal-Politikern weiß ich, wovonich rede.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ich auch!)

Ich war einmal arbeitslos, und ich habe in drei Schichtengearbeitet. Ich war auch einmal befristet beschäftigt. Ichhabe nur deshalb einen unbefristeten Arbeitsplatz be-kommen, weil wir einen guten Betriebsrat hatten, der ge-gen diese Dauerbefristungen angegangen ist. So sieht esaus.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Befristet beschäftigt zu sein, heißt: oft deutlichschlechter bezahlt als Unbefristete, meist ausgeschlossenvon Weiterbildungsmaßnahmen, kaum Planungssicher-heit, nicht kreditwürdig. Ich sage Ihnen: Als jungerMensch unter diesen Rahmenbedingungen Zukunfts-pläne zu schmieden, zu heiraten, Kinder in die Welt zusetzen, ein Auto zu kaufen, sich vielleicht um Eigentumzu kümmern, ist schlichtweg nicht möglich.

Die Menschen in Unsicherheit lassen, prekär beschäf-tigen und schlecht bezahlen, gleichzeitig aber erwarten,dass sich diese Menschen in Staat und Gesellschaft volleinbringen, das funktioniert nicht. Ich sage Ihnen: Siekönnen nicht die eine Hälfte des Huhns kochen und vonder anderen Hälfte das Eierlegen erwarten. Das funktio-niert nicht.

(Beifall bei der SPD)

Wir wissen sehr wohl, dass gute Arbeitsmarktpolitikauch Gesellschaftspolitik ist. Mehr Flexibilität für dieArbeitgeber gibt es nur mit mehr Sicherheit für die Ar-beitnehmerinnen und Arbeitnehmer.

Liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalition, derKopf ist rund, damit das Denken die Richtung ändernkann.

(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Wenn man denken kann! Das ist die Voraussetzung!)

Sie haben in den vergangenen Wochen und Monatenmehrfach bewiesen, dass Sie dazu in der Lage sind undauch für gute Argumente zugänglich sind. Geben Sie Ih-ren Gedanken die Freiheit, die Richtung zu ändern!

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD)

Vizepräsident Eduard Oswald:Vielen Dank, Herr Kollege. – Nun für die Fraktion

der FDP unser Kollege Sebastian Blumenthal. Bitteschön, Kollege Blumenthal.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Sebastian Blumenthal (FDP):Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber

Herr Kollege Rebmann, Sie haben uns gerade in einerArt angesprochen, auf die ich eine Replik nicht schuldigbleiben möchte. Bei Ihnen hörte es sich so an, als ver-

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laufe der Karriereweg der Politiker der Koalition folgen-dermaßen: Kreißsaal, Hörsaal, Plenarsaal.

(Stefan Rebmann [SPD]: Der eine oder an-dere!)

Da kann ich Ihnen Folgendes empfehlen: Schauen Siesich im Abgeordnetenhandbuch einmal die Berufswegevon uns Kollegen an. Sie werden feststellen: Der Anteilderjenigen, die mit Berufserfahrung in den Bundestageingezogen sind, ist bei uns prozentual höher als in Ihrereigenen Fraktion. Bitte seien Sie mit solchen Vorwürfenvorsichtig. Sie können davon ausgehen: Auch ich habeschon ein Arbeitsamt von innen gesehen. Ich habe eineBerufsausbildung gemacht, studiert und acht Jahre in derWirtschaft gearbeitet. Es ist nicht so, dass sich hier nurLeute ans Pult stellen, die nicht wissen, worüber sie re-den, auch wenn Sie uns diesen Vorwurf immer machen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Zurück zum Thema. Wir haben heute eine ganzeReihe von Zahlen und viel Zahlenmaterial zu Gehör be-kommen. Dabei ging es meistens um das IAB und des-sen Zahlen, wonach jede zweite Neueinstellung befristeterfolgt. Um das Zahlenmaterial in der Ganzheit zu be-werten, kann ich empfehlen, eine Langzeitbetrachtungvorzunehmen. Zum Beispiel lag nach einer Erhebungder IG Metall der Anteil der Neueinstellungen mit Be-fristung im Jahre 1986 bei knapp 50 Prozent; im Jahre2000 waren es nach Angaben der IG Metall zwei Drittelder Neueinstellungen, während wir aktuell wieder eineQuote von 50 Prozent erreichen. Dies ist also deutlichniedriger als im Jahr 2000.

(Klaus Barthel [SPD]: Immer noch zu viel!)

Jetzt hieraus kurzfristig eine schlechte Tendenz abzulei-ten, kann mit Sicherheit nicht zielführend sein.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)

Ebenso wie das IAB hat sich zum Beispiel auch diegewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung in einerReihe von Studien mit dem Thema befristete Beschäfti-gungsverhältnisse befasst. Diese Stiftung gehört nicht zudenen, die uns etwas ins Programm schreiben, sondernist in den Reihen von Rot-Rot-Grün bekannter. In einerStudie kommt man zu folgenden Erkenntnissen: Eswurde festgestellt, dass die Ausweitung der befristetenBeschäftigung, vor allem in den neuen Bundesländern,durch den hohen Anteil öffentlich geförderter Beschäfti-gung geprägt ist. Damit kommen die Experten der Böck-ler-Stiftung zu der Schlussfolgerung – ich zitiere –:

Zusammenfassend lässt sich keine dramatischeAusbreitung der befristeten Arbeitsverträge zurSubstitution von unbefristeten Verträgen erkennen,wenn man den Einfluss arbeitsmarktpolitischerMaßnahmen berücksichtigt.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Hört! Hört!)

Das ist der O-Ton Ihrer eigenen Experten.

Die Ausweitung der befristeten Beschäftigung gehtalso zu einem großen Anteil auf das Lieblingsinstrument

der Linken zurück, und zwar auf die öffentlich geför-derte Beschäftigung. An dieser Stelle schließt sich dannder Kreis. Die Linke scheint hier die Auffassung zu ver-treten, dass eine befristete Beschäftigung immer nochbesser ist als Arbeitslosigkeit; das haben die eigenen Ex-perten hier vorgestellt. Früher und eben galt das in derDebatte noch als neoliberal. Jetzt ist das linke Arbeits-marktpolitik. So schnell ändern sich die Zeiten.

Daneben gibt es noch weitere Gründe, warum wir diehier vorliegenden Anträge ablehnen. In zahlreichen Bei-spielen können wir erleben, dass die Tarifparteien sehrumsichtig und verantwortungsbewusst mit dem Instru-ment der sachgrundlosen Befristung umgehen. Währendder Finanz- und anschließenden Wirtschaftskrise zumBeispiel haben viele Gewerkschaften zusammen mit Ar-beitgebern solche Regelungen getroffen. Neben dem In-strument der Kurzarbeit war auch das Instrument der be-fristeten Beschäftigung eine Möglichkeit, die Menschenin Arbeit zu halten und Arbeitsplätze zu sichern. Dassollten Sie nicht außer Acht lassen.

(Beifall bei der FDP)

Ein weiteres Beispiel aus meinem BundeslandSchleswig-Holstein will ich exemplarisch erwähnen.Der Kollege Wadephul wird zustimmen: Schleswig-Hol-stein ist für vieles exemplarisch.

(Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Ja!)

In diesem konkreten Fall hat Verdi Nord im Februar2011 bei den Tarifverhandlungen mit einem Logistik-dienstleister im Lübecker Hafen vereinbart, sachgrund-lose Befristungen per Tarifvertrag auf zwölf Monate zubegrenzen.

Bitte vertrauen Sie ein bisschen mehr auf die Tarifau-tonomie und das kluge Handeln der Tarifpartner. Dassage ich bewusst in Richtung Rot-Rot-Grün. Sie unter-stellen uns auf Koalitionsseite immer, wir wollten dieseaushöhlen. Das Gegenteil ist der Fall, wie ich geradeausgeführt habe. Insofern werden wir auch die vorlie-genden Anträge ablehnen.

Ich danke für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Vizepräsident Eduard Oswald:Vielen Dank, Herr Kollege Blumenthal. – Jetzt

spricht für die Fraktion der CDU/CSU unsere KolleginFrau Gitta Connemann. Bitte schön, Frau KolleginConnemann.

Gitta Connemann (CDU/CSU):Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin

tatsächlich ein glücklicher Mensch.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU undder FDP – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Sehrgut! Endlich mal jemand, der es zugibt!)

Daran können weder einige der Reden am heutigen Tagenoch die Kaspereien während der Debatte etwas ändern,die Ihnen vermeintlich wichtig war, aber nicht wichtig

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genug, um sie nicht durch einen Hammelsprung unter-brechen zu lassen.

Ich bin ein glücklicher Mensch. Das beweist übrigensauch der Glücksatlas der Deutschen Post. Darin wirdfestgestellt, dass die Menschen aus dem Norden Nieder-sachsens in Sachen Glück auf dem zweiten Platz liegen.Wir sind wesentlich zufriedener als der Bundesdurch-schnitt. Unsere Glücksbringer sind Gesundheit, Partner-schaft und Freunde, aber übrigens nicht – das ist eineganz interessante Feststellung – die Höhe des Gehalts.Die Untersuchung zeigt aber auch, was unglücklichmacht, nämlich Arbeitslosigkeit. Die Lebenszufrieden-heit von Arbeitslosen liegt weit unter der von Erwerbstä-tigen; denn Arbeit hat für die Menschen einen unglaub-lich hohen Stellenwert.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Klaus Barthel [SPD]: Vor allem befristet!)

Arbeit ist – diese Erkenntnis hat sich auf der einenSeite des Plenums noch nicht durchgesetzt –

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Leider wahr!)

mehr als eine Erwerbsquelle. Sie gibt Sinn, Würde undAnerkennung. Das wissen diejenigen, die außerhalb desArbeitsmarktes stehen, aus bitterer Erfahrung. Deshalbmüssten wir als Politiker und Gesetzgeber eigentlich al-les dafür tun, die Arbeitslosigkeit abzubauen. Die An-träge der Opposition hätten aber den gegenteiligen Ef-fekt, nämlich den Anstieg der Arbeitslosigkeit; denn Siewollen die Abschaffung der sachgrundlosen Befristung.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU undder FDP – Zuruf von der SPD: Das sieht dieCDA aber anders!)

Um nicht missverstanden zu werden: Sicherlichwünscht sich jeder von uns ein unbefristetes Arbeitsver-hältnis.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Als Abgeordne-ter wäre das geradezu traumhaft!)

Das gilt übrigens auch für die Mitarbeiter von Abgeord-neten, Herr Rebmann. Sämtliche Mitarbeiter von Abge-ordneten haben auf eine Legislaturperiode befristete Ar-beitsverträge. Sie heiraten Gott sei Dank trotzdem,kaufen Autos und beziehen Wohnungen.

(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Sachgrundlos,Frau Kollegin! – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]:Und zeugen Kinder!)

Das ist auch gut so.

Jeder wünscht sich ein unbefristetes Arbeitsverhält-nis, obzwar auch dieses durch Kündigungen beendetwerden kann; aber es gibt das Gefühl größerer Sicher-heit. Arbeitgeber sind allerdings zögerlich, sich vonvornherein unbefristet zu binden. Gerade die letzte Fi-nanzkrise hat gezeigt, wie schnell es notwendig werdenkann, auf Schwankungen zu reagieren. Dafür brauchendie Betriebe flexible Instrumente wie die Befristung.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Unsere Aufgabe als Gesetzgeber ist es übrigens in ei-nem solchen Fall, zwischen dem berechtigten Wunschnach Sicherheit auf der einen Seite und dem Bedürfnisnach Flexibilität auf der anderen Seite abzuwägen. DerGesetzgeber hat beiden Interessen Rechnung getragen;das war übrigens der rot-grüne Gesetzgeber. Wir erken-nen an, meine Damen und Herren von der SPD und denGrünen, dass Sie die Regelung in der jetzigen Form ge-schaffen haben. Ihr erklärtes Ziel war damals, Beschäfti-gung zu fördern und Arbeitslosigkeit abzubauen. DassSie dieses Ziel erreicht haben, konstatieren wir Ihnenheute auch.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ja! Jetzt wollen sie das nicht mehr!)

Gerade die Erleichterungen bei der Befristung warenund sind ein Beschäftigungsmotor am deutschen Ar-beitsmarkt.

Meine Damen und Herren von der Opposition, leiderwollen Sie heute nichts mehr davon wissen. Weil dieZahl der befristeten Arbeitsverträge angeblich drastischsteigt, möchten Sie diese künftig nur noch erlauben,wenn es einen speziellen Grund für eine Befristung gibt.Das Dumme daran ist, dass diese Begründung nichtstimmt. Der Anteil der befristet Beschäftigten hat in denletzten Jahren allenfalls geringfügig zugenommen; derKollege Blumenthal hat die Zahlen eben eindrucksvolldargestellt.

Es wäre schön, wenn Sie die Zahlen zur Kenntnisnehmen und Ihr Heil nicht in grundlosen Behauptungensuchen würden. Dann würden Sie nämlich erkennen,dass das sogenannte Normalarbeitsverhältnis keines-wegs einer aussterbenden Gattung angehört und dass eskeinen Beleg dafür gibt, dass die befristete Beschäfti-gung das normale Arbeitsverhältnis abgelöst hat.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Laut Statistischem Bundesamt hat sich die Zahl derunbefristeten Vollzeitjobs seit mehr als zehn Jahren beirund 20 Millionen eingependelt. In demselben Zeitraumist aber die Zahl der Erwerbstätigen um 2,7 Millionenangestiegen. Das heißt, es wurde nicht von normalen zuatypischen Jobs umgeschichtet, sondern es wurden zu-sätzliche Arbeitsplätze geschaffen, auch dank befristeterStellen.

Befristete Stellen sind kein allgemeines Phänomen.Sie sind die Ausnahme, nicht die Regel. Neun von zehnArbeitnehmern in Deutschland sind ohne Wenn undAber beschäftigt. Wenn befristet wird, dann insbeson-dere in zwei Gruppen. Das eine sind die Berufseinstei-ger. Vor allem junge Leute, die noch keine Berufserfah-rung haben, bekommen häufig einen befristeten Vertrag.Hier steht natürlich die Bewährung im Mittelpunkt, ge-nauso wie das Erwerben von Vertrauen. Aber dieseChance wird von den meisten genutzt. Nach einer ak-tuellen Erhebung des IW Köln werden 52 Prozent allerbefristeten Arbeitsverträge in unbefristete umgewan-delt, also jedes zweite Arbeitsverhältnis. Gerade jünge-ren Arbeitnehmern hilft das enorm. Das belegt der euro-päische Vergleich. Deutschland hat die drittniedrigste

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Quote bei der Jugendarbeitslosigkeit in der EU. Das bitteich zur Kenntnis zu nehmen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Angesichts der heute veröffentlichten Arbeitsmarktdatenbitte ich Sie, auch Folgendes zur Kenntnis zu nehmen:Wir haben einen unglaublichen Erfolg auf dem Arbeits-markt erzielt und die 2,8-Millionen-Grenze geknackt.Aktuell sind 2,76 Millionen Menschen ohne Arbeit. Dassind sicherlich 2,76 Millionen Menschen zu viel. Aberseit Amtsantritt dieser Regierung unter BundeskanzlerinMerkel, als die Zahl der Arbeitslosen bei rund 5 Millio-nen lag, haben rund 2,3 Millionen Menschen Arbeit unddamit eine Perspektive gefunden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Der Zorn der Opposition richtet sich im Wesentlichengegen die sogenannte sachgrundlose Befristung. Dabeiwar das Ergebnis der Anhörung, die wir zu dieser Frageim letzten Jahr durchgeführt haben: Gerade Beschäftigtemit Verträgen, die ohne Sachgrund befristet sind, werdennach Abschluss häufiger übernommen als Mitarbeiter,die wegen eines Sachgrundes auf Zeit eingestellt wer-den. Das hat übrigens, lieber Herr Kollege Rebmann,Christian Hohendanner vom Institut für Arbeitsmarkt-und Berufsforschung bestätigt. Aber die wenigsten vonIhnen, meine Damen und Herren von der Opposition,waren bei dieser Anhörung, einer Anhörung, die übri-gens auf Ihren Antrag hin stattfand, genauso wie vieleandere Anhörungen. Wir hatten Ihrem Wunsch entspro-chen; denn jede Anhörung dient der Erkenntnis. Aberwas bringt diese Erkenntnismöglichkeit, wenn man sienicht nutzt?

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Von der SPD fanden genau drei Kollegen in den Anhö-rungssaal,

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Was? Unglaub-lich!)

von den Linken zwei, von den Grünen sogar nur eineKollegin. Ich frage Sie sehr deutlich: Wozu beantragenSie Anhörungen, wenn Sie dann nicht hingehen?

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Dann wäre es jedenfalls schön, wenn Sie das Protokolllesen würden. Der Kollege Rebmann hat es getan. Dasgoutiere ich, obwohl er Herrn Hohendanner nicht richtigzitiert hat. Aber alle anderen haben das Protokoll offen-sichtlich nicht gelesen. Die Anhörung spielte jedenfallsbei den Reden der Opposition überhaupt keine Rolle.Hätte sie eine Rolle gespielt, dann hätten Sie konsequen-terweise Ihre Anträge zurückziehen müssen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Denn fast alle Experten sprachen sich in der Anhörungfür die Beibehaltung der sachgrundlosen Befristung aus.Sie wiesen auf die Chancen, die sich aus unbefristetenVerträgen ergeben, und die hohe Übernahmerate hin.Fast alle Experten warnten vor Einschränkungen; denn

diese würden am Ende Stellen kosten. Die Alternativezum befristeten Arbeitsvertrag sei nämlich nicht der un-befristete, sondern Mehrarbeit des Stammpersonals, alsoÜberstunden, oder Zeitarbeit.

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:Frau Kollegin, möchten Sie eine Zwischenfrage von

Frau Pothmer zulassen?

Gitta Connemann (CDU/CSU):Aber immer gerne.

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:Bitte.

Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Frau Connemann, ist Ihnen bekannt, dass im Antrag

der CDA für Ihren Bundesparteitag die Abschaffung dersachgrundlosen Befristung gefordert wird? Halten Siedie Kolleginnen und Kollegen, die das fordern, für Dep-pen oder für unkundige Thebaner? Wie stehen Sie ei-gentlich zu diesen Kolleginnen und Kollegen?

Gitta Connemann (CDU/CSU):Nein, das ist mir nicht bekannt; denn die CDA fordert

in ihrem Antrag gerade nicht die Abschaffung der sach-grundlosen Befristung. Sie fordert die Einschränkung.Das zeigt Ihr Dilemma.

(Abg. Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] nimmt wieder Platz)

– Frau Pothmer, ich bin noch nicht fertig.

(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Die Antwort reicht mir!)

– Nein, nein, diese Chance müssen Sie mir schon geben.Das zeigt mir aber leider: Das, was Sie nicht hören wol-len, wollen Sie nicht hören.

(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Ich höre Ihnen zu!)

Ich würde Ihnen empfehlen: Wenn Sie Anträge lesenoder daraus zitieren, dann lesen Sie sie genau durch.

(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Ich habe ihn gelesen!)

– Im Fall der CDA haben Sie es nicht getan; das giltauch für das Anhörungsprotokoll. Auch bei der Anhö-rung waren Sie nicht dabei.

(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Ich war dabei! Natürlich war ich da-bei!)

– Laut Protokoll war die Kollegin Müller-Gemmeke fürdie Grünen dabei. – Sehen Sie sich das Protokoll an. Esist ein Dilemma, dass Sie über Dinge reden, bei derenDiskussion Sie nicht waren und über die Sie sich hinter-her noch nicht einmal informieren. Das finde ich bedau-erlich.

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Gitta Connemann

Auch die Vertreterin des DGB hat bestätigt – der Kol-lege Lange hat darauf hingewiesen –, dass Unternehmenvermutlich in andere flexible Beschäftigungsmöglich-keiten ausweichen würden, wenn die sachgrundlose Be-fristung abgeschafft werden würde. Das bleibt Fakt. DieMehrzahl der Experten hat die Aussage in der Koali-tionsvereinbarung unterstützt, das Ersteinstellungsgebotabzuschaffen. Hierzu gibt es eine Entscheidung des Bun-desarbeitsgerichtes, die wir auswerten müssen.

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:Frau Connemann!

Gitta Connemann (CDU/CSU):Es gibt sicherlich auch Handlungsbedarf bei § 14

Abs. 3 Teilzeit- und Befristungsgesetz. Wir müssen überdas Kriterium des Alters sprechen, aber nicht in IhremSinne, meine Damen und Herren von der Opposition.Die Anhörung hat ergeben: Die befristete Beschäftigungwird von Ihnen vollkommen zu Unrecht verteufelt. Des-halb werden wir Ihre Anträge ablehnen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-empfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales aufDrucksache 17/4180. Unter Buchstabe a empfiehlt die-ser Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktionder SPD auf Drucksache 17/1769 mit dem Titel „Lang-fristige Perspektive statt sachgrundlose Befristung“. Werstimmt für die Beschlussempfehlung? – Wer stimmt da-gegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlungist angenommen bei Zustimmung der CDU/CSU undFDP. Dagegen haben SPD und Linke gestimmt, Bünd-nis 90/Die Grünen haben sich enthalten.

Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-lehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Druck-sache 17/1968 mit dem Titel „Befristung von Arbeits-verhältnissen eindämmen“. Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Ent-haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist angenommenbei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen. DieLinke hat dagegen gestimmt, SPD und Bündnis 90/DieGrünen haben sich enthalten.

Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe cseiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antragsder Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache17/2922 mit dem Titel „Kein Sachgrund, keine Befris-tung – Befristete Arbeitsverträge begrenzen“. Werstimmt für die Beschlussempfehlung? – Wer stimmt da-gegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung istangenommen bei Zustimmung durch die Koalitionsfrak-tionen. Dagegen haben gestimmt Bündnis 90/Die Grü-nen und die Linke, die SPD hat sich enthalten.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 34 a bis e sowie Zu-satzpunkt 2 a und b auf:

34 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Vor-schlag für eine Verordnung über die elektroni-sche Fassung des Amtsblatts der EuropäischenUnion

– Drucksache 17/7144 – Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss

b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab-kommen vom 25. November 2010 zwischender Bundesrepublik Deutschland und demFürstentum Andorra über den Informations-austausch in Steuersachen

– Drucksache 17/7145 – Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss (f)Rechtsausschuss

c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab-kommen vom 19. Oktober 2010 zwischen derBundesrepublik Deutschland und Antigua undBarbuda über den Informationsaustausch inSteuersachen

– Drucksache 17/7146 – Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss (f)Rechtsausschuss

d) Beratung des Antrags der Abgeordneten TankredSchipanski, Albert Rupprecht (Weiden), MichaelKretschmer, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der CDU/CSU sowie der AbgeordnetenDr. Martin Neumann (Lausitz), Dr. PeterRöhlinger, Patrick Meinhardt, weiterer Abgeord-neter und der Fraktion der FDP

Potenziale der Einrichtungen des Bundes mitRessortforschungsaufgaben stärken

– Drucksache 17/7183 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f)Auswärtiger AusschussInnenausschussSportausschussFinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft und VerbraucherschutzAusschuss für Arbeit und SozialesVerteidigungsausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für GesundheitAusschuss für Verkehr, Bau und StadtentwicklungAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und EntwicklungAusschuss für Kultur und MedienHaushaltsausschuss

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Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt

e) Beratung des Antrags der Abgeordneten AgnesMalczak, Ute Koczy, Kerstin Müller (Köln), wei-terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN

Zivilpersonal in Konflikten besser betreuen

– Drucksache 17/7191 – Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss (f)InnenausschussVerteidigungsausschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung

ZP 2a)Beratung des Antrags der Abgeordneten OmidNouripour, Ute Koczy, Undine Kurth (Quedlin-burg), weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Naturlandschaft Senne schützen – MilitärischeNutzung des Truppenübungsplatzes nach Ab-zug der Briten beenden

– Drucksache 17/4555 –Überweisungsvorschlag:Verteidigungsausschuss (f)Ausschuss für Verkehr, Bau und StadtentwicklungAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Tourismus

b) Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Harald Terpe, Birgitt Bender, Maria Klein-Schmeink, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Wirksame Strukturreformen für eine patien-tenorientierte Gesundheitsversorgung auf denWeg bringen

– Drucksache 17/7190 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit (f)Ausschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

Hierbei geht es um Überweisungen im vereinfach-ten Verfahren ohne Debatte.

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen andie Ausschüsse zu überweisen, die Sie in der Tagesord-nung finden. Damit sind Sie einverstanden? – Dann istso beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 35 a bis n auf. Hiergeht es um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denenkeine Aussprache vorgesehen ist.

Tagesordnungspunkt 35 a:

Zweite Beratung und Schlussabstimmung desvon der Bundesregierung eingebrachten Entwurfseines Gesetzes zu dem Abkommen vom21. Oktober 2010 zwischen der Bundesrepu-blik Deutschland und dem GroßherzogtumLuxemburg über die Erneuerung und die Er-haltung der Grenzbrücke über die Mosel zwi-schen Wellen und Grevenmacher

– Drucksache 17/6615 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung(15. Ausschuss)– Drucksache 17/7092 –Berichterstattung:Abgeordneter Thomas Lutze

Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwick-lung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung aufDrucksache 17/7092, den Gesetzentwurf der Bundesre-gierung auf Drucksache 17/6615 anzunehmen. Werstimmt dem Gesetzentwurf zu? – Wer stimmt dagegen? –Enthaltungen? – Damit ist der Gesetzentwurf einstimmigangenommen.

Tagesordnungspunkt 35 b:Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines ZweitenGesetzes zur Änderung des Agrarstatistikge-setzes– Drucksache 17/6642 –Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau-cherschutz (10. Ausschuss)– Drucksache 17/7192 –Berichterstattung:Abgeordnete Josef RiefDr. Wilhelm PriesmeierDr. Christel Happach-KasanDr. Kirsten TackmannFriedrich Ostendorff

Der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-lung auf Drucksache 17/7192, den Gesetzentwurf derBundesregierung auf Drucksache 17/6642 in der Aus-schussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, diedem Gesetzentwurf so zustimmen möchten, um dasHandzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Da-mit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung einstim-mig angenommen.

Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf zu-stimmt, der möge sich erheben. – Gegenstimmen? – Ent-haltungen? – Der Gesetzentwurf ist in der dritten Bera-tung ebenfalls einstimmig angenommen.

Tagesordnungspunkt 35 c:Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines ErstenGesetzes zur Änderung des Seesicherheits-Un-tersuchungs-Gesetzes– Drucksache 17/6334 –Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung(15. Ausschuss)– Drucksache 17/7193 –Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Valerie Wilms

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Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt

Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwick-lung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung aufDrucksache 17/7193, den Gesetzentwurf der Bundesre-gierung auf Drucksache 17/6334 in der Ausschussfas-sung anzunehmen. Wer möchte dem Gesetzentwurf sozustimmen? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung ein-stimmig angenommen.

Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf zu-stimmen möchte, den bitte ich, sich zu erheben. – Ge-genstimmen? – Enthaltungen? – Auch dieser Gesetzent-wurf ist in dritter Beratung einstimmig angenommen.

Tagesordnungspunkt 35 d:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) zu dem Streitverfahren vor dem Bundesver-fassungsgericht 2 BvL 4/10– Drucksache 17/7035 –

Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-empfehlung, im Verfahren der konkreten Normenkon-trolle eine Stellungnahme abzugeben und den Präsiden-ten zu bitten, einen Prozessbevollmächtigten zubestellen. Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? –Enthaltungen? – Das ist einstimmig so beschlossen.

Tagesordnungspunkt 35 e:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutzund Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu derVerordnung der BundesregierungErste Verordnung zur Änderung der Deponie-verordnung– Drucksachen 17/6641, 17/7066 –Berichterstattung:Abgeordnete Michael BrandGerd BollmannHorst MeierhoferRalph LenkertDorothea Steiner

Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-lung auf Drucksache 17/7066, der Verordnung aufDrucksache 17/6641 zuzustimmen. Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Ent-haltungen? – Damit ist die Beschlussempfehlung ange-nommen. Zugestimmt haben die Koalitionsfraktionenund die SPD; Linke und Bündnis 90/Die Grünen warendagegen.

Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Pe-titionsausschusses, zu den Tagesordnungspunkten 35 fbis n.

Tagesordnungspunkt 35 f:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses (2. Ausschuss)Sammelübersicht 309 zu Petitionen

– Drucksache 17/7036 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht ist einstimmig ange-nommen.

Tagesordnungspunkt 35 g:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 310 zu Petitionen

– Drucksache 17/7037 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht ist angenommen bei Zu-stimmung der Koalitionsfraktionen und der SPD. Dage-gen hat die Linke gestimmt, Bündnis 90/Die Grünenhaben sich enthalten.

Tagesordnungspunkt 35 h:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 311 zu Petitionen

– Drucksache 17/7038 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Damit ist die Sammelübersicht einstimmig an-genommen.

Tagesordnungspunkt 35 i:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 312 zu Petitionen

– Drucksache 17/7039 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht ist angenommen. Bünd-nis 90/Die Grünen haben dagegen gestimmt, alle ande-ren dafür.

Tagesordnungspunkt 35 j:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 313 zu Petitionen

– Drucksache 17/7040 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht ist angenommen. Ge-genstimmen kamen von der Fraktion Die Linke, alle an-deren Fraktionen haben dafür gestimmt.

Tagesordnungspunkt 35 k:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 314 zu Petitionen

– Drucksache 17/7041 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Damit ist die Sammelübersicht angenommen.Linke und Bündnis 90/Die Grünen haben dagegen ge-stimmt, alle übrigen dafür.

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Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt

Tagesordnungspunkt 35 l:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 315 zu Petitionen

– Drucksache 17/7042 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht ist angenommen. Dage-gen haben gestimmt Bündnis 90/Die Grünen und dieSPD, alle übrigen waren dafür.

Tagesordnungspunkt 35 m:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 316 zu Petitionen

– Drucksache 17/7043 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – SPD und Linke haben dagegen gestimmt, alleanderen waren dafür. Somit ist die Sammelübersicht an-genommen.

Tagesordnungspunkt 35 n:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 317 zu Petitionen

– Drucksache 17/7044 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht ist angenommen durchZustimmung der Koalitionsfraktionen. Die Oppositions-fraktionen haben dagegen gestimmt.

Ich rufe den Zusatzpunkt 3 auf:

Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD

Steuerabkommen mit der Schweiz und damitzusammenhängende Fragen der Steuergerech-tigkeit

Das Wort hat Joachim Poß für die SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD)

Joachim Poß (SPD):Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Lieber Herr Finanzminister! Das Steuerabkommen mitder Schweiz ist ein sehr fragwürdiger und auch ein sehrbedenklicher Vorgang, und zwar aus mehreren Gründen.

Der erste Grund ist – da können Sie, Herr Schäuble,und auch andere noch so viel reden –: Steuerkriminelle,die über Jahre und Jahrzehnte bis heute mithilfe Schwei-zer Banken deutsche Steuern hinterzogen haben, bleibenstraffrei und anonym und werden so von Ihnen gezieltprivilegiert. Das ist der Tatbestand.

(Beifall bei der SPD – Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Sie schicken die Kavallerie!)

Gerade diejenigen, die im großen Ausmaß Steuern hin-terziehen, profitieren von der vereinbarten pauschalier-

ten Einmalzahlung. Die großen Steuerhinterzieher kom-men mit einem Billigtarif davon.

(Beifall bei der SPD – Iris Gleicke [SPD]: Skandal!)

Wir wissen ja – man konnte das auch in den Schwei-zer Medien verfolgen –: Schon zum Zeitpunkt der Para-phierung haben offenkundig viele die Champagnerkor-ken knallen lassen. Gewinner sind nämlich dieSchweizer Banken und die Steuerhinterzieher, aber nichtdie ehrlichen Steuerzahler in Deutschland und auch nichtder deutsche Staat. Das ist das Ergebnis Ihres Abkom-mens, Herr Schäuble.

(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Dr. Barbara Höll [DIE LINKE])

Mit Steuergerechtigkeit hat das nichts zu tun. KriminelleEnergie, die sich nach wie vor auslebt, darf nicht be-lohnt, sondern muss bestraft werden. Aller Voraussichtnach – die Gespräche und Verhandlungen mit den USAsind ja noch nicht abgeschlossen; wir wissen, dass esauch Diskussionen darüber in der Schweiz gibt – werdendeutsche Steuerkriminelle günstiger gestellt als amerika-nische. Das gilt auch für einige andere Gruppen, weil dieAmerikaner nicht nur über das Problem der Steuerflücht-linge, sondern auch über andere Dinge verhandeln.

Darüber hinaus – das ist der zweite Grund – stabilisie-ren Sie, Herr Schäuble, das fragwürdige Geschäftsmo-dell und Geschäftsgebaren der Schweizer Finanzwelt,was mit Sicherheit nicht die Aufgabe der deutschen Re-gierung und des Bundesfinanzministers ist. Ganz im Ge-genteil: Hier wurde eine große Chance verspielt, diesesGebaren zu zivilisieren. Die Schweiz bleibt – leider – einZufluchtsort der internationalen Steuerhinterziehung, ab-geschottet gegenüber Steuer- und Ermittlungsbehörden.

Wenn Sie jetzt behaupten, das Abkommen sei andersgar nicht möglich gewesen, dann sage ich Ihnen: Sie ha-ben in diesem Punkt von vornherein keinen Ehrgeiz ent-wickelt.

(Beifall bei der SPD sowie der Abg.Dr. Barbara Höll [DIE LINKE] – Lachen beider FDP)

Wie man annehmen kann, geschah dies aus vielerlei Mo-tiven. Ein Motiv war, Herr Schäuble, dass Sie auf jedenFall zum Abschluss kommen wollten, um zu zeigen, wieman es machen kann. Sie wollten sich so auch von IhremVorgänger ein wenig abgrenzen.

(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das war nicht schwer!)

Wer argumentiert, anders sei es nicht gegangen, derspielt im Endeffekt das Spiel der Steuerhinterzieher undihrer Helfer. Natürlich wäre es möglich gewesen, auf dieSchweiz mehr Druck auszuüben. Natürlich hat dieSchweiz Interessen, was ihre Banken, die in Deutschlandfreier als bisher Geschäfte machen wollen, angeht. Dasist ein gewichtiger Trumpf, der nicht ausgespielt wurde.Dieses Abkommen, Herr Schäuble, ist kein Ruhmes-blatt,

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Joachim Poß

(Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Haben Sie es gelesen?)

und Ihre Verhandlungskünste waren es offenkundig auchnicht.

Im Übrigen unterläuft das Abkommen die EU-Politikzur Bekämpfung der grenzüberschreitenden Steuerhin-terziehung, den angestrebten automatischen Informa-tionsaustausch, den wir und insbesondere die nationalenFinanzbehörden brauchen, um grenzüberschreitendeSteuerhinterziehung wirksam eindämmen zu können,wovon letztlich alle Staaten profitieren.

(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Wer hat Ihnen so einen Unsinn aufgeschrieben?)

Als Krönung des Ganzen sagen Sie auch noch – dass Siedafür sind, Herr Michelbach, daran habe ich gar keinenZweifel –, Sie wollten in Zukunft auf den Ankauf vonSteuersünder-CDs verzichten. Was treibt Sie eigentlichzu diesem Zugeständnis?

Das alles können wir beim besten Willen nicht mittra-gen. Deswegen werden wir uns entsprechend verhaltenund deutlich machen, dass Sie ein Abkommen ausgehan-delt haben, das man sowohl vonseiten des Bundestagesals auch vonseiten des Bundesrates ablehnen sollte.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. BarbaraHöll [DIE LINKE])

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:Das Wort hat der Bundesminister der Finanzen,

Dr. Wolfgang Schäuble.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister der Finan-zen:

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Herr Kollege Poß, ich will der Versuchung wi-derstehen, jetzt in der Tonart zu antworten, in der Sie ge-redet haben. Wir sprechen über einen Nachbarn, dieSchweizer Eidgenossenschaft. Das ist ein zivilisiertesLand. Dort gelten gesetzliche Regeln zum Bankgeheim-nis.

(Joachim Poß [SPD]: Ich habe über das Geschäfts-gebaren der Banken gesprochen!)

– Lassen Sie mich doch ein paar Sätze sagen, Herrschaf-ten noch mal! Schon nach dem ersten Satz unterbrechenSie mich. Eine so schamlos demagogische Rede zu hal-ten – gegen jede Vernunft – und dann den Redner nachdem ersten Satz zu unterbrechen, das ist doch ein Skan-dal.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich will Ihnen in aller Klarheit sagen: Mit diesem Ab-kommen schaffen wir einen Meilenstein in der Zusam-menarbeit mit der Schweiz. Das war ein schwierigesThema über viele Jahrzehnte, weil das Bankgeheimnis inder Schweiz einen ganz hohen Stellenwert hat. Für dieZukunft werden mit dem Inkrafttreten dieses Abkom-

mens Einkünfte aus Kapitalvermögen, wenn sie beiSchweizer Bankinstituten angelegt sind, genauso lü-ckenlos der Besteuerung unterworfen, wie wenn sie beideutschen Instituten angelegt wären. Das ist der ent-scheidende Punkt. Das ist ein Meilenstein in der Zusam-menarbeit mit der Schweiz.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Dasist ein großer Erfolg!)

Wir werden sogar einen Informationsaustausch haben,der über den OECD-Standard hinausgeht.

Ich will jetzt die Verhandlungen zwischen derSchweiz und den USA gar nicht weiter belasten. DieSchweizer Kollegin hat bei der Unterzeichnung des Ab-kommens vor einer Woche hier in Berlin gesagt, dass dieSchweiz den USA keinesfalls weiter gehende Rechte ge-währen könne. Deswegen nehmen Sie hier doch keinemit der Wirklichkeit derartig in Widerspruch stehendeVerzerrung und Verleumdung vor.

(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Popanz!)

Wir haben für die Zukunft die absolut richtige Lösunggefunden. Wir haben in einer früheren Legislaturperiodedafür gesorgt, dass die Einkünfte aus Kapitalvermögeneiner Abgeltungsteuer unterliegen – damit ist die Besteu-erung definitiv – und dass die Finanzbehörden nur beibestimmten Anhaltspunkten Nachfragen stellen dürfen;das gilt in Zukunft auch für Kapitalanlagen in derSchweiz. Zukünftig gilt die identische steuerliche Erfas-sung, egal ob ein Kapitalvermögen deutscher Steuer-pflichtiger in der Schweiz oder in Deutschland angelegtist. Das ist ein wirklicher Durchbruch, ein großer Fort-schritt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Sie sollten die Schweiz nicht aus der Gemeinschaft zivi-lisierter Länder ausschließen. So können wir in Europanicht auftreten.

Jetzt komme ich auf die in der Vergangenheit geltendeRegelung zu sprechen, und zwar ganz freundlich; dennich werbe um Ihre Zustimmung. Der Kollege Walter-Borjans hat mir liebenswürdigerweise gesagt, dass erhier sprechen wird. Er hat in der FAZ von heute ein Inter-view gegeben. Herr Kollege Walter-Borjans, was dieVergangenheit angeht, muss man zunächst einmal davonausgehen: Das Bankgeheimnis ist in der Schweiz recht-lich geschützt. Auch wir hätten von unserem Rechts-staatsverständnis her große Probleme, wenn wir Gesetze,die Bürger schützen, rückwirkend aufheben würden. Wirmüssen davon ausgehen, dass die Schweiz ihre Gesetzenicht rückwirkend außer Kraft setzen wird; schließlichist sie ein Rechtsstaat. Wir stimmen in der Frage desBankgeheimnisses nicht überein; aber wir müssen dieHaltung der Schweiz respektieren. Deswegen hat einefrühere Regierung im Jahr 2003 ein Amnestiegesetz er-lassen mit Sätzen, die niedriger waren als – –

(Nicolette Kressl [SPD]: Aber nicht anonym!)

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Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble

– Ich bitte Sie! Wir haben hier gar kein Amnestiegesetz.Wir haben doch jetzt eine Anonymisierung der Ein-künfte aus Kapitalvermögen, weil wir die definitive Ab-geltungsteuer haben, die Sie eingeführt haben. WerfenSie doch nicht die Dinge durcheinander! Es ist dochwirklich nicht angemessen, derart verleumderische Be-hauptungen gegenüber unserem Nachbarn aufzustellen.

Für die Vergangenheit werden die Schweizer Bankenihren Kunden drei Optionen anbieten. Die erste Optionist, ihre Einkünfte einer regulären Besteuerung durch diezuständigen deutschen Steuerbehörden zuzuführen unddies gegenüber der Schweizer Bank zu bescheinigen.Die zweite Option besteht darin, dass sie einen Pauschal-satz anwenden, der innerhalb der Verjährungsfristen jenachdem, wie lange die Bestände bestehen, zwischen 19und 34 Prozent schwankt. Dieser ist höher als die Sätze,die bei der Amnestiegesetzgebung im Jahr 2003 angebo-ten worden sind. Damals waren es im ersten Jahr 25 Pro-zent und im zweiten Jahr 35 Prozent. Zudem war damalsein pauschaler Abschlag vom Kapital von 40 Prozentvorgesehen, während wir keinen Abschlag vorsehen. Zu-dem bezieht sich dieser Prozentsatz nicht auf die Ein-künfte, sondern auf das Kapitalvermögen insgesamt.Deswegen gibt es viele Steuerberater, die sagen – diedritte Option –: Im Einzelfall wird es für Steuerpflichtigebesser sein, eine tatsächliche Besteuerung durchzufüh-ren, anstatt von der pauschalierenden Regelung Ge-brauch zu machen. Es mag Fälle geben, bei denen dasanders ist. Das ist aber bei jeder pauschalierenden Rege-lung so.

Wenn man aber respektiert, dass in der Schweiz dasBankgeheimnis gilt, ist das doch die einzig denkbare Re-gelung, wie wir überhaupt deutsche Steueransprüche ge-genüber Steuerpflichtigen durchsetzen können, die auswelchen Gründen auch immer ihr Vermögen in dieSchweiz gebracht haben.

In meiner Amtszeit als Bundesfinanzminister sind üb-rigens mehr Datensammlungen angekauft worden als injeder früheren Legislaturperiode. Sie werden aber dochwohl nicht im Ernst sagen wollen, dass wir auf Dauer – –

(Joachim Poß [SPD]: Weil mehr angeboten wurde!)

– Das ist doch gar kein Problem. Jedenfalls habe ich ge-gen viel Kritik diese Entscheidungen zusammen mit denobersten Finanzbehörden der Länder getroffen.

Unser Rechtsstaat kann sich aber nicht auf Dauer da-rauf beschränken, zu sagen: Wahrscheinlich werden wirdie Steueransprüche nie durchsetzen können; es seidenn, wir finden Menschen, die gegen Gesetze verstoßenund im Zweifel viel Geld dafür kassieren, uns Informa-tionen zu geben.

Im Übrigen verfügt die Schweiz natürlich über Mittel,um gegen den Bruch ihrer Gesetze durch den Diebstahlvon Datensammlungen vorzugehen. Das verstößt übri-gens auch in Deutschland gegen entsprechende Daten-schutzgesetze. Wir sollten also einmal klar aussprechen,wovon wir reden. Wir können doch nicht die Durchset-zung unserer Steueransprüche bis in die Ewigkeit aus-

schließlich darauf stützen. Deswegen ist dieses Argu-ment wiederum falsch.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Herr Kollege Walter-Borjans, Sie haben offenbar inIhrem Interview etwas verwechselt. Wir hebeln die Zins-besteuerungsrichtlinie der EU nicht aus, ganz im Gegen-teil. Bei der seit 2003 geltenden Zinsbesteuerungsrichtli-nie, die übrigens nur Zinsen und keine anderenEinkünfte aus Kapitalvermögen erfasst, haben wir ers-tens für Österreich und Luxemburg eine Ausnahme ge-macht, weil diese Länder das im Hinblick auf eine an-dere Regelung mit der Schweiz nicht akzeptiert haben.Deshalb wird dabei nichts unterlaufen. Zweitens gehörtdie Schweiz, soweit ich weiß, nicht zur EuropäischenUnion, sondern sie ist der Europäischen Union assozi-iert. Sie gehört der Europäischen Union aber nicht an.Drittens ist es so, dass die Finanzämter der Länder – ichwerfe ihnen das gar nicht vor, aber man könnte das ein-mal öffentlich diskutieren – mit der Fülle der Informatio-nen – das konnte man immer in den Zeitungen lesen –,die sie im Rahmen des automatischen Informationsaus-tauschs nach der Zinssteuerrichtlinie bekommen, derzeitüberhaupt nicht umgehen können, weil sie sie gar nichtverwerten können.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn Sie das Ab-kommen vorurteilsfrei prüfen und wenn Sie respektie-ren, dass die Schweiz eigene Gesetze hat, dass dieSchweiz ein so hoch entwickelter Rechtsstaat ist wieDeutschland, dann werden Sie feststellen, dass wir aufder Basis der Gleichberechtigung auch bei unterschiedli-chen Auffassungen miteinander umgehen sollten. Siewerden bei bestem Willen nicht zu dem Ergebnis kom-men, dass eine bessere Regelung für die Vergangenheiterreichbar war.

Für die Zukunft haben wir eine völlige Gleichbehand-lung der Steuerpflichtigen geschaffen, und zwar unab-hängig davon, ob sie ihr Vermögen in der Schweiz oderin Deutschland angelegt haben. Deswegen können wirein schwieriges Kapitel aus der Vergangenheit auf einegute Art und Weise schließen.

Deswegen mein Appell an alle Verantwortlichen inBundestag und Bundesrat: Lassen Sie uns das Abkom-men unvoreingenommen prüfen! Hören Sie endlich aufmit einer Polemik, die allenfalls unsere Beziehungen zurSchweiz und damit weit darüber hinaus unser Ansehenin Europa beschädigen kann!

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:Barbara Höll hat jetzt das Wort für die Fraktion Die

Linke.

(Beifall bei der LINKEN)

Dr. Barbara Höll (DIE LINKE):Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Lassen Sie mich zu Beginn zunächst feststel-len, dass wir als Abgeordnete wieder einmal vor vollen-dete Tatsachen gestellt wurden. Erst am Tag der Unter-

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Dr. Barbara Höll

zeichnung wurde uns der Vertrag als Unterlagezugestellt. Es war nicht möglich, Fragen zu stellen, Kri-tik zu äußern oder eine Diskussion darüber zu führen.

(Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister: Jetzt!)

Ich kann nur feststellen: Genau das scheuen Sie wie derTeufel das Weihwasser. Aus Ihrer Position ist das viel-leicht verständlich; aber aus unserer Sicht und nach mei-nem Verständnis von Steuergerechtigkeit ist das einfachein Skandal. Das belegen die Inhalte des Abkommens.

(Beifall bei der LINKEN)

Steinmeiers Kavallerie hat sich mit Ihrer Hilfe in ei-nen roten Teppich für Steuersünder verwandelt.

(Lachen des Abg. Olav Gutting [CDU/CSU])

Sie scheuen die Auseinandersetzung zu diesem Thema,weil sich offenkundig das, was im Koalitionsvertragsteht, Kampf gegen Steuerhinterziehung, in Luft aufge-löst hat.

Mit dem Vertrag wollen Sie zwei Dinge regeln: ers-tens die pauschale Nachversteuerung von bisher unver-steuertem Altvermögen in der Schweiz – Schätzungengehen von bis zu 300 Milliarden Euro aus – und zwei-tens die künftige Besteuerung von Kapitalerträgen deut-scher Bürgerinnen und Bürger in der Schweiz.

Mit der pauschalen Nachversteuerung, die zwischen19 und 34 Prozent liegen soll, profitieren Steuerflücht-linge gleich doppelt. Zum einen ist diese pauschale Be-steuerung für die meisten Betroffenen deutlich niedrigerals ihr persönlicher Einkommensteuersatz, zu dem sieihr Geld eigentlich hätten versteuern müssen. Zum ande-ren – das ist wirklich skandalös – beinhaltet der Vertrag,dass diese Menschen – es handelt sich immerhin umSteuerflüchtlinge und Steuerbetrüger – straffrei bleibensollen und anonym bleiben können.

Da frage ich Sie: Was ist das für ein Rechtsverständ-nis? Es geht um hinterzogene Gelder, um Steuerminder-einnahmen in Milliardenhöhe, die der Allgemeinheitentzogen werden. Wenn jemand beispielsweise in derKaufhalle eine Gurke klaut oder in der Straßenbahn ei-nen Fahrschein nicht löst, dann wird das strafrechtlichverfolgt. Wenn es aber darum geht, dass bis zu 300 Mil-liarden Euro unversteuert bleiben, dann soll das mit ei-ner Amnestie belohnt werden. Das ist mit uns nicht zumachen!

(Beifall bei der LINKEN)

Für zukünftige Fälle ist vorgesehen, auf kassierte Zin-sen und Dividenden eine Quellensteuer von 26,375 Pro-zent – inklusive Soli – zu erheben. Ob das allerdings sofunktionieren wird, bleibt eine zweite Frage, da für dieDurchführung dieses Plans nur die Schweizer Bankenverantwortlich sind.

Die Ablehnung in der Bevölkerung ist groß. Bereits55 000 Menschen haben den Appell des Kampagnen-bündnisses „Kein Freibrief für Steuerbetrüger“ unter-zeichnet. Ihr Abkommen stößt auf breiten Widerstand.Das Netzwerk Steuergerechtigkeit – Tax Justice Net-

work – sagt dazu – ich zitiere mit Ihrer Erlaubnis, FrauPräsidentin –:

Das Einzige, was an diesem Abkommen wirklichfunktionieren wird, sind die Amnestie und die Ein-stellung der laufenden Strafverfahren.

(Dr. Volker Wissing [FDP]: Das ist keine Am-nestie! – Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Das isteine Nachjustierung!)

Daher verstehe ich nicht, warum Sie noch so stolzsind. Das Abkommen wird und kann überhaupt nichtumfassend greifen, denn es sind Umgehungsmöglichkei-ten darin enthalten. Eine Zahlungsverpflichtung kannnicht durchgesetzt werden, wenn das Geld nicht direktbei einer Schweizer Bank liegt, sondern ausgelagert aufden Konten der ausländischen Niederlassung einerSchweizer Bank. Sie haben keine Zugriffsmöglichkeitenauf Liechtensteiner Ermessenstiftungen und auf Trusts;denn das sind keine natürlichen Personen. Das Ganzekönnen wir jetzt nicht detailliert erläutern. Sie haben indiesen Bereichen jedenfalls keine Möglichkeit, die Zah-lungsverpflichtung durchzusetzen.

Interessanterweise ist nicht alles, was irgendwo beiSchweizer Banken liegt, zu versteuerndes Kapital. Siehaben ausdrücklich gesagt: Zu den Vermögenswerten imSinne des Abkommens zählen nicht die Inhalte vonSchrankfächern. Die Nachfrage nach Schrankfächern inder Schweiz ist in den letzten Wochen massiv angestie-gen. Da fragt man sich ja wohl, warum.

Insgesamt bedeutet das Abkommen keine konse-quente Bekämpfung von Steuerbetrug. Zudem schaffenSie einen Konflikt mit der EU. Herr BundesministerSchäuble, was Sie vorhin auf Herrn Poß erwidert haben,stimmt nicht. Es geht darum, den automatischen Infor-mationsaustausch durchzusetzen. Dieses bilaterale Ab-kommen behindert das. Wir haben bereits am Mittwochim Ausschuss mit der Diskussion darüber begonnen.Verschließen Sie doch nicht die Augen vor den Realitä-ten!

Man muss sich auch einmal fragen, warum Sie dieAnzahl der Ersuche nach Auskünften einfach so be-grenzen. In den ersten zwei Jahren soll die Gesamtan-zahl der zugelassenen Anfragen maximal 999 betragen.Nur zum Vergleich: Es gab 26 000 Selbstanzeigen; wirhaben rund 600 Finanzämter. Jedes Finanzamt darf alsoin den ersten zwei Jahren durchschnittlich rund 1,5 An-fragen stellen. Das ist doch kein konsequenter Kampfgegen Steuerbetrug.

Ich muss auch sagen: Wenn Sie ein solch schwachesVerhandlungsergebnis zulassen, was sollen dann Staatenwie Griechenland machen, die weiß Gott eine wesentlichschlechtere Verhandlungsposition gegenüber SchweizerBanken haben und jetzt damit zu kämpfen haben, dassdie griechischen Millionäre und Milliardäre massiv indie Steueroase Schweiz flüchten, weil es dort genugSchlupflöcher gibt!

(Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Wie viel Geld haben Sie denn in der Schweiz?)

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Dr. Barbara Höll

Für diese Steuerflucht sind Sie letztendlich mitverant-wortlich.

Es geht darum, Steuergerechtigkeit herzustellen.

(Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Deswegen wol-len Sie kein Steuerabkommen!)

Das machen Sie mit diesem Abkommen nicht. Nein, Siebehindern es, auch in den internationalen Auseinander-setzungen.

Danke.

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:Das Wort hat der Kollege Dr. Volker Wissing für die

FDP-Fraktion.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Dr. Volker Wissing (FDP):Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Zunächst zu Ihnen, Frau Kollegin Höll: Dieses Abkom-men enthält keine Amnestie. Insofern ging Ihre Redevöllig an der Sache vorbei und war kein Beitrag, der indiese Aktuelle Stunde gepasst hätte.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Zur SPD. Lieber Herr Kollege Poß, ich habe mich ge-fragt, warum ausgerechnet Sie, die Sozialdemokraten,diese Aktuelle Stunde beantragt haben; aber als ich be-merkt habe, dass Sie sie zur Märchenstunde machenwollen, wurde mir einiges klar. Sie haben jedenfalls übernichts geredet, das in diesem Abkommen vereinbart ist,und zeichnen hier ein Bild, das nicht mit der Realität inEinklang zu bringen ist.

(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Dann le-sen wir es jetzt mal durch!)

Warum haben die Sozialdemokraten das beantragt? Manmuss sich diese Frage stellen, weil Sie, als Sie die Ver-antwortung für das Finanzressort hatten, nichts außer öf-fentlichen Pöbeleien Ihres Finanzministers zustande ge-bracht haben. Ein Verhandlungsergebnis haben Siejedenfalls nicht zustande gebracht.

(Beifall bei der FDP und CDU/CSU)

Am Ende seiner Amtszeit stand Peer Steinbrück inder Frage der Besteuerung der Vermögen in der Schweizvöllig erfolglos und ergebnislos da. Ausgerechnet erstellt sich jetzt in der Öffentlichkeit hin und sagt, manhätte die Pferde satteln müssen. Das passt zu dem, wasFrau Kollegin Kressl vorhin dazwischengerufen hat:Man hätte eben mehr Druck machen müssen. Wenn Siesagen, man hätte mehr Druck machen müssen – Sie stel-len es öffentlich immer so dar –, dann muss man sichdoch die Frage stellen: Warum haben Sie denn mit demDruck, den Sie ausgeübt haben, und mit Ihren Pöbeleiengegenüber der Schweiz in all diesen Fragen null Kommanichts erreicht? Diese Frage sollten Sie sich einmal stel-len.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Ich will zu Peer Steinbrück, der da hinten jetzt zuhört,sagen: Ich finde es bitter, dass es in Deutschland immernoch Politiker gibt, die meinen, mit außenpolitischer Ag-gression spielen zu müssen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, halten dann man-che auch noch für besonders geistreich. Sie, die Sozial-demokraten, sagen uns auch noch allen Ernstes, wir hät-ten uns ähnlich wie Peer Steinbrück verhalten sollen, derDeutschland im Ausland, gegenüber unseren SchweizerFreunden, der Peinlichkeit preisgegeben hat.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordnetender CDU/CSU – Widerspruch bei Abgeordne-ten der SPD – Nicolette Kressl [SPD]: SagenSie doch mal was zum Abkommen! Wie wärees mit ein paar Fakten?)

Wenn der gleiche Peer Steinbrück dann auch noch imSpiegel die Geschichte des Westens von Heinrich AugustWinkler über die Zeit von 1914 bis 1945 kommentiert,dann kommt man auf den Gedanken, dass sich dieserMann vielleicht auch im Zusammenhang mit seinen Äu-ßerungen gegenüber der Schweiz an die deutsche Ge-schichte erinnern sollte. Wie kann eigentlich jemand an-gesichts der deutschen Geschichte unbekümmert miteinem Nachbarland so umgehen und herumschwadronie-ren, von der Kavallerie sprechen und auch noch sagen,man hätte die Pferde satteln müssen? Meine Damen undHerren, das ist eine Form der verbalen Kanonenbootpo-litik, die sich eigentlich jedem Mitglied dieses HohenHauses verbieten sollte.

(Nicolette Kressl [SPD]: Sagen Sie doch ein-mal was zu diesem Abkommen!)

Jetzt zum Abkommen. Ich bin dem Bundesfinanz-minister für dieses Verhandlungsergebnis sehr dankbar.

(Nicolette Kressl [SPD]: Das kann ich mir denken!)

Jeder, der die Verhandlungen verfolgt hat, weiß, dasssich Wolfgang Schäuble mit großem Engagement undgroßem persönlichem Interesse daran, diese seit Jahrenunerledigte Frage endgültig zu beantworten, in die Ver-handlungen begeben hat. Am Anfang schien manchesunmöglich. Wir sind mit dem Finanzausschuss in dieSchweiz gereist und haben Gespräche geführt. Wir hat-ten den Eindruck, dass es kaum möglich sein wird, einenDurchbruch in dem Sinne zu erreichen, dass die Kapitel-erträge in der Schweiz exakt so besteuert werden wie inDeutschland. Das war bei Gesprächen, die wir dort ge-führt haben, nicht einmal in Sichtweite. Dass es am Endegelungen ist, all die Vorhaben durchzusetzen, ein Be-steuerungsabkommen hinzubekommen, das für die Zu-kunft in der Schweiz wie in Deutschland eins zu eins diegleiche Besteuerung sicherstellt, und zwar ausnahmslos,das reden Sie mit Ihren Märchen klein. Das ist nichts alspeinlich.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Nein, dasstimmt nicht!)

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Dr. Volker Wissing

Lassen Sie uns über die Bilanz reden, die die Sozial-demokraten vorzuweisen haben, und über die Bilanz, diedie christlich-liberale Bundesregierung vorzuweisen hat.SPD-Bilanz: nichts erreicht, jährlich Steuern in Milliar-denhöhe verjährt, Straftaten verjährt. In den Verhandlun-gen mit der Schweiz haben Sie für den Bundeshaushaltkeinen Cent herausgeholt, null Komma nichts. Nun glau-ben Sie auch noch, Sie könnten in dieser AktuellenStunde selbstbewusst Ihr Versagen verteidigen. LiebeKolleginnen und Kollegen, Sie haben in dieser Fragenichts, aber auch gar nichts erreicht.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Nicht nurin dieser Frage! – Nicolette Kressl [SPD]: Ichdenke, Sie wollten noch etwas zum Abkom-men sagen!)

Vergleichen wir Ihre Bilanz mit dem Abkommen, dasder Bundesfinanzminister ausgehandelt hat: volle Kapi-talertragsteuer wie in Deutschland, kein Cent bleibt un-versteuert, volle Versteuerung der Altfälle, kein Altfallbleibt unversteuert, Milliarden können in den Bundes-haushalt fließen. Ich finde, es ist ein wichtiger Beitragzur Steuergerechtigkeit, dass nicht nur die Ehrlichen inDeutschland ihre Steuern bezahlen, sondern dass jetztauch die Altfälle abgearbeitet werden und künftig sicher-gestellt ist, dass niemand mehr in der Schweiz Kapitaler-träge unversteuert behalten kann.

(Nicolette Kressl [SPD]: Abgearbeitet? –Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Wer ga-rantiert Ihnen das? Wer organisiert das? Werist dafür verantwortlich?)

Das wollen Sie kleinreden. Ich finde, Sie machen sichmit dieser Aktuellen Stunde selbst klein.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:Herr Kollege, Sie kommen bitte zum Ende.

Dr. Volker Wissing (FDP):Ich komme zum Ende, Frau Präsidentin.

(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Ab 2013 wird es frühestens gelten!)

Die SPD steht da wie eine Heulsusentruppe.

(Lachen bei der SPD)

Die Wahrheit ist: In den Jahren Ihrer Verantwortung fürdas Finanzressort haben Sie überhaupt nichts erreicht.Die einzige Frage, die man Ihnen noch stellen kann:Liebe SPD, geht es noch?

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Genau:Geht es noch? – Dr. Volker Wissing [FDP]:Wenn man nichts erreicht hat, kann man nurdaherpöbeln! – Nicolette Kressl [SPD]: Daswar eine sehr fachliche Bewertung! – LotharBinding [Heidelberg] [SPD]: Das war ein sehrfachlicher Vortrag zu den Fakten!)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:Der Kollege Dr. Thomas Gambke hat das Wort für die

Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):

Vielen Dank, Frau Präsidentin! – Liebe Kolleginnenund Kollegen! Meine Damen und Herren! Wenn wirheute über das Steuerabkommen mit der Schweiz undüber damit zusammenhängende Fragen der Steuerge-rechtigkeit sprechen, dann sollten wir zwei Begriffe inden Mittelpunkt stellen, nämlich Transparenz und fairenWettbewerb. Transparenz und fairer Wettbewerb beherr-schen unsere Debatte über die wirtschaftliche Zusam-menarbeit in Europa. Warum? Weil Transparenz zu Ehr-lichkeit führt und weil fairer Wettbewerb notwendig ist,weil sich die Wirtschaft nur im fairen Wettbewerb wirk-lich entwickeln kann. Wer heute diese Verhandlungenführt, muss nicht nur diese Ziele im Blick haben, son-dern er muss diese Ziele auch erreichen. Das vermisseich beim Doppelbesteuerungsabkommen mit derSchweiz.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

In Europa ist mehr als zehn Jahre über die Zinsbesteu-erungsrichtlinie verhandelt worden. Das Ergebnis ist:35 Prozent Quellensteuer auf Zinserträge

(Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister: Nein, auf Kapital!)

– ich rede von der Zinsrichtlinie – und ein automatischerInformationsaustausch.

(Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister:Nein, das ist Quatsch! Er hat es nicht verstan-den!)

Sie müssen die Signalwirkung der Unterschiede beden-ken. Die Unterschiede sind die, dass wir in Deutschland35 Prozent Quellensteuer haben, in der Schweiz sind es25 Prozent plus Soli.

(Joachim Poß [SPD]: So ist es!)

Außerdem soll in den ersten zwei Jahren die Zahl derAuskunftsfälle auf 999 begrenzt werden. Bei dieser Ge-genüberstellung wird doch klar, dass wir weder Transpa-renz noch fairen Wettbewerb haben.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Sie haben die Latte gerissen und nichts erreicht.

Zum Thema Ablass auf Schwarzgeld. Einmalig sollauf Schwarzgeld ein Steuersatz in Höhe von 19 bis34 Prozent erhoben werden. Eine Garantiesumme inHöhe von 2 Milliarden Euro soll uns locken. Aber derwahre Preis ist doch die totale Intransparenz. Die deut-schen Steuerbehörden geben ihre Verantwortung an derSchweizer Kasse ab. Es gibt keine Strafverfolgung.Meine Damen und Herren von der Koalition, glaubenSie wirklich, dass Sie mit solch einem Ergebnis vor diesteuerehrlichen Bürgerinnen und Bürger treten können,

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Dr. Thomas Gambke

die mit ihren Steuern zur Finanzierung unseres Staats-haushalts beitragen?

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –Dr. Daniel Volk [FDP]: Genau dasselbe Sys-tem wie bei der Abgeltungsteuer in Deutsch-land!)

In verschiedenen Reden wurde von der Kavallerie ge-sprochen. Ich stimme Ihnen zu; diese militärischen Aus-drücke würde auch ich nicht verwenden. Ich bin aber einFreund einer klaren Zielsetzung und einer harten Ver-handlungsführung, und das vermisse ich in diesem Fall.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Herr Bundesminister, Sie fordern Respekt vor derRechtsordnung der Schweiz. Den habe ich. Respektheißt aber nicht Unterwerfung. Angesichts der Tatsache,dass das Bankgeheimnis in der Schweiz so gehandhabtwird, wie es der Fall ist, sage ich: Nein, wir brauchenTransparenz. Das gilt gerade in der heutigen Zeit, in derTransparenz und Steuerehrlichkeit unsere Problemesind. Wer hätte denn gedacht, dass die Schweiz einmalTausende Kundendaten von US-Bürgern weitergibt?

(Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Wer hat dennjetzt die große Auskunftsklausel verhandelt?Wer hat das denn gemacht?)

Wer hat denn das erreicht? Die USA haben das erreicht,weil sie ein klares Verhandlungsziel hatten und sich ent-sprechend eingesetzt haben.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der SPD sowie bei Abgeordneten derLINKEN)

Das haben Sie nicht getan. Das können wir trotz einerGarantiesumme von 2 Milliarden Euro nicht einfach sounter den Tisch kehren.

In Süddeutschland, wo ich zu Hause bin, höre ich vonden Banken ein Argument besonders häufig. Was sagendie mir? Die Menschen in Süddeutschland, aber nichtnur dort, erwarten, dass die Schweizer Banken in Süd-deutschland eine Filiale eröffnen. Das haben die Schwei-zer Banken schon angekündigt. Herr Wissing, es stimmtnicht, dass die Besteuerung exakt dieselbe ist. Der Un-terschied ist die Kirchensteuer. Das mag zwar wenigsein, trotzdem werden die Menschen, die keine großen,sondern kleine Erträge erwirtschaften, Lieschen Müllerzum Beispiel, ihr Geld in die Schweiz bringen, und zwarmit dem psychologischen Argument, dass das Geld inder Schweiz sicher sei, und dem realen Argument, dasses mit Sicherheit vor weiteren Nachforschungen sicherist; denn das haben wir vereinbart.

(Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister: Falsch! Wieder falsch!)

Das befürchten die lokalen Banken.

(Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister: Das ist falsch! Lesen Sie es doch erst einmal!)

Das wird eine weitere Kapitalflucht aus Deutschland indie Schweiz bewirken. Das ist nicht hinnehmbar.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie bei Abgeordneten der SPD – Dr. DanielVolk [FDP]: So ein Unsinn!)

– Nein, das ist kein Unsinn. Das ist genau das, was pas-siert, Herr Volk.

(Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Das haben Sie falsch verstanden!)

– Nein, das habe ich nicht falsch verstanden. Das ist ge-nau das, was mir entgegengebracht wird.

(Dr. Daniel Volk [FDP]: Sie haben das falsch ver-standen, weil Sie es nicht gelesen haben!)

– Nein, ich habe das sehr intensiv gelesen.

(Dr. Volker Wissing [FDP]: Den Eindruck hat man leider nicht!)

Sie sehen nur die kurzfristige Haushaltswirkung. Das istIhr Problem. Damit akzeptieren Sie ein Ergebnis, daskeineswegs passabel ist. Dieses Ergebnis ist miserabel.Deshalb lehnen wir es ab.

(Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Was passiertdenn, wenn Sie blockieren? Sagen Sie dasdoch einmal!)

Das ist im Interesse von Deutschland und im Interessevon Europa. Ich hoffe, dass die Länder im Bundesratentsprechend agieren.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –Dr. Daniel Volk [FDP]: Überhaupt keine Rege-lung! Das ist eine tolle Alternative!)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:Der Kollege Olav Gutting hat das Wort für die CDU/

CSU-Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Olav Gutting (CDU/CSU):Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Zunächst meinen Glückwunsch, Respekt und Dankan das Verhandlungsteam um Wolfgang Schäuble! NachMonaten zäher Verhandlungen hat diese Regierung et-was geschafft, was ein SPD-geführtes Finanzministe-rium in zehn Jahren nicht zustande gebracht hat.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Nicht derjenige, der die Backen aufgeblasen hat und ra-baukenhaft die Kavallerie ausrücken lassen wollte, istzum Ziel gekommen. Nein, für deutsche Steuerflücht-linge wird es jetzt in der Schweiz teuer, weil WolfgangSchäuble besonnen und mit dem notwendigen Respektvor einem benachbarten Rechtsstaat, aber hart in der Sa-che dieses vorliegende Abkommen ausgehandelt hat.

(Beifall bei der CDU/CSU – Nicolette Kressl [SPD]: Wer hat Ihnen das aufgeschrieben?)

Dieses Abkommen sieht neben einer Abgeltung-steuer auf künftige Erträge auch eine Pauschalbesteue-

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Olav Gutting

rung für bislang nicht versteuerte Kapitalanlagen vor.Mit diesem Abkommen erhält der deutsche Fiskus erst-mals einen Zugriff auf Vermögen und erzielte Erträgevon Deutschen in der Schweiz. Wir haben nach jahr-zehntelangem Hickhack in dieser Frage und nach leidermanchen verbalen Entgleisungen ein Ergebnis erzielt,das bedeutet – das steht bereits jetzt fest –, dass 2013mindestens 2 Milliarden Schweizer Franken zusätzlichan Bund, Länder und Kommunen fließen werden.

(Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Hört! Hört!)

Sie haben vorhin die Anzahl der Anfragen moniert. Mitdiesem Abkommen ist es erstmals gelungen, dasSchweizer Bankgeheimnis zumindest einen Spaltbreit zuöffnen und das für Steuerhinterzieher bestehende Risikoder Entdeckung zu vervielfachen.

Umso erstaunlicher ist es, dass nun gerade Sie in derSPD – eigentlich die ganze Opposition – dieses Ergebniszwanghaft schlechtreden wollen.

(Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Die haben nichts hingekriegt!)

Erst zehn Jahre nichts zustande bringen und jetzt besser-wisserisch daherschwätzen, wer soll Ihnen eigentlichdiese Empörung heute noch abnehmen?

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Ich will hier noch einmal darauf hinweisen, dass Sie2003, als Sie noch in der Regierung waren, im Zusam-menhang mit Ihrem Steueramnestiegesetz einen Straf-zinssatz beschlossen haben. Dieser Strafzinssatz lag bei25 Prozent, aber – wir haben es vorhin schon richtiger-weise gehört – bei der Bemessungsgrundlage haben Sie40 Prozent abgezogen. Im Ergebnis waren es daher15 Prozent Strafzinssatz. Ich will zitieren, wie Sie da-mals in Ihrer Gesetzesbegründung den Abwägungspro-zess beschrieben haben: entweder völliger Verzicht aufdie Besteuerung über viele Jahre nicht versteuerten um-fangreichen Kapitals oder aber Steuermehreinnahmenüber die Besteuerung mit einem Steuersatz von 25 Pro-zent.

(Nicolette Kressl [SPD]: Nicht anonym und nicht nur für eine Gruppe!)

Real waren es sogar nur 15 Prozent. Wir haben jetzt biszu 34 Prozent; das ist mehr als doppelt so viel. Aus al-lem, was wir wissen, ist dies das Maximale, das in die-sen Verhandlungen zu erzielen war.

Zudem haben wir jetzt erstmals die Möglichkeit,Kontoverbindungen einzelner Steuerpflichtiger in derSchweiz abzufragen. Mit diesem Abkommen ist dieSteuerflucht in die Schweiz faktisch beendet. Sie in derSPD können sich – dafür habe ich sogar Verständnis –durchaus ärgern, dass Ihr größter Finanzminister allerZeiten das alles nicht zustande bekommen hat.

(Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Seine Backen aufbläst!)

Aber wenn Sie dieses Abkommen mit der Schweiz hierim Bundestag und auch im Bundesrat tatsächlich blo-ckieren wollen, dann sind Sie in der Opposition dafürverantwortlich, dass dem Bund, den Ländern und denKommunen Milliarden Steuereinnahmen durch die Lap-pen gehen

(Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 2 Milliarden!)

und dass die Steuerflucht in die Schweiz nicht beendetwird. Deshalb überlegen Sie es sich gut, ob Sie wirklichauf Blockade setzen wollen. Ich glaube, zum Wohle un-seres Landes,

(Nicolette Kressl [SPD]: Ach nee!)

zum Wohle der ehrlichen Steuerzahler ist es angezeigt,ehrlich zu sein und zu sagen: Wir können diesem Ab-kommen zustimmen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:Für den Bundesrat hat der Landesminister Norbert

Walter-Borjans jetzt das Wort.

(Beifall bei der SPD)

Dr. Norbert Walter-Borjans, Minister (Nordrhein-Westfalen):

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Ab-sicht mag gut gewesen sein; dies bestreite ich nicht. Wirbrauchen ein Abkommen zwischen guten Nachbarn, dassicherstellt, dass sich keiner dieser Nachbarn zur Flucht-burg für die Zechpreller beim anderen macht. Aber dasVerfahren, lieber Herr Schäuble, sehr geehrter Herr Bun-desfinanzminister, wie dieses Abkommen zustande ge-kommen ist, und die Ergebnisse, die wir nach Monatender Geheimniskrämerei seit einer Woche auf dem Tischhaben, sind kein Ruhmesblatt.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten derLINKEN)

Ich war ein bisschen überrascht, als ich eben vonHerrn Wissing hörte, wie er beschrieb, dass sich jeder,der die Verhandlungen geführt und begleitet hat, gewun-dert hat. Nach dem, was Sie anschließend gesagt haben,war mir jedenfalls klar, dass auch Sie sie nicht begleitethaben; denn es ist uns genauso ergangen. Wir habenschlicht und ergreifend keinen Einblick haben können.Das finde ich deshalb so wichtig, weil Länder und Ge-meinden nicht nur zur Hälfte die Leidtragenden derSteuerflucht sind. Denken wir bitte auch einmal daran,wie viele Guthaben seit vielen Jahren auf diesen Kontenliegen, bei denen auch Erbschaftsteuer angefallen wäre.Das betrifft definitiv die Länder und die Gemeinden.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten derLINKEN – Dr. Volker Wissing [FDP]: DerFinanzausschuss des Bundestages hat sich da-mit beschäftigt! Ich dachte, der Bundesrathätte sich auch dafür interessiert!)

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Minister Dr. Norbert Walter-Borjans (Nordrhein-Westfalen)

Der Argwohn, den die Abschottung der Verhandlun-gen bei uns geweckt hat, ist durch das Ergebnis mehr alsbestätigt worden.

(Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Sagt er auch mal etwas zur Sache?)

Dazu muss man sich nicht erst – aber das ist vielleichtauch ganz hilfreich – die erhellenden Ratschläge, die imMoment auf den Internetseiten der SchweizerischenBankiervereinigung gegeben werden, vor Augen führen.Für die Anleger klingen sie ganz beruhigend. Dort heißtes, die Anleger müssten sich keine Sorgen machen, siekönnten ihr Geld ja noch in Sicherheit bringen,

(Nicolette Kressl [SPD]: Ja!)

die steuerliche Belastung werde nicht zu hoch etc.

(Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Ach! Das ist doch Unfug!)

Man muss also zu dem Ergebnis kommen: Hier ist nichtnur der Bund über den Tisch gezogen worden, sondernauch die Länder und Gemeinden und vor allem die ehrli-chen Steuerzahlerinnen und Steuerzahler.

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und demBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. BirgitReinemund [FDP]: Wie viel nehmen denn dieLänder und Gemeinden bisher ein?)

– Zu dem Spatz in der Hand komme ich noch.

Es geht nicht um einen Konflikt – das möchte ich andieser Stelle sehr deutlich machen – zwischen Deutschenund Schweizern;

(Nicolette Kressl [SPD]: Ja!)

diese Beschreibung wird gerne bemüht, um dem Ganzeneine gewisse Dramatik zu verleihen.

(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Richtig!)

Es geht um deutsche Steuerbetrüger und Schweizer Hel-fershelfer auf der einen Seite, und es geht um ehrlicheMenschen in der Schweiz und in Deutschland auf der an-deren Seite, die für Infrastruktur, Bildung und SicherheitSteuern zahlen. Durch ein solches Abkommen müssensich diese Menschen verhohnepiepelt fühlen.

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Ehrlichen in diesem ganzen Spiel werden ja dop-pelt getroffen: Sie müssen zum einen die eigene Zechezahlen, und sie müssen zum anderen mit für die Krediteaufkommen, die wir aufnehmen müssen, weil wir nichtgenug Steuern einnehmen, um auf Kredite verzichten zukönnen. Dadurch entgeht uns übrigens auch ein Beitragzur Haushaltskonsolidierung.

(Dr. Daniel Volk [FDP]: Aber wir nehmendoch jetzt Steuern ein! – Dr. Birgit Reinemund[FDP]: Was haben Sie denn bisher eingenom-men?)

– Wir erzielen nicht die Steuereinnahmen, die wir erzie-len müssten. Ich komme noch darauf zu sprechen, wasdas in Heller und Cent ausmacht.

(Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Wie ist denn die Entwicklung von vorher zu jetzt?)

– Augenblick!

(Zuruf von der LINKEN: Man muss nicht im-mer den kleinsten Spatz nehmen!)

Wir stellen momentan fest, dass zunehmend mehrMenschen, und zwar Angehörige aller Einkommensklas-sen, Bereitschaft erkennen lassen, eine entsprechendeSteuerlast zu tragen,

(Nicolette Kressl [SPD]: Ja!)

weil sie wissen, dass Leistungen, auch Leistungen desStaates, ihren Preis haben. Für diese Menschen ist dasAbkommen ein Schlag ins Gesicht.

Das Wichtigste zum Steuerabkommen ist schnell ge-sagt: Die Kontrolle von morgen obliegt den Tätern undMittätern von gestern;

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

das ist der erste Punkt. Jedenfalls – das soll kein Miss-trauen in die Schweiz zum Ausdruck bringen – ist meinVertrauen in einige Schweizer Banken und einige Ver-antwortliche bei der Schweizer Bankenaufsicht,

(Joachim Poß [SPD]: So ist es!)

die jetzt die Kontrolle übernehmen und sie sicherstellen– ich formuliere es einmal so – begrenzt. Hier wird einStück weit der Bock zum Gärtner gemacht.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD – JoachimPoß [SPD]: So ist es! Nichts anderes haben wirgesagt! – Zuruf von der FDP: Mein Gott!)

Sie haben eben gesagt, dass alles nachgeprüft werdenkann. Die Zahl möglicher Nachprüfungen ist auf 999 in-nerhalb von zwei Jahren begrenzt, nachdem eine paritä-tisch besetzte deutsch-schweizerische Kommission dieZulässigkeit der Nachprüfungen überprüft hat.

(Joachim Poß [SPD]: Ein tolles Ergebnis! Mein lieber Mann!)

Ich sage Ihnen: Allein durch den von uns getätigten An-kauf von CDs kam es zu über 6 000 Selbstanzeigen.

(Nicolette Kressl [SPD]: Ja!)

Ich frage mich, wie durch höchstens 999 Nachprüfungenin zwei Jahren, die man erst noch durchboxen muss, ge-währleistet werden soll, dass man einem Verdacht, ob al-les seine Richtigkeit hat, nachgehen kann.

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und demBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf desAbg. Lothar Binding [Heidelberg] [SPD])

Hinzu kommt: Wer beim Hinterziehen geholfen hat,bleibt künftig genauso straffrei wie der, der hinterzogenhat. Die Schweizer Bankangestellten aber, die beim Auf-decken der Steuerhinterziehung geholfen haben, werdenweiter verfolgt.

(Nicolette Kressl [SPD]: Ja! – Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Nein! Eben nicht!)

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Minister Dr. Norbert Walter-Borjans (Nordrhein-Westfalen)

Gegen jedes Gerechtigkeitsempfinden verstößt aus mei-ner Sicht, dass man, was die Wiedergutmachung in kras-sesten Fällen betrifft, weit hinter dem zurückbleibt, wasein ehrlicher Steuerzahler hätte zahlen müssen.

(Nicolette Kressl [SPD]: Genau!)

Sie haben eben darauf hingewiesen: Es gibt mehrereOptionen, sich zu verhalten. Wenn ich mit einer Selbst-anzeige besser wegkomme, dann zeige ich mich selbstan. Wenn ich mich aber der Hinterziehung der Erbschaft-steuer in erheblichem Umfang schuldig gemacht habe,indem ich beispielsweise Zinsen nicht versteuert habe,ist die Situation eine andere. Das heißt, je mehr mannicht angemeldet hat bzw. je weniger man versteuert hat,desto besser kommt man anschließend mit der pauscha-len Bestrafung davon.

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und demBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. BirgitReinemund [FDP]: Wie kommt man dennohne das Abkommen davon?)

Es ist so: Je „schwärzer“ das angelegte Geld, desto loh-nender ist der Betrug.

Der nächste Punkt: Zwischen dem Wirksamwerdendes Abkommens und dem Zugriff gibt es die Gelegen-heit zur Kapitalflucht. Der Grund dafür ist die Kapital-verkehrsfreiheit. Die Gefahr des Entdecktwerdens, etwainfolge eines Ankaufs von CDs, soll eingeschränkt oderunterbunden werden.

(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Eine Einla-dung zur Steuerflucht!)

Darüber hinaus finde ich die Behauptung, die anonymeMitteilung der Schweizer Banken komme dem von derEU geforderten automatischen Informationsaustauschnahe, ziemlich grotesk. Das ist nicht der Fall. Noch ein-mal dazu, dass jeder Cent versteuert wird: Ja, wenn dieanonyme Meldung tatsächlich umfassend erfolgt, dannwerden die Zinsen demnächst so versteuert wie bei uns.Wenn es sich aber um ein Guthaben handelt, für das vor-her keine Erbschaft- oder andere Steuer gezahlt wurdeund das in die Schweiz gebracht worden ist, dann wirddavon überhaupt nichts mehr bekannt.

(Nicolette Kressl [SPD]: Lesen lohnt!)

Nur die Zinsen darauf müssen so versteuert werden wiebei uns.

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Deswegen sagen wir Nein zu dem bisher praktiziertenVerfahren und zu dem Ergebnis.

Wir – zumindest für die sozialdemokratisch regiertenLänder im Bundesrat gilt das sicher – sagen aber eindeu-tig Ja dazu, dass die Durchsetzung von Recht und Gesetzdurch ein Abkommen auf eine geordnete Grundlage ge-stellt werden muss. Das ist richtig. Ich finde es auch gut,dass die Schweiz zumindest anfängt, sich in diesemPunkt zu bewegen. Es wurde ja darüber gesprochen, werhier Druck auf wen ausübt. Aus all den rechtfertigendenÄußerungen geht allerdings deutlich hervor, dass es hier

auch einen erheblichen Druck der Schweiz auf die deut-schen Verhandlungspartner gegeben hat, indem deutlichgemacht wurde, bei welchem Punkt das Ende der Fah-nenstange erreicht ist und man den Raum verlässt.

Wir sagen auch Ja dazu, dass man ein praktikablesVerfahren finden muss. Das bedeutet auch, dass man anirgendeiner Stelle einen Schlussstrich ziehen muss. Al-lerdings darf er nicht so gezogen werden, dass sich derBetrug gelohnt hat. Es sollte immer noch gelten, dassman, wenn man etwas hinterzogen hat, am Ende einStück mehr bezahlen muss als derjenige, der sich vonvornherein gesetzeskonform verhalten hat.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. BarbaraHöll [DIE LINKE])

Die Kontrolle darf nicht vereitelt werden – auch nichtdurch eine Zahl oder eine Kommission. Die USA habenda in der Tat, zumindest bis zum gegenwärtigen Zeit-punkt, einen anderen Standard angelegt. Dass dieSchweiz sagt, darauf werde sie nicht eingehen, daswürde ich dem anderen Verhandlungspartner gegenüberauch sagen. Wollen wir aber einmal sehen, wie es aus-geht.

Wir sind schließlich hiermit auch dabei, Präzedenz-fälle für Österreich, Luxemburg und Liechtenstein zuschaffen.

(Joachim Poß [SPD]: So ist es! – Nicolette Kressl [SPD]: Kann man nachlesen!)

Somit ist mit einem solchen Abkommen auch die Ver-antwortung verbunden, nicht die Preise für etwas zu ver-derben, was anschließend erreicht werden muss.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten derLINKEN)

Ein echtes Interesse der Schweizer Banken an derVerhinderung eines Transfers unversteuerter Gelder inDrittstaaten kann man im Zweifel nur dann erzeugen,wenn die Vorableistungen, die die Banken erbringenmüssen, deutlich höher ausfallen. Ich höre – ich weißnicht, ob es zutreffend ist –, dass in den Verhandlungenauch einmal von 10 Milliarden Euro und nicht nur von2 Milliarden Euro die Rede war. Es wird dann sicherlichauch einmal die Situation geben, dass man sagen kann,der Spatz in der Hand sei besser als die Taube auf demDach. Dass wir das nicht unpragmatisch sehen, ist dochvöllig klar.

Das, was jetzt da ist, ist aber kein Spatz, sondern manhat eine Feder in der Hand. Aus diesem Grunde habenwir die dringende Bitte, Gespräche miteinander zu füh-ren, anschließend aber natürlich auch von der Möglich-keit Gebrauch zu machen, mit der Schweiz nachzuver-handeln, weil wir glauben, dass ein Nachverhandelnnötig ist.

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:Herr Minister.

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Dr. Norbert Walter-Borjans, Minister (Nordrhein-Westfalen):

Nachverhandeln ist auch möglich. Herr KollegeSchäuble, ich glaube, deswegen ist es wichtig, dass Sieder eidgenössischen Regierung signalisieren, dass diesesAbkommen ohne eine deutliche Nachbesserung inDeutschland keine Mehrheit hat und dass ein Weiter-so,das die Schweiz dann vielleicht als Alternative androhenwürde, mit uns nicht zu machen ist.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:Die Kollegin Dr. Birgit Reinemund hat das Wort für

die FDP-Fraktion.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Dr. Birgit Reinemund (FDP):Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber

Herr Borjans, als Vorsitzende des Finanzausschussesdarf ich Ihnen bestätigen, dass der Finanzausschuss dieVerhandlungen kontinuierlich begleitet hat

(Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Nicolette Kressl [SPD]:Was? – Uwe Kekeritz [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Wovon reden Sie? – Dr. ThomasGambke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:Was? Frau Vorsitzende!)

und dass er mit einer Delegation in der Schweiz vor Ortwar. Wenn es so sein sollte, dass sich der Bundesrat nichteingebracht hat, finde ich das sehr peinlich. Es warschon überraschend, das hier so deutlich zu hören.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

In dieser Aktuellen Stunde deutet sich ganz leicht an,dass die SPD-geführten Bundesländer das Abkommenmit der Schweiz im Bundesrat tatsächlich blockierenwollen. Ich bin schon gespannt, wie Sie das den Men-schen erklären wollen. Überzeugend war das bis jetztnicht; denn ich habe noch immer nicht verstanden, obkein Abkommen besser oder schlechter als dieses Ab-kommen ist, über das wir heute sprechen.

(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Geht ja auchgar nicht; denn wir diskutieren heute das ersteMal darüber!)

2003 hat Ihr Finanzminister Hans Eichel, meine Da-men und Herren von der SPD, verzweifelt versucht, miteiner wie ein Ablasshandel ausgestalteten Steueramnes-tie Geld deutscher Steuerflüchtlinge zurückzuholen. Erhatte vollmundig von 5 Milliarden Euro gesprochen. AmSchluss sind schlappe 1,2 Milliarden Euro herausgekom-men. Noch weniger Erfolg hatte die plumpe Drohungseines Nachfolgers Steinbrück mit der Kavallerie. AußerIrritationen beim Nachbarn ist dabei Nullkommanichtsherausgekommen. Es sollte immer – das galt auch für

die Vergangenheit – weitgehend Rechtsfrieden erreichtwerden. Genau das ist auch unser Ziel mit dem aktuellenAbkommen.

Dieser Bundesregierung und diesem Finanzministerist gelungen, was die SPD-Finanzminister während derletzten zehn Jahre nicht zustande gebracht haben.

(Beifall bei der FDP und Abgeordneten derCDU/CSU – Lothar Binding [Heidelberg][SPD]: Das alles hören wir gerade zum erstenMal! Sauber!)

– Ihren Frust, liebe Kolleginnen und Kollegen von derSPD, kann ich gut verstehen. Ist das der Grund, dass Sieheute auf Blockade umsteigen wollen? Zum Beispielsagte der nordrhein-westfälische Finanzminister Borjansin der Presse voller Empörung, dass schwerreiche Straf-täter viel zu billig davonkommen.

(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: So ist es! – Nicolette Kressl [SPD]: Zu Recht!)

– Na ja, ist denn zu billig deutlich mehr als null? Oder istes das, was Sie bisher erreicht haben? Ohne das Abkom-men bleibt alles kostenfrei.

Richtig ist: Steuersünder können künftig nachversteu-ern

(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Machen sie aber nicht!)

oder sich über eine Selbstanzeige steuerehrlich machen.Geld aus Straftaten – das geht über das Steuerrecht hi-naus – wie zum Beispiel Drogengeld, Geld aus Geldwä-sche usw. ist vom Schutz der Anonymität explizit ausge-nommen. Kollegin Kressl und Herr Poß, beide SPD,fordern, das Abkommen zurückzuziehen. Ja, wunderbar,dann passiert in den nächsten Jahren in dieser Angele-genheit überhaupt nichts mehr.

(Nicolette Kressl [SPD]: Das ist doch nicht wahr!)

Dann bleiben wir beim Status quo; denn dies ist eine di-gitale Entscheidung: Ja oder Nein, Zustimmung oderAblehnung. Nachverhandeln geht einfach nicht. Mit in-ternationalen Verträgen kann auch der Vermittlungsaus-schuss nicht befasst werden.

(Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch Ihr Problem!)

Das wissen Sie ganz genau. Trotzdem gaukeln Sie denMenschen vor, dass es hier noch Verhandlungsmassegebe, um den Preis hochzutreiben oder die Wahrung desBankgeheimnisses, das in der Schweiz sehr wichtig ist,auszuhebeln. Ich nenne das: Die Leute hinters Licht füh-ren.

(Beifall bei der FDP und Abgeordneten der CDU/CSU)

Das jetzt unterschriebene Abkommen ist das Ergebnislanger bilateraler Verhandlungen, ein Kompromiss zwi-schen den Interessen zweier souveräner Staaten. Mehrgeht an diesem Punkt nicht. Auch die Schweiz ist nichtnur glücklich damit.

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Dr. Birgit Reinemund

(Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Woher wissen Sie das? Waren Sie dabei?)

Ohne dieses Abkommen wird über Jahre hinweg garnichts mehr passieren. Das heißt, dass die bestehendenSteuerforderungen kontinuierlich verjähren würden. Wiepasst das mit dem von Ihnen viel beschworenen Gerech-tigkeitsempfinden zusammen?

Mit diesem Abkommen haben wir enorm viel er-reicht. Steuerflucht in die Schweiz wird deutlich er-schwert. Durch einen Informationsaustausch wird esnicht mehr nötig sein, zur Bekämpfung von Steuerhin-terziehung und Steuerbetrug illegal beschaffte Daten aufCDs zu kaufen. Diese rechtliche Grauzone entfällt. FürInhaber von anonymen Konten in der Schweiz gibt esnur noch drei Möglichkeiten: anonym nachversteuern,Selbstanzeige machen oder das Konto schließen. Wennnach Unterzeichnung des Abkommens Geld aus derSchweiz abgezogen wird, meldet die Schweiz, wohin.

(Nicolette Kressl [SPD]: Pauschal für alle ab-gezogenen Gelder!)

– Sie sind gleich dran, Frau Kressl.

(Nicolette Kressl [SPD]: Falsche Sachen kann man doch nicht erzählen!)

Deutschland erhält Steuernachzahlungen auf Altver-mögen. Künftige Kapitalerträge werden unmittelbar miteiner Abgeltungsteuer in Höhe von 26,3 Prozent belegt.Das entspricht dem in Deutschland geltenden Abgel-tungsteuersatz inklusive Solidaritätszuschlag. Das istalso eine Eins-zu-eins-Besteuerung. Wir rechnen einma-lig mit einem Betrag in Höhe von circa 10 MilliardenEuro und in der Folge mit rund 1,6 Milliarden Euro jähr-lich. Davon profitieren Bund, Länder und Kommunengleichermaßen. Wie wollen Sie den klammen Kommu-nen erklären, dass Sie über Jahre hinweg großzügig da-rauf verzichten wollen?

Steuerhinterziehung und Steuerbetrug wird mit die-sem Abkommen ein weiterer Riegel vorgeschoben. HerrSteinbrück hat heute Morgen in diesem Haus gesagt: Be-kämpfung von Steuerhinterziehung und Steuerbetrug istein Beitrag zur Stabilität des Haushalts und ein Beitragzur Stabilität Europas. Mehr braucht man dazu eigent-lich nicht zu sagen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:Jetzt hat der Kollege Martin Gerster für die SPD-

Fraktion das Wort.

(Beifall bei der SPD)

Martin Gerster (SPD):Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Ich bin, ehrlich gesagt, noch immer fassungslosüber die Redebeiträge vonseiten der FDP-Fraktion. FrauDr. Reinemund, dass wir im Finanzausschuss die Chancegehabt haben sollen, die Verhandlungen mit der Schweizkontinuierlich und intensiv zu begleiten,

(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD)

dazu muss ich sagen: Das ist überhaupt nicht wahr! Wirhatten doch überhaupt keine Chance, diese Verhandlun-gen zu begleiten. Sie haben das im stillen Kämmerleinmit sich selbst ausgemacht.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten derLINKEN – Widerspruch bei der FDP)

Ich kann noch sagen, Frau Dr. Reinemund: Bei Ihnendrücke ich ein Auge zu;

(Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Das ist lieb!)

denn Sie sind schließlich neu im Bundestag, das ist Ihreerste Wahlperiode. Aber, Herr Wissing, das hier ist Ihredritte Wahlperiode. Darüber, dass Sie sich mit Ihrer Er-fahrung hier hinstellen und erklären, dass unter denSPD-Finanzministern in diesem Punkt überhaupt nichtspassiert ist,

(Dr. Volker Wissing [FDP]: Das ist richtig!)

bin ich fassungslos. Wo waren Sie denn all die Jahre hierim Finanzausschuss des Deutschen Bundestages?

Es waren SPD-Finanzminister, die sich dieses The-mas angenommen haben: Hans Eichel hat das ThemaZinsrichtlinie engagiert vorangebracht.

(Beifall bei der SPD)

Es war der Finanzminister Peer Steinbrück, der auf dieOECD-Standards hingewiesen hat und zusammen mitden Franzosen das Londoner Kommuniqué durchge-drückt hat.

(Beifall bei der SPD – Widerspruch bei der FDP)

Auch hat er erreicht, dass die Schweiz auf die SchwarzeListe kam. Das war doch der Ausgangspunkt des Gan-zen.

(Beifall bei der SPD – Zuruf von der FDP: Heiße Luft!)

Was Sie hier letztendlich bringen, ist gar nichts. Manmuss Ihnen zugutehalten: Ihre Position beim ThemaSteuerhinterziehung ist konsequent. Die Frage ist nur:Auf welcher Seite stehen Sie eigentlich? Das ist ja derPunkt.

(Beifall bei der SPD)

Herr Wissing, kein einziges Mal haben Sie das Wort„Steuerhinterziehung“ überhaupt in den Mund genom-men. Um dieses Thema geht es hier aber.

(Beifall bei der SPD – Joachim Poß [SPD]: Herr Wissing kennt keine Steuerflüchtlinge!)

Schauen wir einmal, was Sie gemacht haben und wo-für Sie die Verantwortung tragen. Welche Landesregie-rung hat sich denn geweigert, eine CD mit Daten vonSteuerhinterziehern zu kaufen? Das war die schwarz-gelbe Landesregierung von Baden-Württemberg. Abge-wählt worden sind Sie dafür.

(Beifall bei der SPD)

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Martin Gerster

Wer hat denn dafür gesorgt, dass die strafbefreiendeSelbstanzeige weiterhin gilt? Das waren Sie! Wir woll-ten sie abschaffen. Aber Sie waren dagegen.

Ich muss sagen: Dieses Steuerabkommen mit derSchweiz ist wirklich der Gipfel. Die Schweiz ist zwarein Alpenland, das ist klar. Aber das, was jetzt auf demTisch liegt, ist wirklich der Gipfel. Man muss ganz klarsagen, dass sich die Schweizer darüber freuen. Ein Blickin die Schweizer Medien bestätigt diese Vermutung. DieNeue Zürcher Zeitung schrieb schon am 16. August die-ses Jahres – ich darf zitieren –:

Das ist wohl das grösste Plus: Der Schweizer Seiteist es gelungen, die Interessen der Kunden in uner-wartet hohem Mass zu schützen.

Darüber freuen sich die Schweizer. Aber die Frage istdoch: Was sind denn die Interessen der Kunden? Wersind denn diese Kunden überhaupt? Das sind Steuerhin-terzieher. Das sind Steuerbetrüger. Das sind Steuerkrimi-nelle.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Deswegen muss man sich fragen: Was ist denn das fürein Lob, welches die Neue Zürcher Zeitung der Schwei-zer Regierung ausstellt? Das ist ein Armutszeugnis fürIhr Verhandlungsergebnis in Bezug auf dieses Abkom-men.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Letztendlich muss man sagen: In Zukunft wird sichein Steuerbetrüger entscheiden können: Eine Möglich-keit ist die strafbefreiende Selbstanzeige. Wir wollten sieabschaffen – ich habe es erwähnt –; Sie waren dagegen.Jetzt gibt es eine neue Variante: Es besteht die Möglich-keit, die Abgeltungsregelung zu wählen und weiterhinanonym zu bleiben. Es ist aus meiner Sicht ein Skandal,dass wir diesen kriminellen Menschen, die uns Geldervorenthalten, die uns gehören und die für Investitionenin Bildung und Verkehr wichtig wären, zusichern, gegenZahlung anonym zu bleiben.

(Dr. Volker Wissing [FDP]: Was schlagen Sie denn vor?)

Das ist schwarz-gelbe Steuerpolitik. Das ist Ablasshan-del pur, was hier gemacht wird.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Im Übrigen muss ich sagen: Was mich an dieser gan-zen Debatte stört, ist, dass man von einer „Steuersünde“spricht.

(Zuruf von der CDU/CSU: Aber selber von Ablasshandel reden!)

Hier wird doch keine Sünde begangen, sondern hier han-delt es sich um ein ganz gezieltes Kalkül, am deutschenFinanzamt und damit auch an uns allen vorbei Geld indie Schweiz zu transferieren. Das ist ein Betrug an unse-rer Gesellschaft insgesamt.

Der von Ihnen vorgelegte Entwurf für ein Steuerab-kommen mit der Schweiz ist und bleibt ein Schlag insGesicht aller ehrlichen Steuerzahler.

(Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Was passiert, wenn Sie es ablehnen?)

In der FAZ vom 27. September war zu lesen, zu welchemErgebnis Experten gekommen sind, die die Folgen IhresAbkommens noch einmal genau durchgerechnet haben.Das Ergebnis war: Je dreister und konsequenter die Steu-erhinterziehung in Richtung Schweiz, desto mehr profi-tieren die Betrüger von Ihrem Abkommen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Deswegen lehnen wir dieses Abkommen ab. Wir wer-den im Bundestag und zusammen mit den SPD-geführ-ten Bundesländern dafür sorgen, dass es nicht in der vor-gesehenen Form durchkommt.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:Peter Aumer hat jetzt das Wort für die CDU/CSU-

Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Peter Aumer (CDU/CSU):Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren derSPD, ein konstruktiver Beitrag waren Ihre Debattenbei-träge in dieser Aktuellen Stunde sicherlich nicht.

(Joachim Poß [SPD]: Wir haben Ihnen wehgetan! – Nicolette Kressl [SPD]: Vielleicht haben Sie ja an-gefangen, nachzudenken! – Weitere Zurufe von der

SPD)

Sie haben gefragt, auf welcher Seite wir stehen, HerrGerster. Wir stehen auf der Seite der Steuergerechtigkeit.Das war das Ziel des Bundesfinanzministers in den Ver-handlungen.

(Joachim Poß [SPD]: Sie haben doch vorhinbei einigen Beiträgen auch so nachdenklichausgeschaut!)

Verhandlungen heißt: Es gibt zwei Seiten, zum einen dieSchweiz und zum anderen die Bundesrepublik Deutsch-land, und man muss eine Einigung finden, um das zurichten, was in den letzten Jahrzehnten nicht gelungenist. Das ist weder Ihrem noch unserem Finanzministerbisher gelungen.

(Nicolette Kressl [SPD]: Blödsinn!)

Man sollte in dieser Debatte zur Kenntnis nehmen,dass wir einen Vorschlag vorgelegt haben, zu dem dieSchweiz ihr Einverständnis gibt, und zu dem der Bun-destag und hoffentlich auch die Bundesländer ihr Ein-verständnis geben, damit man endlich für Steuergerech-tigkeit sorgen kann.

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Peter Aumer

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Ich glaube, es ist das Ziel all derjenigen in diesem Haus,dass wir die grundsätzlichen Besteuerungsmerkmale ein-halten. Die Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit istdas Ziel, das, glaube ich, uns alle in diesem HohenHause verbindet.

Der Streit mit der Schweiz hat, wie gesagt, jahrzehn-telang angehalten. Wir haben jetzt ein Ergebnis erzielt,das so nicht absehbar war. Aber jetzt tönen Sie, meineDamen und Herren der SPD bzw. Ihr ehemaliger Bun-desfinanzminister, laut in den Medien: Lieber kein neuesDoppelbesteuerungsabkommen mit der Schweiz als die-sen Entwurf.

(Nicolette Kressl [SPD]: Das ist gar kein Dop-pelbesteuerungsabkommen! – Joachim Poß[SPD]: Es ist ein Abkommen, aber kein Dop-pelbesteuerungsabkommen!)

– Das war ein Zitat, Herr Poß. Dann hat das Ihr ehemali-ger Bundesfinanzminister in der Zeit falsch dargestellt. –Das kann nicht sein. Das Abkommen ist ein guter Bei-trag zu mehr Steuergerechtigkeit. Was Gegenwart undZukunft angeht, ist die Besteuerung in unserem Landgleichgestellt. Für die Vergangenheit haben wir aus mei-ner Sicht einen tragfähigen Kompromiss gefunden.

Ich habe in der letzten Woche im Handelsblatt einschönes Zitat von Torsten Riecke zur Bewertung desvereinbarten Abkommens gelesen: „Ein Kassenwart, derda nicht zugreift, wäre ein Dummkopf.“ Ich gebe ihmrecht. Man muss Verhandlungsergebnisse akzeptieren.Herr Borjans, ich verstehe nicht, dass sich die Länderdieses Ergebnis nicht zu eigen machen. Ich glaube, es istein guter Weg in die Zukunft, dass wir diese möglichenSteuereinnahmen auch realisieren.

(Nicolette Kressl [SPD]: Darum geht‘s! Es geht um Rauskaufen!)

– Es geht nicht um „Rauskaufen“. Wir diskutieren um ei-nen Punkt, nämlich Steuergerechtigkeit.

Die große Frage ist ja: Was würde passieren, wenndieses Steuerabkommen nicht zustande kommt? KönnenSie uns garantieren, dass wir ein besseres Abkommenbekommen als das bisherige, Frau Kressl? Dann könnteman sicherlich noch einmal in die Verhandlungen ein-steigen. Ich glaube aber, dass kein besserer Kompromissals der, den wir jetzt gefunden haben, möglich ist. Da-rum bitte ich Sie und auch die Bundesländer, diesemKompromiss zuzustimmen, mit dem man nach Jahrenund Jahrzehnten ungelöster steuerlicher Streitigkeitenendlich einen Kompromiss zur Sicherstellung einer ef-fektiven Besteuerung für die Zukunft gefunden hat.

Ich glaube, der Bundesfinanzminister hat die Einzel-heiten des Abkommens ausführlich dargelegt. Deswegenmöchte ich nicht mehr darauf eingehen.

(Zuruf von der SPD: Wir machen es!)

– Meine sehr geehrten Damen und Herren der SPD,Sie machen das nicht wirklich. Man sollte die Tatsachenimmer klar und korrekt darstellen. Wenn man die ganzen

Debatten auf Ihrer Seite verfolgt, dann zeigt sich ein ge-wisses Verdrehen der Tatsachen und Wirklichkeiten. Ichbitte Sie, das zur Kenntnis zu nehmen. Auch die Linkenhaben das Abkommen nicht ganz verstanden.

(Lachen bei der LINKEN)

Die Brücke zur Ehrlichkeit ist auch ein Beitrag zu dertragfähigen Lösung für die Besteuerung, die wir für dieZukunft gefunden haben, und zu mehr Steuergerechtig-keit. Das ist ja Ihr Ziel, meine sehr geehrten Damen undHerren der SPD. Deswegen haben Sie die heutige Aktu-elle Stunde ja beantragt. Unser Ziel als christlich-liberaleKoalition ist, dass jeder seinen Beitrag leistet, unserStaatswesen zu finanzieren. Deswegen bitte ich Sie undauch die von Ihnen geführten Bundesländer, dieses Ab-kommen mit zu unterstützen und diesen Weg gemeinsammit uns zu gehen. Damit ist ein tragfähiger Kompromissgefunden worden, der in eine gute Zukunft führt.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:Lothar Binding hat das Wort für die SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD)

Lothar Binding (Heidelberg) (SPD):Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Sehr verehrte Damen und Herren! Gerade war von Ver-drehung der Tatsachen die Rede. Frau Reinemund hatgesagt, der Finanzausschuss habe diesen Prozess konti-nuierlich begleitet. Wenn das wahr ist, dann handelt essich auch um ein gutes Abkommen. Unter dieser Bedin-gung müsste man das tatsächlich so beurteilen. In Wahr-heit haben die Beamten gut verhandelt. Aber die, die espolitisch zu verantworten haben, haben eine riesigeChance vertan; denn mithilfe des Parlaments wäre dieVerhandlungsmacht um Potenzen stärker gewesen. Manhätte durch eine parlamentarische Begleitung viel mehrerreichen können. Aber auf eine solche Begleitung hatman aus lauter Geheimniskrämerei verzichtet. Das warein ganz schwerwiegender Fehler.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetender LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

Ich will ein Wort zur Vergangenheit sagen. Es wurdeoft auf die letzten zehn Jahre verwiesen. Vor drei, vierJahren hatten wir eine Krise. Es musste gehandelt wer-den. Was passierte? Konjunkturprogramm I und Kon-junkturprogramm II wurden aufgelegt, es gab eine groß-zügige Regelung zur Kurzarbeit. Und in den letzten zweiJahren hatten wir einen ganz guten Aufschwung zu ver-zeichnen. Das Wachstum war recht ordentlich. Die Ar-beitslosigkeit sank. Was passiert nun? Ganz langsam be-ginnt die Politik der schwarz-gelben Regierung in denletzten zwei Jahren zu wirken. Die Wachstumserwartun-gen trüben sich ein.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Wider-spruch bei der CDU/CSU und der FDP – Zuruf

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Lothar Binding (Heidelberg)

von der FDP: Arbeitslosenzahlen sinken!Ganz genau!)

Die Dynamik der Wirtschaft lässt nach.

Genau hier besteht der Konnex zur Vergangenheit:Ein anderes Verhandlungsergebnis wäre auf einer ande-ren Grundlage möglich gewesen. Ich erinnere Sie nur andas Engagement von Frankreich, den USA, der OECDund Deutschlands zur Zeit der Großen Koalition. Der da-malige Finanzminister Peer Steinbrück hat, aufbauendauf der Zinsrichtlinie sowie einer schwarzen und einergrauen Liste, überhaupt erst die Basis für Überlegungengelegt, die Sie jetzt für sich reklamieren.

(Beifall bei der SPD)

Aber mit dieser Basis sind Sie so schlecht umgegangen,dass einem angst und bange werden muss. Es war näm-lich die FDP, die die betreffenden Länder permanentdurch Leisetreterei hofiert hat und allergrößtes Verständ-nis für das Bankgeheimnis

(Nicolette Kressl [SPD]: Genau!)

und alles andere, das Steuerhinterziehern das Leben in-ternational erleichtert, aufgebracht hat.

(Beifall bei der SPD – Joachim Poß [SPD]: Genau, Spezialisten!)

Wir erkennen, dass sich die Führungsschwäche in denVerhandlungen auf europäischer Ebene – das zeichnetsich an ganz vielen Fronten ab – in dem nun vorliegen-den Abkommen widerspiegelt. Das zwischenstaatlicheAbkommen zu bisher unversteuerten Kapitalerträgenzeitigt nicht das Ergebnis, das Sie hier vortragen. FrauReinemund hat gesagt, die Schweiz zeige doch an, waspassiert. Ich frage Sie: Zeigt die Schweiz uns an, werwelchen Betrag anlegt?

(Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Und die Schuh-größe!)

– Sie sagen „die Schuhgröße“. Daran sehe ich genau,dass Sie überhaupt nicht kapieren, warum wir nicht er-fahren, was dort passiert. – Das Problem ist, dass an-onym bleibt, wer was zu welcher Zeit in welcher Höhenachzuversteuern hat. Das wäre genauso, als wenn einArbeitnehmer morgens zum Finanzamt geht und sagt:Ich versichere Ihnen, dass ich diesen Monat nur 97 Eurozu versteuern habe. Jetzt glauben Sie es mir doch end-lich! – Nein, wir machen den Bock zum Gärtner. Das istein riesengroßes Problem.

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

In der Schweiz gibt es Geschäftsmodelle, die aus-weislich der entsprechenden Prospekte auf Vertrauen,Vertraulichkeit, Seriosität und Schutz der Privatsphäreberuhen. Genau das bleibt erhalten. Der Kollege, dervorhin aus der NZZ zitiert hat, hat es auf den Punkt ge-bracht: Die Schweizer jubilieren, weil Vertraulichkeitgegenüber allen weiterhin erhalten werden kann. Nie-mand fühlt sich erwischt. Steuerhinterziehung bleibtweiterhin möglich und ist nur eine Ordnungswidrigkeit.Hier gibt es einen großen Unterschied in der Rechtsauf-

fassung zwischen der Schweiz und Deutschland. Es solldurch eine anonyme Abgeltungsteuer auf Erträge ausVermögen jede weitere Zahlungspflicht abgegolten wer-den.

(Dr. Volker Wissing [FDP]: Was bitte? Wo?)

Damit wird Steuerhinterziehung verschleiert und als De-likt endgültig beendet. Das ist das eigentliche Problem.

(Zuruf des Abg. Dr. Volker Wissing [FDP])

Das politische Desaster besteht aber in etwas ganz an-derem. Die Österreicher sagen jetzt zu Recht: Das ist einwunderbarer Präzedenzfall; so etwas wollen wir auchhaben. Die Luxemburger sagen: Toll, so ein schönes Ab-kommen wie das mit der Schweiz schließen wir auch ab. –Sie merken, was nun passiert: Wir haben eine moralischeAbwärtsspirale in Europa, und Sie haben den erstenSchritt zur Errichtung dieser Spirale getan. Wenn wirdiesen Vertrag nicht stoppen, wird das zu einem ganzgroßen Problem führen; denn die öffentlichen Aufgabenmüssen steuerfinanziert sein.

(Dr. Volker Wissing [FDP]: Wenn Sie ihn stop-pen, kriegen Sie gar nichts!)

Die fairen Steuerzahler – deshalb ist die AktuelleStunde so wichtig – bekommen das Signal, dass es sichauch künftig lohnt, fair und korrekt Steuern zu bezahlen.Wir zumindest reden der Steuerhinterziehung nicht dasWort, auch nicht in internationalen Verträgen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten derLINKEN – Dr. Volker Wissing [FDP]: Das istalles falsch, Herr Binding!)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:Bettina Kudla hat das Wort für die CDU/CSU-Frak-

tion.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Bettina Kudla (CDU/CSU):Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen

und Herren! Zunächst möchte ich ein Wort an dieAdresse des Finanzministers von Nordrhein-Westfalenrichten, der uns gründlich belehrt hat.

(Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Zu Recht! Das war nötig!)

Herr Minister, wer Milliarden von Steuereinnahmen als„Feder“ bezeichnet, der braucht sich nicht zu wundern,wenn er einen nicht verfassungskonformen Landeshaus-halt hat.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU undder FDP – Lachen bei Abgeordneten der SPD– Nicolette Kressl [SPD]: So billig!)

Das Abkommen mit der Schweiz ist sehr gut, und esist im Interesse der Bürger.

(Nicolette Kressl [SPD]: Das ist ja unglaub-lich!)

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Bettina Kudla

Warum? Es sichert Einnahmen für den Staat, und das aufJahre hin und kontinuierlich. Es schafft mehr Steuerge-rechtigkeit. Warum sollen die Bürger, die ihr Geld in derSchweiz anlegen, keine Steuern zahlen? Das ist ein Pro-blem seit Jahrzehnten. Bei diesem Problem schafft dasAbkommen nun Abhilfe.

(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Na, na! Wenn es denn so wäre!)

Es ist nicht nachvollziehbar, warum die Opposition die-ses Gesetz blockieren will. Ich darf Sie bitten, sehr kri-tisch zu hinterfragen, ob man überhaupt verantwortenkann, dass diese Einnahmen dem Staat entgehen.

Ich verspreche mir aber noch einiges andere von die-sem Abkommen. Ich verspreche mir auch etwas mehrAnalyse, warum die Bürger Steuern hinterziehen undwarum sie ihr Geld nicht in Deutschland anlegen, son-dern es ins Ausland schaffen.

(Manfred Zöllmer [SPD]: Sagen Sie doch mal!)

Ich denke, unser Ziel muss es sein, gute Rahmenbe-dingungen für unsere Bürger zu schaffen, damit sie ihrGeld im Inland anlegen.

(Manfred Zöllmer [SPD]: Die Steuerhinterzie-her?)

Das gilt sowohl für Deutschland als auch für alle ande-ren europäischen Staaten. Ursache der Staatsschulden-krise ist auch der hohe Kapitalexport.

(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Was?)

Gerade für Deutschland ist es ein Problem, dass die An-leger nicht in Deutschland investieren, sondern ihr Geldaus Renditegründen im Ausland anlegen. Ich denke, essollte Ziel der Politik sein, dafür zu werben, dass dieBürger ihren eigenen jeweiligen Nationalstaat unterstüt-zen, zu Einnahmen ihres eigenen Staates beitragen, derihnen die demokratischen Freiheitsrechte sichert und ih-nen eine attraktive Infrastruktur bietet.

(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Wollen Sie die Steuerflucht jetzt rechtfertigen, oder wie?)

– Nein, ich möchte sie nicht rechtfertigen, sondern

(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Verständnis dafür erwecken!)

ich möchte von einem plumpen Schwarz-Weiß-Denken,wie es die Opposition pflegt, wegkommen.

Die Einnahmen sind im Hinblick auf die schwierigenöffentlichen Finanzen in Deutschland von ganz besonde-rer Bedeutung. Oberstes Ziel muss sein, die öffentlichenHaushalte weiter zu konsolidieren. Die SPD hatte zumBeispiel überhaupt keine Probleme damit, ständig neueVorschläge vorzulegen, die den Bürger mehr belasten,obwohl sie genau weiß, dass mit einer Einnahmeerhö-hung allein keine Konsolidierung der öffentlichen Finan-zen möglich ist.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Es ist aber wichtig, die bestehenden Gesetze umzuset-zen. Dazu gehören mehr Steuergerechtigkeit und eineadäquate Besteuerung der Kapitaleinkünfte.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU undder FDP – Manfred Zöllmer [SPD]: Ja, warummachen Sie das dann nicht?)

Ich denke, ein Grund dafür, dass Sie diese AktuelleStunde heute ziemlich aufgeregt beantragt haben,

(Joachim Poß [SPD]: Das machen wir jetztjede Woche mit Ihnen! Bis Sie was gelernt ha-ben! – Gegenruf des Abg. Peter Aumer [CDU/CSU]: Herr Poß, von Ihnen kann man dochnichts lernen!)

lag auch darin, dass Sie von dem guten Ergebnis, das Fi-nanzminister Schäuble erzielt hat, ein bisschen über-rascht waren.

(Joachim Poß [SPD]: Die Frage ist nur, was davon stimmt!)

Ich meine, das Ergebnis ist vor dem Hintergrund derschwierigen Finanzprobleme, die momentan in Europazu lösen sind, umso anerkennenswerter. Wir haben heuteVormittag den Rettungsschirm EFSF beschlossen. Ichfinde es gut, dass die Bundesregierung sich nicht alleinauf Euro-Themen konzentriert, sondern auch anderewichtige Finanzthemen in Deutschland angeht.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:Nicolette Kressl hat das Wort für die SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD)

Nicolette Kressl (SPD):Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ich glaube, es besteht Anlass, zuerst noch etwas zu der„kontinuierlichen Begleitung“ im Finanzausschuss zusagen, Frau Reinemund.

(Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Sie waren dochbei jeder Sitzung dabei! – Dr. Volker Wissing[FDP]: Alles, was vorlag, haben Sie bekom-men!)

Erster Punkt: Wir haben unter TOP 0 kontinuierlichbeantragt, Informationen zu diesem Thema zu bekom-men. Aber es gab immer nur den gleichen Satz: Wir ha-ben Geheimhaltung vereinbart. Wir können Ihnen dazunichts sagen, nicht einmal zum Zeitplan.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetendes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN –Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Genau so wardas unter der Leitung des Ausschussvorsitzen-den Wissing!)

So sieht eine kontinuierliche parlamentarische Beglei-tung eigentlich nicht aus. Das kann man im Übrigennachlesen.

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Nicolette Kressl

Zweiter Punkt: Der Herr Minister hat gerade gesagt,wir sollten einmal unvoreingenommen prüfen. Lassenwir doch einmal die Kanzlei Flick Gocke Schaumburgzu Wort kommen, die das unvoreingenommen geprüfthat, weil sie es im Grunde genommen nicht so schlechtfindet. Ich zitiere:

Einen echten steuerlichen Vorteil wird dagegen der-jenige erzielen, der in den letzten zehn Jahren nichtnur versteuerte Einnahmen in Form von Kapitalein-künften erzielt hat, sondern darüber hinaus in er-heblichem Maße sein Konto mit weiteren Schwarz-einkünften wie nicht deklarierten Erbschaften oderSchenkungen, verschwiegenen Einkünften aus Ge-werbebetrieb, Provisionen und Tantiemen gespeisthat. Er liegt dann maximal bei einer Belastung vonunter 34 Prozent, während er bei einer Normalbe-steuerung weit über 50 Prozent liegen würde. Wennman so will,

– so die Kanzlei –

liegt hier eine Übervorteilung von Fällen schwererSteuerhinterziehung vor, die nicht sachgerecht ist.Dies wirft gravierende verfassungsrechtliche Be-denken auf und wird die politische Durchsetzbar-keit erschweren.

Wohl wahr, sagen wir!

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetender LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

Ich möchte noch einmal etwas zu der „kontinuierli-chen Begleitung“ sagen: Die herablassende Art, dieschon vor einem Jahr vom Bundesfinanzminister in In-terviews nachlesbar war nach dem Motto „Die Länderwerden schon zustimmen. Sie werden überhaupt keineProbleme damit haben. Deswegen mache ich mir wegender Durchsetzbarkeit keine Sorgen“, trägt wahrhaftignicht zu einem fairen Umgang miteinander bei.

(Beifall bei der SPD)

Bei einer Entscheidung wie dieser, die weitreichendeKonsequenzen hat, hätte ich erwartet, dass man kon-struktiv miteinander redet, statt in Interviews verlautenzu lassen, dass die Bundesregierung die Länder schon ir-gendwie kriegen werde. Das entspricht nicht dem, wieman hier miteinander umgehen sollte.

(Beifall bei der SPD)

Nächster Punkt: Herr Minister Schäuble, Sie haben inIhrer heutigen Rede kein einziges Wort zu den Vorwür-fen und Analysen in den letzten Tagen gesagt, was dieFrage angeht, inwieweit dieses Abkommen umgangenwerden kann. Ich möchte Ihnen einmal den Text einStück weit zitieren:

Schweizerische Zahlstellen werden künstlicheStrukturen, bei denen sie wissen,

– nicht vermuten –

dass einziger oder hauptsächlicher Zweck

– nicht ein nebengeordneter Zweck, sondern der einzigeoder hauptsächliche Zweck –

die Umgehung der Besteuerung … ist, weder selberverwalten noch deren Verwendung unterstützen.

Ich brauche das nur durchzulesen und könnte fünfUmgehungsmöglichkeiten daraus ableiten. Das Bündnisgegen Steuerhinterziehung hat Ihnen deutlich gemacht,welche Umgehungsmöglichkeiten darin stecken.

Wenn Sie schon von uns einfordern, dass wir uns sach-lich damit auseinandersetzen – was wir hiermit tun –,dann hätte ich erwartet, dass irgendeiner der Redner derRegierungsfraktionen bzw. die Regierung heute ein Wortzu diesen fachlich schwerwiegenden Bedenken sagt.Nichts haben Sie gesagt.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Sie setzen sich nicht mit der fachlichen Seite auseinan-der. Das Einzige, was Sie in Ihrer Verzweiflung tun, ist,ein bisschen auf uns herumzuklopfen.

(Zurufe von der CDU/CSU: Oh! – Dr. VolkerWissing [FDP]: Das war eine heftige Kritik anHerrn Poß!)

Das ist absolut lächerlich.

Mit Blick auf Europa halte ich folgenden Punkt fürproblematisch: Es ist nachzulesen, dass sich inzwischenÖsterreich und Luxemburg den Verhandlungen über eineVertiefung der europäischen Zinsrichtlinie verweigern.Im Bericht des Bundesfinanzministeriums an den Fi-nanzausschuss wird dieses Verhalten begründet: Diesebeiden Länder wollen so behandelt werden wie dieSchweiz, also Abgeltung und kein Informationsaus-tausch. Da sie aber ein entsprechendes Gefälle erwarten,verhandeln sie nicht über eine Erweiterung beim auto-matischen Informationsaustausch.

Zu den national begründeten Einwänden kommthinzu, dass Sie auf europäischer Ebene in diesem Be-reich zum Bremser werden. Deutschland war unter Fi-nanzminister Hans Eichel immer ein Initiator für Weiter-entwicklungen auf diesem Feld. Er hat lange um dieZinsrichtlinie gekämpft.

(Holger Krestel [FDP]: Er hat uns auch Grie-chenland geschenkt! Danke noch einmal!)

Schließlich war er erfolgreich. Jetzt gehen wir aber mitdiesem Abkommen einen großen Schritt zurück. Dassind Punkte, die Sie nicht klären können.

Aufgrund unserer fachlichen Bedenken können wirdem Abkommen nicht zustimmen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Birgit Reinemund [FDP]:Was haben wir dann?)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:Der Kollege Ralph Brinkhaus hat jetzt das Wort für

die CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

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Ralph Brinkhaus (CDU/CSU):Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Am

Ende der Debatte macht es wahrscheinlich Sinn, nocheinmal zu sagen, um was es überhaupt geht.

(Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP –Dr. Thomas Gambke [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Haben Sie es denn verstanden,Herr Brinkhaus?)

Seit Jahrzehnten ist es so, dass Menschen aus Deutsch-land legal oder illegal erworbenes Geld in die Schweizbringen und dieses Geld dort teilweise – auf diese Fest-stellung lege ich Wert; vorhin wurden viele ehrliche Bür-ger von Rednern der SPD diskreditiert – nicht der Steuerunterwerfen. Wir haben es, egal ob wir einen schwarzenoder einen roten Finanzminister hatten, nicht geschafft,dagegen etwas zu unternehmen.

Was wäre das Beste gewesen? Das Beste wäre gewe-sen, wenn die Schweizer uns einfach alle Daten offenge-legt hätten. Dann hätten wir ein ordentliches Besteue-rungsverfahren einleiten können – nun denn. DieSchweizer haben gesagt, dass sie das nicht machen.

Jetzt könnte man darauf in der Weise reagieren, dassman sich beleidigt zurückzieht und gar nichts macht.Man kann aber auch verhandeln. Genau das hat die Bun-desregierung gemacht. Sie hat verhandelt, und sie hat einErgebnis erzielt. Über dieses Ergebnis kann man strei-ten.

(Dr. Thomas Gambke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, genau!)

Um dieses Ergebnis zu bewerten und darüber zu streiten,sind wir im Übrigen hier.

Ich möchte in diesem Zusammenhang noch daraufhinweisen, dass das Vereinigte Königreich ein ähnlichesErgebnis erzielt hat. So schlecht, wie Sie behauptet ha-ben, kann die Verhandlungsführung also nicht gewesensein. Denn die Briten sind nicht unbedingt für ihre Groß-zügigkeit im Umgang mit Steuersündern bekannt.

Am Ende dieser Debatte möchte ich noch drei Gedan-ken zu diesem Prozess ausführen.

Erstens. Herr Poß, ich schätze Sie sonst eigentlichsehr. Aber was Sie heute gesagt haben – das gilt auch fürandere Beiträge der Opposition –, war nicht sonderlichnett; denn in Ihrer Rede haben Sie den politischen Geg-ner diskreditiert. Es ist in Ordnung, dass man in einerDebatte das Ergebnis kritisiert. Aber es ist absolut nichtin Ordnung, zu behaupten, dem Verhandlungsprozesshätten unlautere Motive zugrunde gelegen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wenn wir anfangen, so zu handeln, wie Sie, Herr Poß,und wie Herr Gerster und Frau Kressl es gemacht haben,dann fällt das auf uns alle zurück. Im Interesse der politi-schen Kultur in diesem Hause sollte man, auch wennman das Ergebnis nicht teilt, anerkennen, dass das Ver-handlungsteam vom Bundesfinanzministerium nach bes-tem Wissen und Gewissen versucht hat, ein gutes Ergeb-nis für die Bundesrepublik Deutschland zu erzielen. Daslasse ich mir nicht kaputtmachen.

(Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Da bleibt allen das Klatschen im Halse stecken!)

Zweitens. Wie gehen wir mit anderen Ländern um?Die Schweiz hat nicht unbedingt dazu beigetragen, dieSteuerehrlichkeit in Deutschland zu erhöhen. Das mussman negativ bewerten; das ist überhaupt keine Frage.Aber man muss auch Folgendes bewerten: a) dass dieSchweiz ein souveränes Land ist, b) dass die Schweiz inallen Fragen, die Deutschland betroffen haben, an unse-rer Seite gestanden hat und – um den historischen Bogenzu spannen – c) dass uns die Schweiz in Zeiten, in denenwir es eigentlich nicht verdient hatten, als Erste wiederdie Hand gereicht hat. Dementsprechend halte ich es fürunerträglich, wie man mit diesem Land umgeht und wieman es diskreditiert.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

In der Politik in Deutschland hat eine bestimmte Ein-stellung Einzug gehalten: Wir, die wir momentan in ei-ner Position der Stärke sind, meinen, dass wir es unsleisten können, anderen Ländern gute Ratschläge zu er-teilen. Ich bin da sehr vorsichtig.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Es wird momentan sehr genau beobachtet, wie Deutsch-land mit seiner wirtschaftlichen Stärke und seiner Situa-tion umgeht und wie Deutschland international auftritt.

(Dr. Thomas Gambke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!)

Die Debatte hier hat nicht dazu beigetragen, das Ver-trauen anderer Länder in die deutsche Politik zu stärken.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Dritter Punkt: die Frage nach der Gerechtigkeit. We-gen dieser Frage meinten Sie heute eine Aktuelle Stundeverlangen zu müssen, was mich, ehrlich gesagt, verwun-dert hat, und zwar deswegen, weil wir natürlich ein ganznormales Gesetzgebungsverfahren zu diesem Doppelbe-steuerungsabkommen wie zu allen anderen Doppelbe-steuerungsabkommen auch durchführen. Aber es schienim Sinne der Sozialdemokraten zu sein, eine gewisseSkandalisierung herbeizuführen.

(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Das ist ja ein Skandal!)

Ich habe am Anfang meiner Rede ausgeführt, warum dasnicht gut ist.

Zur Frage der Gerechtigkeit: Ja, das Ganze ist eineFrage der Gerechtigkeit, ob diejenigen Menschen, diegegen Gesetze verstoßen haben, bestraft werden. Es istaber auch eine Frage der Gerechtigkeit, ob wir die Steu-ergelder einnehmen, die uns zustehen. Es ist im Übrigeneine Frage der Gerechtigkeit, ob es staatliches Handelnist, Rechtsdurchsetzung mithilfe krimineller Elemente,Stichwort „Steuer-CD“, zur Regel zu machen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

In der Abwägung der verschiedenen Gerechtigkeitenhat die Bundesregierung eine Entscheidung getroffen

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Ralph Brinkhaus

und einen Vorschlag gemacht. Dieser Vorschlag lauteteganz einfach: Uns ist es an dieser Stelle lieber, dass wirdas Geld bekommen. Darüber kann man streiten. Aberwir sollten uns bitte nicht gegenseitig vorwerfen, wervon uns der Gerechtere unter der Sonne ist. Ich glaubenämlich nachhaltig, dass wir nach bestem Wissen undGewissen gehandelt haben und dass wir ein gutes Ergeb-nis erzielt haben. Häme ist hier fehl am Platz. Ange-bracht ist im Grunde genommen Anerkennung für das,was wir geleistet haben. Ich freue mich auf eine sachli-che Beratung dieses Gesetzesvorhabens im Finanzaus-schuss.

Danke.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:Die Aktuelle Stunde ist beendet.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:

– Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio-nen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Ent-wurfs eines Neunzehnten Gesetzes zur Ände-rung des Bundeswahlgesetzes

– Drucksache 17/6290 –

– Zweite und dritte Beratung des von der Fraktionder SPD eingebrachten Entwurfs eines Neun-zehnten Gesetzes zur Änderung des Bundes-wahlgesetzes

– Drucksache 17/5895 –

– Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-neten Halina Wawzyniak, Sevim Dağdelen,Dr. Dagmar Enkelmann, weiteren Abgeordnetenund der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Ent-wurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grund-gesetzes und zur Reformierung des Wahl-rechts

– Drucksache 17/5896 –

– Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-neten Volker Beck (Köln), Ingrid Hönlinger,Memet Kilic, weiteren Abgeordneten und derFraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einge-brachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Ände-rung des Bundeswahlgesetzes

– Drucksache 17/4694 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-schusses (4. Ausschuss)

– Drucksache 17/7069 –

Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Günter KringsGabriele FograscherDr. Stefan RuppertHalina WawzyniakWolfgang Wieland

– Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss)gemäß § 96 der Geschäftsordnung

– Drucksache 17/7070 –

Berichterstattung:Abgeordnete Jürgen HerrmannCarsten Schneider (Erfurt)Florian ToncarRoland ClausPriska Hinz (Herborn)

Es ist verabredet, hierzu eineinviertel Stunden zu de-battieren. – Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch.Das ist dann so beschlossen.

Wir stimmen am Ende der Debatte namentlich ab.

Als Erstem gebe ich das Wort dem KollegenDr. Günter Krings für die CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Dr. Günter Krings (CDU/CSU):Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! In zweiter und dritter Lesung beraten und be-schließen wir heute die Entwürfe eines Gesetzes zur Än-derung des Bundeswahlgesetzes. Das ist eine von einerganzen Reihe von Debatten, in denen wir uns intensivmit verschiedenen Lösungsansätzen auseinandergesetzthaben. Ich glaube, dabei ist für alle, die die Debattenverfolgt haben, deutlich geworden: Die Aufgabe, die unsdas Bundesverfassungsgericht gestellt hat, nämlich dieBeseitigung des negativen Stimmgewichts, ist kompli-ziert und anspruchsvoll gewesen.

Durch den Gesetzentwurf der Koalition wird dieseAufgabe, das negative Stimmgewicht in realistischen, le-bensnahen Wahlszenarien zu beseitigen, gelöst. Exaktdas ist die Aufgabe gewesen, die uns das Bundesverfas-sungsgericht in seiner Entscheidung gestellt hat. Wirstellen damit sicher, dass es künftig nicht mehr vorkom-men kann, dass eine Stimme, die man einer Partei gibt,sie im Ergebnis ein Mandat kostet. Es sollte in der Poli-tik ohnehin die Regel sein, dass man erst einmal auf dasProblem schaut und dann die Lösung möglichst pro-blemadäquat ansetzt. Daher frage ich: Wie entsteht ne-gatives Stimmgewicht? Es entsteht durch die Verbin-dung – das ist die erste Hauptursache – von Landeslistenüber ein Wahlsystem bei gleichzeitiger – das ist diezweite Hauptursache – Existenz von Überhangmanda-ten. Eine dieser beiden Ursachen – keineswegs beide –muss nach der Aufgabenstellung des Verfassungsge-richts beseitigt werden.

Unserer Auffassung nach sollten wir möglichst behut-sam eingreifen. Wir sollten unser bewährtes Wahlsystemnicht sozusagen komplett wegkippen, sondern möglichstminimalinvasiv vorgehen.

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Tun Sie aber nicht!)

Das Bundesverfassungsgericht hat – das haben vieleoffenbar übersehen – ganz konkrete Vorschläge ge-macht, wie man dieses Problem lösen kann. Einer dieser

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Dr. Günter Krings

konkreten Vorschläge war beispielsweise, ein Graben-wahlrecht einzuführen. Danach gäbe es keine Anrech-nungen mehr zwischen den Direktmandaten, den Erst-stimmen, und den Zweitstimmen, den Listenmandaten.Dadurch würde man das Phänomen der Überhangman-date komplett beseitigen, wie es wohl einige in diesemHause unbedingt wollen. Dann gäbe es auch keine nega-tiven Stimmgewichte mehr.

Natürlich ist klar, dass gerade die Union bei ihremguten Abschneiden in Wahlkreisen wegen ihrer bürger-nahen Politik

(Lachen des Abg. Wolfgang Wieland [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN])

davon massiv profitieren würde. – Man muss sich nureinmal eine Landkarte anschauen, aus der hervorgeht,wer in welchen Wahlkreisen gewonnen hat. Das muss jairgendeinen Grund haben. – Trotzdem haben wir alsUnion gerade das diesem Haus nicht vorgeschlagen,weil wir diese Regelung nicht für fair im Sinne aller Par-teien halten,

(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Ihr Vor-schlag ist auch nicht fair!)

weil wir eine Reform wollen, mit der alle Parteien – kleineund große Parteien, Parteien, die wenige Direktwahl-kreise gewinnen, und solche, die viele Direktwahlkreisegewinnen – gut leben können und weil wir eine Rege-lung schaffen wollen, mit der wir uns nicht dem Ver-dacht aussetzen, manipulativ wirken zu wollen.

Wir haben deswegen einen anderen, ebenfalls aus-drücklichen Vorschlag des Bundesverfassungsgerichtsaufgegriffen, nämlich den Vorschlag des Zweiten Senats,aus der Listenverbindung eine Listentrennung zu ma-chen. Das ist ein minimalinvasiver, kleiner Eingriff insWahlrecht, der im Kern darin besteht, einen einzigenSatz aus dem Bundeswahlgesetz zu streichen.

Es ist in Ordnung, dass die Opposition in dieser De-batte immer wieder das Thema der Überhangmandateanspricht. Es ist aber nicht in Ordnung, ein politisch ver-folgtes Ziel, nämlich die Bekämpfung der Überhang-mandate, zu einer verfassungsrechtlichen Pflicht hoch-zustilisieren. Das entspricht nicht der Entscheidung desVerfassungsgerichts.

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Abwarten!)

Das ist ein Missbrauch dieser Entscheidung. Man gehtan dieser Stelle nicht fair mit dem Bundesverfassungsge-richt um. Zumindest am Tag nach dem 60. Geburtstagdes Bundesverfassungsgerichts sollten Sie mehr Respektvor diesem Gericht haben.

(Lachen bei Abgeordneten der SPD, der LIN-KEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-NEN)

Uns haben Sie diesen Respekt wegen einer Fristüber-schreitung abgesprochen. Wir haben diese Kritik ange-nommen. Sie sollten von uns die Kritik annehmen, dassSie ein politisches Ziel verfolgen und es mit einer angeb-

lich verfassungsgerichtlichen Aussage verbrämen. Dasist nicht in Ordnung, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:Sie wollen sich Mehrheiten verschaffen, dieSie beim Wähler nicht haben!)

Das Verfassungsgericht hat zugleich gesagt, dass mitdem Lösungsansatz einer Listentrennung ein Folgepro-blem verbunden ist. Das Gericht hat das Folgeproblemausdrücklich benannt, nämlich die unberücksichtigt blei-benden Reststimmen. Das können Sie nachlesen aufSeite 315 im 121. Band der amtlichen Entscheidungs-sammlung. Vielleicht schauen Sie sich das zumindestnach der Debatte endlich einmal an.

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Herr Krings! Frist nicht eingehalten,aber arrogant kommen!)

Das Gericht hat auf dieses Problem hingewiesen. Wirhaben das Problem der Reststimmen gelöst, indem wirgesagt haben: Die unberücksichtigt bleibenden Reststim-men in den einzelnen Bundesländern werden bundesweiteingesammelt und können zu Zusatzmandaten addiertwerden.

Ich gebe zu, dass unser sehr einfaches Modell derTrennung dadurch an dieser Stelle ein Stück weit kom-plizierter wird, wenn auch nicht so kompliziert wie beiIhren Vorschlägen. Dadurch wird die Regelung aber aufjeden Fall fairer und gerechter.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Es kann natürlich sein, dass eine Partei in 16 Bundes-ländern knapp vor dem nächsten Mandat stehen bleibt.Das wären dann wirklich proportionale Verschiebungen.Wir haben dabei insbesondere die Sicht des Wählers inkleinen Bundesländern eingenommen. Wenn dieser bei-spielsweise eine kleine Partei wählen will, könnte er sichdem Vorwurf ausgesetzt sehen: Deine Stimme ist dochohnehin verschenkt. Faktisch gibt es eine Sperrwirkungvon 10 bis 15 Prozent wegen der geringen Zahl der Man-date.

(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Das lösen Sie doch nicht auf!)

Aus diesem Grunde solltest du deine Stimme nicht ver-schenken und eine andere Partei wählen.

Um auch dem Wähler in einem kleinen Bundeslandalle Optionen offenzuhalten, war die Reststimmenver-wertung notwendig und sinnvoll. Sie mögen deswegenpolemisieren. Wir wissen jedoch, dass wir hierdurchexakt einen Hinweis des Verfassungsgerichts aufgreifen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Durch die Reststimmenverwertung stellen wir sicher,dass es zu keinem neuen negativen Stimmgewichtkommt, indem wir ausschließen, dass Zusatzmandate beieiner Partei mit Überhangmandaten zusammentreffenkönnen. Gibt es Zusatzmandate für eine Partei, die Über-

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hangmandate hat, so werden diese Überhangmandatemit Reststimmen unterlegt. Das heißt, im Ergebniskommt es bei unserem Vorschlag zu einer maßvollen Re-duktion von Überhangmandaten.

Machen wir die Probe aufs Exempel: Nehmen wireinmal unser Wahlrecht und wenden es auf die letzteBundestagswahl an. Dann lösen sich die Vorwürfe derUnfairness sofort in nichts auf.

(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Jetzt bin ich gespannt!)

Unser Wahlrecht angenommen, hätte die Koalition imErgebnis in der Tat zwei Sitze mehr gehabt, die Opposi-tion allerdings hätte vier Sitze mehr gehabt. Da soll nocheiner sagen, wir hätten ein Wahlrecht gemacht, das derKoalition nutzt und der Opposition schadet! Das ist eineabenteuerliche Behauptung.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zu-ruf von der FDP: Kanzlermehrheit hätte estrotzdem gegeben!)

Wir haben – und das unterscheidet uns von den dreiOppositionsfraktionen – seit drei Jahren intensiv überLösungsansätze und Alternativen nachgedacht.

(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Wir haben auch darüber nachgedacht!)

Wir sind nicht mit Tunnelblick auf eine einzige Lösungzugesteuert, sondern haben uns verschiedene Optionenangesehen.

(Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir auch!)

Wir haben uns auch sehr intensiv die Vorschläge derOpposition angeschaut. Ich komme zunächst kurz zu denGrünen und den Linken. Sie schlagen ein Kompensa-tionsmodell vor. Danach würden Überhangmandate ineinem Bundesland durch Listenmandatsabzug in ande-ren Bundesländern ausgeglichen.

(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Falsch ver-standen!)

Das führt zu erheblichen verfassungsrechtlichen undverfassungspolitischen Kollateralschäden. Es führt zu ei-ner erheblichen föderalen Ungleichheit, und es führt zueiner doppelten Benachteiligung von Bundesländern.Das gilt auch für mein eigenes Bundesland, Nordrhein-Westfalen, das in der Geschichte der Republik nie Über-hangmandate gehabt hat – weil es dort relativ ausgewo-gen verschiedene Hochburgen und verschiedene Schwer-punkte in der politischen Zusammensetzung gibt –, dashier aber doppelt bestraft würde, weil es zusätzlich alsSteinbruch für andere Bundesländer herhalten würde.Ich rede hier nicht nur als Vertreter der Union, sondernauch als Abgeordneter meines Bundeslandes Nordrhein-Westfalen; und aus dieser Sicht kann ich das nicht hin-nehmen, was hier vorgeschlagen wird.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Dann lesenSie den linken Entwurf noch mal! Das warfalsch!)

Diese Kannibalisierung von Landeslisten – und da-rum handelt es sich – würde zu einer wirklichen Ein-schränkung der Erfolgswertgleichheit zwischen den ein-zelnen Landeslisten führen. Das kann man anhand derletzten Bundestagswahl ganz praktisch nachrechnen.Nehmen wir das Wahlrecht, so wie Linke und Grüne eshier vorschlagen,

(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Da gibt es einen Unterschied!)

und wenden es im Kern auf die Wahl 2009 an: Das hättegeheißen, dass 327 000 CDU-Wähler in Brandenburgvon einem einzigen Abgeordneten in diesem Hause ver-treten worden wären. Es hätte geheißen, dass 81 000CDU-Wähler von keinem einzigen CDU-Abgeordnetenaus Bremen im Deutschen Bundestag repräsentiert wür-den.

(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gibt es in Bremen CDU-Wähler?)

Es hätte aber auch geheißen – man höre und staune –:77 000 Grünen-Wähler in Brandenburg hätten ausge-reicht, um ein Mandat zu bekommen. Dass Sie von denGrünen das gut finden, kann ich mir gut vorstellen. DasWahlrecht ist aber kein Selbstbedienungsladen, auchnicht für die grüne Partei.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Das sagen wir Ihnen! – Jürgen Trittin[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und das sa-gen Sie!)

Die Latte der Absurdität kann gar nicht hoch genugliegen. Die Grünen legen noch einen drauf. Sie sagen:Wenn diese Listenmandate zum Abzug nicht ausreichen– das wäre auch bei der letzten Bundestagswahl der Fallgewesen –, dann müssen auch gewählte Wahlkreisbe-werber, die mit Mehrheit in einem Wahlkreis gewähltworden sind, auf ihr Mandat verzichten und können ihrMandat nicht antreten. Ich kann nur sagen: Das ist aben-teuerlich!

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Das heißt: Es bleiben ganze Wahlkreise ohne Vertre-tung in diesem Hause. Das hat es in der Geschichte derRepublik noch nicht gegeben. Andererseits könnte esdazu führen, dass der Sieger zwar nicht in den Bundes-tag einzieht, aber einer der Verlierer aufgrund eines Lis-tenplatzes in den Bundestag kommt. Der Verlierer ist imBundestag, der Sieger bleibt draußen. Das ist eine Per-version von Demokratie, was Sie hier vorschlagen!

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Bemerkenswert ist auch, dass die SPD – obwohl sieselbst einen ganz anderen Vorschlag hat – dem zur Dis-kussion stehenden Vorschlag im Innenausschuss auchnoch zustimmt und somit zwei vollkommen gegenteiligeVoten in ein und derselben Ausschusssitzung abgibt. Ichbin gespannt, ob das heute wiederum der Fall sein wird.

Der Vorschlag des Kompensationsmodells – das istrichtig – mag vielleicht im Hinblick auf die Operation

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„Beseitigung negatives Stimmgewicht“ geglückt sein;aber der Patient Demokratie verstirbt dabei;

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Unsinn!)

denn die Akzeptanz von Wahlen ist angesichts der ge-schilderten Forderungen nicht mehr gegeben. Das wärein der Tat der vielbemühte Sargnagel für unsere Demo-kratie.

Zu den Linken speziell brauche ich nicht mehr viel zusagen.

(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Das ist der beste Entwurf!)

Angesichts sinkender Umfragewerte und schlechterLandtagswahlergebnisse haben Sie nach fast 60 Jahrenschließlich doch noch einen Ratschlag Bertolt Brechtsbeherzigt: Sie wollen sich – weil Sie mit dem bestehen-den Wahlvolk offenbar nicht mehr zurechtkommen – einneues Wahlvolk schaffen.

(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Was?)

Sie wollen ein umfassendes Ausländerwahlrecht, ob-wohl das gegen Art. 20 und Art. 38 des Grundgesetzesverstößt. Sie wollen das Wahlalter senken. Die meisteTinte in Ihrem Entwurf haben Sie darauf verwandt, si-cherzustellen, dass möglichst alle Schwerverbrecherkünftig Wahlrecht haben.

(Zuruf von der CDU/CSU: Sehr gut! – HalinaWawzyniak [DIE LINKE]: Folgeänderung!Schon mal was von Folgeänderung gehört?)

Jede Partei sucht ihre Zielgruppe selber. Sie haben IhreZielgruppe klar benannt; das nehmen wir zur Kenntnis.

Die SPD hat auch noch einige kurze Bemerkungenverdient. Ich habe bereits ihr widersprüchliches Abstim-mungsverhalten dargestellt: Einerseits hat man einen ei-genen Vorschlag, andererseits stimmt man dem komplettgegenteiligen Vorschlag zu. Der Gesetzentwurf der SPDist übrigens der einzige, der keinen Hinweis aus Karls-ruhe aufnimmt, der keine der dort aufgezeigten Optionenin Anspruch nimmt, sondern sich ein ganz eigenes Mo-dell zurechtzimmert, dabei aber nicht wirklich vertieftnachdenkt. Ihre gesamte Gesetzesbegründung für diesesganz neue Modell umfasst exakt anderthalb Seiten underschöpft sich im Wesentlichen darin, auf das Gutachteneines Wissenschaftlers zu verweisen. Eigene Gedankenwären nicht schlecht gewesen; selber denken ist bei demThema allemal gut.

Sie greifen in der Tat keines der Modelle auf, die inder Entscheidung aus Karlsruhe genannt wurden. IhrModell löst nämlich das Problem des negativen Stimm-gewichtes nicht; es kommt zu keiner merklichen Reduk-tion des negativen Stimmgewichts. Nach Ihrem Modellbleibt es dabei: Eine Stimme weniger für eine Parteikann ein Mandat mehr für diese Partei bedeuten. Genaudas wollte Karlsruhe unterbinden. Die Aufgabe, die unsund auch Ihnen gestellt wurde, ist nicht, das negativeStimmgewicht auszugleichen, sondern es abzuschaffen,es zu beseitigen; diese Aufgabe gehen Sie gar nicht an.

Zusätzlich würde Ihr Vorschlag zu einem Aufblähen desBundestages führen. Wir würden nach Ihrem Vorschlagim zweiten Schritt die Zahl der Wahlkreise reduzieren;weniger Bürgernähe wäre die Folge.

Meine Damen und Herren, letzter Gedanke: Ich hättein der Tat gern eine konsensorientierte Lösung gehabt.Die Opposition hat sich den Konsensangeboten verwei-gert.

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Unsinn!)

Wir haben Angebote gemacht, beispielsweise hinsicht-lich einer maßvollen Reduktion der Zahl der Überhang-mandate. Die entsprechenden Gespräche wurden nichtergebnisorientiert geführt. Ich habe gerade bei den Kol-legen von der SPD den Eindruck, dass das massive Ein-treten gegen Überhangmandate etwas Resignatives hat.

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:Herr Kollege.

Dr. Günter Krings (CDU/CSU):Sie haben davon profitiert: Es gab einen Kanzler

Schröder, der 2001 nach einer Vertrauensfrage nur des-halb weiterregieren konnte, weil es Überhangmandategab.

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:Herr Kollege.

Dr. Günter Krings (CDU/CSU):Offenbar haben Sie sich daran nicht mehr erinnert.

(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: 2002 hatte Edmund Stoiber gewonnen!Wir erinnern uns noch! – Wolfgang Wieland[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zehn Minu-ten lang!)

Ich komme gerne zum Schluss.

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:Sie sind schon am Schluss gewesen.

Dr. Günter Krings (CDU/CSU):Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir legen

Ihnen einen verfassungskonformen Gesetzentwurf vor,der das negative Stimmgewicht beseitigt. Ich bitte umZustimmung, damit wir ein klares und verfassungskon-formes Wahlrecht für Deutschland erhalten.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:Thomas Oppermann hat das Wort für die SPD-Frak-

tion.

(Beifall bei der SPD)

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Thomas Oppermann (SPD):Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Seit drei Jahren wissen wir, dass unser Wahl-recht verfassungswidrig ist. Mehr als drei Monate nachAblauf der vom Bundesverfassungsgericht großzügigbemessenen Frist legen Sie uns jetzt einen Gesetzent-wurf vor, über den wir heute abstimmen sollen. Sie ha-ben sich viel Zeit genommen. Sie haben es sogar so weitgetrieben, dass sich der Präsident des Bundesverfas-sungsgerichtes öffentlich zu Wort gemeldet und kundge-tan hat: Wenn es die Koalition in Berlin nicht schaffe,ein verfassungskonformes Wahlrecht zu verabschieden,dann werde das Bundesverfassungsgericht dies notfallsselber machen. – Das ist die Antwort auf eine beispiel-lose Respektlosigkeit gegenüber dem Bundesverfas-sungsgericht, die Sie sich haben zuschulden kommenlassen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten derLINKEN)

Wenn Sie jetzt wenigstens einen Entwurf vorgelegthätten, der die Probleme löst, dann hätten wir sagen kön-nen: „Okay, das war eine Respektlosigkeit“; wir hättenuns auf eine Rüge und auf den Hinweis beschränkenkönnen, dass Sie mit der Frist sehr leichtfertig umgegan-gen sind.

(Dr. Stefan Ruppert [FDP]: Die Chance ist noch da!)

Sie haben aber nichts gelöst. Sie haben einen Entwurfvorgelegt, der nicht nur zu spät kommt, sondern auchhandwerklich schlecht ist, das negative Stimmgewichtnicht beseitigt und die gleichheitswidrigen Überhang-mandate nicht neutralisiert.

(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Reden Sie jetzt von Ihrem eigenen Entwurf?)

Das ist ein Entwurf, der kein einziges Problem löst undmit dem wir uns ganz sicher in Karlsruhe wiedersehen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten derLINKEN – Dr. Hans-Peter Uhl [CDU/CSU]:Dann sehen wir uns in Karlsruhe!)

Sie füllen den rechtsfreien Raum, den Sie durch ein mo-natelang nicht anwendbares Wahlrecht haben entstehenlassen, jetzt mit neuen verfassungswidrigen Regeln aus.Das werden wir im Einzelnen aufzeigen.

(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Er spricht über seinen eigenen Vorschlag!)

Zum negativen Stimmgewicht. Das negative Stimm-gewicht ist hinreichend beschrieben worden. Es mussabgeschafft werden, damit die Wähler bei Abgabe einerStimme für ihre Partei damit rechnen können, dass dieStimmabgabe ihrer Partei nützt und nicht schadet.

(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Das errei-chen wir mit der Neuregelung!)

Jetzt, Herr Krings, will ich Ihnen an zwei Beispielen auf-zeigen, wie sich das Wahlrecht, das Sie uns heute zur

Abstimmung vorlegen, bei der letzten Bundestagswahlausgewirkt hätte.

Wir nehmen einmal das Beispiel Hamburg. Sie wol-len jetzt die Zahl der Mandate anhand der landesweitenWahlbeteiligung berechnen. Wenn bei der letzten Bun-destagswahl 10 000 zusätzliche Wählerinnen und Wäh-ler in Hamburg die CDU gewählt hätten, dann hätteHamburg insgesamt ein Mandat mehr bekommen. Die-ses Mandat wäre in Nordrhein-Westfalen verloren ge-gangen, weil die Wahlbeteiligung in Hamburg entspre-chend höher gewesen wäre. In Nordrhein-Westfalenhätte die CDU das Mandat verloren, und in Hamburghätte es die SPD zulasten der CDU gewonnen.

(Dr. Stefan Ruppert [FDP]: Das ist nichts Neues!)

Die 10 000 zusätzlichen Wählerinnen und Wähler derCDU sorgen also dafür, dass die SPD ein Mandat ge-winnt und die CDU ein Mandat verliert.

(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Sie haben esimmer noch nicht verstanden! Das negativeStimmgewicht ist was ganz anderes!)

Sie führen das negative Stimmgewicht in einem Umfangein, wie wir das bisher nicht kannten.

Ein zweites Beispiel. Die Piratenpartei in Berlin be-kam bei der letzten Bundestagswahl 58 000 Stimmen.Diese 58 000 Stimmen hätten nach Ihrem Wahlrechtdazu beigetragen, dass Berlin ein Mandat mehr bekom-men hätte. Dieses Mandat wäre natürlich nicht den Pira-ten zugutegekommen – sie sind an der 5-Prozent-Klauselgescheitert; man muss sagen: damals noch –, sondernden Grünen.

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehr gut!)

Was würden Sie den Wählerinnen und Wählern der Pira-tenpartei sagen, wenn Sie ihnen erklären müssten, dassihre Stimmabgabe für diese Partei ein Mandat für dieGrünen zur Folge hätte? Das kann kein Mensch erklären,Herr Krings.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

In Ihrem Entwurf übersehen Sie den entscheidendenPunkt, auf den es beim Wahlrecht ankommt: Die Bürge-rinnen und Bürger müssen sich bei ihrer Stimmenabgabedarauf verlassen können, dass sie der Partei nützt, der sieihre Stimme geben. Genau das ist in Ihrem Entwurf nichtder Fall.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetendes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN –Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: In Ihrem istdas nicht der Fall!)

Wahlrecht ist nicht irgendein Recht. Wahlrecht ist De-mokratierecht. In unserer Verfassung geht die Staatsge-walt vom Volke aus. Das Wahlrecht ist das Verfahrenund das Recht der Bürgerinnen und Bürger, mit dem sieihre Staatsgewalt auf das repräsentative Parlament über-tragen. Deshalb muss dieses Verfahren fehlerfrei sein,

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und es darf nicht manipulierbar sein. Deshalb sagen wir:Ihr Wahlrecht ist nicht geeignet, zuverlässig die Mehr-heiten im Parlament so abzubilden, dass es der Entschei-dung der Wähler entspricht.

Ein weiterer wichtiger Punkt sind die Überhangman-date. Es wird immer wieder behauptet, das Bundesver-fassungsgericht habe die Überhangmandate verfassungs-rechtlich nicht infrage gestellt.

(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Genau! Jetzt hat er es! Endlich hat er es kapiert!)

Das ist nicht richtig. Bei der Vier-zu-vier-Entscheidungwaren vier Richter der Meinung, dass Überhangmandateverfassungswidrig sind. Die anderen vier Richter warenanderer Meinung. Wir sind der Meinung, dass die Frageder Überhangmandate jetzt ein für allemal geklärt wer-den muss.

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Genau!)

Überhangmandate sind nach meiner Auffassung ver-fassungsrechtlich nicht mehr haltbar.

(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Ihnen geht esnicht um negatives Stimmgewicht, Ihnen gehtes um Überhangmandate! – Gegenruf des Abg.Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Das hängt zusammen!)

Das weiß auch die CDU; jedenfalls hat sie das einmalgewusst.

(Dr. Hans-Peter Uhl [CDU/CSU]: Dann gehen Sie doch nach Karlsruhe!)

In einem Schriftsatz an das Bundesverfassungsgerichthat Ihr jetziger Fraktionsvorsitzender – damals war er,glaube ich, Parlamentarischer Geschäftsführer – VolkerKauder ausgeführt: Überhangmandate sind rechtlich be-denklich und aus demokratischer Sicht nicht wünschens-wert.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Wolfgang Wieland [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja! Hört! Hört!)

Lieber Herr Kauder – er ist gerade nicht da –, was da-mals richtig war, ist heute nicht falsch. Im Gegenteil: Esist noch richtiger geworden; denn wir müssen damitrechnen, dass es noch sehr viel mehr Überhangmandategeben wird. In einem Parteiensystem mit fünf bis siebenParteien müssen wir mit noch mehr Überhangmandatenrechnen. Bei der letzten Bundestagswahl hatten wir24 Überhangmandate; das ist ein Rekord. Das sind schon4 Prozent der gesetzlichen Mitglieder des DeutschenBundestages. Das führt dazu, dass die verfassungsrecht-lichen Probleme unseres Wahlrechtes noch größer wer-den. Also: Das, was Herr Kauder 2005 gesagt hat, istheute aktueller denn je.

Damals waren Sie gegen Überhangmandate, heutesind Sie dafür. Warum dieser Meinungswandel? Dasliegt auf der Hand: Die Umfrageergebnisse sind kata-strophal. Sie wollen sich mithilfe von Überhangmanda-ten an die Macht klammern. Angesichts der schrumpfen-

den Umfrageergebnisse hoffen Sie auf Überhangman-date als letzten Strohhalm, mit dem Sie sich über Wasserhalten. Das ist doch der einzige Punkt.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Sie haben doch jetzt mehr Überhang-mandate als wir! – Dr. Stefan Ruppert [FDP]:Das ist so billig!)

Sie missbrauchen das Wahlrecht als Machtrecht. Esist klar, welches Motiv die CDU hat. Unklar ist mir nachwie vor, warum die FDP da mitmacht.

(Christine Lambrecht [SPD]: 1,8-Prozent-Par-tei!)

Die FDP hat noch nie ein Überhangmandat bekommen;denn kleine Parteien haben keine Chance auf Überhang-mandate. Also haben Sie sich über die sogenannte Rest-stimmenverwertung einkaufen lassen. Ich muss sagen:Wer sich mit so etwas abspeisen lässt, hat im Grunde ge-nommen schon kapituliert.

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Bei 1,8 Prozent!)

Die Reststimmenverwertung ist die schrägste Innova-tion, von der ich jemals im Rahmen eines Gesetzge-bungsprozesses gehört habe.

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und demBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab-geordneten der LINKEN)

Der Kollege Volker Beck hat beim letzten Mal aus demGesetzentwurf vorgelesen. Ich will das nicht wiederho-len,

(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Aber es ist ein so schöner Text!)

aber doch Folgendes sagen: Wer den Text liest, musssich die Frage stellen, ob derjenige, der das verfasst hat,noch ganz bei Verstand ist. Dadurch würde Bürokratievom Feinsten entstehen. Ziel dabei war, durch die Re-form des Wahlrechts auch der FDP einen kleinen Vorteilzu verschaffen. Sie haben an dem Wahlrecht so lange he-rumgefummelt, bis ein Interessenausgleich zwischenden beiden Koalitionsfraktionen zustande gekommen ist.Das ist für die Verfassung leider zu wenig.

Ich will noch einmal ganz kurz darlegen, warum wirÜberhangmandate für verfassungswidrig halten, wennich das darf, Frau Präsidentin. Ich nehme zusätzliche Re-dezeit in Anspruch.

Vizepräsidentin Petra Pau:Das kommt darauf an, wie lange das dauert.

Thomas Oppermann (SPD):Ich habe mich mit meiner Kollegin verständigt.

Vizepräsidentin Petra Pau:Alles klar. Das klären Sie in Ihrer Fraktion.

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Thomas Oppermann (SPD):Überhangmandate sind verfassungswidrig, weil sie

den Wählern ein doppeltes Stimmgewicht geben, diedurch Stimmensplitting dafür sorgen, dass nicht nur derdirekt gewählte, sondern auch ein weiterer Kandidat inden Bundestag kommt. Das ist mit dem großen Verspre-chen der Demokratie aber nicht vereinbar. Dieses großeVersprechen der Demokratie ist: gleiches Wahlrecht füralle und gleiches Stimmgewicht. Damit ist ein doppeltesStimmgewicht nicht vereinbar.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Der zweite Punkt ist: Überhangmandate führen zu ei-ner regionalen Ungleichverteilung der Mandate. DieCDU hat in Baden-Württemberg bei der letzten Bundes-tagswahl zehn Überhangmandate gewonnen.

(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Sie stimmen den Grünen zu?)

Allein durch die Überhangmandate hat Baden-Württem-berg ein zusätzliches politisches Gewicht im DeutschenBundestag erhalten, das dem ganzen politischen Ge-wicht der Hansestadt Hamburg entspricht, die über13 Mandate verfügt.

(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Das ist genaudas, was verstärkt wird durch den Grünen-Vor-schlag, dem Sie zugestimmt haben! Das istdoch eine abenteuerliche Argumentation!)

Drittens. Überhangmandate verletzen die Chancen-gleichheit der politischen Parteien. Die SPD braucht fürein Mandat 68 500 Stimmen, die CSU 62 000 Stimmenund die CDU 61 000 Stimmen. Ein Wahlrecht, das sounterschiedliche Voraussetzungen für die Gewinnung ei-nes Mandates vorsieht, ist kein faires Wahlrecht.

Viertens und letztens. Überhangmandate können dieMehrheit im Deutschen Bundestag umdrehen. Maßge-bend für die Zusammensetzung des Parlaments sind dieZweitstimmen; das hat auch das Bundesverfassungsge-richt mehrfach betont. Bei einer großen Zahl von Über-hangmandaten kann es jetzt dazu kommen, dass die Par-teien, die eine Mehrheit der Stimmen erhalten haben,nicht die Mehrheit der Mandate haben. Das wäre uner-träglich. Das würde uns in eine Verfassungs- und Staats-krise führen. Deshalb sage ich: Sie ignorieren das Bun-desverfassungsgericht. Sie benutzen das Wahlrecht zumeigenen Machterhalt.

(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Das ist ein Selbstgespräch! Sie meinen sich selber!)

Die Stimme eines jeden Bürgers und einer jeden Bürge-rin muss gleich viel wert sein. Damit das durchgesetztwird, werden wir vor dem Bundesverfassungsgerichtklagen. Wir hoffen darauf, dass das Bundesverfassungs-gericht ein gleiches Wahlrecht durchsetzt.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Petra Pau:Für die FDP-Fraktion hat der Kollege Dr. Stefan Rup-

pert das Wort.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –Manuel Höferlin [FDP]: Substanz kehrt zu-rück!)

Dr. Stefan Ruppert (FDP):Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Vielleicht geht es auch ein wenig sachlicher undein wenig stärker orientiert an den Aufgaben, die uns dasBundesverfassungsgericht gegeben hat.

(Christine Lambrecht [SPD]: Unerhört!)

Lassen Sie mich eine allgemeine Vorbemerkung ma-chen: Das Wahlrecht der Bundesrepublik Deutschlandhat sich bewährt. Es hat in diesem Land für politischeStabilität gesorgt. Es hat die Extreme durch Verfahrenzur Mitte hin integriert. Es hat dafür gesorgt, dass perso-nale Elemente genauso eine Rolle spielen wie der Aus-gleich, der in Koalitionen notwendig ist. Diese politischeStabilität, die über 60 Jahre gewährt hat, ist ein hohesGut. Auch bei einer Wahlrechtsreform sollte sie bewahrtwerden. Auch das war und ist das Ziel unseres Gesetz-entwurfs.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Das darf man nicht so leichtfertig über Bord werfen.Insofern will ich mich am Bundesverfassungsgerichtorientieren. Es war schon bemerkenswert, dass KollegeOppermann zu seinem eigenen Gesetzesvorschlag keineinziges Wort gesagt hat.

(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Daraus spricht das schlechte Gewissen!)

Das hat auch einen Grund. Sowohl die Mathematiker,die Sie beauftragt haben, als auch der WissenschaftlicheDienst des Bundestages als auch das Bundesinnenminis-terium kommen zu dem Ergebnis, dass heute leider nurdie Grünen, die Linken, CDU/CSU und FDP überhaupteinen Vorschlag gemacht haben, der politisch satisfak-tionsfähig und verfassungsrechtlich in Bezug auf das ne-gative Stimmgewicht in Ordnung ist.

(Thomas Oppermann [SPD]: Warum wolltenSie dann ausgerechnet mit uns den Kompro-miss machen?)

Wer, bevor er selbst eine politische Idee, einen Geset-zesentwurf in den Raum stellt, schon sagt, dass er nachKarlsruhe gehen wird, hat meiner Meinung nach von sei-nem eigenen politischen Selbstverständnis viel an dasBundesverfassungsgericht delegiert.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordnetender CDU/CSU – Wolfgang Wieland [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Er geht nicht gegenden eigenen Entwurf nach Karlsruhe, sonderner geht gegen Ihren Entwurf! Sie haben da et-was falsch verstanden!)

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Dr. Stefan Ruppert

Leider ist damit eine Fraktion aus der politischen De-batte vollkommen ausgeschieden.

Jetzt kommen wir zu Linken und Grünen. Sie habenin der Tat jeweils einen Vorschlag gemacht, der diesesProblem vollständig löst. Sie haben das negative Stimm-gewicht beseitigt,

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Ja!)

Sie sorgen aber in der Folge Ihrer Lösung dafür, dass derErfolgswert der Stimmen massiv ungleich wird. KollegeKrings hat das schon ausgeführt; ich möchte das nichtwiederholen. Sie brauchen in Zukunft in Brandenburgsechsmal so viele Stimmen für ein Mandat wie in Baden-Württemberg. Sie verwüsten ganze Landesverbände.

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Jetzt kommt das wieder!)

Das ist ein Kollateralschaden Ihres Modells, der nicht zurechtfertigen ist.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Dass Sie nicht rot werden, wenn Sie in einer Zeit, in derwir sowieso die Schwierigkeit haben, Politik zu vermit-teln, direkt gewählten Abgeordneten einfach ihr Mandataberkennen wollen, das wundert mich.

(Beifall bei der FDP – Wolfgang Wieland[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie bekom-men es erst gar nicht! Sie verstehen es einfachnicht!)

Jetzt komme ich zu unserem Gesetzentwurf, damit ichnicht in die Falle des Kollegen Oppermann tappe undnur über die Kollegen rede, anstatt die eigenen Vor-schläge zu würdigen.

(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Wie viele von der FDP sind denn davonbetroffen? Wie viele FDPler sind direkt ge-wählt?)

Das Bundesverfassungsgericht hat uns im Kern dreiMöglichkeiten gelassen, das Problem zu lösen. Es hatgesagt – ich zitiere Randnummer 142 des Urteils –, dass

eine Neuregelung sowohl beim Entstehen der Über-hangmandate

– das war Ihre Vorstellung; allerdings haben Sie es nichtverfassungskonform gemacht –

oder bei der Verrechnung von Direktmandaten …

– das sind die Modelle der Linken und der Grünen –

oder auch bei der Möglichkeit von Listenverbin-dungen ansetzt.

Genau diesen Weg sind wir gegangen. Wir haben – ichwill nicht sagen sklavisch – in Eins-zu-eins-Subsumtionaus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts einen dervorgeschlagenen Wege gewählt. Das Problem bestehtbei verbundenen Listen, also trennen wir sie. So sind wirvorgegangen und lösen damit das Problem des negativenStimmgewichts.

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Warum haben Sie dafür drei Jahre ge-braucht, wenn es doch nur eine Eins-zu-eins-Umsetzung war?)

Unsere Nähe zum Verfassungsgericht geht sogar nocheinen Schritt weiter. Denn das, was Herr Oppermann dengrößten Murks in der Geschichte der Gesetzgebung ge-nannt hat,

(Beifall des Abg. Thomas Oppermann [SPD])

ist ein Vorschlag des Bundesverfassungsgerichts. Ichfinde, Sie sind da etwas argwöhnisch gegenüber unse-rem höchsten Gericht.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich zitiere:

Ein Verzicht auf Listenverbindungen nach § 7BWG würde … dazu führen, dass Parteien, die inmehreren Ländern antreten,

– also alle bis auf die CSU –

die in den Ländern anfallenden Reststimmen nichtnutzen könnten.

Hier wird folgendes Problem aufgeworfen: Bei 16 ge-trennten Wahlgebieten ergeben sich 16-mal Reststim-men für alle Parteien, groß oder klein, und durch Run-dungen entsteht ein Verlust von abgegebenen Stimmen,sodass es möglich ist, dass eine Partei, die deutlich über10 Prozent der Stimmen in einem Bundesland bekom-men hat, trotzdem gesagt bekommen kann: Die Wahldieser Partei, Linke, Grüne, FDP – wir werden hoffent-lich bei über 10 Prozent liegen –,

(Lachen bei Abgeordneten der SPD, der LIN-KEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-NEN – Christine Lambrecht [SPD]: Die Hoff-nung stirbt zuletzt!)

war zwecklos, weil sie zwar über 5 Prozent, sogar über10 Prozent der Stimmen erhalten hat, diese aber schlichtverfallen. Also: Auch auf der zweiten Stufe sind wir denVorgaben des Bundesverfassungsgerichts strikt gefolgt.Wir haben gesagt: Wir müssen auch noch das hier aufge-worfene Problem des Reststimmenverlusts lösen.

(Thomas Oppermann [SPD]: Das haben Sieaber doch selber erzeugt! Das gab es vorhergar nicht!)

Das, was Sie als größten Murks bezeichnen, war eineVorgabe des Urteils des Bundesverfassungsgerichts.Dieser Vorgabe haben wir entsprochen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Sie haben gerade erzählt, dass wir60 Jahre ein Wahlrecht hatten, das sich be-währt hat! Aber das war ohne Reststimmen-verwertung!)

Am Ende bleibt festzuhalten, dass viele im Raum ste-hende Modelle abgewogen worden sind. Ein Modell istoffensichtlich ausgeschieden. Schließlich blieben drei

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Dr. Stefan Ruppert

Modelle – eines von den Linken, den Grünen und derKoalition – übrig. Wir sehen die Vorteile Ihrer Modelle.Aber wir beurteilen die Nachteile als wesentlich gravie-render als den Erfolg, der mit Ihren Modellen erzieltwird.

Insofern: Wir haben eine sorgfältige Abwägung allerPro- und Kontraargumente vorgenommen. Mit Blick aufdas Bundesverfassungsgericht sage ich: Ich freue mich,wenn Sie klagen. Wir können uns dort nämlich mit unse-rer politischen Entscheidung, die auf unserer Abwägungvon Pro und Kontra basiert, sehr gut sehen lassen. AmEnde wird das Wahlgesetz schließlich in diesem Raumbeschlossen und nicht in Karlsruhe.

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Na, na! Abwarten!)

Dafür sollten wir nach unserem Selbstverständnis auchsorgen.

Sollten Sie weitere Fragen haben,

(Lachen des Abg. Wolfgang Wieland [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN])

wenden Sie sich an das Geburtstagskind des heutigenTages, an Herrn van Essen, dem ich von dieser Stelle ausherzlich gratuliere. Er wird Sie in weiteren vier MinutenRedezeit Ihrer Restzweifel berauben.

(Thomas Oppermann [SPD]: Na ja! Das be-zweifle ich! – Michael Hartmann [Wackern-heim] [SPD]: Das wäre ja das erste Mal!)

Dann können Sie alle zustimmen. Ich freue mich darauf.

Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Petra Pau:Die Kollegin Wawzyniak hat für die Fraktion Die

Linke das Wort.

(Beifall bei der LINKEN)

Halina Wawzyniak (DIE LINKE):Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Wir versuchen heute, einen verfassungswidrigenZustand zu beenden. Ich prophezeie Ihnen: Wenn derGesetzentwurf der Koalition angenommen wird, wirddieser Versuch misslingen.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg.Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN])

Alle Parteien haben versucht, das Problem des negativenStimmgewichts zu lösen, und haben dazu Vorschläge un-terbreitet. Es gibt aber nur eine Partei, die eine grundle-gende Reform vorgeschlagen hat. Das ist die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)

Wir haben hier den Vorwurf der Überfrachtung ge-hört. Ich sage Ihnen sehr deutlich: Wenn wir schon überdas Wahlrecht reden,

(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Dann auch für Schwerverbrecher!)

dann sollten wir auch weitere Aspekte, die beim Wahl-recht zur Reformierung anstehen, aufgreifen.

(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Ja! Dann auch für Kriminelle!)

In der Anhörung im Innenausschuss ist uns gesagtworden, unser Vorschlag sei ein Systemänderungsent-wurf. Ja, wir sind stolz darauf. Wenn mehr DemokratieSystemveränderung ist, dann schlagen wir Systemverän-derung vor.

(Beifall bei der LINKEN – Dr. Günter Krings[CDU/CSU]: Weg mit dem System, genau! –Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Ja! Nach dem Motto: Meine Partei hatimmer recht! Das war schon immer so!)

Eines ärgert mich allerdings sehr. Alle Parteien habenzur Kenntnis genommen, dass es folgendes Problemgibt: Eine Partei, die für den Bundestag kandidieren will,vom Bundeswahlausschuss aber nicht zugelassen wird,hat keine Klagemöglichkeit. Wir haben vorgeschlagen,in § 28 des Bundeswahlgesetzes – wir nennen ihn denSonneborn-Paragrafen – eine entsprechende Regelungzu treffen. Martin Sonneborn ist Vorsitzender der ParteiDie Partei. Diese Partei ist zur letzten Bundestagswahlnicht zugelassen worden und hatte keine Chance, die Zu-lassung einzuklagen.

(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Aber jetzt hat er die FDP geschlagen!In Kreuzberg!)

Ich finde, das ist ein Skandal. Dieses Problem müssenwir lösen.

(Beifall bei der LINKEN)

Sie alle haben gesagt, dass dies ein Problem ist, das es zulösen gilt. Warum greifen Sie dann nicht unseren Sonneborn-Paragrafen auf? Das verstehe ich, ehrlich gesagt, nicht.

Ich will an dieser Stelle sehr deutlich sagen – im Innen-ausschuss haben wir ja eine Anhörung durchgeführt –:Ein Problem im Zusammenhang mit dem Wahlrechtgreift keine Partei und keine Fraktion auf – das finde ichpersönlich außerordentlich bedauerlich –, nämlich dassogenannte Zweistimmenwahlrecht. Das Zweistimmen-wahlrecht führt zu Überhangmandaten, zu doppelten Er-folgswerten und doppelten Stimmgewichten. Ich würdemir wünschen, dass wir über das Zweistimmenwahlrechtnoch einmal in Ruhe reden.

Was beschließen wir heute? Die Koalition möchte dieVerbindung der Landeslisten der Parteien auflösen.

(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Richtig!)

Die Sitzkontingente der einzelnen Bundesländer richtensich dann nach der Anzahl der Wähler, die Verteilungder Sitze innerhalb des Bundeslandes richtet sich nachden Zweitstimmen, und die errungenen Direktmandatewerden mit Listenmandaten allein auf der Landesebeneverrechnet.

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Halina Wawzyniak

In unserer Anhörung hat Herr Professor Strohmeierzu Recht darauf hingewiesen, dass wir 16 abgetrennteWahlgebiete bzw. 16 Mehrpersonenwahlkreise schaffen.Was ist die Folge? Eine separate Sitzzuteilung für dieeinzelnen Bundesländer, keine Verrechnung mit Manda-ten aus anderen Bundesländern und damit Aufhebungdes unitaristischen Charakters der Wahl. Das ist der zen-trale Vorwurf.

(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Ach! So einUnsinn! Das war das Wahlrecht bei der erstenBundestagswahl!)

Ich möchte an dieser Stelle noch einmal auf die An-hörung eingehen. Herr Professor Meyer hat das Problemaufgeworfen, dass die Ungültig-Wähler, also diejenigen,die nur die Erststimme abgeben, und diejenigen, derenPartei unter 5 Prozent bleibt – auf www.wahlrecht.deheißt es im Übrigen, diese Gruppe mache einen Anteilvon 23 Prozent aus –, bei der Berechnung der Mandate,die einem Land zufallen, berücksichtigt werden. DieseMandate fallen aber Parteien zu, die diese Wähler nie imLeben wählen wollten. Ich finde, ehrlich gesagt, dass dasein Skandal ist.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich komme jetzt zu einem weiteren Vorwurf aus derAnhörung. Frau Professor Sacksofsky hat gesagt, demGesetzentwurf fehle es an Folgerichtigkeit. Sie hat recht.Sie teilen in 16 Wahlgebiete ein und stellen dann auf ein-mal fest: Es gibt ein Problem. – Bei der Berechnung derFünfprozenthürde, die wir übrigens abschaffen wollen,

(Thomas Oppermann [SPD]: Sie nähern sichden 5 Prozent ja auch wieder in bedrohlicherWeise an!)

und bei der Reststimmenverwertung betrachten Sie näm-lich auf einmal wieder ein Bundeswahlgebiet. Das istdoch in sich unlogisch und versteht keiner.

Im Übrigen schaffen Sie mit diesem Gesetzentwurf– Herr Ruppert hat schon darauf hingewiesen – unglei-che Wahlkreise, weil die Wahlkreise unterschiedlichgroß sind, und die faktische Sperrklausel von 5 Prozentwird deutlich erhöht. Ich mache Ihnen das an einem Bei-spiel klar: Nach dem Vorschlag der Koalition benötigtman nach dem letzten Bundestagswahlergebnis in Bre-men für einen Sitz 14 Prozent. Ähnlich trifft dies auchauf das Saarland zu. Bislang hat man, warum auch im-mer, FDP gewählt, auch wenn es in Bremen nicht für dieFDP gereicht hat,

(Dr. Stefan Ruppert [FDP]: Doch, doch, netterKollege! – Gisela Piltz [FDP]: Bitte einmal or-dentlich recherchieren!)

aber die Zweitstimmen waren ja für die Bundesebenewichtig.

Die Frage, ob man die FDP wählen soll, stellt sich eh,aber warum soll man jetzt in Bremen die FDP wählen?Man muss nämlich feststellen, dass das Stimmergebnisder FDP in Bremen verdoppelt werden müsste, um einzweites Mandat zu erhalten. Das trifft analog auch aufParteien wie die Grünen und die Linke zu. Ich sage Ih-

nen ganz deutlich: Wenn es nur Abgeordnete von CDUund SPD aus Bremen und dem Saarland gibt, hilft dasweder Bremen noch dem Saarland noch der Demokratie.

(Beifall bei der LINKEN)

Die FDP hat gesagt: Wir haben eine Lösung dafür. –Wenn ich die Sitzung des Innenausschusses richtig inErinnerung und es richtig verstanden habe, dann ist dieÄnderung auf einen Vorschlag des Kollegen Ruppertzurückzuführen. Es ist ein Vorschlag zum Reststimmen-ausgleich. Der ist aber auch in sich unlogisch. Ich macheIhnen das wieder an einem Beispiel deutlich: Angenom-men, in Berlin benötigt man für einen Sitz 20 000 Stim-men. Die Linke erreicht 89 000 Stimmen. Das ergibt vierMandate, und sie hat darüber hinaus 9 000 Stimmen überden Durst. Diese positive Abweichung gibt es auch nochin anderen Bundesländern. Die Zahlen werden addiert.Man kommt zum Beispiel auf 45 000 Stimmen. Dieswird dann durch die Zahl dividiert, die man auf Bundes-ebene braucht, um einen Sitz zu bekommen – sagen wirmal: 21 000 Stimmen. Das ergibt eine Quote von 2,14,also zwei Sitze mehr.

Falls ich das falsch verstanden habe, dann kann Herrvan Essen mich ja aufklären. Ich habe Ihren Entwurf soverstanden, dass diese zwei Sitze gerade nicht auf dieLänder aufgeteilt werden, die den höchsten Differenz-wert haben, sondern zunächst auf die Länder, in denen esÜberhangmandate gibt. Das ist aus meiner Sicht absurd.

(Jörg van Essen [FDP]: Sie haben es leider falsch verstanden!)

Am Ende muss man in Richtung Koalition feststellen:Sie beseitigen das negative Stimmgewicht nicht voll-ständig.

Herr Krings, Sie haben im Innenausschuss eine Be-rechnung des Bundesministeriums des Innern vorgelegt.Ich muss Ihnen sagen: Das war ein bisschen unseriös,weil eine Stellungnahme zu unserem Gesetzentwurf,zum Gesetzentwurf der Linken, fehlte. Wir haben dasnachgeholt, indem wir angerufen und die Antwort be-kommen haben: Was soll man da berechnen, bei Ihnengibt es doch gar kein negatives Stimmgewicht. – Dashätten Sie schon hinzufügen können. Was erwarte ichaber auch von jemandem, der den Begriff „Folgeände-rung“ in Bezug auf Gesetze wohl noch nie gehört hat!

Im Übrigen verweise ich an dieser Stelle auch nocheinmal auf die Seite wahlrecht.de. Dort wurde das unterBerücksichtigung von Nichtwählerinnen und Nichtwäh-lern und von Personen, die ungültig gewählt haben,nachgerechnet, und man kommt bei Ihrem Gesetzent-wurf auf ein negatives Stimmgewicht von 8,3.

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Ja, die rechnen richtig!)

Was bleibt am Ende? Der Koalitionsentwurf hat we-gen der Reststimmenverwertung, wegen der Festlegungder Sitzkontingente der Länder nach der Wahlbeteili-gung und wegen des Heraufsetzens der faktischen Sperrefür die Erreichung eines Mandates in einzelnen Ländernerhebliche verfassungsrechtliche Probleme. Ich kann nursagen: Karlsruhe bekommt Arbeit.

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Halina Wawzyniak

Im Ergebnis ist festzustellen: Im Hinblick auf eintransparentes Wahlgesetz ist Ihr Gesetzentwurf einSchuss in den Ofen. Mathematikerinnen und Mathemati-ker wissen vielleicht noch, was mit ihrer Stimme pas-siert, die Wählerinnen und Wähler nicht mehr. Damit tunSie der Demokratie keinen Gefallen.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich will zum Schluss noch kurz auf den Gesetzent-wurf der Linken eingehen.

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Ach nein!)

Man muss zunächst zur Kenntnis nehmen, dass alleSachverständigen den Vorschlag der Linken für diskus-sionswürdig hielten.

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Weil sie höflich waren!)

Nun kann ich verstehen, dass die Koalition mit unserenweiter gehenden Vorschlägen Probleme hat. Davon redeich jetzt gar nicht. Aber dass Grüne und SPD den Ge-setzentwurf der Linken wegen Überfrachtung ablehnen,ist mir unverständlich.

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Weil er nicht auf der Tagesordnungsteht!)

– Herr Wieland, da können Sie sagen, was Sie wollen.Ich halte einfach fest: Sie haben ein Problem mit derSenkung des Wahlalters auf 16 Jahre, und Sie haben einProblem mit der Übertragung des Wahlrechts auf Men-schen, die hier länger leben. Das ist für mich unverständ-lich.

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Wir haben nur mit Ihnen ein Problem,glauben Sie es mir! Ausschließlich mit Ihnen!)

Ich sage Ihnen: Es gibt keinen Grund, dem Gesetzent-wurf der Linken nicht zuzustimmen, es sei denn, man hatideologische Probleme mit der Demokratie.

(Beifall bei der LINKEN – Widerspruch bei der FDP)

In der Anhörung haben die Experten die Beteiligtengebeten, aus vier Gesetzentwürfen einen zu machen. Ichfinde es ausgesprochen schade, dass dieser Aufforderungder Sachverständigen nicht nachgekommen wurde. Mirbleibt am Ende festzustellen: Hier zeigt sich die Arro-ganz der Macht der Koalition. Und das führt unweiger-lich nach Karlsruhe.

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsidentin Petra Pau:Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat der Kol-

lege Volker Beck das Wort.

Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das

Wahlrecht soll den Willen der Wähler grundsätzlich einszu eins in Mehrheitsverhältnissen im Parlament abbilden –

und nichts anderes. Es darf ihn nicht durch Tricks verfäl-schen und in sein Gegenteil verkehren. Diesem An-spruch wird der Koalitionsgesetzentwurf ausdrücklichnicht gerecht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sie waren zu keinem Zeitpunkt ernsthaft zu Gesprä-chen über die Fraktionsgrenzen hinweg bereit, um zu ei-ner verfassungsgemäßen Beantwortung der vom Bun-desverfassungsgericht gestellten Fragen zu kommen.Das hat einen Grund. Sie wollen sich mit diesem Gesetzdie Chance eröffnen, sich ohne Mehrheit beim Volk eineMehrheit im Parlament zu ergaunern. Um nichts anderesgeht es bei Ihrem Gesetzesvorschlag.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Das ist ein Anschlag auf die parlamentarische Demokra-tie.

(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Jetzt hören Sie doch auf!)

Das werden wir Ihnen nicht durchgehen lassen. Dagegenwird unsere Partei eine Organklage vor dem Bundesver-fassungsgericht erheben. Gemeinsam mit den Abgeord-neten der SPD werden wir eine Normenkontrollklage inKarlsruhe einreichen.

(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: HabenSie eigentlich noch einen Überblick über dievielen Klagen, die Sie eingereicht haben?)

Dann wird sich zeigen, dass Sie die vier Aufgaben, dieuns das Bundesverfassungsgericht gestellt hat, nicht er-füllt haben. Ihr Gesetzentwurf kommt zu spät. Er ist ver-fassungswidrig. Und er ist ein politisches Bubenstück.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Das Bundesverfassungsgericht hat uns aufgegeben,dass bis zum 13. Juni 2011 ein Gesetzentwurf im Bun-desgesetzblatt stehen soll. Das haben Sie nicht geschafft.Sie sind vor der Sommerpause mit etwas völlig Ungeeig-netem angedackelt gekommen. Das Bundesverfassungs-gericht hat uns aufgegeben, das negative Stimmgewichtzu beseitigen, soweit hierdurch ermöglicht wird, „dassein Zuwachs an Zweitstimmen zu einem Verlust an Sit-zen der Landeslisten oder ein Verlust an Zweitstimmenzu einem Zuwachs an Sitzen der Landeslisten führenkann.“

Wenn man so rechnet wie Sie, dass sich im Wahlver-halten überhaupt nur eines ändern kann – dass man stattder Partei A die Partei B wählt –, dann sieht Ihr Gesetz-entwurf in Bezug auf das negative Stimmgewicht zwarnicht perfekt, aber nicht so schlecht aus. Es bleibt etwasübrig. Wenn man es aber – anders als nach den manipu-lativen Berechnungen des Bundesinnenministeriums –für möglich hält,

(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Unerhört!)

dass ein Wähler die Partei A oder stattdessen gar nichtoder ungültig wählt,

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Volker Beck (Köln)

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Genau!)

dann sieht Ihr Gesetzentwurf in Bezug auf das negativeStimmgewicht schlechter aus als der der Sozialdemokra-ten, die im Verlauf ein Problem mit dem negativenStimmgewicht haben. Das gilt allerdings nur bei der Ver-teilung der Sitze zwischen den Landeslisten, aber nichtbeim Endergebnis. Dieser Gesetzentwurf erfüllt wie derunsrige die Forderung, dass nachher nur der Wählerwilleim Parlament repräsentiert wird.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Unser Gesetzentwurf aber hat den Vorteil, dass es nullKomma null negatives Stimmgewicht gibt. Diesen Vor-teil hat Ihr Entwurf auf jeden Fall nicht. Sie können dasbei wahlrecht.de nachlesen: Wir haben mit allen Metho-den und Möglichkeiten gerechnet – und nicht nur mitdem, was ins Bild passt, wie es im Rahmen der Auf-tragsarbeit des Bundesinnenministeriums der Fall ist.

(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Das juristi-sche Wissen von Herrn Beck kommt aus demInternet!)

Das Bundesverfassungsgericht hat dem Gesetzgeberfür die Umsetzung Zeit gegeben, weil es gewollt hat,dass „das für den Wähler kaum noch nachvollziehbareRegelungsgeflecht der Berechnung der Sitzzuteilung imDeutschen Bundestag auf eine neue, normenklare undverständliche Grundlage gestellt wird“. An dieser Auf-gabe sind Sie gründlich gescheitert. Ich will den Textnicht vorlesen, weil mir die Zeit fehlt, obwohl es dabeiimmer ein großes Hallo gibt.

Gut zusammengefasst hat das Professor Meyer in sei-ner Stellungnahme für die Anhörung des Innenausschus-ses:

Der Entwurf wird dem Auftrag, ein dem Wählerverständliches Wahlrecht zu formulieren, nicht nurnicht gerecht, sondern er hat geradezu den Ehrgeiz,dieses vom Verfassungsgericht gesetzte Ziel … zuvermeiden.

Wie wahr! Wie wahr!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der SPD – Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Das war eine bestellte Äußerung!)

Ich komme zum Schluss. Hinsichtlich der Überhang-mandatsproblematik behaupten Sie immer, das sei keinAuftrag des Gerichts.

(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Genau!)

Am 25. Februar 2009 hatte das Gericht erklärt, dass esdavon ausgeht, „dass sich die vom Beschwerdeführeraufgeworfene Frage der Verfassungswidrigkeit vonÜberhangmandaten nach einer Neuregelung nicht mehrin der gleichen Weise stellen wird“.

(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Lesen Sie doch den Satz zu Ende!)

Wir haben den Auftrag, daran etwas zu ändern.Schauen Sie sich einmal die Vorgeschichte zu der letztenEntscheidung zu Überhangmandaten an, die nur mit vierzu vier Stimmen getroffen wurde und deshalb keine Ent-scheidung in der Sache war.

(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Auch vier zuvier ist eine Entscheidung in der Sache! KeineAhnung!)

In den ersten zwölf Wahlperioden dieser Republik zu-sammen gab es nicht so viele Überhangmandate wie indieser Wahlperiode. Das zeigt, dass eine qualitative Ver-änderung stattgefunden hat. Das Bundesverfassungsge-richt hat in der Vergangenheit immer gesagt: Solange dieÜberhangmandate keine Rolle spielen und nur eineRanderscheinung sind, mag das angehen.

(Beifall der Abg. Brigitte Zypries [SPD])

Vizepräsidentin Petra Pau:Kollege Beck, Sie zerstören mit dem Nichteinhalten

Ihrer Ankündigung, dass Sie zum Schluss kommen,meine Hoffnung, dass Sie mich hier ernst nehmen. Bittenehmen Sie jetzt nicht dem Kollegen Wieland die Zeitweg.

Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Ich dachte, weil ich im Dissens zur Koalition bin, gilt

für mich die Lammert-Regelung, die wir heute Morgeneingeführt haben.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Petra Pau:Im Moment sitzt hier Vizepräsidentin Pau und ent-

scheidet. Also, bitte nehmen Sie dem Kollegen Wielandkeine Redezeit weg.

(Beifall bei der LINKEN)

Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Die Überhangmandatsregelung muss deshalb weg,

weil die Gefahr besteht, dass sie das Wahlergebnis insGegenteil verkehrt. Das ist ein Anschlag auf die Demo-kratie. Den haben Sie vor. Wir werden ihn durch denGang nach Karlsruhe vereiteln.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Vizepräsidentin Petra Pau:Für die Unionsfraktionen spricht nun der Kollege

Altmaier.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Peter Altmaier (CDU/CSU):Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Der Kollege Oppermann und der Kollege Beckhaben uns hier eine Hitparade der Scheinheiligkeitenvorgeführt.

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Peter Altmaier

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Oh!)

Das ist unter einem parteipolitischen Standpunkt ver-ständlich. Nach draußen ergibt das aber kein gutes Bild.

Der erste Punkt der Scheinheiligkeit ist, dass Sie aufdem ach so eindrucksvollen Argument der Zeitüber-schreitung herumreiten.

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Wieso ist das scheinheilig?)

Ja, es ist wahr und es stimmt, dass wir die Frist, die unsdas Bundesverfassungsgericht gesetzt hat, um einigeMonate überschritten haben.

(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist peinlich!)

Das ist bedauerlich. Ich sage: Es wäre besser und elegan-ter gewesen, wir hätten dieses Gesetz drei Monate früherverabschiedet.

Aber warum haben wir denn diese Frist überschrit-ten?

(Thomas Oppermann [SPD]: Weil Sie sich nicht einigen konnten!)

Wir haben sie auch deshalb überschritten, weil wir unsmonatelang, vor und nach der Sommerpause, bemüht ha-ben, eine parteiübergreifende Regelung zustande zubringen, die mit Ihnen nicht zu machen war,

(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: So ist es!)

weil Sie nur einen einzigen Punkt im Auge hatten, deraber mit dem negativen Stimmgewicht nichts zu tunhatte.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP – Volker Beck [Köln] [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben mit unsüberhaupt nicht geredet! Sie waren doch vorallem mit der FDP beschäftigt!)

– Lieber Kollege Beck, hören Sie doch einfach einmalzu.

Der zweite Punkt der Scheinheiligkeit betrifft das Ar-gument, hier würde ein Gesetz von der Mehrheit verab-schiedet und das Wahlrecht, um das es gehe, sei docheiner überparteilichen Konsensbildung besonders zu-gänglich. Aus diesem Grund haben wir uns um die über-parteiliche Mehrheit bemüht. Aber es ist Ihnen leiderGottes entfallen, dass es im Jahre 2002 und im Jahre2004 in der Amtszeit der rot-grünen Koalition schon ein-mal Änderungen am Wahlrecht gegeben hat. Auch da-mals sind diese Änderungen nicht im Konsens beschlos-sen worden, sondern allein von der rot-grünen Mehrheit.Sie haben das damals im Bundestag mit dem Hinweisdarauf beschlossen, dass das Wahlrecht ein einfachesGesetz ist und mit einfachen Mehrheiten geändert wer-den kann. Was damals richtig war, kann heute nichtfalsch sein.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Ich will Ihnen sagen, warum wir glauben, dass wirdas Gesetz auch mit der Mehrheit der Koalition verab-schieden können und warum das geboten und gerechtfer-tigt ist: zum einen, weil wir in der Tat nicht mehr Zeitverlieren dürfen, und zum anderen, weil wir uns auf eineLösung geeinigt haben, die das geltende Wahlrecht sowenig wie möglich tangiert.

Kollege Ruppert hat bereits darauf hingewiesen, dasswir in den letzten 60 Jahren gute Erfahrungen mit demgeltenden Wahlrecht gemacht haben, das im Übrigendeshalb so komplex ist, weil wir ein föderales Land sind.Wenn wir kein föderales Land wären und nicht versu-chen würden, das Wahlrecht den Menschen durch Lan-deslisten statt Bundeslisten und mit Rücksichtnahme aufdie Gegebenheiten in den einzelnen Bundesländern nä-herzubringen, dann hätten wir es zugegebenermaßenauch mit dem negativen Stimmgewicht viel leichter. Wirhätten zum Beispiel eine Bundesliste machen können.Solange wir aber das System mit den Wahlkreisen undListen beibehalten, würde das dazu führen, dass ganzeLandstriche in Deutschland nicht mehr mit Mandaten imDeutschen Bundestag vertreten wären.

An dieser Stelle sagen wir: Wir haben mit dem Wahl-recht versucht, die bisherige gute Tradition von 60 Jah-ren fortzuschreiben, nicht mehr und nicht weniger.

(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Versuchen allein genügt nicht!)

Deshalb ist es gerechtfertigt, dass wir dieses Gesetz mitder Koalitionsmehrheit verabschieden.

Der dritte Punkt der Scheinheiligkeit betrifft dieFrage, was geändert werden muss und geändert werdensoll. Wir haben gesagt: Wir müssen das negative Stimm-gewicht beseitigen oder zumindest so weit reduzieren,dass die Wahrscheinlichkeit seines Eintretens erheblichgemindert wird. Das ist angesichts der Komplexität desWahlrechts nicht einfach.

Die Kollegen der Grünen haben einen Vorschlag vor-gelegt, der diesem Ziel zugegebenermaßen sehr nahekommt, aber um den Preis einer regionalen Verzerrungin Deutschland, weil dann die Gebiete der Diaspora, inder eine Partei weniger Stimmen hat, mit dem Verlustvon Mandaten dafür bezahlen, dass in anderen Gegen-den, wo Überhangmandate möglich sind, solche errun-gen werden. Wir halten das mit dem Grundsatz unseresWahlrechts einer gleichmäßigen Repräsentation für nichtvereinbar. Deshalb ist eine solche Lösung mit uns nichtzu machen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Der Vorschlag der SPD hat sich gar nicht an der Fragedes Abbaus der negativen Stimmgewichte orientiert.

(Zuruf von der FDP: Das ist peinlich!)

Sie hatten, Herr Kollege Oppermann, von der ersten Mi-nute an nur das Thema Überhangmandate im Blick undwollten leichte Beute machen. Sie haben deutlich ge-macht: Sie sind für viele Lösungen zu haben, aber immer

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Peter Altmaier

nur dann, wenn die Überhangmandate abgeschafft wer-den.

Ich will auf einen weiteren Punkt eingehen. Sie habenden Kollegen Paula zitiert. Warum haben Sie nicht denKollegen Struck und andere Kollegen aus Ihrer Fraktionzitiert? Es gab nämlich eine Zeit, und zwar in den Jahren1998 und 2002, in der Sie selber Überhangmandate hat-ten. Sie haben damals davon profitiert. Der KollegeKauder hatte bestimmte Zweifel,

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Die hat er für die Fraktion vorgetra-gen!)

und die Redner Ihrer Fraktion haben mit sehr beredtenArgumenten nachgewiesen, dass nichts gegen Über-hangmandate einzuwenden sei und dass man sie gera-dezu erfinden müsste, wenn es sie noch nicht gäbe.

(Thomas Oppermann [SPD]: Aber jetzt sind wir bei Ihnen!)

Der Kollege Krings hat einen schönen Spruch gesagt:„Die größten Kritiker der Elche waren früher selber wel-che.“ Sie können zwar diese Position vertreten, aber bitteseien Sie nicht so scheinheilig und tun Sie nicht so, alswären Sie selber schon immer gegen die Überhangman-date gewesen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Es gibt einen weiteren Punkt, Herr KollegeOppermann. Sie haben gesagt: Das Bundesverfassungs-gericht hat die Entscheidung, in der es die Überhang-mandate nicht als verfassungswidrig erklärt hat, mit vierzu vier Stimmen getroffen.

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Das zeigt, wie knapp es ist!)

Dazu sage ich: Vorsicht! Das Bundesverfassungsgerichttrifft häufiger Entscheidungen mit vier zu vier Stimmen.Das liegt in der Natur der Sache. Ich habe noch nie er-lebt, dass Sie eine Entscheidung, die mit vier zu vier ge-troffen worden ist, als nicht legitimiert angesehen hätten,

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Das sagt doch niemand!)

wenn sie zu Ihren Gunsten ausgegangen ist. Deshalbbitte ich, mit diesem Argument vorsichtig zu sein.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Letzter Punkt, Frau Präsidentin. Meine sehr verehrtenDamen und Herren, wir haben die Verantwortung, dasWahlrecht jetzt zügig und mit einer klaren und einfachenLösung zu ändern und das Gesetz zu verabschieden. DerKollege Beck hat angekündigt, dass die Fraktion derGrünen die Rechtmäßigkeit des Gesetzes vom Bundes-verfassungsgericht prüfen lassen wird. Ich kann Ihnendazu nur sagen: Ich freue mich auf die Debatte und dieAuseinandersetzung über die strittigen Fragen. Wir sindüberzeugt, dass wir von allen Lösungen, die zur Verfü-gung standen, diejenige gewählt haben, die unserem be-währten Wahlrecht am ehesten entspricht, dass wir die

Gefahr des Auftretens des negativen Stimmgewichtsdeutlich reduziert haben

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Aber mehr auch nicht!)

und dass dieses Ergebnis jeder juristischen Prüfungstandhalten wird. Wir werden uns dann in Karlsruhewiedersehen.

Vielen herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsidentin Petra Pau:Das Wort hat die Kollegin Fograscher für die SPD-

Fraktion.

(Beifall bei der SPD)

Gabriele Fograscher (SPD):Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!

Das Bundesverfassungsgericht hat zu seinem 60-jähri-gen Jubiläum zu Recht viel Lob erhalten. Es hat politi-sche Entscheidungen bestätigt und auch den Gesetzgeberzu Korrekturen verpflichtet, aber selten mit einer Fristvon drei Jahren. Die Regierungskoalition hatte drei JahreZeit, das Wahlrecht verfassungskonform zu machen.Doch Sie legen erst zwei Tage vor Ablauf der Frist einenGesetzentwurf vor. Der Präsident des Bundesverfas-sungsgerichts, Herr Voßkuhle, hat am Montag gesagt:Dass diese Frist von der Politik nicht genutzt worden ist,enttäuscht uns. – Recht hat er. Die Oppositionsfraktionenkann er damit nicht gemeint haben; denn alle drei Frak-tionen haben Gesetzentwürfe vorgelegt, die innerhalbder Frist hätten verabschiedet werden können.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD – VolkerBeck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:Wir sogar 2009!)

Sie haben abgewartet, welche Lösungen die Opposi-tionsfraktionen vorschlagen, um dann zu entscheiden,dass Sie das so nicht wollen. Sie wollen ein Überhang-mandatssicherungsgesetz.

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Genau!)

Wir als SPD-Bundestagsfraktion hatten Ihnen mehr-fach Gespräche angeboten. Sie waren zu keinen kon-struktiven Gesprächen bereit. Aber damit nicht genug:Sie brüskieren nicht nur das Bundesverfassungsgericht,sondern auch die Sachverständigen in der Anhörung.Fünf Minuten vor Beginn der Anhörung legen Sie Be-rechnungen des BMI bzw. des BSI vor, die keiner wäh-rend der Anhörung ernsthaft prüfen und bewerten kann.Herr Pukelsheim erklärte dazu: „Ich finde es auch sehrspontan, nach drei Jahren Vorbereitungszeit das jetzt hierals Tischvorlage zu bringen.“ Inzwischen liegt uns eineStellungnahme von Professor Pukelsheim zu dieserTischvorlage vor. Darin heißt es:

Zudem lehrt das Beispiel, dass der Koalitionsent-wurf negative Stimmgewichte nun auch bei Nicht-Überhangsparteien ermöglicht, was die Problematikum eine neue Dimension erweitert. … Diese Fälle

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Gabriele Fograscher

negativer Stimmgewichte werden nicht dadurchzum Verschwinden gebracht, dass das BMI sie an-gesichts der im Amt präferierten Definition zu denAkten legt.

So viel zu Ihrer Behauptung, Sie würden das negativeStimmgewicht abschaffen.

Sie versuchen aber nicht nur, die Sachverständigen zuüberrumpeln. Nein, Sie legen spontan in der abschlie-ßenden Ausschussberatung einen Änderungsantrag zuIhrem eigenen Gesetzentwurf vor.

(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Sie hätten aus der Anhörung lernen können!)

Sie wollen nun die Überhangmandate mit diesen rätsel-haften Reststimmenmandaten hinterlegen. Damit wider-legen Sie Ihre eigene Aussage, dass Überhangmandatekein Problem darstellen. Vielleicht haben Sie inzwischendoch Zweifel daran. Tatsächlich sind Überhangmandateein Problem. Sie verzerren den Wählerwillen. Sie wer-den nicht nachbesetzt und können bei engen Mehrheits-verhältnissen zu wechselnden Mehrheiten innerhalb ei-ner Legislaturperiode führen.

Für besonders problematisch und unsystematisch hal-ten wir neben dem Festhalten an den Überhangmandatendie Reststimmenverwertung. Die Reststimmenproblema-tik entsteht wegen Ihres Vorschlags, die Länderlisten zutrennen. Die Sachverständige Frau Sacksofsky erklärtein der Anhörung dazu:

Man erfindet fiktive Quoten, die gar keine Rolle fürdie Zuteilung gespielt haben, und will die dann ver-wenden. Das ist nach meinem Verständnis grob un-sachlich und damit an der Willkürgrenze.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Liebe Kolleginnen und Kollegen der Regierungsfrak-tionen, das Wahlrecht ist die Legitimation jedes einzel-nen Abgeordneten hier im Haus. Die Bürgerinnen undBürger bestimmen mithilfe des Wahlrechts ihre Volks-vertretung. Die Bürgerinnen und Bürger wollen einnachvollziehbares, ein transparentes Wahlrecht. Sie wol-len, dass ihre Stimme der Partei zugutekommt, die sieunterstützen wollen. Sie wollen, dass die Mehrheit derStimmen auch die Mehrheit der Mandate bedeutet, undnicht, dass eine Regierung gebildet wird, die ihre Mehr-heit auf Überhangmandate stützt, aber nicht auf eineMehrheit an Zweitstimmen.

(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Gerade das stellen wir sicher!)

Die Trennung der Landeslisten, die Verteilung derSitze nach Wahlbeteiligung fördert geradezu das takti-sche Wählen und das Stimmensplitting. Das heißt, Erst-stimme für Partei A und Zweitstimme für Partei B führtzu einem doppelten Erfolgswert und widerspricht damitdem Gleichheitsgrundsatz.

Derzeit sind fast 4 Prozent der Abgeordneten in die-sem Haus aufgrund eines Überhangmandats im Parla-ment. Wenn Ihr Gesetzentwurf Gesetzeskraft erlangt,werden bald mehr als 5 Prozent der Abgeordneten einÜberhangmandat haben.

(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Das Gegen-teil ist der Fall!)

Das ist Fraktionsstärke, und das kann wirklich keinerwollen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Damit wird der Wählerwille verzerrt. Ich bin mir sicher,dass das Bundesverfassungsgericht dieser Praxis einenRiegel vorschieben wird.

Wir wären bereit, auf die Überhangmandate zu ver-zichten. Es stimmt, dass Überhangmandate einmal Ihnenund einmal uns zugutekommen. Wir sind deshalb fürdiesen Ausgleich. Ich verstehe wirklich nicht, warum Sievon der FDP sich so gegen unseren Vorschlag stellen.

(Zuruf von der FDP: Weil er das Problem nicht löst!)

Es ist mehr als unwahrscheinlich, dass Sie jemals Über-hangmandate bekommen. Sie werden von der Änderung,die Sie heute beschließen, nicht profitieren, Ihr Koali-tionspartner aber schon. Auch diese merkwürdig kon-struierte Reststimmenverwertung wird Ihnen nicht zumVorteil gereichen. Ausgleichsmandate sind im Übrigenkeine Erfindung der SPD. Es gibt sie in fast allen Lan-deswahlgesetzen.

(Thomas Oppermann [SPD]: So ist es!)

Die Grünen haben einen anderen Lösungsweg vorge-schlagen, der nicht dem SPD-Vorschlag entspricht, deraber immer noch besser ist als der Koalitionsentwurf.

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Das nehmen wir als Kompliment!)

Deshalb werden wir dem Vorschlag zustimmen. DerEntwurf der Linken ist ein Sammelsurium von Vorschlä-gen.

(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Guten Vor-schlägen!)

Ihr Versuch, mithilfe getrennter Abstimmungen dieSpreu vom Weizen zu trennen, ist gut gemeint, findetaber nicht unsere Zustimmung.

Sie werden heute mit Ihrer Mehrheit Ihren Entwurfdurchsetzen. Wir als SPD-Bundestagsfraktion werdenbeim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe dagegenKlage einreichen.

(Beifall bei der SPD)

Vizepräsidentin Petra Pau:Ich möchte es nicht versäumen, dem Kollegen van

Essen von dieser Stelle zum Geburtstag zu gratulieren.

(Beifall)

Sie haben das Wort für die FDP-Fraktion.

(Beifall bei der FDP)

Jörg van Essen (FDP):Vielen Dank, Frau Präsidentin! Ich muss gestehen,

dass eine Rede im Bundestag nicht auf der Wunschliste

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Jörg van Essen

für meinen Geburtstag stand. Aber es ergibt sich nuneinmal so.

(Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:Oh! – Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Hat man Sie genötigt?)

Ich rede deshalb ganz gern, weil ich finde, dass dasWahlrecht eines der wichtigsten Themen in einem Parla-ment ist.

(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Sehr wahr!)

Das ist eine sehr sensible Materie, und deshalb sind alle,die sich damit beschäftigen, aufgerufen, damit sensibelumzugehen. Das gilt für uns als Gesetzgeber, aber – icherlaube mir die Bemerkung – diese Sensibilität erwarteich auch vom Bundesverfassungsgericht.

Das Problem, das zu lösen uns aufgetragen wurde,nämlich das negative Stimmgewicht, ist ein Thema, dasdie Öffentlichkeit intensiv beschäftigt hat, und zwar auf-grund eines Vorgangs in Dresden, das aber ansonsten einNebenproblem ist. Wir haben bei der Diskussion fest-stellen müssen, dass wir an vielen Schrauben drehenkonnten. Wir haben aber gemerkt: An welcher Schraubeauch immer wir gedreht haben, es hatte auf die Chancender Parteien – je nach ihrer Größe – erhebliche Auswir-kungen. Das ist im Übrigen einer der Gründe, warum esso lange gedauert hat; denn alles, was man sich überlegthat, musste nachgerechnet werden. Man musste schauen,welche Auswirkungen die Veränderungen haben.

Herr Kollege Oppermann, Sie haben Krokodilstränenvergossen und gesagt, das hätte seit vier Jahren geregeltwerden können.

(Thomas Oppermann [SPD]: Seit drei!)

– Fast vier Jahre. – Dabei zeigen doch einige Finger aufSie selbst. Sie waren doch die Hälfte der Zeit selber inder Regierung.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP und derCDU/CSU – Thomas Oppermann [SPD]: EinDreivierteljahr!)

Sie hätten in der Zeit Vorschläge machen können. Nie-mand hätte Sie daran gehindert. Sie hätten versuchenkönnen, das Problem zu lösen. Daher nehme ich IhrenVorwurf nicht ernst. Ich bitte aber um Verständnis, weildas der Grund dafür ist, warum es diese leichte Verspä-tung gibt, die auch wir selbstverständlich nicht gut fin-den.

Ich finde den Ansatz, den wir gewählt haben, näm-lich, wie man in der Medizin sagt, minimalinvasiv einzu-greifen, richtig; denn es hat sich gezeigt, dass es nachdem bisherigen Wahlrecht faire Chancen für große Par-teien, aber auch für kleinere Parteien gibt. Aufgrund desWahlrechts gibt es sogar für neue Parteien die Chance, indie Parlamente zu kommen, wie wir es gerade in Berlinerlebt haben. Das sorgt für eine lebendige Demokratie inunserem Land.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

Wir haben die Verpflichtung, für ein Wahlrecht zu sor-gen, das genau diese Lebendigkeit auch in Zukunft si-cherstellt.

Frau Kollegin, Sie haben in Bezug auf Hamburg fürDie Linke ein Beispiel gebildet und gesagt, dass Sienicht verstanden hätten, dass das für Sie von Vorteilwäre. Es wäre für Sie von Vorteil. Sie würden ein sol-ches Zusatzmandat für Reststimmen bekommen. IhrVortrag hat mir gezeigt, dass Sie das neue Wahlrechtganz offensichtlich nicht verstanden haben. Deshalbsehe ich Ihrer Ankündigung, dass Sie deswegen nachKarlsruhe gehen werden, mit großer Gelassenheit entge-gen.

Vizepräsidentin Petra Pau:Kollege van Essen, gestatten Sie eine Frage?

Jörg van Essen (FDP):Nein, danke. Frau Kollegin, ich habe eine so kurze

Redezeit, dass ich das gerne im Zusammenhang vortra-gen würde.

Ein Gesichtspunkt ist leider nicht angesprochen wor-den, der auch mir persönlich wichtig ist. Ich habe gesagt,Wahlrecht müsse auch Chancengleichheit sicherstellen.Dazu gehört, einen entsprechenden Rechtsschutz gegendie Nichtzulassung zur Wahl zu haben.

(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

Ich bedauere ganz außerordentlich, dass das bisher keineRolle gespielt hat. Auch das verbessern wir.

Das Thema Zweitstimmen bzw. Überhangmandatehat eine Rolle gespielt. Ich will nicht verhehlen: Wir ha-ben bisher keine Überhangmandate gehabt. Die SPD hatdieses Thema erst entdeckt, als sie keine mehr bekam.

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Weiterträumen!)

Sie wären sehr viel glaubwürdiger, wenn Sie sich schonfrüher mit diesem Thema befasst hätten.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Für uns ist die Lage klar und eindeutig. Das Verfas-sungsgericht hat eine Aussage getroffen, die wir unter-streichen: Überhangmandate sind nicht erwünscht. Des-halb gehört zu dem Vorschlag, dass, wenn es Rest-stimmenmandate gibt, diese mit Überhangmandaten ver-rechnet werden. Das ist ein ganz wichtiger Schritt, umÜberhangmandate zu reduzieren.

Es gibt jedoch die klare Aussage des Bundesverfas-sungsgerichts, dass Überhangmandate in einem be-stimmten Umfang respektiert werden können. Wir res-pektieren die Entscheidung des Bundesverfassungsge-richts und sehen damit der Entscheidung in Karlsruhesehr gelassen entgegen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

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Vizepräsidentin Petra Pau:Das Wort hat der Kollege Wolfgang Wieland für die

Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Frau Präsidentin, zunächst vielen Dank, dass Sie sich

so beherzt für meine vier Minuten eingesetzt haben.Meine Damen und Herren! Herr Kollege Altmaier, Siehaben uns gleich fünfmal Scheinheiligkeit vorgeworfen.

(Beifall des Abg. Dr. Michael Meister [CDU/CSU])

Deshalb erinnere ich daran, dass Seine Heiligkeit vor ei-ner Woche fast genau zu dieser Stunde hier eine rechts-theoretische Vorlesung gehalten hat.

(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Geschmack-loser Vergleich!)

Er hat dabei gesagt – dies nur zur Erinnerung –, dass inbestimmten Grundfragen des Rechtes das Mehrheitsprin-zip nicht ausreiche.

(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Aha!)

Gleichzeitig hat er ausgeführt – das halte ich Ihnen zu-gute, Herr Kollege Krings –, dass das wahrhaft Rechtenicht immer einfach zutage trete. Ich füge hinzu: Daswahrhaft Unrechte erkennt man oft sehr schnell. Das istnämlich der Entwurf, den Sie jetzt endlich vorgelegt ha-ben.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Sie haben nicht auf das Römische Recht, sondern auf rö-mische Machtsicherungstechniken – divide et impera! –in moderner Fassung zurückgegriffen:

(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Das ist unter Ihrem Niveau, Herr Wieland!)

Wir zerteilen das Wahlgebiet in 16 Stücke und sackenüberall die Überhangmandate ein. Dann gibt es auf Inter-vention des Fraktionsvorstands der FDP – der KollegeRuppert ist ja schuldlos; er ist gar nicht darauf gekom-men – noch die Stimmen von Rudis Resterampe oder,wenn man es genauer sagen will, von Guidos Reste-rampe.

(Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Lieber Herr van Essen, da Sie heute Geburtstag ha-ben: Was würden Sie denn sagen, wenn die CDU mit ei-ner Geburtstagstorte kommt und sagt „Wir teilen dieTorte in 16 Stücke. Dann stimmen wir bei jedem Stückab, wer es essen darf. Das sind aber immer wir, und Siebekommen nur die Restkrümel“?

(Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Happy Birthday, lieber Herr van Essen! Ich hätte Ihnenheute etwas anderes gewünscht.

Der Kollege Altmaier war ehrlich. Er hat gesagt: DieReststimmenproblematik haben wir zurückgedrängt

bzw. etwas reduziert. – Meine Güte! Was hat denn dasBundesverfassungsgericht zu dem negativen Stimmge-wicht gesagt? Es hat gesagt: Es

führt zu willkürlichen Ergebnissen und lässt den de-mokratischen Wettbewerb um Zustimmung bei denWahlberechtigten widersinnig erscheinen.

Aber Sie stellen sich hierhin und sagen: Wir sind nurnoch ein bisschen schwanger, wir sind nur noch ein biss-chen willkürlich und ein bisschen widersinnig. – Siedenken, dass das überzeugt. Es überzeugt aber nicht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Als nächster Redner spricht der Kollege Uhl. Ich weißschon, was er sagen wird.

(Dr. Hans-Peter Uhl [CDU/CSU]: Die Wahr-heit!)

– Ja, Sie sind absolut berechenbar. Das ist positiv.

(Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN und bei der SPD – Dr. Hans-Peter Uhl[CDU/CSU]: Das liebt der Wähler!)

– Ja. – In der letzten Legislaturperiode haben wir einenEntwurf vorgelegt, von dem es hieß, dass wir damit dasProblem der CSU nicht gelöst hätten. Daraufhin habe ichgesagt: Was die CDU in 60 Jahren nicht geschafft hat,haben wir in sechs Monaten nicht geschafft.

(Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN und bei der SPD – Dr. Günter Krings[CDU/CSU]: Wie wäre es mit Inhalten stattmit Klamauk? Das Thema ist zu wichtig!)

Nun sind wir weiter. Jetzt haben wir das Problem derCSU gelöst. Nun sagen Sie aber: Wie unschön, wie un-fein.

Wir haben immer zugegeben, dass unser Entwurf andieser Stelle nicht filigran ist.

(Dr. Hans-Peter Uhl [CDU/CSU]: Das stimmt!)

Er ist der CSU angepasst, also krachledern, radikal, aberdas Problem ohne Wenn und Aber lösend.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Trotzdem sagen Sie – gestern bei Stoibers Geburtstagnoch in der Lederhose, heute im Plenarsaal als Mimose –:Wie kann man so böse sein? – Das reimt sich zwar,macht es aber nicht besser und ändert nichts an Ihrer be-leidigten Haltung.

(Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Unser Vorschlag ist verfassungsfest. Weil die Bräucheso sind, hat der Bayerische Verfassungsgerichtshofschon einmal genauso entschieden. Deswegen, lieberHerr Kollege Uhl: Akzeptieren Sie es!

Abschließend will ich sagen. Wir haben heute Mor-gen viel über unser Königsrecht als Parlamentarier gere-det. Hier geht es um das Königsrecht der Bürgerinnen

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Wolfgang Wieland

und Bürger, nämlich um das Wahlrecht. Da können wirnicht akzeptieren, dass sich drei Parteien nach ihremGusto den Kuchen zurechtschneiden. Deshalb sage ich:Nicht bei Philippi, aber in Karlsruhe sehen wir uns wie-der. Wir freuen uns darauf.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der SPD sowie bei Abgeordneten derLINKEN)

Vizepräsidentin Petra Pau:Der Kollege Dr. Hans-Peter Uhl hat das Wort für die

Unionsfraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Dr. Hans-Peter Uhl (CDU/CSU):Meine Damen und Herren! Auch wir freuen uns da-

rauf, uns in Karlsruhe wiederzusehen. Lassen Sie michtrotz Ihrer polternden Polemik, Herr Wieland, wie Herrvan Essen etwas sensibler mit dem Thema umgehen.

(Thomas Oppermann [SPD]: Das ist so Ihre Art!)

Wir hätten es natürlich gerne gesehen, dass nicht nurunser Gesetz in Karlsruhe, sondern auch Ihr Gesetzent-wurf, Herr Wieland,

(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Dann müssen Sie zustimmen!)

und auch der Gesetzentwurf der SPD oder gar der Lin-ken geprüft würden. Leider ist das nicht möglich.

Der Gesetzentwurf der SPD ist typisch SPD. Sie sa-gen: Da wir, was die Überhangmandate angeht, in jüngs-ter Zeit vom Wähler schlecht bedient wurden, muss et-was geschehen. Aber Überhangmandate abzuschaffen,wie es die Grünen vorschlagen, wollen Sie nicht. AberIhnen würde es gefallen, wenn die Überhangmandateausgeglichen würden, indem Sie die gleiche Anzahl wiedie Union erhalten.

Sagen Sie doch einmal, worauf es Ihnen wirklich an-kommt, Herr Oppermann. Ihre Partei hat in 50 Jahren bis2005 alles in allem 38 Überhangmandate kassiert.

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Jetzt sind sie reuige Sünder! Freuen Siesich doch darüber!)

Sie haben sie dankend entgegengenommen und sich niebeim Wähler beschwert. Mit diesen 38 Überhangmanda-ten konnten Sie gut regieren. Die Union dagegen hat imgleichen Zeitraum nur 34 Überhangmandate bekommen.Auch wir haben uns darüber nicht beschwert und habendas Votum des Wählers hingenommen.

Seit der letzten Wahl, als Sie gemerkt haben, dass Siedurch die Abspaltung Ihrer linken Freunde von IhrerPartei strukturell kaum mehr Chancen haben, Überhang-mandate zu bekommen, ist für Sie das Instrument derÜberhangmandate Teufelszeug. Für Sie muss es nicht,wie die Grünen es fordern, abgeschafft, sondern ausge-glichen werden. Ausgleich bedeutet aber, dass im Ple-narsaal 100 weitere Sitze aufgestellt werden müssen.

(Thomas Oppermann [SPD]: Ah!)

Wer von Ihnen will denn so etwas? Der Wähler undSteuerzahler will so etwas nicht.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –Thomas Oppermann [SPD]: Sie wollen es! Siehaben 24 Stühle aufgestellt!)

Ich will auf den Vorschlag der Grünen nicht zu spre-chen kommen. Ihm ist die Verfassungswidrigkeit auf dieStirn geschrieben, Herr Wieland. Unter uns Juristen: Dasnennt man Evidenztheorie. Es ist schade, dass die Ver-fassungsrichter dazu nicht urteilen können.

Über den Gesetzentwurf der Linken ist schon gespro-chen worden. Er ist in vielen Teilen so abwegig, dass essich nicht lohnt, darauf vertieft einzugehen.

Wir haben uns wirklich Gedanken gemacht: Was istder Auftrag des Verfassungsgerichtes? Dieser Auftraglautet, das negative Stimmgewicht zu beseitigen. DieKausalität, die dahin führt, liegt nicht im Überhangman-dat; sie liegt vor allem in der Listenverbindung. Deswe-gen haben wir die Listenverbindung gekappt, und damitist das Problem strukturell gelöst. Das ist der Punkt.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Mit der in unserem Gesetzentwurf verankerten Lö-sung – das Innenministerium hat es entsprechend errech-net; diese Berechnungen werden wir in Karlsruhe vorle-gen – liegt die Chance, dass es wieder zu einemnegativen Stimmgewicht kommt, bei 0,02 Fällen von1 000 Fällen.

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Ach was! Das steht da gar nicht drin!)

Das heißt, wir haben unsere Aufgabe erfüllt. Damit kön-nen wir uns in Karlsruhe sehen lassen.

Zum Überhangmandat ist genug gesagt worden. DasVerfassungsgericht hat niemals gesagt, dass ein Über-hangmandat verfassungswidrig ist. Zur Verfassungswid-rigkeit könnte es nur bei Überhangmandaten in einer be-stimmten Größenordnung kommen.

(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Wir haben schon 24! Früher wa-ren es 0 bis 3!)

Ich als frei gewählter Abgeordneter aus München binvon der Bevölkerung viermal gewählt worden. Daraufbin ich, mit Verlaub, stolz. Sehr viele von Ihnen sind inihrem Wahlkreis direkt gewählt worden und sind daraufebenfalls stolz – mit Recht.

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Aber Sie waren doch wohl der Erst-stimmenkönig!)

Wenn wir nun nach 50 Jahren erfolgreicher Wahlen einBekenntnis zu dem personalisierten Verhältniswahlrecht– Verhältniswahl einerseits, personalisierte Wahl ande-rerseits; eine Stimme für die Person, eine Stimme für diePartei – ablegen wollen, dann sollten wir Respekt vordem Wahlergebnis – sie haben ihre Erststimme für eine

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Dr. Hans-Peter Uhl

Person abgegeben – der Wähler haben. Zu sagen: „Werdie Mehrheit hat, kommt ins Parlament nicht hinein“,Herr Wieland, bedeutet, dass man den Wählerwillen mitFüßen tritt. Nicht mit uns!

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Jetzt komme ich noch auf einen für mich ganz wichti-gen Punkt zu sprechen: Redlichkeit, Ehrlichkeit im Um-gang mit dem Wahlrecht. Es wäre mit uns nie möglichgewesen, ein Wahlrecht zu schaffen, durch das wir rech-nerisch, also was das Wahlergebnis bzw. die Verteilungder Mandate angeht, einen Vorteil haben. So etwas ist inhohem Maße undemokratisch und hätte in Karlsruhe nie-mals Bestand. Deswegen haben wir ausgerechnet: Wennman den Gesetzentwurf, den wir jetzt nach zweiter unddritter Lesung verabschieden, auf die letzte Wahl anwen-det, dann – jetzt passen Sie auf, Herr Oppermann – hättedie SPD ein Mandat mehr bekommen.

(Thomas Oppermann [SPD]: Geschenkt!)

Der Anteil der Grünen an der Torte an Wählerstimmen– Sie haben ihn nicht verdient, nicht nur, weil Sie, andersals Herr van Essen, keinen Geburtstag haben, sondernweil Sie Grüner sind – wäre danach um zwei Tortenstü-cke größer. Nach unserem Gesetzentwurf hätten die Grü-nen zwei Sitze mehr in diesem Bundestag. Dennoch er-wecken sie an diesem Rednerpult den Eindruck, alswollten wir uns bedienen.

(Thomas Oppermann [SPD]: Es geht doch gar nicht um Tortenstücke!)

Nach unserem Gesetzentwurf hätten wir, Herr Wieland,Herr Oppermann, keinen einzigen Sitz mehr, aber auchkeinen weniger. Für uns wäre es dasselbe Ergebnis. Soviel zu der Behauptung, dass wir uns hier bereichern.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Herr Beck, Sie sind ja ein Mensch, mit dem man re-den kann. Sie haben an diesem Rednerpult vor wenigenMinuten gesagt, mit der Verabschiedung unseres Ent-wurfs eines Gesetzes zur Reformierung des Wahlrechtshätten wir einen Anschlag auf die Demokratie vor; hättedieses Wahlrecht schon bei der letzten Bundestagswahlgegolten, hätte sich die Union eine größere Mehrheit er-gaunert. In Wahrheit hätte sie keinen Sitz mehr, und Siebehaupten an diesem Rednerpult etwas anderes.

(Zuruf von der FDP: Pfui!)

Obwohl die Grünen danach zwei Sitze mehr bekommenhätten, sind sie sich nicht zu schade, an diesem Redner-pult solche Unwahrheiten, solch eine Polemik zu äußern.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Es ist unanständig, so mit dem Gesetzentwurf umzuge-hen.

Ich komme zum Schluss. Wir sehen uns in Karlsruhewieder, und das ist gut so.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP – Thomas Oppermann [SPD]:Da backen Sie kleinere Brötchen!)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den von denFraktionen der CDU/CSU und der FDP eingebrachtenGesetzentwurf zur Änderung des Bundeswahlgesetzes.Der Innenausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seinerBeschlussempfehlung auf Drucksache 17/7069, den Ge-setzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und der FDPauf Drucksache 17/6290 in der Ausschussfassung anzu-nehmen.

Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in derAusschussfassung zustimmen wollen, um ihr Handzei-chen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Ich kann nurvermuten, dass die Koalition dem zustimmen wollte.Wenn das nicht auf Bedenken trifft, dann erkläre ichjetzt, dass der Gesetzentwurf in zweiter Beratung ange-nommen ist. Andernfalls müssten Sie alle Platz nehmen,und dann wiederholen wir den Vorgang.

(Zuruf von der CDU/CSU: Das haben wir kon-kludent gemacht!)

– Keine Bedenken.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Wir stimmen über den Gesetz-entwurf auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSUund der FDP namentlich ab.

Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, diePlätze an den Urnen einzunehmen. – Sind die Plätze be-setzt? – Das ist offenkundig der Fall. Dann eröffne ichdie Abstimmung.

Haben alle Kolleginnen und Kollegen ihre Stimm-karte eingeworfen? – Das ist der Fall, dann schließe ichdie Abstimmung und bitte, mit der Auszählung zu begin-nen. Das Ergebnis wird Ihnen später bekannt gegeben.1)

Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, wieder Platzzu nehmen, weil noch weitere Abstimmungen anstehen.Hierfür benötige ich einen gewissen Überblick.

Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzent-wurf der Fraktion der SPD zur Änderung des Bundes-wahlgesetzes. Der Innenausschuss empfiehlt unterBuchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-che 17/7069, den Gesetzentwurf der Fraktion der SPDauf Drucksache 17/5895 abzulehnen. Ich bitte diejeni-gen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um dasHandzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – DerGesetzentwurf ist in zweiter Beratung abgelehnt mit denStimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion DieLinke bei Zustimmung der SPD und der Grünen.

Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung dieweitere Beratung.

Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzent-wurf der Fraktion Die Linke zur Änderung des Grundge-setzes und zur Reformierung des Wahlrechts. Hier wirdeine persönliche Erklärung der Fraktion Bündnis 90/Die

1) Ergebnis Seite 15320 A

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Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms

Grünen nach § 31 der Geschäftsordnung des DeutschenBundestages zu Protokoll genommen.

Der Innenausschuss empfiehlt unter Buchstabe c sei-ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7069, denGesetzentwurf der Fraktion Die Linke auf Drucksache17/5896 abzulehnen. Die Fraktion Die Linke hat ge-trennte Abstimmung verlangt.

Ich rufe zunächst auf Art. 2 Nr. 1, Art. 2 Nrn. 3 bis 7,Art. 2 Nr. 13, Art. 2 Nrn. 16 bis 18 sowie Art. 10. Wirkommen zur Abstimmung. Ich bitte diejenigen, die zu-stimmen wollen, um das Handzeichen. – Gegenstim-men? – Enthaltungen? – Diese Artikel sind abgelehntmit den Stimmen aller Fraktionen bei Zustimmung derFraktion Die Linke und bei Enthaltung der FraktionBündnis 90/Die Grünen.

Ich rufe sodann auf Art. 2 Nr. 2 sowie Art. 2 Nr. 8. Ichbitte diejenigen, die zustimmen wollen, um das Handzei-chen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Diese beidenArtikel sind mit gleichem Stimmverhältnis abgelehnt.

Ich rufe auf Art. 2 Nrn. 10 bis 12 sowie Art. 3. Ichbitte diejenigen, die zustimmen wollen, um das Handzei-chen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Art. 2Nrn. 10 bis 12 sowie Art. 3 sind abgelehnt mit den Stim-men der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen derFraktion Die Linke und Enthaltung von SPD und Grü-nen.

Schließlich rufe ich auf Art. 1, Art. 2 Nr. 9, Art. 2Nrn. 14 und 15 sowie Art. 4 bis 9. Ich bitte diejenigen,die zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Gegen-stimmen? – Enthaltungen? – Was ist mit den Grünen? –Gegenstimmen. – Diese Artikel sind mit den Stimmenaller Fraktionen abgelehnt bei Zustimmung der FraktionDie Linke. Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Bera-tung insgesamt abgelehnt.

Nach unserer Geschäftsordnung entfällt die weitereBeratung.

Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzent-wurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur Änderungdes Bundeswahlgesetzes. Der Innenausschuss empfiehltunter Buchstabe d seiner Beschlussempfehlung aufDrucksache 17/7069, den Gesetzentwurf der FraktionBündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/4694 abzu-lehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zu-stimmen wollen, um das Handzeichen. – Gegenstim-men? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist inzweiter Beratung abgelehnt mit den Stimmen der Koali-tionsfraktionen und der Fraktion Die Linke bei Gegen-stimmen der SPD und der Grünen.

Damit entfällt auch hier die weitere Beratung.

Interfraktionell ist vereinbart, jetzt den Tagesord-nungspunkt 9 – dabei geht es um den Einsatz der Bun-deswehr in Südsudan – zu beraten; der Tagesordnungs-punkt 6 wird nach Tagesordnungspunkt 9 aufgerufen.Sind Sie damit einverstanden? – Dann ist das so verein-bart.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:

– Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Auswärtigen Ausschusses (3. Aus-schuss) zu dem Antrag der Bundesregierung

Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deut-scher Streitkräfte an der von den VereintenNationen geführten Friedensmission in Südsu-dan (UNMISS) auf Grundlage der Resolution1996 (2011) des Sicherheitsrates der VereintenNationen vom 8. Juli 2011

– Drucksachen 17/6987, 17/7213 –

Berichterstattung:Abgeordnete Philipp MißfelderHeidemarie Wieczorek-ZeulMarina SchusterJan van AkenKerstin Müller (Köln)

– Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss)gemäß § 96 der Geschäftsordnung

– Drucksache 17/7216 –

Berichterstattung:Abgeordnete Herbert FrankenhauserKlaus BrandnerDr. h. c. Jürgen KoppelinMichael LeutertSven-Christian Kindler

Über die Beschlussempfehlung werden wir später na-mentlich abstimmen.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Sind Sie da-mit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist das so be-schlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-ner dem Kollegen Joachim Spatz von der FDP-Fraktiondas Wort.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Joachim Spatz (FDP):Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir debat-

tieren über die Mission UNMISS, die als Fortführungder alten Mission UNMIS gilt, aber nach der Unabhän-gigkeitserklärung des Südsudan am 9. Juli dieses Jahres,am Ende eines langen Separationsprozesses, einen ande-ren Charakter hat. Das drückt sich unter anderem darinaus, dass wir die Militärbeobachtungsmission, an der wiruns im Rahmen des letzten Mandats noch beteiligt habenund die vor allem dem Grenzregime galt, nicht fortfüh-ren. Deshalb wird die Obergrenze auf 50 Soldaten redu-ziert.

Es ist dringend notwendig, dass die Mission im neuentstandenen Staat Südsudan, so wie es die Weltgemein-schaft vorsieht, einen zivilen Charakter hat. Wer einmaldort gewesen ist, weiß, wie groß die Handlungserforder-nisse bei den Themen des Infrastrukturausbaus, des Auf-baus von Regierungs- und Verwaltungsstrukturen und

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Joachim Spatz

der Einführung von so etwas wie Rule of Law sind, allesvon einer überaus rudimentären Basis ausgehend.

Es ist offensichtlich, dass es dabei Probleme gebenwird – seien wir nicht naiv! –; denn auch wenn der Um-bau der SPLA zu einer Parteiorganisation erfolgt ist, soist sie im Moment doch die allein regierende Partei, mitall den Risiken, die einem solchen System innewohnen.Deshalb ist klar, dass wir bei der weiteren Umsetzungder Mission ein besonderes Augenmerk auf die Dingerichten müssen, deren Beachtung wir in der westlichenWertegemeinschaft erwarten, nämlich auf den Minder-heitenschutz und die Garantie der Menschenrechte.

Es ist nicht so leicht, aus den vielen Kämpfern, diewährend der Zeit des Bürgerkrieges im Süden gekämpfthaben, Bauern zu machen. Das heißt, die Demilitarisie-rung, die Entwaffnung weiter Teile der Kämpfer wird einerhebliches Maß an Anstrengungen – auch, aber nichtnur finanzieller Art – erfordern. Der internationalen Ge-meinschaft ist also dringend zu raten, hier mit erhebli-chen Mitteln einzusteigen.

Einige Teile des Comprehensive Peace Agreement,das die Grundlage für die Unabhängigkeit des Südensbildete, sind natürlich noch nicht umgesetzt. Da geht esum die Aufteilung der Ressourcen, vor allem des Öls,die endgültige Grenzziehung und viele andere Themen.Auch diese Punkte werden auf der Tagesordnung blei-ben; auch hier tut die internationale Gemeinschaft gutdaran, das Augenmerk weiterhin darauf zu richten.

Im Übrigen sollte klar sein, dass wir beide Seiten desKonflikts in Sudan wahrnehmen müssen, wenngleich derverbleibende Teil des Sudan ein religiös sehr einseitig ge-prägtes Land sein wird, das mit Recht als Teil der Ent-wicklung im arabischen Raum gesehen werden muss.

Natürlich steht die Beantwortung einiger Fragen aufdem Plan, vor allem, was den Norden des Sudan betrifft.Es stellt sich zum Beispiel die Frage: Wie wollen wir unsdem Thema Entwicklungszusammenarbeit nähern? Ichwill deutlich sagen: Die Vorstellungen, die wir haben,gehen so weit, wie man informell – also unterhalb derRegierungsebene, unterhalb einer offiziellen Ebene – ge-hen kann, aber eben auch nicht weiter; denn nach wievor hat der Sudan einen Präsidenten, der internationalgesucht wird. Nach wie vor ist aufgrund der Haltung derregierenden National Congress Party, was das ThemaTeilhabe an Wohlstand und an politischer Macht – ge-rade der Peripherie, ich nenne die Stichworte Darfur,Kurdufan, Blue Nile – betrifft, noch nicht absehbar, obirgendeine Art von Bewegung in Richtung Ausgleich er-folgt. Wie gesagt: Alles, was man unterhalb dieserEbene tun kann, muss getan werden. Das sind wir denMenschen, auch im Norden des Sudan, schuldig.

Die Schwelle des regierungsamtlich Offiziellen solltenicht überschritten werden. Im Gegenteil: Wir müssenprüfen, ob in den nächsten Jahren bei den ThemenSchuldenerlass und wirtschaftliche Entwicklung nichtdoch Verhandlungsmöglichkeiten gegeben sind, umauch im Norden des Sudan auf eine ausgleichende Lö-sung hinzuwirken. Im Übrigen gilt auch hier – um nocheinmal auf den Süden einzugehen –: Die wirtschaftliche

Entwicklung des Landes muss im Vordergrund stehen.Es geht vor allem um die Stärkung der landwirtschaft-lichen Ressourcen, die das Land hat. Ich bin davon über-zeugt, dass das neue UN-Mandat an dieser Stelle einenwesentlichen Beitrag leisten kann.

Die Kritik, dass die militärische Komponente vor al-lem von afrikanischen Staaten gestellt wird, kann ichnicht teilen. Die internationale Gemeinschaft hat sicheine Regel der Afrikanischen Union zu eigen gemachthat, die besagt: „African Solutions for African People“.Dadurch kommt – jedenfalls aus afrikanischer Sicht –zum Ausdruck, dass die militärische Komponenteschwerpunktmäßig durch afrikanische Truppen abge-deckt wird und dass wir uns auf das Thema Aufbauziviler Strukturen im administrativen und im wirtschaft-lichen Bereich konzentrieren. Für die militärische Kom-ponente, an der sich Deutschland beteiligt – die Entsen-dung von 50 Soldaten –, werben wir um Zustimmung.Wir werben insgesamt um die Zustimmung zu dieserMission.

Danke schön.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Für die SPD hat jetzt das Wort der Kollege Christoph

Strässer.

(Beifall bei der SPD)

Christoph Strässer (SPD):Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich

finde es bemerkenswert, dass das Thema Sudan inner-halb von drei Monaten viermal auf der Tagesordnungdes Deutschen Bundestages steht. Das Land hat es ver-dient, dass wir uns mit ihm beschäftigen, aber ichglaube, es wäre uns allen lieber, wenn die Situation eineandere wäre. Aber die Situation ist, wie sie ist.

Die Tatsache, dass wir heute über das neue UNMISS-Mandat abstimmen werden – ich füge hinzu: die SPD-Fraktion wird zustimmen –, ist ein Beleg dafür, dass wirdie Entwicklung in diesem Land und in dieser Regionernst nehmen. Wir wollen nicht, dass sich der Sudan undsein ohnehin fragiles Umfeld in einer Weise entwickeln,dass die Menschen von der Entwicklung genauso wenigprofitieren wie die Menschen in den Regionen am Hornvon Afrika, in Somalia, Äthiopien und Eritrea.

Ich sage das deshalb – vielleicht ist Ihnen das nichtbekannt –, weil das World Food Programme heute einesogenannte Warnung herausgegeben hat. Es hat davorgewarnt, dass in mindestens zehn Regionen des Südsu-dan im Jahr 2012 eine Hungersnot ausbrechen könnte,und das in einem Land, das fruchtbar ist, das seine Be-völkerung selbst ernähren könnte und in dem viele Vo-raussetzungen, von denen andere afrikanische Ländernur träumen können, gegeben sind.

Was bedeutet das für unsere heutige Diskussion? Wirstimmen hier im Deutschen Bundestag über den Einsatzder Bundeswehr ab. Dieser Einsatz der Bundeswehr ist– das sollten wir wahrnehmen; diese Chance sollten wir

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Christoph Strässer

ergreifen – Teil des Engagements nicht nur Europas,sondern auch der gesamten internationalen Staatenge-meinschaft zur Sicherung der Staatlichkeit, der Men-schenrechte und der Zukunft der Menschen in Sudan ins-gesamt. Deshalb finde ich, dass man diesem Mandatheute zustimmen muss, um die Sache voranzubringen.Ich tue das mit Überzeugung und nicht mit Bauch-schmerzen wie an anderen Stellen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Lassen Sie mich aus einem Papier der Friedrich-Ebert-Stiftung vom Juli 2011 zitieren. Lassen Sie michFolgendes zur Erläuterung sagen: Ich beziehe mich indiesem Zusammenhang gerne auf die Friedrich-Ebert-Stiftung, weil sie seit vielen Jahren in beiden Teilen desSudan aktiv ist. Die Kollegin Anja Dargatz, die diesesPapier verfasst hat, arbeitet seit 2008 mit einem Büround vielen Ortskräften in Khartoum und einem Büro inJuba zusammen. Sie versuchen, die Menschen, die ver-feindet sind, die gegeneinander gekämpft haben, zusam-menzuführen. Ich finde, das ist ein ganz wichtiger undrichtiger Ansatz, den es außerhalb dieser Institution nurganz selten gibt.

In diesem Papier wird Folgendes ausgeführt – ich zi-tiere jetzt –:

Die Internationale Gemeinschaft wird auch in ab-sehbarer Zeit nicht aus dem Südsudan wegzuden-ken sein, sei es als privatwirtschaftlicher Investi-tionsgeber, als humanitärer Helfer und bei derEntwicklungszusammenarbeit, als Weltbankkredit-geber oder als UNMIS-Truppensteller. Vergleichtman die humanitäre Situation im Südsudan mit an-deren Ländern in der Region, die trotz Entwick-lungsvorsprungs ebenfalls noch beträchtliche Un-terstützung erfahren, so ist die Unterstützung mehrals gerechtfertigt.

Ich glaube, besser kann man die Situation und das,was zu tun ist, nicht auf den Punkt bringen.

Deshalb möchte ich auf die Frage eingehen, wasUNMISS angesichts der desolaten ökonomischen undsozialen Situation in Südsudan tun kann. Ich habe mirdie Reden angeschaut, die im Rahmen der ersten Lesunghier gehalten worden sind, insbesondere von denjenigen,die gegen eine Fortsetzung des Mandats plädiert haben.Ich möchte zwei Dinge herausgreifen.

Der für mich wichtigste Aspekt sind die Sicherheits-strukturen. Es geht um die Möglichkeiten der Entwaff-nung. Dazu ist gesagt worden, dass eines der wesentli-chen Probleme ist, dass Gruppen, Milizen, auch Milizen,die der SPLA nahestehen und mit ihr zusammenarbeiten,bewaffnet sind, dass diese Waffen nicht abgegeben wor-den sind. Es ist gesagt worden, dass dies die größte Ge-fahr für die Zivilbevölkerung ist. Ich füge hinzu: DieKollegin von den Grünen hat das Problem der Kleinwaf-fen angesprochen. Ich möchte eine Zahl nennen, um dieDimension dessen, worüber wir reden, deutlich zu ma-chen. Nach Schätzungen einer international anerkanntenOrganisation, die sich mit Rüstungsexport bzw. Klein-waffenexport befasst, gibt es in Sudan 720 000 Klein-

waffen in zivilen Händen. Das bedeutet im Klartext, um-gerechnet auf die Bevölkerung: Von 100 Menschen inSudan haben 8 eine Kleinwaffe. Zum Verhältnis: DieZahl der offiziellen Polizeiwaffen liegt bei 200 000. Manmuss sich vor Augen halten, was das bedeutet.

Deshalb stellt sich für mich die Frage: Wenn man esmit diesem Programm der Entmilitarisierung, der Demo-bilisierung, der Entwaffnung und der Reintegration ernstmeint, was ich für richtig halte, dann muss man dafürauch Instrumente bereithalten. Wenn wir beklagen, dassdort bewaffnete Milizen aktiv sind, dann frage ich mich:Welche Institution, welcher Akteur sammelt diese Waf-fen ein und führt sie ihrem letzten Zweck zu, nämlich sieauf den Müllhaufen zu werfen? Ich sage: Das machtkeine lokale Polizei. Das macht keine lokale Nichtregie-rungsorganisation. Dafür braucht man eine entspre-chende Ausbildung. Dafür braucht man geschulte Leute.Daher ist das UNMISS-Mandat in der jetzigen Phase fürmich wirklich unverzichtbar.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten derCDU/CSU und der FDP)

Wenn man sich diese Frage wirklich ernsthaft stellt,dann muss man sich auch einmal überlegen, wie die in-ternationale Staatengemeinschaft aufgestellt ist. DasCPA, das umfassende Friedensabkommen, ist erwähntworden. Es ist nicht in allen Punkten umgesetzt worden,in ganz wesentlichen nicht. Der Ehrlichkeit und derWahrheit halber muss man aber auch feststellen – vielevon uns haben den Entstehungsprozess bis zum Jahr2005 begleitet; wir waren mit dem Menschenrechtsaus-schuss in Arusha, als es nicht geklappt hat –: Dieses um-fassende Friedensabkommen, das CPA, wäre nicht zu-stande gekommen und auch die darauffolgende Ent-wicklung – die nicht gut verläuft – wäre überhaupt nichtin Gang gekommen, wenn das UNMIS-Mandat damalsnicht im CPA verankert worden wäre. UNMIS ist nichtdeshalb verankert worden, weil die Vereinten Nationendas wollten, sondern weil beide Parteien, der Norden wieder Süden, gesagt haben: Jawohl, wir wollen eine solcheKomponente, wir brauchen die internationale Staatenge-meinschaft in diesem Umfang. Deshalb war das, glaubeich, damals eine richtige Entscheidung. Jetzt müssen wiruns angesichts der neuen Aufgaben für UNMISS im Sü-den überlegen, was zu tun ist.

Ich sage noch einmal: Die erste wichtige Aufgabe istdie Entwaffnung, dieses DDRR-Programm. DDRRheißt: Demobilisierung, Entwaffnung und Reintegration.Das hat also nichts mit deutschen historischen Reminis-zenzen zu tun. Dafür brauchen wir die UNMISS-Solda-ten.

Wir brauchen sie zweitens, aber auch – da möchte ichein Beispiel nennen, das mir selber passiert ist – für dieSicherung von Transportkapazitäten. Die Mitarbeiter desWorld Food Programme sagen: Die Transportmöglich-keiten in den Südsudan sind deshalb so schwierig undkompliziert, weil beispielsweise private Organisationen,die in diesem Bereich aktiv sind, ihre Autos nicht mehrzur Verfügung stellen, weil sie abgefangen werden, weil

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Christoph Strässer

sie Milizen anheimfallen. Daher sind sie nicht mehr inder Lage, die Lebensmittel in das Land zu transportieren.

Dafür braucht man Schutz. Ich frage auch an dieserStelle: Wer gewährleistet diesen Schutz? Das ist fürmich der wesentliche Grund, zu sagen: Wenn es an die-ser Stelle vorangehen soll, dann brauchen wir noch füreine sehr lange Zeit die Absicherung durch eine Institu-tion wie UNMISS.

Ich sage deshalb zum Schluss: Wir können bis zu50 Soldatinnen und Soldaten sowie Polizistinnen undPolizisten entsenden. Tatsächlich sind 12 vor Ort. Weilsich diese 12 vielleicht ein wenig einsam vorkommen,haben sie es, finde ich, wirklich verdient, dass wir dieArbeit, die sie dort unter schwierigsten Umständen leis-ten – sie sind keine Kampftruppe –, respektieren unddass wir ihnen wie auch allen anderen zivilen Helferin-nen und Helfern, die beim Aufbau des Sudan aktiv sind,alles Gute wünschen. Dafür werbe ich, und deshalbwerbe ich auch für die Unterstützung dieses Mandats.

Danke schön.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetender CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Für die CDU/CSU hat jetzt das Wort der Kollege

Philipp Mißfelder.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Philipp Mißfelder (CDU/CSU):Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe

Kolleginnen und Kollegen! Herzlichen Dank für IhrenBeitrag, Herr Strässer. Ich glaube, er knüpft gut an dasan, was wir am 25. März 2010 hier verabschiedet haben.Mit unserem interfraktionellen Antrag haben wir ausge-drückt, dass uns nicht gleichgültig ist, was sich in Sudantut, und dass wir diesem Thema hier im Deutschen Bun-destag eine große Bedeutung zumessen.

Die Arbeit der Bundeswehr für UNMISS ist wichtig,damit die Menschen in Sudan ein Minimum an Stabilitäterhalten. Unser Beitrag, den wir mit zwölf Soldaten leis-ten, ist zwar klein, aber wichtig. Die große Geschlossen-heit, mit der wir diesen Einsatz auf den Weg bringen, istein wichtiges Zeichen.

Der Sudan steht – ich möchte zum politischen Teilkommen – vor großen Herausforderungen. Selbst in derFriedenspolitik in Afrika ist es eine der größten Heraus-forderungen überhaupt. Gerade der neue Staat Südsudansteht vor immensen Gefahren. Deshalb müssen wir ver-suchen, ihn außenpolitisch wie auch innenpolitisch zustabilisieren und zu unterstützen.

Erstens: zu den außenpolitischen Herausforderungen.Das Comprehensive Peace Agreement zwischen Nord-und Südsudan ist noch nicht vollständig umgesetzt. Mitdem Nordsudan besteht Uneinigkeit über Teile desGrenzverlaufs sowie über die Zugehörigkeit der RegionAbyei. Die wichtige Frage der Aufteilung der Erlöse vor

allem aus der Erdölförderung zwischen dem Nordsudanund dem Südsudan ist nach wie vor unbeantwortet undbietet daher sehr viel Konfliktstoff.

Es gibt drei große Konfliktherde. In den vergangenenWochen kam es innerhalb des Sudan, in Abyei wie auchin den Bundesstaaten Süd-Kurdufan, also in den Nuba-Bergen, über die wir hier schon einmal diskutiert haben,und Blauer Nil zu bewaffneten Auseinandersetzungenerheblichen Umfangs zwischen den Sudan ArmedForces, der SAF, und lokalen Milizen, über deren Aus-richtung uns Herr Strässer das eine oder andere mitge-teilt hat.

In Abyei konnte die Friedenstruppe die Lage beruhi-gen. Die überwiegend äthiopischen Soldaten zeigen dort,was innerafrikanische Verantwortung und Solidarität be-deuten. Das ist ein wichtiger Beitrag.

Wir sind mit nur 12 Soldaten im Einsatz; wir könnendiese Zahl im Fall des Falles auf 50 anheben. Insgesamtist es so, dass vor allem afrikanische Verbündete in derRegion tätig sind. Das bleibt ein wichtiger Beitrag zurFriedenssicherung insgesamt und damit zur Stabilisie-rung des Kontinents.

In den ressourcenreichen Konfliktregionen, in Süd-Kurdufan und Blauer Nil, geht der Konflikt, der im Juniausgebrochen ist, weiter. Wir sehen, dass in den umstrit-tenen Gebieten mit Gewalt Fakten geschaffen werdenoder zumindest versucht wird, Fakten zu schaffen. SeitJuli sind nach Expertenangaben 200 000 Menschen ausSüd-Kurdufan vertrieben worden.

Diese Faktoren werden zwar von der Weltöffentlich-keit wenig beachtet, aber es wird deutlich: Wir stehenvor einem ganz großen Konflikt, in dem wir unserer Ver-antwortung gerecht werden müssen.

In der Verantwortung der internationalen Gemein-schaft liegt es deshalb, den Druck zu erhöhen, auch denpolitischen Druck. Wir dürfen in unseren Anstrengun-gen, den Prozess zu begleiten, nicht nachlassen. Wirkönnen nicht zulassen, dass irgendwann im Hinblick aufden Sudan von einem vergessenen Konflikt und dann,wenn wir uns wieder daran erinnern, von einem erneutenVölkermord oder „failed state“ die Rede sein wird, son-dern wir müssen jetzt, da wir etwas tun können, handeln.Deutschland steht als Mitglied des Sicherheitsrates derVereinten Nationen in einer besonderen Verantwortung.Dieser Verantwortung wird unser Außenminister durchsein Engagement und durch die wichtige Reise, die erunternommen hat, gerecht.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Zweitens: zu den innenpolitischen Herausforderun-gen. Die Bildung eines Staates aus 60 verschiedenenEthnien ist relativ schwierig, wie sich jeder vorstellenkann. Die Entwaffnung und Reintegration ehemaligeroder immer noch aktiver Guerillakämpfer ist eine großeHerausforderung. Auch der Versuch, für sie eine Er-werbsbasis zu schaffen – als Handwerker, Angestellteoder Arbeiter –, ist sicherlich eine Herausforderung, derwir noch mehr Aufmerksamkeit schenken müssen.

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Philipp Mißfelder

Der Aufbau der Infrastruktur für Bildung und Wirt-schaft ist wahrscheinlich wesentlich ausschlaggebenderals der militärische Beitrag, den wir leisten können. Des-halb gilt unsere Aufmerksamkeit vor allem der politi-schen Verhandlungslösung und den Möglichkeiten derEntwicklungszusammenarbeit. Als Rahmen dafür brau-chen wir Stabilität und Sicherheit, einerseits politisch,andererseits militärisch. Ich finde es richtig und gut, dassdieser Einsatz, anders als andere Einsätze, in diesemHaus über eine ganz breite Basis verfügt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Dafür möchte ich mich ganz herzlich bei Ihnen allen be-danken. Es ist an dieser Stelle auch bemerkenswert, dasssogar Herr Ströbele seinem Herzen einen Ruck gegebenhat und diesem Einsatz zustimmen wird. Ihnen danke ichganz besonders.

Ich möchte auf Folgendes hinweisen: Vor diesemHintergrund, dass selbst Sie zustimmen können, findeich es beschämend, dass die Linksfraktion diesem Ein-satz nicht zustimmt. Noch beschämender finde ich, dasswir im Plenum des Deutschen Bundestages regelmäßigmit irgendwelchen Verschwörungstheorien konfrontiertworden sind. Ihnen, Kollegen von der Linksfraktion, istdas Schicksal der Menschen in Südsudan offensichtlichvollkommen egal.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Widerspruch bei der LINKEN)

Ich bitte Sie im Namen meiner Fraktion um Zustimmungzu diesem Mandat.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Für die Fraktion Die Linke hat jetzt das Wort der Kol-

lege Jan van Aken.

(Beifall bei der LINKEN)

Jan van Aken (DIE LINKE):Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit Aus-

nahme der letzten Sätze von Herrn Mißfelder kann ichvieles von dem, was Sie bis jetzt gesagt haben, voll undganz unterstützen.

(Karl-Georg Wellmann [CDU/CSU]: Na also! Es geht doch!)

– Ja.

Der junge Staat Südsudan braucht unsere Unterstüt-zung, um die unglaublichen Probleme, vor denen er jetztsteht, zu lösen. Es fehlt an fast allem: Es fehlt an wirt-schaftlicher Entwicklung, an Schulen, an Krankenhäu-sern, an Straßen und vor allem natürlich an einem funk-tionierenden demokratischen Staatsapparat. Das Einzige,das im Moment im Überfluss vorhanden ist, sind Waffenund Gewalt. Das Problem ist nur: Wir stimmen heute garnicht darüber ab, wie diese Probleme gelöst werden kön-nen. Einzig und allein zur Abstimmung steht heute die

Frage, ob deutsche Soldaten in den Südsudan geschicktwerden sollen. Dies lehne ich allerdings ab.

(Beifall bei der LINKEN)

Herr Mißfelder, in der heutigen Abstimmung geht esauch nicht um all die Konflikte, die Sie geschildert ha-ben, ob in Abyei, Süd-Kurdufan oder Blue Nile. Sie soll-ten sich noch einmal genau anschauen, was heute dasThema ist.

(Volker Kauder [CDU/CSU]: Ach, das weiß er doch!)

Die entscheidende Frage ist doch: Was braucht derSüdsudan im Moment wirklich? Wie kann er von deut-scher Seite unterstützt werden? Wir haben im Juli einelange Liste von Vorschlägen gemacht; Sie können sienachlesen. Ich will nur drei dieser Vorschläge vortragen.

Erstens. Die zivile Konfliktbearbeitung muss ausge-baut werden. Wir waren im November letzten Jahres vorOrt. Wir haben dort viele hervorragende Projekte im Be-reich der zivilen Konfliktbearbeitung besucht. Das funk-tioniert.

(Philipp Mißfelder [CDU/CSU]: Nein! Das ist totaler Quatsch!)

Die zivilen Konfliktbearbeiter können den Ausbruch vonGewalt wirklich verhindern, indem sie die Konflikteschon vorher lösen.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN –Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Ja,ja! Das können sie aber nur, weil sie militä-risch unterstützt werden!)

Solche Projekte haben Sie, Herr Westerwelle, eingestellt,anstatt sie auszubauen und zu unterstützen. Sie könnendoch in Südsudan die Fachkräfte, die es dort jetzt gibt,unterstützen, und Sie können neue Fachkräfte ausbilden.Anstatt nur 5 zivile Konfliktbearbeiter aus Deutschlanddorthin zu schicken, wie im letzten Jahr, können Sie50 oder 500 zivile Konfliktbearbeiter dorthin schicken –und keine Soldaten.

(Beifall bei der LINKEN)

Zweitens. Natürlich ist die Entmilitarisierung desSüdsudan eine der wichtigsten Aufgaben. 300 000 Män-ner und Frauen des Sicherheitsapparats sind dort unterWaffen, und auch fast alle Menschen in der Zivilbevöl-kerung verfügen über eine Waffe. Auch hier können wireinen Beitrag zu einer Lösung leisten, indem wir zumBeispiel den Dialog und die Versöhnung in der Gesell-schaft unterstützen, und wir können mehr dafür tun, dassdie ehemaligen Soldaten und Kämpfer eine echte zivileAlternative bekommen. Das ist Demilitarisierung undReintegration.

(Beifall bei der LINKEN)

Dafür brauchen wir drittens im ganzen Land einewirtschaftliche Entwicklung. Das Land ist unglaublichfruchtbar; Herr Strässer hat das gesagt. Trotzdem kannes bis heute seine Bevölkerung nicht selbst ernähren.Diese Entwicklung, der Aufbau der Landwirtschaft in

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Jan van Aken

der Fläche und der Aufbau von anderen Verdienstmög-lichkeiten in der Fläche, ist das Gebot der Stunde.

(Beifall bei der LINKEN)

Wir haben noch sehr viele weitere Vorschläge. Das al-les können Sie in unserem Antrag nachlesen. Für jedegute Idee zur zivilen Unterstützung des Südsudans kön-nen Sie immer mit unserer Zustimmung rechnen, für ei-nen Militäreinsatz in Südsudan aber nicht.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich möchte Ihnen auch sagen, warum nicht: Die UNO-Truppen in Südsudan – das ist Ihr Mandat – sollen dieZivilbevölkerung schützen, und das an der Seite dersüdsudanesischen Armee. Genau da liegt das Problem.Sie alle, die Sie sich damit befasst haben, wissen ganzgenau, dass die südsudanesische Armee ein großer Teildes Problems und eben nicht ein Teil der Lösung ist. DieSoldaten der südsudanesischen Armee verletzen die Ge-setze willkürlich, sie rauben, sie plündern, sie morden,und sie haben in den letzten Wochen sehr viele zivileTote zu verantworten. An die Seite einer solchen Armeewollen Sie deutsche Soldaten schicken? Das kann dochnicht wirklich Ihr Ernst sein!

(Beifall bei der LINKEN – Hartwig Fischer[Göttingen] [CDU/CSU]: Das ist unglaub-lich!)

Das ist doch so, als ob Sie einem deutschen Polizisten je-manden an die Seite stellen und sagen: Pass auf, der istgewalttätig, der raubt und der mordet, aber jetzt geh malmit ihm auf Streife und sorge für Sicherheit in der Stadt. –Das ist doch völlig absurd.

(Beifall bei der LINKEN – Hartwig Fischer[Göttingen] [CDU/CSU]: Das ist unglaublich,was Sie da sagen!)

Aber nicht nur die südsudanesische Armee ist ein Teildes Problems. Sie wissen genauso – das haben Sie ebenauch gesagt –, dass auch die südsudanesische Regierungein Teil des Problems ist. Sie wird immer undemokrati-scher und korrupter.

(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Wegen solcher Ansichten sterben Menschen!)

An die Seite einer solchen Regierung wollen Sie deut-sche Soldaten schicken?

(Abg. Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] meldet sich zu einer Zwi-schenfrage)

Ich bin der Meinung, hier machen Sie einen ganz großenFehler.

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Kommen Sie bitte zum Schluss.

Jan van Aken (DIE LINKE):Herr Ströbele hat sich gemeldet.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Ja, aber die Redezeit ist abgelaufen.

(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Ja, die Redezeit ist vorbei!)

Jan van Aken (DIE LINKE):Gut. – Im Übrigen bin ich der Meinung, dass

Deutschland keine Waffen mehr exportieren sollte, nir-gendwohin, und ich finde, wir sollten bei dieser Gele-genheit einmal überlegen, wie wir all die vielen Millio-nen Waffen in Sudan und überall sonst auf der Weltwieder einsammeln können. Das wäre doch einmal einechter Beitrag zu einer friedlichen Entwicklung – unddas nicht nur in Südsudan.

(Beifall bei der LINKEN – Hartwig Fischer[Göttingen] [CDU/CSU]: Sie nehmen mit die-ser Politik Tote in Kauf und lachen sich dabeinoch tot!)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Omid

Nouripour.

(Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

– Ich habe den nächsten Redner aufgerufen. Bitte.

(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:Herr Ströbele hatte sich zu einer Zwischen-frage gemeldet!)

– Der Herr Ströbele hatte sich gemeldet, als die Redezeitschon abgelaufen war.

(Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN – Hans-Christian Ströbele [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Da haben Sie zumersten Mal geguckt!)

Jetzt hat der Kollege Nouripour das Wort.

Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das ist ein

bisschen bedauerlich, weil ich glaube, es wäre berei-chernd gewesen, zu hören, was der Kollege Ströbele andieser Stelle gesagt hätte. Vielleicht finden wir ja imLaufe der Debatte noch die eine oder andere Möglichkeitdazu.

Herr van Aken, ich frage mich, was ich Ihnen eigent-lich getan habe, dass ich hier nach Ihrer Rede zu Wortkomme und darauf reagieren muss. Sie sagen, wir müs-sen schauen, was der Südsudan braucht. Dann fragen Siedie Betroffenen doch einmal, verdammt noch mal! Sieselber fordern diese Mission. Der Südsudan genauso wieder Norden, beide zusammen haben doch dazu aufgefor-dert und darum gebeten, dass es diese Mission gibt. Siestellen sich hier hin, als würden Sie besser wissen, wasdie Sudanesen brauchen. Hören Sie doch hin, was sieselbst wollen, verdammt noch mal!

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Omid Nouripour

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der SPD sowie bei Abgeordneten derCDU/CSU und der FDP)

Meine Damen und Herren, es geht um eine Missionder Vereinten Nationen. Diese UNO-Mission leitet dieehemalige Vizedirektorin von UNICEF. Jetzt stellen Siesich hier hin und sagen, dass dabei mehr Waffen insLand kommen. Es tut mir leid: Das ist schlicht infam.Sie verkennen, dass es hier um Demobilisierung, Ent-waffnung und Ausbildung geht, damit im Süden Sudanstatsächlich die Sicherheitskräfte sind, die auch den An-sprüchen der Menschen dort genügen. Es tut mir sehrleid, ich werde hier den festen Eindruck nicht los: Erstkommt bei Ihnen die Position, und dann werden irgend-wie die Argumente nachgeschoben.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der SPD – Zuruf von der FDP: Genauso ist es!)

Ich möchte aber noch etwas zur Bundesregierung sa-gen. Vor drei Monaten haben wir als Deutscher Bundes-tag in einem sehr schnellen Verfahren diesem Mandatzugestimmt. Wir haben als Deutscher Bundestag ge-zeigt, dass wir Verantwortung übernehmen und für dieVerlässlichkeit der deutschen Außenpolitik stehen. DerDeutsche Bundestag kann das. Deshalb möchte ich dieVertreter der Bundesregierung bitten, dass sie aufhören,permanent mit dem Argument der Schnelligkeit, zumBeispiel bei der Vertiefung der Sicherheitszusammenar-beit in der Europäischen Union, am Parlamentsvorbehaltdes Bundestags zu rütteln. Unser Parlamentsvorbehaltbesteht im Kern darin, dass wir eine Parlamentsarmeehaben. Jeder Versuch dieser Bundesregierung, daran zurütteln, wird auf unseren festen und harten Widerstandstoßen.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Wir werden aber auch, beispielsweise bei dieser Mis-sion, mehr Durchblick brauchen. Von der Region Kurdu-fan haben wir jetzt mehrfach gehört. Die Bundesregie-rung hat auf die grausamen Ereignisse und dasBombardement, das es auch vonseiten der Luftwaffe desNordens gab, mit nur einem Satz reagiert: Sie hat dieSPLM aufgefordert, das Wahlergebnis in dieser Regionanzuerkennen. Herr Westerwelle, das ist zu wenig, wennman weiß, welche Unregelmäßigkeiten es gegeben hat.Es ist zu wenig, wenn man weiß, welche Gewalt es dortauch seitens des Staates gegeben hat. Da reicht es nicht,einfach nur zu sagen, dass die Wahl akzeptiert werdenmuss. Es muss auch ein Gewaltverzicht her. Dafür mussman ebenfalls plädieren.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Verantwortung bedeutet aber auch, dass man, wennman ein Mandat über 75 Soldatinnen und Soldaten be-schließt und nur 12 hinschickt, auch einmal darübernachdenkt, wie man dieses Mandat tatsächlich erfüllenkann. Das gilt gerade im Hinblick auf die Größe derAufgabe und weil wir wissen, wie schwer sie für die12 Soldatinnen und Soldaten, die derzeit vor Ort sind, zu

bewältigen ist. Sie tun dies nicht, sondern Sie reduzierenauf 50 Soldatinnen und Soldaten. Herr Kollege Spatz,Sie haben gesagt, das liege in erster Linie daran, dass dieMilitärbeobachter an der Grenze eingesetzt werden. Esgeht aber nicht nur um das Grenzregime. Die Militärbe-obachter brauchen wir im ganzen Land genau aus demGrunde, den der Kollege Strässer genannt hat. In diesemLand gibt es unglaublich viele Handwaffen. Es gibt soviele Milizen, dass man dort Militärbeobachter nicht nuran den Grenzen braucht. Dazu muss ich feststellen, dasssich die Bundesregierung im Gegensatz zum DeutschenBundestag ein Stück weit aus der Verantwortung stiehlt.

Die Mission bleibt wichtig. Auch wenn es zu wenigist, ist es dennoch richtig, dort einzugreifen. Deshalbwerden wir diesem Mandat natürlich zustimmen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem

Kollegen Ströbele.

Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN):

Ich bedanke mich, Herr Präsident, dass ich doch nochzu Wort kommen kann. – Kollege van Aken, ich habe Ih-nen aufmerksam zugehört. Sie haben zutreffend daraufhingewiesen, dass in Südsudan schreckliche Zuständeherrschen, weil viel zu viele Waffen unterwegs sind,weil die südsudanesische Armee wenig diszipliniert istund weil sie sich von Plünderungen, Angriffen gegen dieBevölkerung usw. ernährt.

Nun gibt es dort – mit UNO-Mandat – eine internatio-nale Truppe, die im Wesentlichen aus Angehörigen afri-kanischer Staaten besteht. Die haben nicht die Aufgabe,die südsudanesische Armee beim Plündern, beim Rau-ben und bei irgendwelchen anderen schrecklichen Tatenzu unterstützen, sondern sie haben die Aufgabe, zu-nächst zu beobachten, festzustellen und einzugreifen. Eshandelt sich dabei unter anderem um äthiopische Solda-ten. Man kann ein großes Fragezeichen dahintersetzen,ob die dafür besonders gut geeignet sind; aber es sindafrikanische Soldaten. Sie sollen Plünderungen verhin-dern.

Wie können Sie dann dagegen sein, dass sich Deut-sche beteiligen – nicht in besonderem Umfang, sondernmit zwölf Personen –, die beim Meldeaufkommen undbei Ähnlichem unterstützend tätig sind und dabei helfen,solche schlimmen Taten, die auch Sie beklagen, abzu-wenden? Wer sollte denn Ihrer Meinung nach die Bevöl-kerung vor den Überfällen der südsudanesischen Armee,also der Armee aus dem eigenen Land, schützen, wennnicht eine von der UNO mandatierte, anerkannte, inter-nationale Truppe der afrikanischen Länder, unterstütztdurch deutsche und andere europäische Soldaten?

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der SPD sowie bei Abgeordneten derCDU/CSU)

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15318 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011

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Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Zur Erwiderung. Bitte.

Jan van Aken (DIE LINKE):Das Problem ist, dass es so leider genau nicht ist. –

Ich war im Mai in New York und habe in der UNO mitden Sudan-Expertinnen und -Experten geredet. Ihnenwar zu diesem Zeitpunkt noch unklar, wie das Mandataussieht, weil sie vor genau diesem Problem standen. Siehaben gesagt: Wir wissen, dass die südsudanesische Re-gierung ein Problem ist. Wir wissen, dass die südsudane-sische Armee ein viel größeres Problem ist. Aber wir be-kommen ohne eine Einladung der südsudanesischenRegierung kein Mandat. Ich habe gesagt: Wenn ihr aufEinladung der Regierung im Land seid, dann könnt ihrnicht gegen die südsudanesische Armee agieren, weil ihran deren Seite kämpfen müsst. Die Antwort war: Genaudas ist unser Problem.

Deswegen wurde monatelang um eine Lösung gerun-gen. Herr Ströbele, schauen Sie sich das UN-Mandat unddas deutsche Mandat einmal an. Darin ist festgelegt, dassdie Soldaten an der Seite der südsudanesischen Armeekämpfen und eben nicht gegen sie. Sie können also keineZivilisten vor der südsudanesischen Armee schützen.Das gibt dieses Mandat nicht her.

Darin liegt das große Problem. Sie können doch nichtmit Menschenrechtsverletzern auf Patrouille gehen undhinterher sagen: Wir konnten nichts tun, weil diejenigen,an deren Seite wir gestanden haben, selbst gemordet ha-ben. Deswegen ist dieses ganze Konstrukt von vorne bishinten falsch. Das funktioniert so nicht.

(Beifall bei der LINKEN)

Schauen Sie sich das noch einmal an und geben SieIhrem Herzen einen zweiten Ruck. Ich glaube, an diesemPunkt können Sie wirklich guten Gewissens dagegenstimmen, Herr Ströbele.

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Und wer soll die Plünderungenverhindern?)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Jetzt ist dieser Austausch beendet. – Als letzter Red-

ner zu diesem Tagesordnungspunkt hat das Wort derKollege Dr. Reinhard Brandl von der CDU/CSU-Frak-tion.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Dr. Reinhard Brandl (CDU/CSU):Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Lieber Herr Ströbele, Ihr Versuch, die Linken mit Sach-argumenten von der Sinnhaftigkeit dieses Einsatzes zuüberzeugen, ist aller Ehren wert. Aber das Problem ist:Sie sind den Sachargumenten gar nicht zugänglich, weilsie nicht dafür stimmen wollen. Sie sind grundsätzlichgegen Einsätze der Bundeswehr.

(Beifall bei der LINKEN)

Daher suchen sie immer wieder neue Argumente, die sievorschieben, um diesem Einsatz, über den in diesemHaus ein wirklich breiter Konsens besteht, nicht zustim-men zu müssen.

Meine lieben Kollegen von den Linken, sehr geehrterHerr van Aken, es wäre aus meiner Sicht ehrlicher, zusagen: Sie stimmen aus ideologischen oder aus welchenGründen auch immer grundsätzlich nicht zu, anstatt im-mer neue Argumente zu suchen und diese vorzuschie-ben.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –Jan van Aken [DIE LINKE]: Würden Sie bitteauf die Argumente eingehen?)

Als wir das letzte Mal über UNMISS abgestimmt ha-ben, am 8. Juli dieses Jahres, blickte die ganze Welt aufden Südsudan. Wir verfolgten gespannt die Unabhängig-keitserklärung und die Feierlichkeiten, die Gott sei Dankfriedlich abgelaufen sind. Heute, knapp drei Monate spä-ter, ist die Feier vorbei, und es stehen wieder die Pro-bleme dieses geschundenen Landes im Vordergrund.

Die Welt hat große, vielleicht zu große Erwartungenan die Regierung in Südsudan. Sie soll die vielen offe-nen Konflikte mit dem Norden lösen. Sie soll Verwal-tungsstrukturen aufbauen. Sie soll das Land mit Infra-struktur erschließen. Sie soll das Land erschließen. Siesoll die soziale und wirtschaftliche Situation der Men-schen dort verbessern.

Voraussetzung dafür ist aber, dass es ihr erst einmalgelingt, die Situation in ihrem eigenen Land, in Südsu-dan selbst, zu stabilisieren und zu befrieden. Das machtsie, indem sie versucht, möglichst viele der ethnischenGruppen und Stammesgruppierungen einzubinden. Abergenau das, die Bedienung der Interessen der unterschied-lichen ethnischen Gruppierungen und dieser Klientel,verhindert auf der anderen Seite den Aufbau effizienterstaatlicher Strukturen.

Das ist ein nur schwer aufzulösendes Dilemma.Deutschland engagiert sich seit Jahren im Rahmen derEuropäischen Union und im Rahmen der Vereinten Na-tionen für den Frieden und den Staatsaufbau in der Re-gion.

Über einen Teil dieses Engagements, die Entsendungvon deutschen Soldaten im Rahmen von UNMISS, stim-men wir heute ab. Es geht um maximal 50 Soldaten, vondenen sich zwölf im Einsatz befinden. Es gibt zweifels-frei größere Einsätze der Bundeswehr. Aber dass wir imParlament jeden Einsatz gleichwertig behandeln, istauch das Signal an die Soldaten und an die Öffentlich-keit, dass wir jeden Einsatz des Militärs gleich ernst neh-men. Die zwölf Soldaten, die sich im Einsatz befinden,leisten ihren Dienst unter sehr fordernden Bedingungenund auf Basis einer Infrastruktur, die deutlich wenigerausgebaut ist als in vielen anderen Einsatzgebieten.Trotzdem sind sie hochmotiviert und erbringen höchsteLeistungen. Dafür möchten wir ihnen von dieser Stelleaus ganz herzlich danken.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 15319

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Dr. Reinhard Brandl

Die deutschen Soldaten sind aber nur ein Teil desdeutschen Engagements dort. Ebenfalls im Rahmen vonUNMISS sind derzeit sechs Mitarbeiter des TechnischenHilfswerks und sieben Polizisten in Südsudan. Auch ih-nen danken wir für ihren Einsatz. Hinzu kommen Mittelder Entwicklungshilfe aus dem BMZ und dem Europäi-schen Entwicklungsfonds sowie vielfältige Unterstüt-zung von Nichtregierungsorganisationen und kirchlichenTrägern.

Das internationale Engagement zeigt durchaus Er-folge. Ich denke vor allem an das weitgehend friedlicheReferendum im Januar und an die Staatengründung imJuli. Die Bundesregierung hat dies auch in ihrem Berichtüber das alte UNMIS-Mandat aufgezeigt.

Die Erfolge sind aber relativ. Seit Januar sind im Nor-den und im Süden des Sudan an den verschiedenen Kon-fliktherden über 2 000 Menschen getötet worden. DieProbleme des Landes können nicht von außen gelöstwerden. Die Geberländer müssen ihre Hilfen so einset-zen, dass sie nicht zu mehr Klientelwirtschaft führen,sondern die Regierung dabei unterstützen, konkrete Pro-jekte zu verwirklichen, die der breiten Bevölkerung einePerspektive auf ein besseres Leben in Frieden geben.Wir dürfen dabei die Erwartungen nicht zu hoch anset-zen. Der Staatsaufbau in Südsudan wird, wenn er erfolg-reich verläuft, Jahre und Jahrzehnte dauern. Aber auchwenn die Erfolge in Südsudan aus unserer Sicht relativklein sind: Aus Sicht der Menschen dort sind auch kleineErfolge relativ große Fortschritte. Die kleinen Erfolgeaus unserer Sicht bedeuten große Erfolge und Verbesse-rungen ihrer Lebenssituation.

Wir sollten deswegen unsere Unterstützung fortset-zen. Ich bitte Sie daher um Zustimmung zu diesem Man-dat.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Zu einer Kurzintervention erteile ich der Kollegin

Kerstin Müller das Wort.

(Widerspruch bei der CDU/CSU und der FDP)

Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):

Ich weiß, dass Sie jetzt unbedingt abstimmen wollen.Es tut mir leid; aber ich glaube, es ist auch im Interesseder Koalition, nämlich all derer, die zustimmen wollen,richtigzustellen, was Herr van Aken hier fälschlicher-weise behauptet hat.

Er hat behauptet, dass UNMISS nicht autorisiertwäre, die Zivilisten vor Übergriffen der südsudanesi-schen Armee zu schützen. Das ist falsch. Herr van Aken,wir haben uns schon in der letzten Debatte darüber aus-einandergesetzt. Ich zitiere zunächst einmal aus demMandat. Darin steht eindeutig:

Nach Kapitel VII der Charta der Vereinten Natio-nen ist UNMISS autorisiert, zum Eigenschutz, zur

Gewährleistung der Sicherheit … sowie … zumSchutze von Zivilisten, im Rahmen der eigenen Fä-higkeiten die notwendigen Maßnahmen zu ergrei-fen.

Ich verweise diesbezüglich noch einmal auf meine Kurz-intervention in der letzten Debatte. Im Beschluss desUN-Sicherheitsrates gibt es zwei Paragrafen, in denensehr deutlich dargestellt wird, dass UNMISS autorisiertwird, auch bei Übergriffen der südsudanesischen ArmeeZivilisten zu schützen. Ob UNMISS hinsichtlich ihrerKapazität dazu in der Lage ist, ist eine andere Frage.Aber sie ist ganz klar dazu befugt. Das ist für uns einwichtiger Punkt, um der Fortsetzung des Mandats zuzu-stimmen.

Ich fordere Sie auf, nicht zum wiederholten Male fal-sche Behauptungen zu äußern, die die Glaubwürdigkeitdes Mandats untergraben.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Zur Erwiderung Herr van Aken.

Jan van Aken (DIE LINKE):Frau Müller, es tut mir leid, aber auch dadurch, dass

Sie es jetzt zum zweiten Mal sagen, wird das, was Siebehaupten, nicht richtig. Ich stelle fest, dass Sie von denGrünen als Einzige sogar eine Aufstockung des Mandats– noch mehr Soldaten für den Südsudan – gefordert ha-ben.

Ich stelle fest: Sie haben recht. In § 13 des Mandatswird ausdrücklich gesagt – genau das ist für mich einSignal, wie gefährlich die Situation ist –, dass es Pro-bleme bei der SPLA, der südsudanesischen Armee,gibt. Aber in § 13 werden die UNMISS-Soldaten nichtautorisiert – da liegen Sie falsch –, gegen die SPLAvorzugehen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist falsch, was Sie sagen!)

Dort wird nur gesagt, dass sie ein Auge darauf habenmüssen, ob die südsudanesische Regierung oder ArmeeMenschenrechtsverletzungen begehen. Aber die Solda-ten haben keine entsprechende operative Aufgabe. Ichwar mehrere Tage in New York und habe das dort durch-diskutiert. Wir haben dort gemeinsam festgestellt, dassdas nicht sein kann. Lesen Sie es genauer! Lassen Siesich von den Leuten bei der UNO beraten! Dann wissenSie, dass Sie hier falsche Behauptungen aufstellen unddass Sie als Grüne aus falschen Gründen immer mehrSoldaten in den Sudan schicken wollen.

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Ich schließe die Aussprache.

Bevor wir zur Abstimmung über die Beschlussemp-fehlung kommen, gebe ich Ihnen das von den Schriftfüh-rerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der na-

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15320 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011

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Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms

mentlichen Abstimmung über den Entwurf einesNeunzehnten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahl-gesetzes bekannt, Drucksachen 17/6290 und 17/7069:

abgegebene Stimmen 535. Mit Ja haben gestimmt 294,mit Nein haben gestimmt 241. Der Gesetzentwurf ist an-genommen.

(D)

Endgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen: 535;davon

ja: 294nein: 241

Ja

CDU/CSU

Ilse AignerPeter AltmaierPeter AumerDorothee BärThomas BareißGünter BaumannErnst-Reinhard Beck

(Reutlingen)Manfred Behrens (Börde)Veronika BellmannDr. Christoph BergnerPeter BeyerSteffen BilgerClemens BinningerPeter BleserDr. Maria BöhmerWolfgang Börnsen

(Bönstrup)Wolfgang BosbachMichael BrandDr. Reinhard BrandlHelmut BrandtDr. Ralf BrauksiepeDr. Helge BraunHeike BrehmerRalph BrinkhausCajus CaesarGitta ConnemannAlexander DobrindtThomas DörflingerMarie-Luise DöttDr. Thomas FeistEnak FerlemannIngrid FischbachHartwig Fischer (Göttingen)Dirk Fischer (Hamburg)Dr. Maria FlachsbarthKlaus-Peter FlosbachDr. Hans-Peter Friedrich

(Hof)Michael FrieserErich G. FritzDr. Michael FuchsHans-Joachim FuchtelIngo GädechensDr. Thomas GebhartNorbert GeisAlois GerigEberhard GiengerMichael Glos

Josef GöppelPeter GötzDr. Wolfgang GötzerUte GranoldReinhard GrindelHermann GröheMichael Grosse-BrömerMarkus GrübelManfred GrundMonika GrüttersOlav GuttingFlorian HahnDr. Stephan HarbarthJürgen HardtGerda HasselfeldtDr. Matthias HeiderHelmut HeiderichMechthild HeilUrsula Heinen-EsserFrank HeinrichRudolf HenkeMichael HennrichAnsgar HevelingErnst HinskenPeter HintzeChristian HirteRobert HochbaumKarl HolmeierFranz-Josef HolzenkampJoachim HörsterAnette HübingerThomas JarzombekDieter JasperDr. Franz Josef JungAndreas Jung (Konstanz)Dr. Egon JüttnerHans-Werner KammerBernhard KasterSiegfried Kauder (Villingen-

Schwenningen)Volker KauderDr. Stefan KaufmannRoderich KiesewetterEckart von KlaedenEwa KlamtJürgen KlimkeAxel KnoerigJens KoeppenManfred KolbeDr. Rolf KoschorrekHartmut KoschykMichael KretschmerGunther KrichbaumDr. Günter KringsBettina KudlaDr. Hermann KuesGünter LachDr. Karl A. Lamers

(Heidelberg)Andreas G. LämmelDr. Norbert Lammert

Katharina LandgrafUlrich LangePaul LehriederDr. Ursula von der LeyenIngbert LiebingMatthias LietzDr. Carsten LinnemannPatricia LipsDr. Jan-Marco LuczakDaniela LudwigKarin MaagDr. Thomas de MaizièreHans-Georg von der MarwitzStephan Mayer (Altötting)Dr. Michael MeisterMaria MichalkDr. h. c. Hans MichelbachDr. Mathias MiddelbergPhilipp MißfelderDietrich MonstadtMarlene MortlerDr. Gerd MüllerStefan Müller (Erlangen)Dr. Philipp MurmannMichaela NollDr. Georg NüßleinFranz ObermeierEduard OswaldHenning OtteDr. Michael PaulRita PawelskiUlrich PetzoldDr. Joachim PfeifferSibylle PfeifferBeatrix PhilippRonald PofallaChristoph PolandRuprecht PolenzEckhard PolsThomas RachelKatherina Reiche (Potsdam)Lothar RiebsamenJosef RiefKlaus RiegertDr. Heinz RiesenhuberJohannes RöringDr. Norbert RöttgenDr. Christian RuckErwin RüddelAlbert Rupprecht (Weiden)Anita Schäfer (Saalstadt)Dr. Wolfgang SchäubleDr. Annette SchavanDr. Andreas ScheuerKarl SchiewerlingNorbert SchindlerTankred SchipanskiChristian Schmidt (Fürth)Patrick SchniederDr. Andreas SchockenhoffNadine Schön (St. Wendel)

Dr. Ole SchröderUwe SchummerArmin Schuster (Weil am

Rhein)Detlef SeifJohannes SelleReinhold SendkerDr. Patrick SensburgBernd SiebertThomas SilberhornJohannes SinghammerJens SpahnCarola StaucheDr. Frank SteffelErika SteinbachChristian Freiherr von StettenDieter StierGero StorjohannStephan StrackeMax StraubingerKarin StrenzThomas Strobl (Heilbronn)Lena StrothmannMichael StübgenDr. Peter TauberAntje TillmannDr. Hans-Peter UhlArnold VaatzVolkmar Vogel (Kleinsaara)Andrea Astrid VoßhoffDr. Johann WadephulMarco WanderwitzKai WegnerMarcus Weinberg (Hamburg)Peter Weiß (Emmendingen)Sabine Weiss (Wesel I)Ingo WellenreutherKarl-Georg WellmannPeter WichtelAnnette Widmann-MauzElisabeth Winkelmeier-

BeckerDr. Matthias ZimmerWolfgang ZöllerWilli Zylajew

FDP

Jens AckermannChristian AhrendtChristine Aschenberg-

DugnusDaniel Bahr (Münster)Florian BernschneiderSebastian BlumenthalClaudia BögelNicole Bracht-BendtKlaus BreilRainer BrüderleAngelika BrunkhorstErnst Burgbacher

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 15321

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Vizepräsident Dr. Hermann Otto S

Sylvia CanelHelga DaubReiner DeutschmannDr. Bijan Djir-SaraiPatrick DöringMechthild DyckmansRainer ErdelJörg van EssenUlrike FlachPaul K. FriedhoffDr. Wolfgang GerhardtHans-Michael GoldmannHeinz GolombeckMiriam GrußJoachim Günther (Plauen)Dr. Christel Happach-KasanManuel HöferlinElke HoffBirgit HomburgerDr. Werner HoyerHeiner KampMichael KauchDr. Lutz KnopekPascal KoberDr. Heinrich L. KolbGudrun KoppSebastian KörberHolger KrestelPatrick Kurth (Kyffhäuser)Heinz LanfermannSibylle LaurischkHarald LeibrechtSabine Leutheusser-

SchnarrenbergerLars LindemannChristian LindnerDr. Martin Lindner (Berlin)Michael Link (Heilbronn)Dr. Erwin LotterOliver LuksicPatrick MeinhardtGabriele MolitorJan MückePetra Müller (Aachen)Burkhardt Müller-SönksenDr. Martin Neumann

(Lausitz)Dirk NiebelHans-Joachim Otto

(Frankfurt)Cornelia PieperGisela PiltzDr. Christiane Ratjen-

DamerauDr. Birgit ReinemundDr. Peter RöhlingerDr. Stefan RuppertBjörn SängerFrank SchäfflerChristoph SchnurrJimmy SchulzMarina SchusterDr. Erik SchweickertWerner SimmlingJudith SkudelnyDr. Hermann Otto SolmsJoachim SpatzDr. Max Stadler

olms

Torsten StaffeldtDr. Rainer StinnerSerkan TörenJohannes Vogel

(Lüdenscheid)Dr. Daniel VolkDr. Guido WesterwelleDr. Volker WissingHartfrid Wolff (Rems-Murr)

Nein

SPD

Ingrid Arndt-BrauerRainer ArnoldHeinz-Joachim BarchmannDoris BarnettDr. Hans-Peter BartelsKlaus BarthelSören BartolBärbel BasDirk BeckerLothar Binding (Heidelberg)Gerd BollmannWilli BraseEdelgard BulmahnMarco BülowMartin BurkertPetra CroneElvira Drobinski-WeißGarrelt DuinSebastian EdathyIngo EgloffSiegmund EhrmannDr. h. c. Gernot ErlerPetra ErnstbergerElke FernerGabriele FograscherDr. Edgar FrankeDagmar FreitagMichael GerdesMartin GersterIris GleickeGünter GloserAngelika Graf (Rosenheim)Kerstin GrieseMichael GroschekMichael GroßWolfgang GunkelHans-Joachim HackerMichael Hartmann

(Wackernheim)Hubertus Heil (Peine)Dr. Barbara HendricksGustav HerzogGabriele Hiller-OhmPetra Hinz (Essen)Frank Hofmann (Volkach)Dr. Eva HöglChristel HummeJosip JuratovicOliver KaczmarekDr. h. c. Susanne KastnerUlrich KelberLars KlingbeilHans-Ulrich KloseDr. Bärbel Kofler

Daniela Kolbe (Leipzig)Fritz Rudolf KörperAnette KrammeNicolette KresslAngelika Krüger-LeißnerUte KumpfChristine LambrechtChristian Lange (Backnang)Dr. Karl LauterbachSteffen-Claudio LemmeBurkhard LischkaGabriele Lösekrug-MöllerCaren MarksKatja MastHilde MattheisUllrich MeßmerDr. Matthias MierschFranz MünteferingDr. Rolf MützenichAndrea NahlesDietmar NietanManfred NinkThomas OppermannHolger OrtelAydan ÖzoğuzHeinz PaulaJohannes PflugJoachim PoßFlorian PronoldDr. Sascha RaabeMechthild RawertStefan RebmannGerold ReichenbachDr. Carola ReimannSönke RixRené RöspelDr. Ernst Dieter RossmannKarin Roth (Esslingen)Michael Roth (Heringen)Marlene Rupprecht

(Tuchenbach)Anton SchaafAxel Schäfer (Bochum)Bernd ScheelenMarianne Schieder

(Schwandorf)Werner Schieder (Weiden)Ulla Schmidt (Aachen)Silvia Schmidt (Eisleben)Ottmar SchreinerSwen Schulz (Spandau)Frank SchwabeDr. Martin SchwanholzStefan SchwartzeRita Schwarzelühr-SutterDr. Carsten SielingSonja SteffenPeer SteinbrückDr. Frank-Walter SteinmeierChristoph SträsserKerstin TackDr. h. c. Wolfgang ThierseFranz ThönnesWolfgang TiefenseeRüdiger VeitUte VogtDr. Marlies VolkmerHeidemarie Wieczorek-Zeul

Dr. Dieter WiefelspützUta ZapfDagmar ZieglerManfred ZöllmerBrigitte Zypries

DIE LINKE

Jan van AkenAgnes AlpersHerbert BehrensKarin BinderMatthias W. BirkwaldHeidrun BluhmEva Bulling-SchröterDr. Martina BungeSevim DağdelenDr. Diether DehmHeidrun DittrichWerner DreibusDr. Dagmar EnkelmannKlaus ErnstWolfgang GehrckeNicole GohlkeDiana GolzeAnnette GrothDr. Gregor GysiHeike HänselDr. Rosemarie HeinInge HögerDr. Barbara HöllAndrej HunkoKatja KippingHarald KochJutta KrellmannKatrin KunertCaren LaySabine LeidigRalph LenkertStefan LiebichUlla LötzerThomas LutzeUlrich MaurerCornelia MöhringKornelia MöllerNiema MovassatWolfgang NeškovićPetra PauJens PetermannRichard PitterleYvonne PloetzIngrid RemmersPaul Schäfer (Köln)Michael SchlechtDr. Ilja SeifertRaju SharmaDr. Petra SitteKersten SteinkeSabine StüberDr. Kirsten TackmannDr. Axel TroostAlexander UlrichKathrin VoglerJohanna VoßSahra WagenknechtHalina WawzyniakHarald Weinberg

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15322 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011

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Vizepräsident Dr. Hermann Otto S

BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Kerstin AndreaeMarieluise Beck (Bremen)Volker Beck (Köln)Cornelia BehmBirgitt BenderViola von Cramon-TaubadelEkin DeligözHarald EbnerHans-Josef FellDr. Thomas GambkeKai GehringKatrin Göring-EckardtBritta Haßelmann

olms

Bettina HerlitziusDr. Anton HofreiterBärbel HöhnIngrid HönlingerThilo HoppeKatja KeulMemet KilicMaria Klein-SchmeinkUte KoczySylvia Kotting-UhlOliver KrischerAgnes KrumwiedeFritz KuhnStephan KühnRenate KünastMarkus Kurth

Undine Kurth (Quedlinburg)Monika LazarNicole MaischAgnes MalczakJerzy MontagKerstin Müller (Köln)Beate Müller-GemmekeIngrid NestleDr. Konstantin von NotzOmid NouripourFriedrich OstendorffLisa PausBrigitte PothmerTabea RößnerClaudia Roth (Augsburg)Krista Sager

Manuel SarrazinDr. Gerhard SchickTill SeilerDorothea SteinerDr. Wolfgang Strengmann-

KuhnHans-Christian StröbeleDr. Harald TerpeMarkus TresselJürgen TrittinDaniela WagnerWolfgang WielandDr. Valerie WilmsJosef Philip Winkler

(D)

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-empfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem An-trag der Bundesregierung auf Fortsetzung der Beteili-gung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der von denVereinten Nationen geführten Friedensmission in Südsu-dan, UNMISS. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Be-schlussempfehlung auf Drucksache 17/7213, den Antragder Bundesregierung auf Drucksache 17/6987 anzuneh-men. Wir stimmen nun über die Beschlussempfehlungnamentlich ab.

Sind alle Plätze an den Urnen besetzt? – Das ist derFall. Ich eröffne die Abstimmung und bitte, die Stimm-karten einzuwerfen.

Haben alle Kolleginnen und Kollegen ihre Stimmkar-ten eingeworfen? – Das ist der Fall. Ich beende die Ab-stimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schrift-führer, die Stimmen auszuzählen.1)

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Familie, Senioren,Frauen und Jugend (13. Ausschuss)

– zu dem Antrag der Abgeordneten DorotheeBär, Markus Grübel, Eckhard Pols, weitererAbgeordneter und der Fraktion der CDU/CSUsowie der Abgeordneten Miriam Gruß, FlorianBernschneider, Dr. Stefan Ruppert, weitererAbgeordneter und der Fraktion der FDP

Programme zur Bekämpfung von politi-schem Extremismus weiterentwickeln undstärken

– zu dem Antrag der Abgeordneten Sönke Rix,Daniela Kolbe (Leipzig), Petra Crone, weitererAbgeordneter und der Fraktion der SPD

Demokratieoffensive gegen Menschenfeind-lichkeit – Zivilgesellschaftliche Arbeit gegenRechtsextremismus nachhaltig unterstützen

1) Ergebnis Seite 15325 D

– zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke,Jan Korte, Matthias W. Birkwald, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion DIE LINKE

Auseinandersetzung mit Rechtsextremis-mus verstärken – Bundesprogramme gegenRechtsextremismus ausbauen und versteti-gen

– zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke,Jan Korte, Diana Golze, weiterer Abgeordneterund der Fraktion DIE LINKE

Arbeit für Demokratie und Menschenrechtebraucht Vertrauen – Keine Verdachtskulturin die Projekte gegen Rechtsextremismustragen

– zu dem Antrag der Abgeordneten MonikaLazar, Sven-Christian Kindler, Tom Koenigs,weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Daueraufgabe Demokratiestärkung – DieAuseinandersetzung mit rassistischen, anti-semitischen und menschenfeindlichen Hal-tungen gesamtgesellschaftlich angehen unddie Förderprogramme des Bundes danachausrichten

– Drucksachen 17/4432, 17/3867, 17/3045, 17/4664,17/2482, 17/5435 –

Berichterstattung:Abgeordnete Eckhard PolsSönke RixFlorian BernschneiderDiana GolzeMonika Lazar

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Gibt esWiderspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das sobeschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-ner dem Parlamentarischen Staatssekretär Dr. HermannKues das Wort.

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Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Dr. Hermann Kues, Parl. Staatssekretär bei der Bun-desministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend:

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren nichtzum ersten Mal über die Extremismusprogramme. Ichwill eingangs festhalten, dass jegliche Art von Extremis-mus, ganz gleich, ob von links oder von rechts oder isla-mistisch motiviert,

(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Oder aus der Mitte!)

im eklatanten Widerspruch zu unserer freiheitlich-demo-kratischen Grundordnung steht.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Deswegen hat es sich diese Bundesregierung zur Auf-gabe gemacht, von Anfang an sämtliche demokratie-feindlichen Strömungen gleichermaßen entschieden undnachhaltig zu bekämpfen. Sie tut das mit Erfolg.

Die Projekte, die in den Bundesprogrammen im Be-reich Extremismusprävention zur Stärkung von Toleranzund Demokratie verankert sind, leisten Hervorragendes.Sie kennen die Präventionsprogramme gegen Rechts-extremismus „Vielfalt tut gut“ und „kompetent. Für De-mokratie“ sowie das 2011 gestartete Folgeprogramm„Toleranz fördern – Kompetenz stärken“. Unsere Bemü-hungen im Bereich der Prävention von Linksextremis-mus und von islamistischem Extremismus im Bundes-programm „Initiative Demokratie stärken“ sinderfolgreich. Ich freue mich darüber. Ich glaube, dass dasein sehr positives Signal ist. Wir schulden Dank und An-erkennung all denjenigen, die sich in diesen Initiativengegen Rechts- und Linksextremismus engagieren. DieseMenschen haben unsere Unterstützung verdient.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Wir werden die bisherigen Ansätze im BereichRechtsextremismus fortsetzen. Wir sind ein gutes Stückvorangekommen und gehen weiter voran; denn niemandbezweifelt, dass Rechtsextremismus existiert und er einernsthaftes Problem ist.

Es gibt aber auch – das muss man ebenfalls feststellen –Linksextremismus in Deutschland. Die Notwendigkeit,sich damit zu beschäftigen, wird von dem einen oder an-deren immer wieder in Abrede gestellt. Das halten wirfür falsch und einseitig, zumal linksextremistische Straf-taten in Deutschland nachweislich zugenommen haben.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Die linksextremistisch motivierten Gewalttaten sind von701 Fällen im Jahr 2008 auf 944 im Jahr 2010 gestiegen.Das sind über 34 Prozent. Dass wir dieser Entwicklungaktiv gegensteuern wollen, ist absolut sinnvoll. Dazusollten auch Sie sich bekennen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Das Bundesprogramm gegen Linksextremismus undislamistischen Extremismus setzt wie die Programmegegen Rechtsextremismus im pädagogischen, im inte-grativen und im bildungsorientierten Bereich an. Dieteilweise lautstark geäußerte Kritik an diesem Programmkann ich überhaupt nicht nachvollziehen, und zwar ers-tens, weil die Bekämpfung des Rechtsextremismus mitgleicher Konsequenz fortgesetzt wird und die Haushalts-mittel aufgestockt wurden, und zweitens, weil es in demProgramm gegen Linksextremismus nicht darum geht,gegen legitime linke Gesellschaftskritik vorzugehen.Wir wollen – das ist der Kern –, dass Kinder und Jugend-liche für eine pluralistische, demokratische Gesellschaftbegeistert und für die Gefahren des Extremismus sensi-bilisiert werden.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Wir halten Extremismus, egal ob von links oder vonrechts, für gefährlich und machen hier keine Unter-schiede. Ich sage aber auch, dass bedauerlicherweisenicht alle diese Auffassung teilen. Der Kampf gegen dieProgramme gegen Linksextremismus zeigt teilweise tra-gische Ausmaße. So sah sich zum Beispiel ein Institut inHamburg vehementer Kritik ausgesetzt, nur weil es einvon uns gefördertes Forschungsvorhaben zum Thema„Autonome Jugendliche“ durchgeführt hat. Das Institutwurde zeitweilig von etwa 70 Studierenden der Hoch-schule besetzt, und es kam auch zu Sachbeschädigungen.Auch andere Träger sind massiv angegangen worden,nur weil sie Modellprojekte zur Prävention von Links-extremismus durchgeführt haben. Ich sage ausdrücklich:Es gibt Kräfte, die auf einem Auge blind sind. Aber dasmöchten wir nicht akzeptieren.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Wir wollen beide Programmhälften fortführen und unsmit beiden Seiten auseinandersetzen. Deswegen glaubeich, dass der Antrag, der von den Koalitionsfraktioneneingebracht worden ist, unsere Unterstützung verdient.

Zu den Anträgen der SPD, der Grünen und auch derLinken sage ich: Sie sehen Extremismusprävention nurim engen Korsett der Prävention gegen Rechtsextremis-mus.

(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie verstehen es noch immer nicht!)

Sie treffen in Ihren Anträgen keinerlei inhaltliche Aus-sage zur Demokratieförderung. Ihnen geht es ausschließ-lich um die finanzielle Förderung, ohne Struktur und Vi-sion.

Weil es Ihnen an Inhalten fehlt, machen Sie Stim-mung gegen die Demokratieerklärung.

(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Das ist eine Unverschämtheit!)

Ich weiß nicht, wo das eigentliche Problem liegt. Es gehtdoch lediglich darum, dass jeder, der Geld vom Staat be-

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Parl. Staatssekretär Dr. Hermann Kues

kommt, unterschreiben muss, dass er es für Zwecke derDemokratieförderung einsetzt.

(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Dann sollen es doch bitte alle unter-schreiben!)

Es geht nicht um einen Generalverdacht gegenüber denTrägern. Es ist bemerkenswert, dass der Großteil derTräger überhaupt keine Probleme mit dieser Demokra-tieerklärung hat.

(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Warum wohl? Weil sie kein Geld mehrbekommen!)

Ich glaube, dass wir gute Gründe haben, genau hinzu-schauen, wer von diesen Maßnahmen profitiert. Ich habeschon beim letzten Mal auf einige sehr praktische Bei-spiele hingewiesen. Es kann nicht sein, dass Extremevon den Programmen gegen Extreme profitieren. Das istmit unserem Verständnis nicht vereinbar.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Herr Kollege Kues, ich muss Ihren Redefluss unter-

brechen; denn der Kollege Kindler würde Ihnen gerneeine Zwischenfrage stellen.

Dr. Hermann Kues, Parl. Staatssekretär bei der Bun-desministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend:

Das hat er doch schon beim letzten Mal gemacht. Ister überhaupt hier?

(Heiterkeit – Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es ist schon spät am Abend!Wir wissen das!)

Bitte sehr.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Bitte schön, Herr Kindler.

Sven-Christian Kindler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):

Sehr geehrter Herr Staatssekretär, ist Ihnen bekannt,dass der Wissenschaftliche Dienst dieses Hohen Hausesein Gutachten zur sogenannten Demokratieklausel – wirsagen: Extremismusklausel – verfasst hat und in diesemGutachten zu dem Ergebnis kommt, dass die Demokra-tieklausel verfassungsrechtlich höchst bedenklich bzw.sogar verfassungswidrig ist, weil sie einen Bekenntnis-zwang der Träger verlangt, was in keinem Verhältnis zudem steht, was an staatlichen Geldern gegeben wird?Teilen Sie weiterhin meine Einschätzung, dass eine Zi-vilgesellschaft Vertrauen sowie Unterstützung und nichtMisstrauen braucht und dass dies das große Problem ist,weswegen so viele Träger und zivilgesellschaftliche Ini-tiativen dagegen vorgehen und protestieren?

Dr. Hermann Kues, Parl. Staatssekretär bei der Bun-desministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend:

Das Letzte, was Sie gesagt haben, dass viele zivilge-sellschaftliche Träger und Initiativen dagegen vorgehen,stimmt schlichtweg nicht.

(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Das stimmt sehr wohl!)

Sogar zahlreiche Kommunen haben unterschrieben, ob-wohl sie überhaupt nicht dazu verpflichtet sind. ErinnernSie sich einmal an die Diskussion im Bundesrat. Dortgab es eine Initiative vom Land Berlin gegen die Demo-kratieerklärung. – Ich sage gleich noch etwas zu der Ex-pertise des Wissenschaftlichen Dienstes. – Am letztenFreitag ist dem Antrag des Landes Berlin auf Änderungder Demokratieerklärung vom Bundesrat mit seiner mo-mentanen Mehrheit eine klare Absage erteilt worden,weil man offenkundig die rechtliche Basis dafür nicht alstragfähig angesehen hat.

Zu der Expertise des Wissenschaftlichen Dienstes desBundestages gibt es ganz klare Gutachten von Wissen-schaftlern und Fachleuten. Wir haben auch Stellungnah-men der Verfassungsressorts, in denen steht, dass daseine ausgesprochen dünne Expertise gewesen ist. Wirverlassen uns auf die Stellungnahme der Verfassungsres-sorts. Wieso werden Klagen zurückgezogen, wenn es an-geblich rechtswidrig ist? Weil man auf dieser Basis nichterfolgreich sein wird. Sie können es vor Gericht gernenoch einmal versuchen.

Langer Rede kurzer Sinn: Wir werden daran festhal-ten, den Extremismus von beiden Seiten zu bekämpfen.Ich wäre sehr dankbar, wenn diejenigen, die uns immervorwerfen, wir seien auf dem einen Auge blind, bei Ak-tivitäten gegen Linksextremismus und Islamismus an derSeite der Regierung stünden.

(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Wir sind nicht an der Regierung! Wiekämen wir dazu?)

Entscheidend ist, dass Demokraten in dieser Sache zu-sammenhalten. Deswegen sollten Sie da mitmachen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Für die SPD hat jetzt der Kollege Sönke Rix das

Wort.

(Beifall bei der SPD)

Sönke Rix (SPD):Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und

Herren! Ich möchte zunächst auf den Koalitionsantrageingehen. Wenn man ihn liest, dann stößt man auf dieSchlagwörter, die sehr häufig darin zu finden sind: wei-terentwickeln, prüfen. Sie wollen eine verbesserte Ko-ordination und Zusammenarbeit der Ministerien. Es istrichtig und gut, Programme für Demokratie und Tole-ranz weiterzuentwickeln. Aber was wollen Sie konkretfür die Initiativen vor Ort tun, die an diesen Programmenbeteiligt sind? Die Antwort auf diese Frage fehlt in Ih-rem Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen von Unionund FDP. Das Ziel muss sein, eine Gesamtstrategie zuentwickeln. Auch das haben Sie richtig formuliert. Dochmit welchen Mitteln und mit welchen konkreten Schrit-

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Sönke Rix

ten Sie dieses Ziel erreichen wollen, steht nicht in IhremAntrag.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wenn Sie mit den Initiativen vor Ort sprechen – Sietun das sicherlich genauso häufig wie wir –, dann wer-den Sie auf die Probleme stoßen, die man mit diesenProgrammen hat. Mir geht es um die konkrete Ausfüh-rung der Programme. Daher will ich jetzt keine Debatteüber den Extremismus von links und rechts führen, son-dern einen genauen Blick auf diese Programme werfen.

Wenn man die Strategien für Demokratie und Vielfalternst nimmt, dann braucht man Mittel, die langfristigund nicht nur kurzfristig zur Verfügung stehen.

(Beifall bei der SPD)

Diese Mittel brauchen wir für die Schaffung von Struk-turen. Geld ist auch bitter nötig für Opferberatung, fürBeraterteams und für die zahlreichen Initiativen vor Ort.

Die Strategien für Demokratie und Vielfalt brauchennicht nur jede Menge finanzielle Mittel, sondern auchFlexibilität, was die Abrufung dieser Mittel angeht. Ichnenne ein kleines Beispiel. Sie alle kennen den Verein„Gesicht Zeigen!“. Gerhard Schröder ist der Schirmherrund Uwe-Karsten Heye ist der Vorsitzende. Auch Kolle-ginnen und Kollegen der Koalitionsfraktionen sind Mit-glied in diesem Verein. Dieser Verein hat elf Projektekofinanziert, die aktiv vor Ort im Rahmen unserer Pro-gramme tätig waren. Bei dieser Kofinanzierung ergibtsich allerdings das Problem, dass sie nicht dauerhaft ge-leistet werden kann. Weil unsere Programme nicht flexi-bel gestaltet sind, mussten diese elf Projekte wieder ein-gestellt werden. Deshalb muss die Struktur derProgramme flexibler werden. Ich hätte mir gewünscht,wenn Sie diese Programme einmal daraufhin evaluierthätten und zu mehr Flexibilität gekommen wären. Dasist aber leider nicht passiert.

(Beifall bei der SPD)

Ein weiteres Thema – ich habe es schon angespro-chen – ist die Kofinanzierung insgesamt. Wir haben unsin der Großen Koalition bereit erklärt – ich habe selberdazugelernt; Kollegin Griese hat zusammen mit mir dieentsprechenden Verhandlungen geführt –, einer Kofinan-zierung in Höhe von 50 Prozent zuzustimmen. Sie habenuns vorhin aufgefordert, etwas zum Programm gegen is-lamistischen Extremismus zu sagen. In diesem Bereichist beispielsweise nur eine Kofinanzierung von 15 Pro-zent nötig, während es bei den Programmen gegenRechtsextremismus 50 Prozent sind.

(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Sehr seltsam!)

Das ist – in der Tat – absolut seltsam. Für die Projekte istes schwer, eine Kofinanzierung von 50 Prozent sicherzu-stellen. Da brauchen wir eine Änderung.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich will ein ganz konkretes Beispiel nennen: DieAmadeu-Antonio-Stiftung führt ein sehr sinnvolles Pro-jekt durch: no-nazi.net. Wir alle wissen: Junge Men-schen und leider auch die Rattenfänger der Rechtsextre-misten sind viel im Netz unterwegs. Dieses Projektkostet 150 000 Euro. 75 000 Euro kommen vom Bund.Weitere Mittel für dieses Projekt stammen aus privatenSpenden, aus Spenden von Firmen. Aber es fehlen im-mer noch 20 000 Euro für die Kofinanzierung. Hier stelltsich wieder die Frage: Warum sind 50 Prozent Kofinan-zierung festgeschrieben? Warum gibt es hier nicht mehrFlexibilität? Solche Projekte sind wichtig. Ich glaube,dass keiner in diesem Hohen Hause etwas gegen dieseProjekte hat.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetender LINKEN und der Abg. Monika Lazar[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Ich habe mit Absicht nicht davon gesprochen, wieschlimm es ist, im Bereich des Extremismus links undrechts voneinander zu trennen. Ich bitte darum, dass wiruns die Projekte anschauen und die aktive Zivilgesell-schaft vor Ort dazu einladen, gemeinsam mit uns dieseProgramme zu durchforsten, um herauszufinden: Wosind sie zu bürokratisch? Wo sind sie zu starr? Wir müs-sen die Demokratiearbeiter vor Ort – so nenne ich sieeinmal – unterstützen und dürfen ihnen nicht noch mehrBürokratie aufbürden. Wir müssen versuchen, zu ge-währleisten, dass ihre Arbeit dauerhaft finanziert wird.Daran sollten wir alle in diesem Hause gemeinsam arbei-ten.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und demBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab-geordneten der FDP)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile, gebe

ich Ihnen das von den Schriftführerinnen und Schriftfüh-rern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstim-mung über den Antrag zur Fortsetzung der Beteiligungbewaffneter deutscher Streitkräfte an der von den Ver-einten Nationen geführten Friedensmission in Südsudanbekannt: abgegebene Stimmen 521. Mit Ja haben ge-stimmt 462, mit Nein haben gestimmt 58, eine Enthal-tung. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.

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15326 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011

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Vizepräsident Dr. Hermann Otto S

Endgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen: 521;davon

ja: 462nein: 58enthalten: 1

Ja

CDU/CSU

Ilse AignerPeter AumerDorothee BärThomas BareißGünter BaumannErnst-Reinhard Beck

(Reutlingen)Manfred Behrens (Börde)Veronika BellmannDr. Christoph BergnerPeter BeyerSteffen BilgerClemens BinningerPeter BleserWolfgang Börnsen

(Bönstrup)Michael BrandDr. Reinhard BrandlHelmut BrandtDr. Ralf BrauksiepeDr. Helge BraunHeike BrehmerRalph BrinkhausCajus CaesarGitta ConnemannAlexander DobrindtThomas DörflingerMarie-Luise DöttDr. Thomas FeistEnak FerlemannIngrid FischbachHartwig Fischer (Göttingen)Dirk Fischer (Hamburg)Dr. Maria FlachsbarthKlaus-Peter FlosbachDr. Hans-Peter Friedrich

(Hof)Michael FrieserErich G. FritzDr. Michael FuchsHans-Joachim FuchtelIngo GädechensDr. Thomas GebhartNorbert GeisAlois GerigEberhard GiengerJosef GöppelPeter GötzDr. Wolfgang GötzerUte GranoldReinhard GrindelHermann GröheMichael Grosse-BrömerMarkus GrübelManfred GrundMonika GrüttersOlav Gutting

olms

Florian HahnDr. Stephan HarbarthJürgen HardtGerda HasselfeldtDr. Matthias HeiderHelmut HeiderichMechthild HeilFrank HeinrichRudolf HenkeMichael HennrichAnsgar HevelingErnst HinskenPeter HintzeChristian HirteRobert HochbaumKarl HolmeierFranz-Josef HolzenkampJoachim HörsterAnette HübingerThomas JarzombekDieter JasperDr. Franz Josef JungAndreas Jung (Konstanz)Dr. Egon JüttnerHans-Werner KammerBernhard KasterSiegfried Kauder (Villingen-

Schwenningen)Volker KauderDr. Stefan KaufmannRoderich KiesewetterEckart von KlaedenEwa KlamtJürgen KlimkeAxel KnoerigJens KoeppenManfred KolbeDr. Rolf KoschorrekHartmut KoschykThomas KossendeyMichael KretschmerGunther KrichbaumDr. Günter KringsBettina KudlaDr. Hermann KuesGünter LachDr. Karl A. Lamers

(Heidelberg)Andreas G. LämmelKatharina LandgrafUlrich LangePaul LehriederDr. Ursula von der LeyenIngbert LiebingMatthias LietzDr. Carsten LinnemannPatricia LipsDr. Jan-Marco LuczakDaniela LudwigKarin MaagDr. Thomas de MaizièreHans-Georg von der MarwitzStephan Mayer (Altötting)Dr. Michael MeisterMaria MichalkDr. h. c. Hans MichelbachDr. Mathias MiddelbergPhilipp Mißfelder

Dietrich MonstadtMarlene MortlerDr. Gerd MüllerStefan Müller (Erlangen)Dr. Philipp MurmannMichaela NollDr. Georg NüßleinFranz ObermeierEduard OswaldHenning OtteDr. Michael PaulRita PawelskiUlrich PetzoldDr. Joachim PfeifferSibylle PfeifferBeatrix PhilippRonald PofallaChristoph PolandRuprecht PolenzEckhard PolsThomas RachelLothar RiebsamenJosef RiefKlaus RiegertDr. Heinz RiesenhuberJohannes RöringDr. Norbert RöttgenDr. Christian RuckErwin RüddelAlbert Rupprecht (Weiden)Anita Schäfer (Saalstadt)Dr. Wolfgang SchäubleDr. Annette SchavanDr. Andreas ScheuerNorbert SchindlerTankred SchipanskiChristian Schmidt (Fürth)Patrick SchniederDr. Andreas SchockenhoffNadine Schön (St. Wendel)Dr. Ole SchröderUwe SchummerArmin Schuster (Weil am

Rhein)Detlef SeifJohannes SelleReinhold SendkerDr. Patrick SensburgBernd SiebertThomas SilberhornJohannes SinghammerJens SpahnCarola StaucheDr. Frank SteffelErika SteinbachChristian Freiherr von StettenDieter StierGero StorjohannStephan StrackeMax StraubingerKarin StrenzThomas Strobl (Heilbronn)Lena StrothmannMichael StübgenDr. Peter TauberAntje TillmannDr. Hans-Peter UhlArnold Vaatz

Volkmar Vogel (Kleinsaara)Andrea Astrid VoßhoffDr. Johann WadephulMarco WanderwitzKai WegnerMarcus Weinberg (Hamburg)Peter Weiß (Emmendingen)Sabine Weiss (Wesel I)Ingo WellenreutherKarl-Georg WellmannPeter WichtelAnnette Widmann-MauzElisabeth Winkelmeier-

BeckerDr. Matthias ZimmerWolfgang ZöllerWilli Zylajew

SPD

Ingrid Arndt-BrauerRainer ArnoldHeinz-Joachim BarchmannDoris BarnettDr. Hans-Peter BartelsKlaus BarthelSören BartolBärbel BasDirk BeckerLothar Binding (Heidelberg)Gerd BollmannWilli BraseEdelgard BulmahnMarco BülowMartin BurkertPetra CroneElvira Drobinski-WeißGarrelt DuinSebastian EdathyIngo EgloffSiegmund EhrmannDr. h. c. Gernot ErlerPetra ErnstbergerKarin Evers-MeyerElke FernerGabriele FograscherDr. Edgar FrankeDagmar FreitagMichael GerdesMartin GersterIris GleickeGünter GloserAngelika Graf (Rosenheim)Kerstin GrieseMichael GroschekMichael GroßWolfgang GunkelHans-Joachim HackerMichael Hartmann

(Wackernheim)Hubertus Heil (Peine)Dr. Barbara HendricksGustav HerzogGabriele Hiller-OhmFrank Hofmann (Volkach)Christel HummeJosip JuratovicOliver KaczmarekDr. h. c. Susanne Kastner

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 15327

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Vizepräsident Dr. Hermann Otto S

Ulrich KelberLars KlingbeilDr. Bärbel KoflerDaniela Kolbe (Leipzig)Fritz Rudolf KörperAnette KrammeNicolette KresslAngelika Krüger-LeißnerUte KumpfChristine LambrechtChristian Lange (Backnang)Dr. Karl LauterbachSteffen-Claudio LemmeBurkhard LischkaGabriele Lösekrug-MöllerCaren MarksKatja MastHilde MattheisUllrich MeßmerDr. Matthias MierschFranz MünteferingDr. Rolf MützenichAndrea NahlesDietmar NietanManfred NinkThomas OppermannHolger OrtelAydan ÖzoğuzHeinz PaulaJohannes PflugJoachim PoßFlorian PronoldDr. Sascha RaabeMechthild RawertStefan RebmannGerold ReichenbachDr. Carola ReimannSönke RixRené RöspelDr. Ernst Dieter RossmannKarin Roth (Esslingen)Michael Roth (Heringen)Marlene Rupprecht

(Tuchenbach)Anton SchaafAxel Schäfer (Bochum)Bernd ScheelenMarianne Schieder

(Schwandorf)Werner Schieder (Weiden)Ulla Schmidt (Aachen)Silvia Schmidt (Eisleben)Ottmar SchreinerSwen Schulz (Spandau)Frank SchwabeStefan SchwartzeRita Schwarzelühr-SutterDr. Carsten SielingSonja SteffenPeer SteinbrückDr. Frank-Walter SteinmeierChristoph SträsserKerstin TackDr. h. c. Wolfgang ThierseFranz ThönnesWolfgang TiefenseeRüdiger VeitUte Vogt

olms

Dr. Marlies VolkmerHeidemarie Wieczorek-ZeulDr. Dieter WiefelspützUta ZapfDagmar ZieglerManfred ZöllmerBrigitte Zypries

FDP

Jens AckermannChristian AhrendtChristine Aschenberg-

DugnusDaniel Bahr (Münster)Florian BernschneiderSebastian BlumenthalClaudia BögelNicole Bracht-BendtKlaus BreilRainer BrüderleAngelika BrunkhorstErnst BurgbacherSylvia CanelHelga DaubReiner DeutschmannDr. Bijan Djir-SaraiPatrick DöringMechthild DyckmansRainer ErdelJörg van EssenUlrike FlachPaul K. FriedhoffDr. Wolfgang GerhardtHans-Michael GoldmannHeinz GolombeckMiriam GrußJoachim Günther (Plauen)Dr. Christel Happach-KasanManuel HöferlinElke HoffBirgit HomburgerDr. Werner HoyerHeiner KampMichael KauchDr. Lutz KnopekPascal KoberDr. Heinrich L. KolbGudrun KoppSebastian KörberHolger KrestelPatrick Kurth (Kyffhäuser)Heinz LanfermannSibylle LaurischkHarald LeibrechtSabine Leutheusser-

SchnarrenbergerLars LindemannChristian LindnerDr. Martin Lindner (Berlin)Michael Link (Heilbronn)Dr. Erwin LotterOliver LuksicPatrick MeinhardtGabriele MolitorJan MückePetra Müller (Aachen)Burkhardt Müller-Sönksen

Dr. Martin Neumann (Lausitz)

Dirk NiebelHans-Joachim Otto

(Frankfurt)Cornelia PieperGisela PiltzDr. Christiane Ratjen-

DamerauDr. Birgit ReinemundDr. Peter RöhlingerDr. Stefan RuppertBjörn SängerFrank SchäfflerChristoph SchnurrJimmy SchulzMarina SchusterDr. Erik SchweickertWerner SimmlingJudith SkudelnyDr. Hermann Otto SolmsJoachim SpatzDr. Max StadlerTorsten StaffeldtSerkan TörenJohannes Vogel

(Lüdenscheid)Dr. Daniel VolkDr. Guido WesterwelleDr. Volker WissingHartfrid Wolff (Rems-Murr)

BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Marieluise Beck (Bremen)Volker Beck (Köln)Cornelia BehmBirgitt BenderViola von Cramon-TaubadelHarald EbnerHans-Josef FellDr. Thomas GambkeKai GehringKatrin Göring-EckardtBritta HaßelmannBettina HerlitziusDr. Anton HofreiterIngrid HönlingerThilo HoppeKatja KeulMemet KilicMaria Klein-SchmeinkUte KoczySylvia Kotting-UhlOliver KrischerAgnes KrumwiedeFritz KuhnStephan KühnRenate KünastMarkus KurthUndine Kurth (Quedlinburg)Monika LazarNicole MaischAgnes MalczakJerzy MontagKerstin Müller (Köln)Beate Müller-GemmekeIngrid Nestle

Dr. Konstantin von NotzOmid NouripourFriedrich OstendorffLisa PausBrigitte PothmerTabea RößnerClaudia Roth (Augsburg)Krista SagerManuel SarrazinDr. Gerhard SchickTill SeilerDorothea SteinerDr. Wolfgang Strengmann-

KuhnHans-Christian StröbeleDr. Harald TerpeMarkus TresselJürgen TrittinDaniela WagnerWolfgang WielandDr. Valerie WilmsJosef Philip Winkler

Nein

DIE LINKE

Jan van AkenHerbert BehrensKarin BinderMatthias W. BirkwaldHeidrun BluhmEva Bulling-SchröterDr. Martina BungeSevim DağdelenDr. Diether DehmHeidrun DittrichWerner DreibusDr. Dagmar EnkelmannKlaus ErnstWolfgang GehrckeNicole GohlkeDiana GolzeAnnette GrothDr. Gregor GysiHeike HänselDr. Rosemarie HeinInge HögerDr. Barbara HöllAndrej HunkoKatja KippingHarald KochJutta KrellmannKatrin KunertCaren LaySabine LeidigRalph LenkertStefan LiebichUlla LötzerThomas LutzeUlrich MaurerCornelia MöhringKornelia MöllerNiema MovassatWolfgang NeškovićPetra PauJens PetermannRichard PitterleYvonne Ploetz

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15328 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011

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Vizepräsident Dr. Hermann Otto S

Ingrid RemmersPaul Schäfer (Köln)Michael SchlechtDr. Ilja SeifertRaju SharmaDr. Petra Sitte

olms

Kersten SteinkeSabine StüberDr. Kirsten TackmannDr. Axel TroostAlexander UlrichKathrin Vogler

Johanna VoßSahra WagenknechtHalina WawzyniakHarald Weinberg

Enthalten

SPD

Petra Hinz (Essen)

(D)

Jetzt hat der Kollege Florian Bernschneider für dieFDP das Wort.

(Beifall bei der FDP)

Florian Bernschneider (FDP):Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Herr Kollege Rix, vielen Dank für die sachlicheRede. Ich hätte mir gewünscht, der SPD-Antrag und diebisherigen Debatten hätten ebenso sachlich ausgesehen.

(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Den müssen Sie noch mal lesen!)

Das konnte ich aber leider nicht feststellen.

Lassen Sie mich in dieser Diskussion eingangs einessagen: An unserem Antrag kann man feststellen, dassdiese christlich-liberale Koalition die Gefahren, die vomRechtsextremismus auf unsere Demokratie und unsereGesellschaft ausgehen, ernst nimmt. Deswegen bitte ichSie – ich habe die Pressemitteilungen der Kollegen gele-sen –: Hören Sie mit Ihrem ständigen Kürzungsmärchenauf! Es wird nicht richtiger, wenn man Falsches wieder-holt.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Es ist mir, ehrlich gesagt, wurscht, ob Sie es verste-hen, dass man an Verwaltungskosten sparen kann, ohnedass Projekte darunter leiden. Fakt ist: Diese schwarz-gelbe Koalition investiert mehr in die Arbeit gegenRechtsextremismus und für Demokratie und Vielfalt alsjede andere Koalition zuvor. Wir geben mehr als doppeltso viel für diesen Bereich aus wie Rot-Grün und auchmehr als Schwarz-Rot. Aber klar ist auch: Wenn es umdie Verteilung der Präventionsmittel geht, dann darf mansie in einer wehrhaften Demokratie nicht allein an derZahl der Straftaten ausrichten. Denn wenn es zu einerStraftat kommt, dann ist es für Prävention zu spät. Wirmüssen uns ein sensibles Frühwarnsystem zulegen, umrechtzeitig auf die Gefahren für unsere Demokratie prä-ventiv zu reagieren.

Im Sinne eines solchen Frühwarnsystems möchte ichIhnen einmal den Text eines Liedes vortragen, das Siesich auf YouTube anhören können. Im Song „Hass“ vonHolger Burner heißt es – ich zitiere direkt aus einem Be-richt des Brandenburger Verfassungsschutzes –:

Wir haben Hass auf die Polizei / Hass auf den Staat /Hass auf eure Fressen, Hass / Auf die Waffen, dieihr tragt/Hass auf die Art, wie ihr Massen verarscht /Du würdest niemals glauben / Wie viel Hass ichnoch hab … Wir ham euch etwas mitgebracht /Hass, Hass, Hass.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich weißnicht, wie Sie sich fühlen, wenn Sie so etwas hören.Mein persönliches Frühwarnsystem für unsere Demo-kratie schlägt da Alarm. Ich weiß als jugendpolitischerSprecher meiner Fraktion sehr wohl, dass man Raptextenicht immer auf die Goldwaage legen sollte. Aber einesmuss man von demokratischen Kräften schon erwartenkönnen, nämlich dass sie sich von solchen Texten deut-lich distanzieren.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Die Kolleginnen und Kollegen der Linksfraktion dis-tanzieren sich aber nicht von diesem Text. Ganz im Ge-genteil: Sie stellen den Verfasser dieses Textes sogar alsKandidaten zur Bürgerschaftswahl in Hamburg auf. Icherspare es Ihnen und uns an dieser Stelle, die hochpein-lichen Erklärungsversuche der Genossen aus Hamburgwiederzugeben. Sie disqualifizieren sich damit in sol-chen Diskussionen automatisch. Deswegen kann manSie an dieser Stelle nicht ernst nehmen.

(Beifall bei der FDP)

Dass Sie dabei hier im Plenum immer wieder Unterstüt-zung von Rot-Grün bekommen, ist schockierend. Erklä-ren Sie doch einmal den Leuten auf der Straße – eineeinfache Frage –, warum wir so viel Engagement zeigensollen, rechtsextreme Schulhof-CDs zu verhindern, abervor genau solchen Texten, die im Internet kursieren, dieAugen verschließen. Das versteht niemand.

(Beifall bei der FDP – Sönke Rix [SPD]: Wer will denn da die Augen verschließen?)

Deswegen ist es richtig, dass wir mit unserem Antragzum Beispiel die Prävention im Internet vorantreibenwollen.

Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von den Grü-nen, Sie haben sich mit Ihrem Antrag verrannt, verranntin eine Ideologie, bei der es nur um Mittel gegen Rechts-extremismus geht. Damit verschließen Sie aber die Au-gen leider nicht nur vor dem Linksextremismus, sondernauch vor anderen Gefahren. Sie kommen damit automa-tisch in eine absurde Situation; denn während Ihre eige-nen Kollegen im Hessischen Landtag hartnäckig einPräventionskonzept gegen islamistischen Extremismuseinfordern, während Grüne in Frankfurt zu Recht gegenHassprediger wie Pierre Vogel demonstrieren, fordern Siein Ihrem Antrag – ich zitiere Ihre Forderung 7 –, „dieseFörderprogramme spezifisch auf den Kampf gegenRechtsextremismus auszurichten und keine Verteilungder verfügbaren Mittel auf andere Extremismusformenvorzunehmen“.

(Sönke Rix [SPD]: Zusätzliche Mittel!)

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Florian Bernschneider

Meine Damen und Herren, das ist einfach absurd. Dasversteht niemand. Der Wahlkampf – das will ich an die-ser Stelle einmal sagen, auch weil dieser vielleicht dieDebatten in letzter Zeit aufgeheizt hat – ist vorbei. Des-wegen ist es jetzt an der Zeit, dass Sie sich einem breitenPräventionskonzept öffnen, bei dem wir einen deutlichenFokus auf die Arbeit gegen Rechtsextremismus legen,aber eben die Augen nicht vor anderen Gefahren ver-schließen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Warumhaben Sie nicht dazu geredet?)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Für die Fraktion Die Linke hat nun die Kollegin Petra

Pau das Wort.

(Beifall bei der LINKEN)

Petra Pau (DIE LINKE):Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wenige Zahlen vorweg: Im statistischen Schnitt werdenbundesweit stündlich zweieinhalb Straftaten registriert,die rechtsextremistisch motiviert sind. Tag für Tag wer-den nach derselben Statistik zweieinhalb rechtsextremeGewalttaten erfasst. Wir wissen, diese Zahlen stapelntief. Nach langjährigen Erfahrungen liegen die realenZahlen rechtsextremer Ausfälle um circa 50 Prozent hö-her. Entsprechend groß ist die Zahl der Opfer.

Unabhängige Beobachter weisen aus und auch nach,dass im vereinten Deutschland seit 1990 137 Menschendurch rechtsextreme Gewalt zu Tode kamen. Das heißt,Rechtsextremismus ist hierzulande wieder eine Gefahrfür Leib und Leben. Das ist ein anhaltender Befund.Folglich war es naheliegend, zivilgesellschaftliche Ini-tiativen zu unterstützen, die dem vorbeugen und sich zurWehr setzen. Das geschieht seit über zehn Jahren, aller-dings oftmals halbherzig und zunehmend widerwillig.

Seitdem die Union und die FDP die Bundesregierungbilden, erleben wir eine regelrechte Diffamierung von zi-vilgesellschaftlichem Engagement gegen grassierendenRechtsextremismus. Herr Staatssekretär, mit der soge-nannten Extremismusklausel sollen natürlich diese Ini-tiativen für Demokratie und Toleranz Verfassungstreueschwören. Sie haben gerade gefragt: Was ist dabei? Mankönnte ja sagen: Was ist dabei? Sie werden aber zudemverpflichtet, ihre gesellschaftlichen Partner zu observie-ren. Ich finde, das ist eine Unkultur des Misstrauens, unddas lehnen wir ab.

(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Auch andere Entwicklungen in diesem Bereich legenden Schluss nahe, der zivilgesellschaftliche Kampf ge-gen Rechtsextremismus soll verstaatlicht, entpolitisiertund ausgetrocknet werden. Das sich abzeichnende Pro-gramm des leider zuständigen Bundesfamilienministe-riums zeigt das. An die Stelle engagierter Bürgerinnenund Bürger tritt dann der Inlandsgeheimdienst – wir ha-ben Anfragen zu diesem Thema gestellt –, wenn der Ver-fassungsschutz jetzt in den Schulen diese Arbeit über-

nimmt. Anstelle politischer Aufklärung werden imFreistaat Sachsen beispielsweise Schwimmevents veran-staltet, bei denen auch die NPD gegen Extremismus mit-spielen darf.

Anstatt sie moralisch und finanziell zu unterstützen,sollen die Fördermittel des Bundes für zivilgesellschaft-liche Initiativen nun gekürzt werden. Die Bundesregie-rung stellt sich damit meiner Meinung nach tatsächlichselbst ein Armutszeugnis aus, übrigens ein für die Ge-sellschaft gefährliches.

(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Zum Schluss ein vierter Gedanke. Rechtsextremismusist mehr als die NPD. Er ist ein gesellschaftliches Phäno-men und kann folglich auch nur durch die Gesellschaftgebannt werden. Ein weitsichtiger Staat unterstützt das;die aktuelle Bundesregierung tut das Gegenteil. Als Be-leg möchte ich Ihnen die aktuellen Wahlergebnisse derNPD ins Gedächtnis rufen: Sie konnte bei mehrerenLandtagswahlen zweistellige Ergebnisse verbuchen, undzwar bei jungen Menschen, bei Arbeitslosen, bei prekärBeschäftigten, bei Männern und in ländlichen Milieus.Da offenbaren sich rechtsextreme Einstellungen, die imÜbrigen durch ein Verbot der NPD nicht verschwindenwerden.

Es wäre also gesellschaftliche und politische Weisheitgefragt. Deshalb bedauert die Linke, dass die CDU/CSUund die FDP derzeit dazu weder willens noch fähig sind.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Für Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt die Kollegin

Monika Lazar das Wort.

Monika Lazar (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor

wenigen Wochen zog in Mecklenburg-Vorpommern dieNPD zum zweiten Mal infolge in einen Landtag ein.Gleiches gelang der NPD 2009 in Sachsen, wo sie auchin allen Kreistagen vertreten ist. Bundesweit gibt es aufkommunaler Ebene zahlreiche Mandate für Rechts-extreme.

Als demokratische Politikerinnen und Politiker soll-ten wir uns alle fragen: Wie kommt es, dass eine rassisti-sche und menschenfeindliche Partei wie die NPD in un-serem Land so viel Zuspruch erhält? Was vermissen dieMenschen, und wo müssen wir bessere demokratischeAngebote machen? An welcher Stelle gibt die demokra-tische Politik ein schlechtes Vorbild ab? Wo lassen wirLücken, die die Menschenfeinde für sich nutzen?

Bei diesen Überlegungen helfen uns die zivilgesell-schaftlichen Initiativen, die sich gegen Rechtsextremis-mus, Rechtspopulismus und Rassismus engagieren. Sietragen zu einer Kultur der Toleranz und Menschen-rechtsorientierung bei, die wir ausbauen müssen. DasFamilienministerium allerdings glaubt, Demokratie ließe

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Monika Lazar

sich per Verwaltungsakt regeln. Zu diesem Zweck wurdedie sogenannte Extremismusklausel eingeführt.

In den letzten Monaten haben wir bereits zahlreicheDebatten geführt: in den Ausschüssen, im Plenum undauch anderswo. Nicht nur betroffene Initiativen, sondernauch zahlreiche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaft-ler, Gewerkschaften, Kirchen, der Zentralrat der Mus-lime, der Zentralrat der Juden und viele andere Stellenbeteiligten sich daran. Die Amadeu-Antonio-Stiftung hatsogar eine Chronik erstellt und darin die unterschiedli-chen Proteste dokumentiert. Kritik äußerten auch einigeBundesländer. Das Land Berlin brachte einen Antrag inden Bundesrat ein. Der federführende Ausschuss fürFrauen und Jugend votierte für Zustimmung. Es kam al-lerdings keine Beschlussfassung zustande, weil der Aus-schuss für Innere Angelegenheiten nicht zustimmte.

Zwei juristische Gutachten kamen zu dem Ergebnis,dass die Extremismusklausel nicht verfassungskonformist. Alle Oppositionsfraktionen dieses Hauses stelltensich mit parlamentarischen Anträgen gegen diese Klau-sel. Ich finde es demokratiepolitisch wirklich fragwür-dig, dass die Bundesregierung all diese Appelle und Re-aktionen schlicht ignoriert, sich auf ihre Machtpositionzurückzieht und das Problem aussitzt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)

Es gebe ja kein Problem, die überwiegende Anzahl derInitiativen würde ja unterzeichnen, was Herr Kues vor-hin wieder bestätigt hat. Natürlich tun das die meisten,da sonst ihre Projekte gestoppt würden oder sogar ihreExistenz auf dem Spiel stünde. Es gibt allerdings Träger,die wegen der Klausel gar keine Anträge mehr stellenund somit in der Statistik natürlich nicht auftauchen.Dazu gehören in meiner Heimatstadt Leipzig die beidensoziokulturellen Zentren „VILLA“ und „Conne Island“.Das Netzwerk für Demokratie und Courage etwa beklagteinen Verlust von circa 10 Prozent der Ehrenamtlichen,die als Teamerinnen und Teamer in Schulen Projekttageangeboten haben. Dieser Rückzug geschieht nicht etwadeswegen, weil sie nicht hinter den demokratischen Wer-ten dieser Gesellschaft stehen, sondern weil sie sich,durch diese Klausel verunsichert, enttäuscht zurückge-zogen haben. Wer sich gegen Rechtsextremismus enga-giert, stärkt unsere Demokratie; wir brauchen mehr undnicht weniger davon.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Petra Pau [DIE LINKE])

Vor einer Woche führte selbst der Papst in seiner Redeim Bundestag aus, dass die offizielle Staatsmeinung, diesich gegen bestimmte Gruppen richtet, falsch sein kann.Als Beispiel nannte er die Widerstandskämpfer, die ge-gen das Naziregime handelten „und so dem Recht undder Menschheit als Ganzem einen Dienst erwiesen“ ha-ben. Mit einem Zitat von Origines propagierte der Papsteine Haltung, die in Bezug auf zivilgesellschaftlicheBündnisse noch immer Aktualität besitzt: Es sei mituntersehr vernünftig, „auch entgegen der … bestehendenOrdnung Vereinigungen“ zu bilden. Nun frage ich dieKolleginnen und Kollegen der Koalition: Steht der Papst

damit noch auf dem Boden des Grundgesetzes, odermüsste er als Partner der Zivilgesellschaft ausfallen?

Die Anträge der Oppositionsfraktionen fordern eineUmsteuerung bei der Bundesförderung von Projektengegen Rechtsextremismus. Die Bundesregierung mussendlich anerkennen, dass eine starke Zivilgesellschafteine verlässliche Förderung braucht. Die Kürzung von2 Millionen Euro sind Fakt. Wir haben nichts dagegen,wenn in der Verwaltung etwas eingespart wird; aberdann kann man die 2 Millionen Euro an die Projekte ge-ben,

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,bei der SPD und der LINKEN – PatrickDöring [FDP]: Was ist denn mit der Schulden-bremse?)

zum Beispiel an die Opferberatung, die immer noch sehrstark unterfinanziert ist.

Es geht aber auch um eine klare inhaltliche Ausrich-tung; ich habe das mehrfach wiederholt. Der „Extremis-mus-Einheitsbrei“ taugt nicht für eine zielgerichtete För-derpraxis. Wir fordern daher ein Programm, das sichgegen Rechtsextremismus und andere Formen gruppen-bezogener Menschenfeindlichkeit wie Rassismus, Anti-semitismus, aber auch Sexismus und Homophobie rich-tet.

(Dr. Stefan Ruppert [FDP]: Und Linksextre-mismus!)

Dabei gehört auch die sogenannte Mitte der Gesellschaftin den Fokus.

Auch wenn Sie unsere Anträge heute wieder ablehnenwerden: Wir werden an dieser Thematik dranbleiben.Vielleicht setzt bei Ihnen endlich einmal ein Erkenntnis-gewinn ein.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der SPD sowie der Abg. Petra Pau[DIE LINKE])

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Für die CDU/CSU hat jetzt die Kollegin Dorothee

Bär das Wort.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Dorothee Bär (CDU/CSU):Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau KolleginLazar, ich stelle fest, dass sich der Besuch von PapstBenedikt schon deshalb gelohnt hat, weil sich die Grü-nen jetzt in ihren Reden dauernd auf den Papst beziehen.Es ist sehr gut, dass auch in die anderen Fraktionen et-was Weisheit übergeschwappt ist.

(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Ich hoffe, zu Ihnen auch! – Sönke Rix[SPD]: Auf die Regierung kann man sich jabei diesen Reden nicht beziehen!)

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Dorothee Bär

Ich möchte gleich mit einem der Vorwürfe anfangen,mit denen Sie uns gerade konfrontiert haben. Ihr Vor-wurf betraf die Kürzung um 2 Millionen Euro. Ich bindankbar, dass Sie einsehen, dass sich die Kürzung alleinauf Verwaltungskosten bezieht. Wir alle haben doch dieSchuldenbremse gewollt, zumindest der Teil des Hauses,der sagt, dass wir nicht auf Kosten zukünftiger Genera-tionen leben wollen. Da müssen wir, auch wenn es bitterist, in jedem Bereich Einsparungen erbringen. Das gehthier nicht zulasten der Projekte; es handelt sich nur umEinsparungen bei den Verwaltungskosten. Jeder von unssollte froh sein, wenn wir die Entbürokratisierung auchan dieser Stelle vorantreiben.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg.Johannes Vogel [Lüdenscheid] [FDP] – Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Dann können wir bei der BundeswehrMilliarden einsparen!)

– Heute geht es aber um die Bekämpfung von Extremis-mus jeglicher Art.

Eigentlich muss man annehmen, dass Toleranz gegen-über Andersdenkenden, ein respektvolles und gewalt-freies Miteinander in der Demokratie selbstverständlichsind. Wenn wir uns aber die aktuellen Zahlen und denbundesweiten Verfassungsschutzbericht anschauen, müs-sen wir erkennen, dass das leider Gottes nicht überall soist. Das fängt schon mit Kleinigkeiten an: mit der Baga-tellisierung rassistischer Sprüche, diffusen Ressenti-ments gegenüber Fremden, Neid und Missgunst gegen-über anderen. Das geht weiter mit Gewalt, nicht nurgegen Sachen, sondern insbesondere auch gegen Men-schen. Deswegen brauchen wir – das ist völlig richtig –bei der Bekämpfung dieser Phänomene ein ganz ent-schiedenes Auftreten. Aber das macht die christlich-libe-rale Koalition: Wir haben im Koalitionsvertrag bekräf-tigt, dass wir Kinder und Jugendliche und alle anderenAkteure vor Ort mit einem umfassenden Programm beiihrem Engagement, das in unserem Land sehr vielfältigist, für Vielfalt, Toleranz und Demokratie und gegen jeg-liche Form des Extremismus unterstützen.

Es unterscheidet uns leider von den anderen, dass nurwir sagen: Wir wollen jede Form des Extremismus be-kämpfen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Stefan Ruppert [FDP])

Die ganzen Reden von der linken Seite des Hauses sindmir einfach ein bisschen zu einseitig. Wir haben unsereProgramme darauf ausgerichtet; denn es ist wichtig, zusagen, dass man nicht zwischen gutem und schlechtemExtremismus unterscheiden kann. Es ist nicht so, dassRechtsextremismus ganz furchtbar und Linksextremis-mus ein Kavaliersdelikt ist.

(Sönke Rix [SPD]: Da gibt es einen Unter-schied!)

Das ist er nicht. Linksextremismus muss ebenso be-kämpft werden. Kinder und Jugendliche müssen frühzei-tig erfahren, dass demokratische Grundwerte unverzicht-bar sind.

(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Was ist mit dem Extremismus inder Mitte unserer Gesellschaft?)

Wir wollen mit unserem Programm vorbeugen. Wirwollen, dass sich extremistische Einstellungen bei jun-gen Menschen gar nicht erst auswirken können.

(Sönke Rix [SPD]: Wir haben hier über Ras-sismus gesprochen!)

Deswegen wollen wir, dass Jugendliche, Eltern, Erzieherund Erzieherinnen dafür sensibilisiert werden. Wir wol-len, dass die Gefahren frühzeitig erkannt werden. Des-wegen ist neben dem Schutz und der Prävention bei Kin-dern ein gesamtgesellschaftliches Engagement unersetz-lich.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Wir wollen die demokratische Grundordnung, die vonbeiden Seiten, von links und von rechts, bekämpft wird,ändern. Das sind die typischen Beißreflexe von Ihnen.

(Sönke Rix [SPD]: Was wollen Sie konkret verbessern?)

Die Neuausrichtung ist, anders als von der Oppositionbehauptet, keine Relativierung des Rechtsextremismusund auch keine undifferenzierte Gleichsetzung vonLinks- und von Rechtsextremismus.

(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Ihre Initiativen sagen das aberganz klar!)

Heute war in der Zeitung zu lesen, was die TU Dres-den plant. Der Studentenrat bietet Seminare an, in denenman lernt, wie man Polizisten bei Demonstrationen ge-zielt angreifen kann, und das alles unter dem Deckman-tel: Wir wollen damit die Nazis bekämpfen.

(Sönke Rix [SPD]: Dagegen helfen jetzt Ihre Programme?)

Es wird toleriert und für in Ordnung befunden, wennsich Studenten zusammenschließen.

(Sönke Rix [SPD]: Also, wir finden das nicht in Ordnung! Sie etwa?)

Man muss überlegen: Wie geht man damit um, wenn inunserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung Stu-denten beigebracht bekommen, so mit Polizisten umzu-gehen?

Man muss Zivilcourage aufbringen, und zwar nichtnur bei Tendenzen zu rechtsextremistischen Straftaten.Allein für Juli 2011 stellt das Bundeskriminalamt bun-desweit fast doppelt so viele Gewalttaten von linksextre-mistischer wie von rechtsextremistischer Seite fest. DieZahl der durch Linksextremisten verletzten Opfer ist so-gar um das Dreifache höher. Deswegen wollen wir dieseandere Form des Extremismus bekämpfen.

Ich verstehe nicht – ich muss auf die Aussagen desStaatssekretärs zurückkommen, der meines Erachtens inhervorragender Weise versucht hat, es denjenigen zu er-klären, die es immer noch nicht begreifen wollen –, wa-

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Dorothee Bär

rum Sie nicht wollen, dass sich Kooperationspartner, de-ren Maßnahmen finanziell unterstützt werden, zumGrundgesetz unserer Bundesrepublik bekennen müssen.Ich verstehe die Problematik nicht.

(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Es geht um das Misstrauen unddas Ausspitzeln!)

– Es ist eine ganz perfide Art und Weise, zu behaupten,da wird jemand ausgespitzelt, wir brauchen mehr Ver-trauen.

(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Wir brauchen Vertrauen und keinMisstrauen!)

Dass jemand Fördergelder der Bundesrepublik Deutsch-land bekommt – das sind Ihre Steuergelder –, obwohl ernicht auf unserer demokratischen Grundordnung steht,ist mit uns nicht zu machen. Deswegen: Unterstützen Siees!

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –Sönke Rix [SPD]: Was ist mit dem Bund derVertriebenen? Muss der Bund der Vertriebenendas unterschreiben? Hauptsache, wir könnenschwarz-weiß denken!)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Das Wort hat die Kollegin Daniela Kolbe für die

SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD)

Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD):Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Liebe Menschen auf den Tribünen! Auch derBund der Vertriebenen bekommt Steuergelder von Ih-nen, muss allerdings eine solche Erklärung nicht unter-zeichnen.

Ich will mich in meinem Redebeitrag auf etwas ande-res konzentrieren, und zwar auf den Beitrag, den diepolitische Bildung für den Erhalt und die Stärkung unse-rer Demokratie leisten kann. Das ist ein Konsensthema;denn alle Fraktionen im Deutschen Bundestag findenpolitische Bildung wichtig, auch die FDP.

Der Kreisvorsitzende der Frankfurter FPD, Dirk Pfeilheißt der Mann, hat eine etwas krude Ansicht zumThema politische Bildung. Er hat nach der BerlinwahlFolgendes zu Protokoll gegeben:

Es ist schlimm, dass die Mehrheit der Bevölkerungkeine politische Bildung genossen hat. Die Masseist meinungslos, sprachlos.

Es fährt fort mit:

Ich verzweifle am mangelnden Willen der Wähler,sich ein bisschen schlauer zu machen.

Ehrlich gesagt, glaube ich nicht, dass die beklagenswer-ten Ergebnisse der FDP auf einen Mangel an politischerBildung zurückzuführen sind,

(Caren Marks [SPD]: Sie sind schlauer gewor-den! 1,8 Prozent für die FDP!)

eher im Gegenteil.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Frau Kollegin Kolbe, erlauben Sie eine Zwischen-

frage des Kollegen Kurth?

Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD):Unbedingt.

Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP):Frau Kollegin, herzlichen Dank. – Sie haben ein Zei-

tungsinterview erwähnt. Sind Sie bereit, sich über dashistorisch politische Wissen in diesem Haus auszutau-schen? Denn Ihre Fraktion hat sich heute erlaubt, einemit Steuergeldern finanzierte Anzeigenkampagne zuschalten,

(Caren Marks [SPD]: Mit Steuergeldern?)

in der das Walter-Ulbricht-Zitat – das schändliche Mau-erzitat: „Niemand hat die Absicht …“ – mit der Kanzle-rin Frau Merkel in Zusammenhang gebracht wird. SindSie mit mir der Auffassung, dass das eine schändlicheAnzeige der SPD-Fraktion ist,

(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das ist eine super Anzeige! Die sagen die Wahrheit!)

die auf Kosten der Steuerzahler erstellt wurde und in derein Zusammenhang zwischen dem Ulbricht-Zitat,Mauer, Toten und Stacheldraht und der Bundeskanzlerin,die eine ostdeutsche Biografie hat, hergestellt wird?

(Dorothee Bär [CDU/CSU]: Das ist skandalös!Die SPD hat keinen Anstand! – Sönke Rix[SPD]: Die hat ja offensichtlich schon Wir-kung gezeigt!)

– Die Bemerkungen der Kollegen von der SPD-Fraktionzeigen, dass das Thema Aufarbeitung hier im DeutschenBundestag noch eine ganz große Rolle spielen muss.

(Dorothee Bär [CDU/CSU]: Unter der Gürtel-linie!)

Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD):Herr Kollege, man kann sich über das Layout und den

Inhalt durchaus streiten. Ich glaube aber, dass die SPD-Fraktion damit einen Beitrag zur politischen Bildung derBevölkerung geleistet hat.

(Beifall bei der SPD – Lachen bei der CDU/CSU – Patrick Döring [FDP]: Das ist unfass-bar!)

Durch diese Anzeige wurde in Erinnerung gerufen, wiedie Menschen in diesem Land gerade regiert werden.

(Sönke Rix [SPD]: Ins Schwarze getroffen! –Christian Lange [Backnang] [SPD]: Ins Gelbeoffensichtlich auch!)

Ich finde, mit den Stichworten, die dort genannt werden,wird die Regierungswirklichkeit gut beschrieben.

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Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Frau Kolbe, gestatten Sie auch eine Zwischenfrage

der Frau Bär?

Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD):Ja.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Bitte schön, Frau Bär.

Dorothee Bär (CDU/CSU):Habe ich Sie jetzt richtig verstanden? Haben Sie ge-

sagt, dass die SPD einen Beitrag zur politischen Bildungleistet, indem sie die Bundeskanzlerin in einen Kontextmit Stacheldraht und Erschießungen setzt?

(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das ma-chen Sie doch gerade!)

– Weil Sie keine Ahnung von der Geschichte haben. Le-sen Sie sich das doch einmal durch! Geschichtsverges-sen!

(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Sie sinddoch diejenige, die die Leute auf die falscheFährte bringt!)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Entschuldigung, Herr Lange, Frau Kolbe hat das

Recht, zu antworten, nicht Sie.

Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD):Sicherlich wollte die SPD-Bundestagsfraktion die

Bundeskanzlerin nicht in den Zusammenhang stellen,den Sie hier gerade angedeutet haben. Wir wollten nocheinmal darauf hinweisen, mit welcher „Gradlinigkeit“– ich sage das in Anführungsstrichen – wir derzeit vonSchwarz-Gelb regiert werden. Ich glaube, das ist ganzgut und eindrücklich gelungen.

(Beifall bei der SPD – Dorothee Bär [CDU/CSU]: Dann hoffe ich, Sie schämen sich we-nigstens! – Christian Lange [Backnang][SPD]: Setzen! Durchgefallen!)

Ich fahre fort. Auch wenn Dirk Pfeil nicht jedermannsTon trifft – meinen jedenfalls nicht –, freue ich mich da-rüber, dass eigentlich das ganze Haus den Wert der poli-tischen Bildung anerkennt; denn die politische Bildungist in der Tat – jetzt kommen wir zu einem ernsterenThema – so etwas wie ein Schutzfilm für die durchausdünne Lackschicht unserer Demokratie. Wie dünn dieseist, können wir nicht nur in Mecklenburg-Vorpommernsehen, wo die NPD ein zweites Mal in den Landtag ein-gezogen ist. Das können wir nicht nur bei rechtsextre-mistischen Straftaten sehen – in Leipzig ist im Herbstdes vergangenen Jahres ein junger irakischer Mann ei-nem rassistisch motivierten Mord zum Opfer gefallen –,sondern auch an einem ganz anderen Punkt, der mir per-sönlich ebenso wie vielen anderen große Sorgen bereitet:Es geht darum, wie weit Elemente eines extrem rechtenDenkens schon in die Mitte der Gesellschaft vorgedrun-gen sind. Ich führe ein paar Zahlen aus den „Mitte“-Stu-

dien der Friedrich-Ebert-Stiftung an, die ich sehr emp-fehlen kann.

(Patrick Döring [FDP]: Neutrales Institut!)

– Das ist sicher ein neutrales Institut, und die Umfragengenügen sicherlich jederzeit wissenschaftlichen Ansprü-chen. – Laut diesen Studien stimmt jeder elfte Befragteantisemitistischen Äußerungen zu, jeder fünfte Befragtenational-chauvinistischen Äußerungen und sogar jedervierte Befragte ausländerfeindlichen Aussagen. Lautdiesen Studien sind wir damit konfrontiert, dass mehr als10 Prozent der Bevölkerung in den neuen Ländern eingeschlossen rechtsextremes Weltbild haben. Das ist eineSache, mit der wir uns auseinandersetzen sollten.

Ehrlich gesagt, im Grunde sind wir uns einig, was zutun ist: Wir brauchen mehr politische Bildung. Wir müs-sen die Schülerinnen und Schüler ansprechen, die Lehre-rinnen und Lehrer, und wir müssen an die Vereine heran-treten. Diese rhetorische Einigkeit finde ich sehr gut.Lassen Sie uns aber einmal schauen, wie es mit demHandeln aussieht. Was braucht man für gute, nachhaltigepolitische Bildung, die einen wirklichen Beitrag zurStärkung unserer Demokratie leistet? Ich komme beruf-lich aus dem Bereich der politischen Bildung. Ich weiß,dass es mindestens drei Dinge braucht. Man braucht einelangfristige Finanzierung, Vertrauen, und man brauchtQualitätssicherung und einen strukturellen Überbau.Wenn ich mir vor diesem Hintergrund Ihre Bilanz an-schaue, muss ich sagen: Das sieht eher mau aus.

Zum Punkt Langfristigkeit: Sie weigern sich, das Pro-blem der kurzfristigen Finanzierung in Ihren Program-men anzugehen. Es herrscht eine Krankheit beim Kampffür mehr Demokratie, die ich als Projektionitis beschrei-ben würde. Die Träger müssen sich von Antrag zu An-trag hangeln und haben eigentlich nie wirklich Zeit undlangfristige Sicherheit, um sich mit ihrem Thema zu be-fassen. Es gäbe kreative und grundgesetzkonforme Lö-sungen, aber diese lehnen Sie ab.

Punkt Vertrauen. Wer Lust auf Demokratie weckensoll, zum Beispiel in Schulen bei Lehrern, muss das Ge-fühl haben, dass die Arbeit gewollt ist, dass sie aner-kannt wird und dass der Geldgeber Vertrauen in die je-weilige Institution hat. Was machen Sie? Sie macheneine Extremismusklausel speziell für Demokratieinitiati-ven und setzen sie damit – das spüren diese Initiativen –einem allgemeinen Verdacht aus. Sie richten hier massivSchaden an; Frau Lazar hat einige konkrete Beispiele ge-nannt.

Stichwort „Qualitätssicherung und organisatorischerÜberbau“. Es gibt in Deutschland eine Institution, die ei-nen Blick von außen, einen Überblick ganz wunderbarhinbekommt und wirklich Qualitätssicherung betreibt.Das ist die Bundeszentrale für politische Bildung. Daswissen Sie selber. Das machen Sie auch in Ihrem Han-deln deutlich; denn Sie haben das große Programm „Zu-sammenhalt durch Teilhabe“ der Bundeszentrale überge-ben.

(Patrick Döring [FDP]: Mir kommen die fünf Minuten Redezeit sehr lang vor!)

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Daniela Kolbe (Leipzig)

Gleichzeitig finden unglaubliche Kürzungen der Mittelfür die Bundeszentrale statt: dieses Jahr mehr als 1 Mil-lion Euro und nächstes Jahr 3,5 Millionen Euro. Das istder Stand von vor der Wiedervereinigung.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Kommen Sie bitte zum Schluss, Frau Kolbe.

Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD):Diese Kürzungen sind peinlich, und damit schädigen

Sie die Demokratiearbeit in Deutschland nachhaltig.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abgeordneten PetraPau [DIE LINKE])

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Für die FDP-Fraktion spricht jetzt der Kollege

Dr. Stefan Ruppert.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Dr. Stefan Ruppert (FDP):Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Ich muss zunächst zu der vorangegangenen Diskus-sion sagen, dass es mich persönlich sehr gefreut hat, wieviele Kollegen der Sozialdemokratie, aber auch vonGrünen und Linken heute Ihre Anzeige in der Welt alsgeschmacklos empfunden haben und in persönlichenGesprächen dokumentiert haben, dass das nicht der Stilist, wie wir uns hier auseinandersetzen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordnetender CDU/CSU – Christian Lange [Backnang][SPD]: Wir waren sehr zufrieden mit der An-zeige!)

– Sie gehören anscheinend zu den Befürwortern, aberich kann Ihnen versichern: Viele Ihrer Kollegen fandendas geschmacklos und in dieser Form nicht akzeptabel.

(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Getrof-fene Hunde bellen!)

– Sie können mir gerne Fragen stellen.

(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Nein, ich habe keine Frage dazu! Ich stelle fest!)

Ich komme zum zweiten Punkt, den ich Ihnen sagenmöchte. Wir haben in diesen Debatten nach wie vor eineUnschärfe beim Extremismusbegriff. Natürlich ist es ab-surd, zu glauben, dass politischer Extremismus in seinenunterschiedlichen Erscheinungsformen gleich behandeltwerden kann. Genauso – da würde ich Ihnen recht geben –geht es darum, spezifische Extremismusbegriffe fürLinksextremismus, für religiös motivierten Extremis-mus, aber auch für Rechtsextremismus zu entwickeln.Natürlich geht es auch darum, spezifische Programmefür diese jeweils unterschiedlichen Phänomene – sie sindalle vorhanden – zu entwickeln.

(Sönke Rix [SPD]: Das hört sich immer besser an!)

Wir sollten nicht in den Vergleich zwischen links undrechts verfallen. Es gibt Linksextremismus, es gibt reli-giös motivierten Extremismus, es gibt Rechtsextremis-mus. Es kann nicht darum gehen, das eine gegen das an-dere aufzurechnen. Vielmehr sollten wir genau hin-schauen, welches Phänomen wie beseitigt bzw. wie ihmbegegnet werden kann.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Deswegen sollten Sie mit Ihrer Aufrechnerei aufhörenund sich an ernsthaft und wissenschaftlich geführten De-batten

(Lachen der Abg. Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

über den spezifischen Extremismusbegriff beteiligen.

(Sönke Rix [SPD]: Wenn Sie damit aufhören, alles miteinander zu vermischen!)

– Wir vermischen die Dinge nicht miteinander.

(Sönke Rix [SPD]: Aber Ihre Vorredner!)

Wir trennen sehr wohl zwischen den unterschiedlichenFormen.

Schließlich – es ist mir besonders wichtig, dies zu sa-gen –: Alle Programme sind gut und schön. Wenn wir esaber nicht schaffen, in dieser Legislaturperiode und inden Jahren, die kommen, der Mitte unserer Gesellschaftin einer Zeit, in der viele Menschen Angst haben, in derviele Menschen Zukunftsängste und Ungewissheitenverspüren, eine Perspektive zu geben, die weit über diespezifischen Angebote, die solche Präventionspro-gramme bieten, hinausgeht, und einen umfassenden An-satz zu entwickeln, dann werden wir in Zukunft leiderein Erstarken der politischen Ränder erleben.

Ein letzter Satz. Natürlich ist es eine Selbstverständ-lichkeit, dass man sich zur freiheitlich-demokratischenGrundordnung und zum Grundgesetz bekennt. Ichglaube, wer das in Zweifel zieht, sollte noch einmal ge-nau darüber nachdenken, was er sagt.

(Sönke Rix [SPD]: Aber das bitte für alle!)

Richtig ist – das gestehe ich Ihnen zu –, die Frage zustellen: Wie weit erstreckt sich die Garantieerklärung,die man dort abgeben soll, auf Ehrenamtliche und Mitar-beiter? Auch ich finde, hier sollte man darauf achten,dass man nicht unpraktikable, in der Sache nicht ge-rechtfertigte und zu weitgehende Regelungen trifft.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Sönke Rix [SPD]: Hört! Hört!)

– Ja. Das ist etwas, worüber man durchaus auch einmalreden kann.

(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Das müssen gerade Sie sagen!)

Dass man aber prinzipiell dazu in der Lage sein sollte, zusagen: „Wir stehen auf dem Boden der freiheitlich-

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Dr. Stefan Ruppert

demokratischen Grundordnung des Grundgesetzes“, isteine Selbstverständlichkeit,

(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Wenn das so selbstverständlich ist,muss man es doch auch nicht extra erwähnen!)

die es kaum wert ist, hier so ausführlich debattiert zuwerden.

Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordnetender CDU/CSU – Sönke Rix [SPD]: Das wareine sehr beachtenswerte Rede! Das muss manschon sagen!)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt

erteile ich das Wort dem Kollegen Eckhard Pols von derCDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Eckhard Pols (CDU/CSU):Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-

ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

(Sönke Rix [SPD]: Hoffentlich bleibt das Ni-veau jetzt!)

– Ja, passen Sie auf! Es geht gleich los. Es steigt heuteAbend noch.

(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Ich bin der letzte Redner. Da steigt das Niveau immer.

(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das waraber nicht nett gegenüber dem KollegenRuppert!)

„Linken-Propaganda schon im Kindergarten“,„Rechtsextreme NPD zieht erneut in den SchwerinerLandtag ein“ und „Polizei verhindert einen islamisti-schen Anschlag in Berlin“, das alles sind Schlagzeilen,die uns vor Augen führen, dass der Extremismus in un-serer toleranten, pluralistischen und demokratischen Ge-sellschaft kein Randphänomen ist. Das sind Schlagzei-len, die belegen, dass Extremismus eine ernst zunehmende Bedrohung für unsere freiheitlich-demokrati-sche Grundordnung ist.

Als christlich-liberale Koalition lehnen wir jedenpolitischen Extremismus ab, egal ob von links, vonrechts oder religiös motiviert; denn jede Form von Extre-mismus stellt eine Gefahr für unsere Demokratie dar.Unsere Aufgabe ist es, junge Menschen vor extremisti-schem Gedankengut zu schützen und gegen totalitäreIdeologien aus allen Richtungen immun zu machen. Derbeste Impfstoff dafür ist, dass Kinder und Jugendlichefrühzeitig für Demokratie begeistert werden, und das mitErfolg.

Unsere Bundesfamilienministerin hat mit der Aus-weitung der Extremismusprogramme auf die Bereiche

Linksextremismus und Islamismus den richtigen Wegeingeschlagen. Liebe Opposition, Herr Rix, Sie müssenendlich erkennen, dass es in Deutschland mehr als nurRechtsextremismus gibt. Wir verfolgen hier einen ganz-heitlichen Ansatz zur Prävention und Behandlung.

Für das laufende Jahr, für 2011, haben wir den Haus-haltsansatz zur Bekämpfung des Extremismus und zurStärkung der Demokratie um 5 Millionen Euro auf ins-gesamt 29 Millionen Euro erhöht.

(Caren Marks [SPD]: Das ist ja wieder so einlangweiliger Ministeriumssprechzettel! – Ge-genruf des Abg. Markus Grübel [CDU/CSU]:Nein! Ein handwerklich solider!)

Sie werden mir zustimmen, dass dies der höchste Ansatzist, den wir seit zehn Jahren in diesem Bereich hatten.

Die Opposition hat zu Jahresbeginn kritisiert, wirwürden durch die Bündelung der Programme die freienInitiativen vor Ort beschneiden, weil wir den Kommu-nen das Antragsrecht eingeräumt haben. Sie haben dieBedingung, dass die Initiativen eine Erklärung zur Ver-fassungstreue abgeben müssen, massiv kritisiert. Washaben Sie hier nicht alles prophezeit, wie die Arbeit derInitiativen vor Ort durch die Neustrukturierung der Pro-gramme zunichtegemacht wird! Doch die Zahlen spre-chen eine andere Sprache:

(Caren Marks [SPD]: Na, na! Sie sollten aberauch mal prüfen, was das Ministerium Ihnenso aufschreibt!)

84 Kommunen, die schon aus dem vorherigen Pro-gramm „Vielfalt tut gut“ Fördermittel erhalten haben,werden mit dem neuen Bundesprogramm „Toleranz för-dern – Kompetenz stärken“ weiter gefördert; die übrigensechs haben keine Anträge eingereicht.

Zusätzlich zu den bisherigen 90 Lokalen Aktionsplä-nen sollen 90 weitere gefördert werden. Auch hier gibtes eine positive Resonanz: Von den ausgewählten 90 Lo-kalen Aktionsplänen im Bundesprogramm „Toleranzfördern – Kompetenz stärken“ haben im Mai 2011 allebis auf drei Lokale Aktionspläne ihre Arbeit aufgenom-men. Von den ausgewählten 52 Modellprojekten habenbislang 30 Modellprojekte einen Zuwendungsbescheiderhalten. Hier scheint die Angst vor der Abgabe einerDemokratieerklärung also nicht so groß zu sein wie beieinigen Kolleginnen und Kollegen hier im Hause.

Im Übrigen ist es verantwortungslos von der Opposi-tion, mit dem obligatorischen Bekenntnis zur Verfas-sungstreue eine derartige Panik bei den Trägern zu schü-ren.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP – Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Verantwortungsvolle Politik, meine Damen und Herrenvon der Opposition, sieht anders aus.

(Sönke Rix [SPD]: Wann haben Sie denn dasletzte Mal mit einer solchen Initiative gespro-chen?)

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Eckhard Pols

Völlig deplatziert ist auch die Diskussion im Zuge derBeratungen des Haushalts für 2012. Die Oppositions-fraktionen interpretieren die Kürzung des Haushaltsan-satzes um 2 Millionen Euro auf 27 Millionen Euro unddie Umbenennung des Titels in „Maßnahmen zur Extre-mismusprävention“ im Haushaltsentwurf als Richtungs-wechsel unserer Familienministerin. Sie suggerieren derÖffentlichkeit nicht nur eine Kürzung bei den Program-men, sondern auch eine mangelnde Wertschätzung durchdie christlich-liberale Koalition.

Ich sage Ihnen: Die Einsparungen führen nicht zu fi-nanziellen Einschnitten, weder bei den Lokalen Aktions-plänen noch bei den Beratungsnetzwerken noch bei denModellprojekten.

(Sönke Rix [SPD]: Aber auch nicht zu einerAufwertung! Eine Stärkung wäre auch mal an-gebracht! – Caren Marks [SPD]: Oh nein! Na-türlich nicht! – Weitere Zurufe vom BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN: Nein!)

Künftig wird das Bundesamt für Familie und zivilge-sellschaftliche Aufgaben als Regiestelle mit der adminis-trativ-technischen Abwicklung des Programms „Tole-ranz fördern – Kompetenz stärken“ beauftragt. Dasheißt, wir sparen bei der Verwaltung der Programmedurch Bürokratieabbau und effektive Öffentlichkeitsar-beit, jedoch nicht – das betone ich besonders – bei derUmsetzung vor Ort. Dies ist ganz bestimmt im Sinne derSteuerzahler, die hier auch zahlreich auf der Tribüne sit-zen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsidentin Petra Pau:Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-empfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren,Frauen und Jugend auf Drucksache 17/5435.

Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seine Be-schlussempfehlung die Annahme des Antrags der Frak-tionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/4432mit dem Titel „Programme zur Bekämpfung von politi-schem Extremismus weiterentwickeln und stärken“. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmtdagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfeh-lung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und derFDP-Fraktion gegen die Stimmen der SPD-Fraktion, derFraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/DieGrünen angenommen.

Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung emp-fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags derFraktion der SPD auf Drucksache 17/3867 mit dem Titel„Demokratieoffensive gegen Menschenfeindlichkeit –Zivilgesellschaftliche Arbeit gegen Rechtsextremismusnachhaltig unterstützen“. Wer stimmt für diese Be-schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-men der Unionsfraktion und der FDP-Fraktion gegen die

Stimmen der SPD-Fraktion, der Fraktion Die Linke undder Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.

Unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung emp-fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags derFraktion Die Linke auf Drucksache 17/3045 mit dem Ti-tel „Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus verstär-ken – Bundesprogramme gegen Rechtsextremismus aus-bauen und verstetigen“. Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Werenthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit denStimmen der Unionsfraktion und der FDP-Fraktion ge-gen die Stimmen der SPD-Fraktion, der Fraktion DieLinke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ange-nommen.

Unter Buchstabe d seiner Beschlussempfehlung emp-fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags derFraktion Die Linke auf Drucksache 17/4664 mit dem Ti-tel „Arbeit für Demokratie und Menschenrechte brauchtVertrauen – Keine Verdachtskultur in die Projekte gegenRechtsextremismus tragen“. Wer stimmt für diese Be-schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-men der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen derOppositionsfraktionen angenommen.

Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe eseiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des An-trags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-sache 17/2482 mit dem Titel „Daueraufgabe Demokra-tiestärkung – Die Auseinandersetzung mit rassistischen,antisemitischen und menschenfeindlichen Haltungen ge-samtgesellschaftlich angehen und die Förderprogrammedes Bundes danach ausrichten“. Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Werenthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit denStimmen der Unionsfraktion und der FDP-Fraktion ge-gen die Stimmen der SPD-Fraktion, der Fraktion DieLinke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ange-nommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:

Erste Beratung des von den Abgeordneten MemetKilic, Josef Philip Winkler, Markus Kurth, weite-ren Abgeordneten und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfseines Gesetzes zur Verbesserung der sozialenSituation von Menschen, die ohne Aufenthalts-status in Deutschland leben

– Drucksache 17/6167 – Überweisungsvorschlag:Innenausschuss (f)RechtsausschussAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für GesundheitAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist dies so beschlossen.

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Vizepräsidentin Petra Pau

Nachdem die erforderlichen Umgruppierungen imSaale nun vorgenommen worden sind, eröffne ich hier-mit die Aussprache. Das Wort hat der Kollege MemetKilic für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Memet Kilic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten

Damen und Herren! Viele von Ihnen werden die Situa-tion kennen: Sie sind ein Vater oder eine Mutter, und IhrKind ist krank. Sie wissen nicht, was es hat, aber esscheint ihm sehr schlecht zu gehen. Ein furchtbares Ge-fühl! Der erste und richtige Impuls ist natürlich, dasKind sofort in die nächste Arztpraxis oder ins Kranken-haus zu bringen.

Menschen ohne Aufenthaltsstatus in Deutschland se-hen von Arzt- und Krankenhausbesuchen ab, bis es nichtmehr anders geht. Verschleppung von Krankheiten undschwerwiegende Schäden können die Folge sein. Unddie Bundesregierung macht bis heute keinerlei Anstal-ten, an diesen empörenden Zuständen etwas zu ändern.

Menschen ohne Aufenthaltsstatus müssen in Deutsch-land in ständiger Angst leben. Bei jedem Kontakt mit öf-fentlichen Stellen gehen sie ein hohes Risiko ein, als so-genannte Illegale identifiziert zu werden. DieseMenschen sind in der Hoffnung auf ein besseres Lebenin unser Land gekommen. Werden sie entdeckt, schiebtman sie ab. Es ist aber nicht hinnehmbar, dass ihnenauch noch der Zugang zu grundlegenden Menschenrech-ten erschwert oder unmöglich gemacht wird.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Besonders Kinder und Jugendliche ohne Aufenthalts-status können nichts für ihre Situation und sind beson-ders schutzbedürftig. Ihnen dürfen grundlegende Men-schenrechte nicht verwehrt werden.

(Stefanie Vogelsang [CDU/CSU]: Aber HerrKilic, das wissen Sie doch besser! Sie helfendoch den Leuten überhaupt nicht mit solchenReden!)

Die Aufhebung der Übermittlungspflichten für die Trä-ger von Schulen und Tageseinrichtungen war ein Schrittin die richtige Richtung, liebe Kollegin Vogelsang. Dafür den Kindergartenbesuch aber Leistungen nach demKinder- und Jugendhilfegesetz erforderlich sind, mussdie Bundesregierung statuslosen Kindern endlich auchZugang zu den Leistungen der Kinder- und Jugendhilfeverschaffen. Sonst bleibt dies Augenwischerei.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie bei Abgeordneten der SPD – JosefPhilip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Da hat er recht, das habt ihr vergessen!)

Auch die Umsetzung der EU-Sanktionsrichtlinie liegthaarscharf daneben. Würden diese Menschen vor Ge-richt gegen ausbeuterische Arbeitsbedingungen klagenoder ausstehenden Lohn einfordern, wenn Abschiebungdie sichere Folge ist?

(Michael Frieser [CDU/CSU]: Falsch! Sie wissen, dass das falsch ist!)

Auch Arbeitsgerichte sind in Deutschland immer nochverpflichtet, ihre Daten an die Ausländerbehörde zuübermitteln, Herr Kollege.

(Stefanie Vogelsang [CDU/CSU]: Das soll auch so bleiben!)

Die Umsetzung der Richtlinie ist hier zur Farce geraten.Es ist doch geradezu töricht, nicht zu erkennen, dass dieStreichung der Übermittlungspflicht auch eine sehrwirksame, nämlich eine wirtschaftliche Waffe gegenSchwarzarbeit wäre.

Eines Rechtsstaats unwürdig und schlichtweg einSkandal ist auch die Tatsache, dass humanitär motivierteHilfe für diese Menschen hierzulande immer nochstrafbar ist. Vor genau einer Woche stand PapstBenedikt XVI. hier an dieser Stelle. Auch in Erinnerungan dieses wichtige Ereignis möchte ich die Bundesregie-rung ermahnen, sich das Gebot der christlichen Nächs-tenliebe ins Bewusstsein zu rufen.

(Michael Frieser [CDU/CSU]: Aber Herr Kol-lege, jetzt geht es zu weit!)

Es kann nicht sein, dass sich Menschen in Deutschlandstrafbar machen, wenn sie dieses Gebot ernst nehmenund ihren Nächsten aus humanitären Gründen im Rah-men ihres Berufs oder aus privatem Engagement herausmit Rat und Tat zur Seite stehen, auch wenn ihre Nächs-ten keinen Aufenthaltsstatus haben.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-KEN)

An allen diesen Punkten setzt unser Gesetzentwurfan. Er ist geeignet, Menschen ohne Aufenthaltsstatus inDeutschland die Angst vor der Wahrnehmung ihrerGrundrechte zu nehmen, indem er die Übermittlungs-pflichten für die öffentlichen Stellen, die der Gefahren-abwehr oder der Strafpflege dienen, so belässt, im Übri-gen aber abschafft. Der Entwurf steht nicht imWiderspruch zu der Pflicht des Staates, illegale Einwan-derung und illegalen Aufenthalt zu bekämpfen. Durchihn wird auch der Rechtsstaat nicht gefährdet. Ganz imGegenteil: Er verschafft Menschen ohne Aufenthaltssta-tus Zugang zu ihren Grund- und Menschenrechten.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, kein Mensch ist il-legal, und kein Mensch darf sich in Deutschland nachdem Gesetz in einer Lage befinden, in der er Angst da-vor haben muss, zum Arzt zu gehen, seine Kinder in dieSchule zu schicken oder vor Gericht gegen ausbeuteri-sche Arbeitsbedingungen zu klagen. Stimmen Sie bittefür unseren Gesetzentwurf, und tun Sie etwas Gutes.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

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Vizepräsidentin Petra Pau:Der Kollege Michael Frieser hat für die Unionsfrak-

tion das Wort.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Michael Frieser (CDU/CSU):Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Lieber Herr Kollege Kilic, Sie wissen es eigent-lich besser. Ich befürchte fast, dass das Redemanuskriptvor der entscheidenden Beschlussfassung fertig war oderSie diesen Antrag irgendwo in der Schublade gefundenhaben. Anscheinend ist die Beschlussfassung zu diesemThema und die Umsetzung der Beschlüsse wirklich anIhnen vorbeigegangen.

(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Richtig ist, dass wir uns damitschon lange befassen!)

Ich will es noch einmal deutlich machen: Wir habenwirklich das in unserer Macht Stehende getan, all dasaufzunehmen und umzusetzen, was wir rechtsstaatlichgerade noch für verantwortbar halten. Um es noch ein-mal ins Gedächtnis zu rufen: Es geht im Normalfall umsich hier illegal aufhaltende Menschen. Sie erweckenden Eindruck, dass genau das nicht das eigentlicheThema wäre. Ich meine, dass sich der Rechtsstaat, aufden diese Menschen so erpicht sind, in diesen Fragenund an dieser Stelle mit einem Instrumentarium versor-gen muss, mit dem er in die Lage versetzt wird, daraufordnungsgemäß zu reagieren.

(Beifall bei der CDU/CSU – Josef PhilipWinkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dassind doch Sprechblasen!)

Heute geht es um die Frage der Umsetzung; und dieGrünen versuchen, mit etwas angereicherter Ideologienoch einmal nachzufassen. Wir kommen leider Gottes zudem Ergebnis, dass sich hinter Ihren Forderungen eineOpen-Door-Politik versteckt, die lediglich die Botschaftvermittelt: Kommt alle her, egal aus welchen Gründen.Wir werden dann schon sehen, wie es weitergeht.

(Rüdiger Veit [SPD]: Völliger Unsinn! – JosefPhilip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Was soll denn dieser Unsinn?)

Rechtsstaatlich gesehen liegt genau in dieser Form derGleichmacherei eigentlich eine Ungerechtigkeit denengegenüber, die mit Recht hier sind und mit Recht einenAufenthaltsstatus genießen. Darauf sollte man zumin-dest Rücksicht nehmen.

Lassen Sie mich angesichts der Änderungen an derVorlage der Regierungskoalition, die wir in der Sommer-pause bereits durchgebracht haben, auf die von Ihnen an-gesprochenen Einzelpunkte, soweit ich das tun kann,eingehen. Ihre Forderungen sind nämlich entweder wirk-lich überflüssig, weil die jetzige Gesetzeslage bereitseine Regelung enthält, oder rechtsstaatlich tatsächlichnicht durchzusetzen.

Erstens. Was soll bitte an der länderübergreifendenVerteilung von Menschen, die sich hier illegal aufhalten,

unzumutbar sein, und zwar abgesehen von der Tatsache,dass in § 15 a Abs. 5 Aufenthaltsgesetz für die Verwal-tung bereits die Möglichkeit einer Ausnahme bei derVerteilung vorgesehen ist? Über diese Möglichkeit hi-nauszugehen, halten wir wirklich für überzogen.

Zweitens. Sie glauben weiterhin, einen Zeugenschutzeinführen zu müssen. Bezüglich Ihrer Forderung, aussa-gebereiten Zeugen eine Aufenthaltserlaubnis zu geben,weise ich darauf hin, dass wir in Übereinstimmung mitder Opferschutzrichtlinie schon entsprechende Regelun-gen eingeführt haben. Ich glaube, dass die von Ihnenvorgeschlagene Regelung entbehrlich ist, weil wir ihreran dieser Stelle wirklich nicht bedürfen.

Drittens geht es um die Bedenkzeit, also darum, dassman im Rahmen des Rechtsschutzes auch die Opferbe-denkzeit verlängern sollte. Ich kann nur versuchen, hiergegliedert vorzugehen. Ich glaube, dass wir mit einer na-hezu gleichlautenden Regelung in unserem Richtlinien-umsetzungsgesetz bereits die notwendigen Vorausset-zungen geschaffen haben. Das müssten Sie in Ihrer Vor-lage zumindest einmal aktualisieren.

Viertens geht es um die Frage des Vergütungsan-spruchs. Hierzu findet sich in dem neuen § 25 Abs. 4 bAufenthaltsgesetz bereits eine fast inhaltsgleiche Formu-lierung. Ich weiß nicht, warum dieses Thema, das wir inzig Debatten, sowohl im Ausschuss als auch hier imBundestag, bereits behandelt haben, noch einmal im An-trag thematisiert werden musste. Auch da sollte IhreVorlage aktualisiert werden.

Fünftens. Hier kommen wir zu einem SPD-Lieb-lingsthema, dem der Prozessstandschaft, das ins Arbeits-gerichtsgesetz eingeführt werden soll. In der Art undWeise kennt das unser Rechtssystem nicht. Dass man inder Prozessstandschaft für andere deren Rechte durch-setzt, ist uns grundsätzlich fremd. Letztendlich gibt eskeinen nachvollziehbaren Grund, warum wir das an die-ser Stelle einräumen sollten oder einräumen müssten.

(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Weil Sie mit den Betroffenen niesprechen!)

Sechstens. Es geht um die Frage der Beihilfe. HerrKollege, wenn Sie der Auffassung sind, dass die Frage,wer aus humanitären Gründen Illegalen Beihilfe gibt, einabgrenzungsfähiger Tatbestand wäre, dann muss ich Ih-nen sagen: Das lässt sich in keiner Weise abgrenzen, we-der rechtlich noch staatsrechtlich noch in irgendeiner an-deren Weise, und schon gar nicht bei der Frage derErmittlung.

(Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Selbstverständlich!)

So etwas einzuführen, halte ich für schwierig.

Wir kommen im Grunde am Ende zu der Bewertung,dass es um ein Paradoxon geht. Es handelt sich um Men-schen, die in dieses Land kommen, weil sie sich von die-sem Rechtsstaat Hilfe erbitten.

(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Die kommen aber aus anderen

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Michael Frieser

Gründen in dieses Land! Was ist das für einQuatsch? Es geht zum Beispiel auch um dieKinder! Die Kinder sind hier geboren!)

Aber wenn die Frage des Status berührt ist, über den wirzur Normierung und Entscheidung berufen sind, sollenwir diesen Rechtsstaat wieder aushebeln. Diesen Wider-spruch können wir auf keinen Fall zulassen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich nehme an, dass wir noch etwas über Änderungendes Status von Kindern hören werden. Es geht natürlichum den Status von Kindern. Das zu Herzen gehende Bei-spiel sei Ihnen unbenommen, Herr Kollege Kilic.

(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist Realität!)

Aber man muss trotzdem sagen dürfen, dass wir denKindergarten- und Schulbesuch von Kindern gerade des-halb geregelt haben, damit es keine Angst mehr vorÜbermittlungsbotschaften und den normalerweise zuübermittelnden Daten geben muss.

(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Die Kostenübernahme ist nichtgeregelt!)

Deshalb geht auch dieser Appell meiner Ansicht nachins Leere.

Der Staat hat ein Interesse daran, die Frage zu klären,wie er mit Vergütungsansprüchen umgehen soll. Wirkönnen nicht ungehindert eine Zahl von Migranten zu-lassen. Denn der Anreiz der Beschäftigung ist immernoch der wichtigste Anreiz; die meisten kommen auswirtschaftlichen Gründen nach Deutschland.

Lassen Sie mich das Beispiel Spanien anführen. DieSpanier dachten, sie könnten mit einer Reihe von Am-nestien Illegalen den Aufenthalt gewähren und ihnen ei-nen rechtlich unbegrenzten Status zubilligen. Das hattefür Spanien zur Folge, dass 700 000 Menschen legali-siert wurden und weitere ins Land kamen. Es wurdenalso vor allem Erwartungen nach oben geschraubt, unddas brachte es mit sich, dass auch diese Menschen letzt-endlich ihren Status anerkannt haben wollten.

Damit komme ich zum Ende. Es ist meines Erachtensmenschenunwürdig, Menschen eine Perspektive vorzu-gaukeln, die sie nicht haben. Unsere Intention muss sein,den Menschen schneller zu vermitteln, wer in diesemLand bleiben kann, und diesen Menschen unsere Zuwen-dung zukommen zu lassen. Aber derjenige, der ohneAufenthaltsstatus illegal in diesem Land lebt, mussschneller die Botschaft bekommen: Hier kannst du nichtbleiben. – Das ist aus unserer Sicht menschenwürdigesVerhalten.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP – Josef Philip Winkler [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das entspricht abernicht Art. 1 Grundgesetz!)

Vizepräsidentin Petra Pau:Das Wort hat der Kollege Rüdiger Veit für die SPD-

Fraktion.

(Beifall bei der SPD)

Rüdiger Veit (SPD):Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wenn nicht Frau Staatsministerin Böhmer selbst mirHerrn Frieser als neuen integrationspolitischen Sprecherder CDU/CSU-Fraktion vorgestellt hätte, dann würdeich ernsthaft daran zweifeln, dass er diese Funktion be-kleidet. Vielleicht hat sich das auch geändert; ich weiß esnicht.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Der Gesetzentwurf, um den es heute geht und dervom Kollegen Kilic begründet worden ist, ist schon des-wegen sehr gut, weil er in weiten Teilen wortwörtlichdas aufgenommen bzw. abgeschrieben hat, was wir inunserem Gesetzentwurf vom November 2009 niederge-legt haben.

(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Na, na! – Memet Kilic [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Abgeschrieben habenwir nicht!)

Das beklage ich aber nicht, indem ich sage: „Das ist einunzulässiges Plagiat“, sondern ich betrachte das alsKompliment.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD – JosefPhilip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Das bestreiten wir jetzt erst einmal bei-des!)

Ich gebe jetzt ein Kompliment zurück. Denn der Ge-setzentwurf vom Bündnis 90/Die Grünen ist insofern ak-tueller, weil er auch die Frage der Umsetzung der Sank-tionsrichtlinie umfassend mit aufgenommen hat. Ichdenke, es wäre richtig, wenn wir im Laufe der weiterenBeratungen daraus einen gemeinsamen Gesetzentwurfformulieren würden. Dann kann man bei der Gelegen-heit noch das eine oder andere herausnehmen, was ausmeiner Sicht nicht ganz so glücklich ist.

Die Verteilung von Illegalen ist – damit haben Sienicht ganz unrecht, Herr Kollege Frieser – in dem Gesetz-entwurf fehl am Platze. Denn Illegale existieren nicht fürdie Behörden. Sie können nicht verteilt werden. Weil sieden Ausländerbehörden nicht bekannt sind – das istschließlich das Wesen des illegalen Aufenthalts –, kannman ihnen schlecht vorschreiben, wohin sie ziehen sol-len. Das schließt sich in sich ein bisschen aus.

(Dr. Ole Schröder, Parl. Staatssekretär: Nicht nur ein bisschen!)

Um was geht es? Wir – das sage ich unter Einschlussmeiner Person – arbeiten im Forum „Leben in der Illega-lität“ seit mindestens 13 Jahren an dieser Frage. DieCDU/CSU, die diesem kirchlich initiierten

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Rüdiger Veit

(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Katholischen!)

und geleiteten Arbeitskreis nahestehen sollte, hat zumTeil auch konstruktiv mitgearbeitet. Wir waren im Jahr2005 in den Koalitionsvereinbarungen schon einmal soweit, dass wir eine Änderung der Übermittlungspflichtenals dringend notwendig ansahen. Dass es so etwas gibt,ist ohnehin ein Alleinstellungsmerkmal der deutschenGesetzgebung. Alle anderen Länder haben begriffen,dass es bei der Frage, wie wir mit Menschen umgehen,um eine menschenrechtliche Verpflichtung geht, dienicht bei der Nationalität und dem Aufenthaltstitel halt-macht.

Wenn man mit staatlicher Hilfe durch die Übermitt-lungspflichten einen Grund dafür schafft, dass Menschenkeine ärztliche Versorgung in Anspruch nehmen, weilsie Angst haben müssen, wenn sie Leistungen beim So-zialamt bzw. je nach Verwaltungsorganisation auch beimAusländeramt beantragen – nur die Notfallrettung istausgenommen worden; das haben wir in den Verwal-tungsvorschriften erreicht –, dann ist das, glaube ich,nicht human.

Wenn man außerdem dafür sorgt, dass Kinder und Ju-gendliche, die – Herr Kollege Kilic hat damit doch recht– noch viel weniger etwas dafür können, was ihre Elternim Hinblick auf das Ausländerrecht hier in Deutschlandgemacht oder nicht gemacht haben, nicht in den Kinder-garten oder zur Schule gehen, weil sie Angst davor ha-ben müssen, dass der illegale Status ihrer Eltern bzw. derganzen Familie aufgedeckt wird,

(Michael Frieser [CDU/CSU]: Genau das ha-ben wir doch geregelt, Herr Kollege Veit!)

dann stellt das in der Tat ein großes Problem dar. Daskann nicht im Sinne der Integration sein.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Obwohl Sie sich der Lösung dieses Problems ein weniggenähert haben – das will ich gar nicht verhehlen –, ist esmit der Entwicklung des Bewusstseins für dieses Pro-blem bei den Kollegen von FDP und CDU/CSU nicht soweit her. Sie müssten ansonsten nämlich konsequentweitergehen und sagen: Jeder, der in Deutschland ohneAufenthaltsstatus lebt – das hat mit dem Pull-Effekt garnichts zu tun; es geht um Menschen, die schon da sind,die also entweder nach Ablauf ihres Visums nicht ausge-reist sind oder nach Ablehnung ihres Asylantrags ohneAufenthaltserlaubnis hier geblieben sind –, muss ohneAngst vor Entdeckung zumindest ärztliche Versorgungbeanspruchen können, seine Kinder in die Schule schi-cken können und seinen Arbeitslohn einklagen können.

Wollen Sie allen Ernstes diejenigen Arbeitgeber, dieden illegalen Status ausnutzen und Menschen ausbeuten,begünstigen, indem Sie dafür sorgen, dass die betreffen-den Menschen noch nicht einmal die Arbeitsgerichte an-rufen können? Das kann ich mir offen gestanden nichtvorstellen. Das ist jedenfalls mit einer humanen Gesin-nung – entschuldigen Sie bitte meine Bewertung – nichtvereinbar.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetendes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – JosefPhilip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Das ist auch unchristlich!)

– Das ist zutiefst unchristlich, wie ich finde. Da ich aberkeiner Kirche angehöre, bin ich mit Vorwürfen an dieandere Seite ein bisschen zurückhaltender.

Noch in einem anderen Punkt ist der Gesetzentwurfrichtig und stimmt mit unseren Vorstellungen überein.Wir haben zu Zeiten der Großen Koalition, die gelegent-lich ihr Gutes hatte und Gutes gemacht hat, den Fall derqualifizierten Strafbarkeit der Beihilfe zum illegalenAufenthalt ausdrücklich aufgehoben, weil wir das fürnicht richtig hielten. Wir haben aber schlicht übersehen,dass der einfache Fall der Beihilfe nach den allgemeinenVorschriften des Strafrechtes noch immer strafbar ist.Das muss im Gesetz deswegen ausdrücklich klargestelltwerden.

Meine Damen und Herren, es geht nicht darum, Per-spektiven vorzugaukeln. Es geht darum, den betroffenenMenschen ein Mindestmaß an sozialen Rechten einzu-räumen und dafür zu sorgen, dass der Staat keine unbot-mäßigen Hürden aufbaut bzw., wie dargestellt, dazu Bei-hilfe leistet. Ich hoffe, dass Sie sich endlich überwindenkönnen, nicht nur punktuell etwas zu ändern, sondern,wie auch sonst in Europa üblich, Übermittlungspflichtennur für diejenigen Stellen einzuführen, die für die Straf-verfolgung oder die Einhaltung der öffentlichen Sicher-heit zuständig sind. Geistliche und Sozialarbeiter solltenvon diesen Pflichten aber auf jeden Fall ausgenommenwerden. Das Gesetz gehört diesbezüglich umfassend be-reinigt. Dazu fordere ich Sie erneut auf.

Nehmen Sie sich ein Beispiel an den Kirchen und sol-chen Leuten wie Pater Alt und Schwester Bührle, diesich hier erheblich eingesetzt haben. Es wäre schön,wenn Sie Ihrem Herzen endlich einen Stoß geben könn-ten und sich christlich verhalten würden.

Danke schön.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetendes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zu-rufe von der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Petra Pau:Der Kollege Hartfrid Wolff hat für die FDP-Fraktion

das Wort.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP):Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Ge-

setzentwurf ist etwas bizarr. Wir haben hier im Hauseerst am 7. Juli dieses Jahres einen Gesetzentwurf dazuverabschiedet. Die Richtlinienumsetzung ist eigentlichbereits erfolgt. Warum die Grünen nicht schon damalsden jetzigen Gesetzentwurf vorgelegt haben, ist mir et-was rätselhaft.

(Rüdiger Veit [SPD]: Warum habt ihr unseren Änderungsantrag abgelehnt?)

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Hartfrid Wolff (Rems-Murr)

Bereits im April dieses Jahres haben wir über Vorschlägezur Umsetzung der Rückführungs- und der Sanktions-richtlinie diskutiert, Kollege Veit. Die Grünen habenschlicht den Termin verschlafen und wollen sich jetztmit einem verspäteten Aufguss alter Ideen als wach imBereich sozialer Rechte für Illegale präsentieren.

(Rüdiger Veit [SPD]: Nein, ihr habt den Ände-rungsantrag abgelehnt!)

Das ist wenig überzeugend.

Wir haben bei den abschließenden Beratungen desRichtlinienumsetzungsgesetzes zu Recht festgestellt: Esist ein humanitärer Fortschritt, wenn wir die aufenthalts-rechtlichen Übermittlungspflichten öffentlicher Stellenändern, um den Schul- und Kindergartenbesuch vonKindern zu gewährleisten. Bildung ist die Basis für diegesellschaftliche Integration und den persönlichen Er-folg. Rot-Grün war dagegen.

(Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unsinn!)

Die Koalitionsfraktionen haben sich auch entschieden,die Stabilisierungszeit für Menschenhandelsopfer aufdrei Monate auszudehnen. Wir folgen damit dem drin-genden Petitum von Opferverbänden, aber auch der Poli-zei. Rot-Grün war dagegen. Wir haben dafür gesorgt,dass Abschiebehäftlinge auf ihren Wunsch hin vonNichtregierungsorganisationen besucht werden dürfen.Grün war dagegen.

(Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Weil der Gesetzentwurf mangelhaft war!)

Ausgerechnet diejenigen, die sich immer als Hüterdes Flüchtlingsrechts gerieren, haben diesen wichtigen,wegweisenden Verbesserungen nicht zugestimmt.

(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Sehr originell! Das war doch einRiesenpaket! Das konnte man nur gemeinsamabstimmen!)

Interessant daran ist, dass die SPD bei der Verabschie-dung der Richtlinien noch mitgewirkt hat. Das hatte sieaber offensichtlich bis dahin vergessen. Da kann ich nursagen: Man sieht, dass nur aus taktischen Erwägungengehandelt wird. Wenn es darum geht, wirkliche Verbes-serungen für die Betroffenen zu schaffen, dann ducktsich Rot-Grün weg.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordnetender CDU/CSU – Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das Thema ist zu ernst fürdiese Polemik!)

Rot-grüne Politik heißt, lieber gegen die Koalition zustimmen, als Verbesserungen zu schaffen. Das ist wirk-lich nicht an der Sache orientiert. Der sehr verspätet vor-liegende Gesetzentwurf der Grünen ist Aktionismus undtäuscht Handeln nur vor. Die Koalition handelt und hatgehandelt.

(Rüdiger Veit [SPD]: Das ist manchmal dasSchlimme! – Josef Philip Winkler [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber nicht 2006!)

Wir haben in der Koalition die für die Thematik wich-tigen Weichenstellungen längst vorgenommen.

(Daniela Kolbe [Leipzig] [SPD]: Wo denn? –Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Eine Weichenstellung, die in dieSackgasse führt!)

Diese Koalition kann stolz darauf sein, dass sie substan-zielle Verbesserungen gerade im humanitären Auslän-derrecht erreicht hat. Ich nenne als Stichworte nur „Op-ferschutz“ und „Rückkehrrecht“.

Deutschland verändert sich. Die Bundesregierung ge-staltet diese Veränderungen, und zwar ohne ideologi-schen Ballast

(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Den vermutet bei Ihnen auch kei-ner!)

und vorurteilsfrei.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Petra Pau:Für die Fraktion Die Linke spricht nun die Kollegin

Sevim Dağdelen.

(Beifall bei der LINKEN)

Sevim Dağdelen (DIE LINKE):Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Wie mein Kollege Kilic bereits gesagt hat: DieHumanität einer Gesellschaft zeigt sich besonders an ih-rem Umgang mit den Schwächsten in der Gesellschaft.Dazu gehören viele Migrantinnen und Migranten undauch Flüchtlinge. Erst letzte Woche hat das StatistischeBundesamt Ergebnisse des Mikrozensus 2010 vorgelegt,die die dauerhafte soziale Ausgrenzung von Menschenmit Migrationshintergrund in Deutschland belegen. Zuden Schwächsten dieser Gesellschaft gehören vor allenDingen die Menschen, die ohne einen offiziellen Aufent-haltsstatus hier leben. Sie werden absurderweise oft– auch in den Debatten im Deutschen Bundestag – als Il-legale bezeichnet. Ich muss für meine Fraktion hier klar-stellen: Es gibt keine Menschen, die illegal sind. Es gibtnur Menschen, die illegalisiert und damit kriminalisiertwerden. Für uns gilt immer noch: Kein Mensch ist ille-gal.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Die Fraktion Die Linke begrüßt und teilt das Anliegendes Gesetzentwurfs der Grünen, auch wenn er erheblicheMängel aufweist, lieber Kollege Kilic.

(Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Seien Sie gnädig mit mir!)

Diese Mängel waren auch schon im Gesetzentwurf desJahres 2006 vorhanden.

(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau! Zu Recht!)

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Sevim Daðdelen

Ich finde, dass Menschen nicht nur nicht illegal sind,sondern auch kein ordnungspolitisches Freiwild. In derBegründung Ihres Gesetzentwurfs ist die Rede von – daswird von der FDP, die sich Liberale nennen, und auchvon den Konservativen immer wieder betont – „derPflicht des Staates, illegale Einwanderung und illegalenAufenthalt zu bekämpfen“.

(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Haben Sie gehört, Herr Wolff?)

Ich frage mich: Wo soll denn diese Pflicht eigentlichnormiert sein? Eine solche Pflicht findet sich zum Bei-spiel im Grundgesetz in keiner Weise. Allerdings enthältdas Grundgesetz die Verpflichtung aller staatlichen Ge-walt, die Menschenwürde zu achten, sie zu schützen undsich zu den unveräußerlichen Menschenrechten alsGrundlage jeder menschlichen Gemeinschaft zu beken-nen

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Michael Frieser [CDU/CSU]: Das tun wir!)

– das sollten Sie einmal nachlesen – sowie die sozialenMenschenrechte in Verbindung mit dem Sozialstaats-prinzip durchsetzbar zu machen.

Für die Linke ist es daher längst überfällig, dass auchMenschen ohne Aufenthaltsstatus die ihnen zustehendensozialen Menschenrechte in Deutschland in Anspruchnehmen können.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-neten der SPD und des Abg. Memet Kilic[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Illegalisierte müssen das Recht auf Schulbildung, dasRecht auf Privatleben, das Recht auf medizinische Ver-sorgung, das Recht auf eine gerechte Entlohnung für ihreArbeit sowie das Recht auf körperliche Unversehrtheithaben. Sie dürfen keine Angst vor einer Abschiebunghaben, wenn sie das eigentlich Normalste der Welt tun,nämlich ihre Menschenrechte in Deutschland wahrneh-men. Insofern teilen wir die Kritik der Grünen in ihremGesetzentwurf am Umgang mit den Illegalisierten.

Richtig und dringend erforderlich ist, die Beihilfezum humanitären Aufenthalt zu entkriminalisieren.Menschen strafrechtlich zu verfolgen, weil sie sich mitder Verletzung der Menschenwürde und der Menschen-rechte nicht abfinden, ist einfach skandalös. Auch teiltdie Linke die Forderung nach einer Abschaffung der eu-ropaweit einmaligen Denunziationspflicht; das fordernwir schon seit langem.

(Beifall bei der LINKEN)

Die Forderung, dass die Grünen den Opfern von Men-schenhandel einen Aufenthalt nur dann gewähren wollen– und auch nur vorübergehend –, wenn deren Zeugen-aussage für ein Strafverfahren benötigt wird, ist nicht zu-stimmungsfähig.

(Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, das wollen wir nicht!)

– Das steht in Ihrem Gesetzentwurf, und das haben Sieauch 2006 schon gefordert. – Das ist kein Opferschutz,

Sevim Dağdelen

sondern eher eine Instrumentalisierung der Opfer; dennman macht das Schicksal der Menschen einfach von ei-ner Beweislage abhängig.

(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Das ist besser als die jetzigeLage!)

Das ist für uns nicht akzeptabel, lieber Kollege.

Deshalb sage ich: Sie sollten lieber die Anträge derLinken für eine humanitäre Flüchtlingspolitik unterstüt-zen. Damit hätten wir auch die Mängel beseitigt, die IhrGesetzentwurf enthält.

Vielen Dank.

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Das Wort hat der Kollege Peter Tauber von der CDU/

CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Dr. Peter Tauber (CDU/CSU):Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine

Herren! Worum geht es? Wir sprechen über Menschen,die sich illegal in Deutschland aufhalten. Die FraktionBündnis 90/Die Grünen hat es etwas euphemistisch for-muliert und das Gesetz folgendermaßen genannt: „Ge-setz zur Verbesserung der sozialen Situation von Men-schen, die ohne Aufenthaltsstatus in Deutschland leben“.

(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Wo ist da der Euphemismus?)

Bevor wir über gefühlte Wahrheiten und die Betrach-tung der Wirklichkeit sprechen, möchte ich eines klar-stellen: Natürlich ist der Satz „Kein Mensch ist illegal“absolut richtig; denn wir haben die Grundrechte imGrundgesetz, wir haben das Asylrecht, wir sind ein So-zial- und ein Rechtsstaat. Trotzdem ist auch der Satz,dass sich ein Mensch illegal in einem Land aufhaltenkann, richtig.

Mich erfüllt etwas mit Sorge, dass Sie in Ihrem Ge-setzentwurf unser Land auf eine Art und Weise beschrei-ben, die aus meiner Sicht weit an der Wirklichkeit vor-beigeht.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Sie schreiben unter anderem – dies klingt wie ein Hor-rorszenario –:

In Deutschland besteht ein menschenrechtlichesProblem im staatlichen Umgang mit Menschen, diein unserem Land ohne ein Aufenthaltsrecht leben.

Das haben Sie schon 2006 formuliert. Ganz ehrlich:Durch Wiederholungen wird es nicht besser.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Das ist ein Zitat von der katholi-schen Kirche!)

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Dr. Peter Tauber

Man darf Sie in diesem Zusammenhang fragen, wa-rum Sie das, wenn das alles so ist, in sieben Regierungs-jahren nicht geändert haben; denn Sie hatten mehrfachGelegenheit dazu.

(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Denken Sie mal an den Bundes-rat! – Rüdiger Veit [SPD]: Ist Ihnen die Zu-sammensetzung des Bundesrates bekannt?)

Aber geschehen ist an dieser Stelle nichts.

Ich kann für unsere Fraktion sehr deutlich sagen: Wirsind der Auffassung, dass es die Aufgabe der Gesell-schaft und des Rechtsstaats ist, den ungesteuerten Zuzugund den Aufenthalt von Ausländern, die keinen Aufent-haltstitel und keine Duldung besitzen und weder im Aus-länderzentralregister noch sonst wie behördlich regis-triert sind, nicht zu akzeptieren.

Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge inNürnberg hat sich in seinem Arbeitspapier „Illegalitätvon Migranten in Deutschland“ mit den zentralen Pro-blemen und Herausforderungen befasst, denen sich Mi-granten ausgesetzt sehen. Auf einen Punkt möchte ichein bisschen näher eingehen, weil er in der Debatte eineRolle gespielt hat und weil Sie auch hier ein verzerrtesBild der Wirklichkeit zeichnen. Es geht um diejenigen,die für ihre Situation selbst wahrlich nichts können,nämlich um die Kinder und Jugendlichen, die sich illegalin diesem Land aufhalten.

Ein ganz wichtiger Punkt, wenn wir über die Verbes-serung der Lebenssituation dieser Kinder reden, ist na-türlich der Zugang zu Bildung. Deswegen haben wirdafür gesorgt, dass Schulen sowie Bildungs- und Erzie-hungseinrichtungen von den bisher uneingeschränkt be-stehenden aufenthaltsrechtlichen Übermittlungspflichtengegenüber den Ausländerbehörden ausgenommen wor-den sind. Das heißt, die Kinder können zur Schule gehenund die Betreuungseinrichtungen in Anspruch nehmen.

(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Wenn sie es bezahlen können!)

Das entspricht der UN-Kinderrechtskonvention. Das ha-ben wir klar geregelt. Aber Sie verneinen es, was nicht inOrdnung ist.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

In der Tat ist es richtig: Die Kinder können nichts fürden Aufenthaltsrechtsverstoß ihrer Eltern. Auch da müs-sen Sie sich fragen lassen, warum Sie keine entspre-chende Änderung in Ihrer Regierungszeit durchgeführthaben.

(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Weil der Bundesrat dagegen war!)

Es bedurfte erst der schwarz-gelben Koalition und dervon ihr getragenen Bundesregierung, um diesen Sach-verhalt geradezurücken.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Herr Kollege Tauber, lassen Sie eine Zwischenfrage

des Kollegen Veit zu?

Dr. Peter Tauber (CDU/CSU):Nein, ich möchte keine Zwischenfrage zulassen.

(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Haben Sie Angst?)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Sie wollen es nicht; gut.

Dr. Peter Tauber (CDU/CSU):Nein, ich habe keine Angst. Ich will mich trotzdem an

den Kollegen wenden, weil er vorhin mit tiefer Inbrunstan christliche Werte appelliert hat. Ich muss schon sa-gen: Was Sie da machen, ist ganz schön scheinheilig.Die CDU/CSU braucht von Menschen, die Kirchen nurin ihrer Funktion als Kulturdenkmäler besuchen, dieaber ansonsten, wenn es um Christenverfolgung geht,nicht hörbar sind, keine Exegese der christlichen Lehre.Das sage ich Ihnen ganz deutlich an dieser Stelle.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –Aydan Özoğuz [SPD]: Aber die Leute für2 Euro arbeiten lassen! Das ist wohl christ-lich!)

– Von denjenigen, die das Christentum noch nicht ein-mal aus dem Lehrbuch kennen, geschweige denn es le-ben, brauchen wir keine Exegese der christlichen Lehre.Sie können gerne an Humanität und andere Dinge appel-lieren; darüber können wir trefflich streiten.

(René Röspel [SPD]: Lesen Sie mal Matthäus 7 Vers 12!)

Aber diesen billigen Reflex lassen wir Ihnen nichtdurchgehen. Da haben Sie noch eine Menge zu lernen,liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP – Michael Hartmann [Wackern-heim] [SPD]: Lesen Sie mal, was die Bischofs-konferenz zu dem Thema sagt!)

Kommen wir zum Problem zurück. Worum geht es imKern des von Ihnen vorgelegten Gesetzentwurfes? DerVorschlag der Grünen ist letztendlich ein weiterer Ver-such, im Sozial- und Arbeitsrecht einen unerlaubtenAufenthalt materiell abzusichern und damit zu verfesti-gen.

(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Quatsch!)

An dieser Stelle besteht ein großes Problem. Wenn Siedie Forschung bemühen – wir reden da nicht über einekleinere Gruppe, sondern über bis zu 1 Million Men-schen, die sich illegal in Deutschland aufhalten –, dannkönnen Sie erkennen, dass es für diese illegale Zuwan-derung verschiedene Gründe gibt. Vor allem gibt es– das kann man menschlich vielleicht nachvollziehen –eine ökonomische Motivation, also den Wunsch, amWohlstand teilzuhaben, und den Wunsch, frei zu leben.

(Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Auch humanitär!)

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Dr. Peter Tauber

Ob illegale Migration tatsächlich stattfindet, hängtlaut Forschung von zwei Faktoren ab. Der erste Faktorist der Zugang zu einem Land, und der zweite Faktor– er ist noch wichtiger – ist die sogenannte Anschluss-möglichkeit. Darunter versteht man das Bestreben, indem Land, in das man illegal eingewandert ist, sozial-staatliche Leistungen in Anspruch zu nehmen und zupartizipieren, obwohl man keinen rechtmäßigen Aufent-haltstitel hat.

(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Von Sozialstaat redet aber keinerbei Illegalen!)

Da sind wir an einem ganz entscheidenden Punkt. DieSozialleistungen, die Sie gerne gewähren möchten, müs-sen erarbeitet werden.

(Aydan Özoğuz [SPD]: Von den Kindern?)

– Von den Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern.

(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Die Illegalen arbeiten ja! Aber diekönnen ihr Gehalt nicht einklagen!)

Es gibt 41 Millionen sozialversicherungspflichtige Be-schäftigungsverhältnisse. Die Zahl war unter Rot-Gründeutlich geringer. Damals gab es noch 5 Millionen Ar-beitslose; deshalb hatten sie es sehr viel schwerer. DieseLeistungen müssen, wie gesagt, erarbeitet werden. Siewollen Menschen, die sich illegal in Deutschland aufhal-ten, an den Segnungen des Sozialstaates teilhaben las-sen.

(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Welche Segnungen?)

Dann muss man auch sagen, dass dazu eben Pflichtengehören. Eine Pflicht ist, sich ordnungsgemäß zu meldenund sich zu beteiligen.

(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Das ist doch völlig irrational! Siewollen sie doch ausweisen!)

Wer die Segnungen des Sozialstaates in Anspruch nimmt,

(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Welche Segnungen?)

der muss sich auch den Anforderungen des Rechtsstaatesstellen. So einfach ist das.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Herr Tauber, kommen Sie bitte zum Schluss.

Dr. Peter Tauber (CDU/CSU):So wie Sie sich das vorstellen, geht es leider nicht.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem

Kollegen Rüdiger Veit.

Rüdiger Veit (SPD):Herr Kollege Tauber, obwohl ich kein Lehrer bin, ha-

ben Sie meinen pädagogischen Ehrgeiz geweckt. Ichwollte Ihnen nämlich sagen, dass – Föderalismusreformhin oder her – in Deutschland Gesetze bekanntermaßeneben nicht nur im Bundestag verabschiedet werden. Ge-rade Gesetze aus dem Rechtsgebiet, über das wir hiersprechen, bedürfen der Zustimmung des Bundesrates.Wenn man dort eine Mehrheit erreichen will, ist das be-kanntlich nicht immer einfach. Es war zum Beispiel fürdie rot-grüne Bundesregierung besonders schwierig,weil sie zu der Zeit keine rot-grüne Mehrheit im Bundes-rat hatte. Umgekehrt ist dies bei Ihnen im Augenblickder Fall, was für Sie ein Problem darstellt.

(Michaela Noll [CDU/CSU]: Richtig!)

Ich will noch einmal sagen: Wir waren 2005 schonweiter, auch mit Ihren Parteifreunden von der CDU undder CSU; das müssen Sie wissen. Es gab aber Probleme– das muss man objektiverweise noch einmal sagen,auch zur Entlastung Ihrer Parteifreunde – bei den zustän-digen Länderinnenministern der B-Länder, mit der Kon-sequenz, dass es keinen Sinn gemacht hätte, noch mehrauf dem Weg des Gesetzgebungsverfahrens zu versu-chen; denn das wäre im Bundesrat gescheitert.

Im Übrigen: Obwohl ich in Religionsfragen nicht allzusachverständig bin, bin ich über Ihr christliches Weltbildschon ein bisschen erschüttert, weil Sie hinsichtlich derWahrnehmung elementarer Grundrechte – Bildung fürKinder, Vorsorgeuntersuchungen für Schwangere undBehandlung von Krankheiten – durch Menschen, dieohne Aufenthaltsstatus in Deutschland leben, der Mei-nung sind, dass ihnen die entsprechenden Sozialleistun-gen nicht zustehen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetendes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – JosefPhilip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: „Segnungen, die ihnen nicht zustehen“,hat er gesagt!)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Zur Erwiderung Kollege Tauber.

Dr. Peter Tauber (CDU/CSU):Herr Kollege, Sie müssen schon ein bisschen zuhö-

ren. Ich hatte leider nicht sechs Minuten Zeit, um überdas christliche Menschenbild in der CDU/CSU zu spre-chen.

(Rüdiger Veit [SPD]: Uns hat es auch so ge-reicht!)

Es wäre vielleicht ganz hilfreich für Sie, wenn Sie sichdamit ein bisschen intensiver beschäftigten.

(Rüdiger Veit [SPD]: Wenn das dabei heraus-kommt, können wir darauf verzichten!)

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Dr. Peter Tauber

Zu den von Ihnen gemachten Anmerkungen möchteich ausführen:

Die Regierungen der Bundesländer vertreten natür-lich ihre Länderinteressen und nicht parteipolitische In-teressen.

(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Klingt realistisch!)

Es ist der christlich-liberalen Regierung offensichtlichgelungen, die Vorbehaltsregelung zurückzunehmen.Vielleicht lag das daran, dass die Argumente, die wir da-mals gegenüber den Landesregierungen vorgetragen ha-ben, ein bisschen besser waren als die, die Sie damals,zur rot-grünen Regierungszeit in Berlin, hatten.

(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Das haben Sie jetzt oft genug ge-sagt!)

Vielleicht steigen wir in die Debatte darüber, waschristliche Werte sind, an dieser Stelle ein. Ein ganz ent-scheidender christlicher Wert ist der Wert der Demut.Demut bedeutet, zu erkennen, dass man durchaus einmalFehler machen und falsch liegen kann. Ich nehme fürmich in Anspruch, dass ich Dinge falsch mache, dass ichDinge manchmal nicht weiß.

(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Den Eindruck hatten wir aller-dings auch!)

Deswegen nehme ich den einen oder anderen erklären-den Hinweis durchaus dankbar an.

Aber den Eindruck, das ebenfalls zu tun, vermittelnSie – das ist das Entscheidende – hier eben permanentnicht. Sie haben immer recht,

(Aydan Özoğuz [SPD]: Wenn Sie doch einmal was Konkretes sagen würden!)

Sie wissen immer alles besser, und Sie hätten es auch ei-gentlich richtig gemacht, wenn Sie gekonnt hätten. Dasist, glaube ich, nicht glaubwürdig. Ich empfehle Ihneneine Lektion in Demut. Wenn Sie diese Lektion hatten,dann treffen wir uns wieder, und dann diskutieren wirden nächsten christlichen Wert.

Danke.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt

erteile ich das Wort dem Kollegen Serkan Tören von derFDP-Fraktion.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Serkan Tören (FDP):Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist inte-

ressant, zu sehen, wie die Grünen in der Opposition ihrTarnmäntelchen wieder ablegen.

(Aydan Özoğuz [SPD]: Welches Tarnmäntel-chen?)

Jetzt rufen sie schillernd und lautstark nach Reformen inder Asyl- und Flüchtlingspolitik. Vielleicht hätten Sieeinmal während Ihrer Regierungszeit aus der Deckungkommen sollen.

(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Haben wir ja gemacht! Zuwande-rungsgesetz zum Beispiel!)

Sie hatten ganze sieben Jahre lang Zeit, all die Maßnah-men, die in Ihrem Gesetzentwurf enthalten sind, umzu-setzen. Das haben Sie nicht getan. Korrigieren Sie mich,wenn ich falsch liege: Das Problem der irregulären Mi-gration existiert nicht erst, seit die christlich-liberale Ko-alition regiert.

Das Gleiche gilt für andere Fragen: Kettenduldungen,Asylbewerberleistungsgesetz, Residenzpflicht. Auf alldiesen Problemfeldern haben Sie, als Sie Verantwortunghatten, nichts getan.

(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Nichts kann ja nicht sein! DerBundesrat hat das verhindert!)

Sie haben an dieser Stelle eine ganz miese Bilanz IhrerRegierungszeit vorzuweisen, liebe Kolleginnen und Kol-legen der Grünen. Deshalb verschonen Sie uns bitte mitIhrer Selbstgerechtigkeit. Sie steht Ihnen genauso wenigwie das Tarnmäntelchen von damals.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)

Ich will bei einem so wichtigen Thema nicht weiternach hinten schauen, sondern nach vorn. Der KollegeWolff hatte bereits angesprochen, was die christlich-libe-rale Koalition hier schon erreicht hat. Ich möchte nocheinen Schritt weiter gehen. Für uns Liberale ist klar:Deutschland darf sich seiner humanitären Verantwortungnicht entziehen. Diese Verantwortung gilt für die Sicher-stellung der körperlichen Unversehrtheit aller inDeutschland lebenden Menschen.

(Aydan Özoğuz [SPD]: Das ist ja schon malwas! – Rüdiger Veit [SPD]: Sie sind auf demrichtigen Weg der Erkenntnis!)

Im Rahmen unserer rechtsstaatlichen Ordnung müssenwir weiter nach verantwortungsvollen und pragmati-schen Lösungen für den Umgang mit Menschen ohnePapiere suchen.

Nachdem wir den angstfreien Schulbesuch ermög-licht haben, steht nun die Gesundheitsversorgung imVordergrund. Die bewusste Auslagerung des Problemsin den ehrenamtlichen Sektor kann keine dauerhafte Lö-sung sein. Das gilt auch für die zunehmende Einbindungvon Gesundheitsämtern. Diese Einbindung fordern dieGrünen ja in ihrem Gesetzentwurf. So sinnvoll dieseflankierenden Maßnahmen auch sein mögen: Letztend-lich sind das Doppelstrukturen, die zusätzliche Kostenfür Kommunen bedeuten. Das kann nicht unser Ziel sein,insbesondere mit Blick auf einen vernünftigen Ausgleichder Interessen und der Akzeptanz der Bevölkerung.

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Serkan Tören

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn Sie ins Gesetzschauen, werden Sie sehen: Im Grunde genommen sinddie Voraussetzungen für eine erweiterte Gesundheitsver-sorgung für Menschen ohne Papiere bereits normiert.Wir reden hier nicht nur über die Notfallversorgung,sondern auch über Vorsorgeuntersuchungen und Impfun-gen. Das halte ich auch für richtig und wichtig, insbeson-dere mit Blick auf Schwangere und Kinder.

Wenn wir es aber schon im Gesetz stehen haben, müs-sen wir auch eines effektiv sicherstellen, nämlich dieMöglichkeit für die Betroffenen, die entsprechenden An-gebote auch wahrzunehmen, und zwar ohne Angst vorAufdeckung. Diese Intention ist 2009 mit der Verwal-tungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz im Bereich derNotfallversorgung bereits umgesetzt worden. Jetzt giltes, hieran anzuknüpfen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-wurfs auf Drucksache 17/6167 an die in der Tagesord-nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt esanderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dannist die Überweisung so beschlossen.

Zu den Tagesordnungspunkten, die jetzt folgen, sollenalle Reden zu Protokoll genommen werden. Ich werdedarauf verzichten, die Namen der potenziellen Redner zuverlesen.

(Beifall)

Trotzdem müssen wir die Formalitäten abwickeln. Ichbitte, so viel Geduld zu haben und mich dabei zu beglei-ten; denn ich brauche jeweils Ihr Votum.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 a und b auf:1)

a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Verbesserung der Feststellung und Aner-kennung im Ausland erworbener Berufsquali-fikationen

– Drucksache 17/6260 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-schätzung (18. Ausschuss)

– Drucksache 17/7218 –

Berichterstattung:Abgeordnete Marcus Weinberg (Hamburg)Swen Schulz (Spandau)Heiner KampAgnes AlpersKrista Sager

1) Anlage 7

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Bildung, Forschungund Technikfolgenabschätzung (18. Ausschuss)

– zu dem Antrag der Abgeordneten MarcusWeinberg (Hamburg), Albert Rupprecht (Wei-den), Michael Kretschmer, weiterer Abgeord-neter und der Fraktion der CDU/CSU sowie derAbgeordneten Heiner Kamp, PatrickMeinhardt, Dr. Martin Neumann (Lausitz),weiterer Abgeordneter und der Fraktion derFDP

Ausländische Bildungsleistungen anerken-nen – Fachkräftepotentiale ausschöpfen

– zu dem Antrag der Abgeordneten Swen Schulz(Spandau), Katja Mast, Olaf Scholz, weitererAbgeordneter und der Fraktion der SPD

Durch Vorrang für Anerkennung Integra-tion stärken – Anerkennungsgesetz für aus-ländische Abschlüsse vorlegen

– zu dem Antrag der Abgeordneten SevimDağdelen, Nicole Gohlke, Agnes Alpers, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKE

Für eine zügige und umfassende Anerken-nung von im Ausland erworbenen Qualifi-kationen

– zu dem Antrag der Abgeordneten Krista Sager,Priska Hinz (Herborn), Kai Gehring, weitererAbgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Brain Waste stoppen – Anerkennung aus-ländischer akademischer und beruflicherQualifikationen umfassend optimieren

– zu dem Antrag der Abgeordneten AgnesAlpers, Sevim Dağdelen, Dr. Petra Sitte, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Anerkennung ausländischer Bildungs- undBerufsabschlüsse wirksam regeln

– zu dem Antrag der Abgeordneten Krista Sager,Memet Kilic, Ekin Deligöz, weiterer Abgeord-neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN

Anerkennung ausländischer Abschlüsse tat-sächlich voranbringen

– Drucksachen 17/3048, 17/108, 17/117, 17/123,17/6271, 17/6919, 17/7218 –

Berichterstattung:Abgeordnete Marcus Weinberg (Hamburg)Swen Schulz (Spandau)Heiner KampAgnes AlpersKrista Sager

Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Verbesse-

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 15347

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Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms

rung der Feststellung und Anerkennung im Ausland er-worbener Berufsqualifikationen.

Der Ausschuss für Bildung, Forschung und Technik-folgenabschätzung empfiehlt unter Nr. 1 seiner Be-schlussempfehlung auf Drucksache 17/7218, den Gesetz-entwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/6260 inder Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustim-men wollen, um das Handzeichen. – Gegenstimmen? –Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiterBeratung angenommen mit den Stimmen der Koalitions-fraktionen bei Gegenstimmen der Grünen und Enthal-tung von SPD und den Linken.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurfist in dritter Lesung mit dem gleichen Stimmenverhältnisangenommen.

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-empfehlung des Ausschusses für Bildung, Forschungund Technikfolgenabschätzung auf Drucksache 17/7218.Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschluss-empfehlung die Annahme des Antrags der Fraktionender CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/3048 mit demTitel „Ausländische Bildungsleistungen anerkennen –Fachkräftepotentiale ausschöpfen“. Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltun-gen? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen mitden Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stim-men der Linken und der Grünen und bei Enthaltung derSPD.

Unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung empfiehltder Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktionder SPD auf Drucksache 17/108 mit dem Titel „DurchVorrang für Anerkennung Integration stärken – Aner-kennungsgesetz für ausländische Abschlüsse vorlegen“.Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegen-stimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlungist angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktio-nen und der Linken bei Gegenstimmen der SPD und derGrünen.

Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 4 seinerBeschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags derFraktion Die Linke auf Drucksache 17/117 mit dem Titel„Für eine zügige und umfassende Anerkennung von imAusland erworbenen Qualifikationen“. Wer stimmt fürdiese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist ange-nommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen ge-gen die Stimmen der Linken bei Enthaltung von SPDund Grünen.

Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 5 seiner Be-schlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Frak-tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/123 mitdem Titel „Brain Waste stoppen – Anerkennung auslän-discher akademischer und beruflicher Qualifikationenumfassend optimieren“. Wer stimmt für diese Beschluss-empfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die

Beschlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmender Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Grünenbei Enthaltung von SPD und Linken.

Unter Nr. 6 seiner Beschlussempfehlung empfiehltder Ausschuss die Ablehnung des Antrags der FraktionDie Linke auf Drucksache 17/6271 mit dem Titel „Aner-kennung ausländischer Bildungs- und Berufsabschlüssewirksam regeln“. Wer stimmt für diese Beschlussemp-fehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Be-schlussempfehlung ist angenommen gegen die Stimmender Linken mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen.

Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 7 sei-ner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antragsder Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache17/6919 mit dem Titel „Anerkennung ausländischer Ab-schlüsse tatsächlich voranbringen“. Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltun-gen? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen mitden Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stim-men von SPD und Grünen bei Enthaltung der Linken.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:1)

Beratung des Antrags der Abgeordneten GeroldReichenbach, Anette Kramme, Martin Dörmann,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Weitere Datenschutzskandale vermeiden – Ge-setzentwurf zum effektiven Schutz von Be-schäftigtendaten vorlegen

– Drucksache 17/7176 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss (f)RechtsausschussAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Verkehr, Bau und StadtentwicklungAusschuss für Kultur und Medien

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 17/7176 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 sowie Zusatz-punkt 4 auf:2)

11 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutzund Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu der Un-terrichtung durch den Parlamentarischen Beiratfür nachhaltige Entwicklung

Bericht des Parlamentarischen Beirats fürnachhaltige Entwicklung zum Indikatorenbe-richt 2010 des Statistischen Bundesamtes

und

Erwartungen an den Fortschrittsbericht 2012zur nationalen Nachhaltigkeitsstrategie derBundesregierung

– Drucksachen 17/3788, 17/6029 –

1) Anlage 82) Anlage 9

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15348 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011

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Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms

Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Thomas GebhartDr. Matthias MierschMichael KauchRalph LenkertDorothea Steiner

ZP 4 Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

VN-Konferenz Rio+20: Nachhaltigkeit globalumsetzen

– Drucksache 17/7182 –

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-empfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutzund Reaktorsicherheit zu dem Bericht des Parlamentari-schen Beirats für nachhaltige Entwicklung zum Indika-torenbericht 2010 des Statistischen Bundesamtes und zuden Erwartungen an den Fortschrittsbericht 2012 zur na-tionalen Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung.

Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-lung auf Drucksache 17/6029, in Kenntnis der Unterrich-tung auf Drucksache 17/3788 eine Entschließung anzu-nehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-fehlung ist angenommen bei Enthaltung der Fraktion DieLinke mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen.

Zusatzpunkt 4: Abstimmung über den Antrag derFraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP, Bündnis 90/DieGrünen auf Drucksache 17/7182 mit dem Titel „VN-Konferenz Rio+20: Nachhaltigkeit global umsetzen“.Wer stimmt für diesen Antrag? – Gegenstimmen? – Ent-haltungen? – Der Antrag ist angenommen bei Enthaltungder Fraktion Die Linke mit den Stimmen aller übrigenFraktionen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:1)

Beratung des Antrags der Abgeordneten MichaelGroß, Uwe Beckmeyer, Sören Bartol, weitererAbgeordneter und der Fraktion der SPD

EU-Weißbuch Verkehr – Neuausrichtung derintegrierten Verkehrspolitik in Deutschlandund in der Europäischen Union nutzen

– Drucksache 17/7177 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)InnenausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft und VerbraucherschutzAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Bildung, Forschung und TechnikfolgenabschätzungAusschuss für TourismusAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionHaushaltsausschuss

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 17/7177 an die in der Tagesordnung aufge-

1) Anlage 10

führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:2)

Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzesüber den Rechtsschutz bei überlangen Ge-richtsverfahren und strafrechtlichen Ermitt-lungsverfahren

– Drucksache 17/3802 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-schusses (6. Ausschuss)

– Drucksache 17/7217 –

Berichterstattung:Abgeordnete Elisabeth Winkelmeier-BeckerDr. Edgar FrankeChristian AhrendtJens PetermannIngrid Hönlinger

Wir kommen zur Abstimmung. Der Rechtsausschussempfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung aufDrucksache 17/7217, den Gesetzentwurf der Bundesre-gierung auf Drucksache 17/3802 in der Ausschussfas-sung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetz-entwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, umihr Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung angenommenmit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Gegenstimmen der Linken und Enthaltungder Grünen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurfist mit gleichem Stimmenverhältnis angenommen.

Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-che 17/7217 empfiehlt der Ausschuss, eine Entschlie-ßung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussemp-fehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – DieBeschlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmender Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Ent-haltung der Linken und der Grünen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:3)

Beratung des Antrags der Abgeordneten AlexanderUlrich, Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Eine Europäische Gemeinschaft für die Förde-rung erneuerbarer Energien gründen –EURATOM auflösen

– Drucksache 17/6151 – Überweisungsvorschlag:Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f)Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

2) Anlage 113) Anlage 12

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 15349

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Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 17/6151 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie einverstan-den? – Dann ist das so beschlossen.

Tagesordnungspunkt 15 a bis c:1)

a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stär-kung der Finanzkraft der Kommunen

– Drucksachen 17/7141, 17/7171 – Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)InnenausschussFinanzausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendHaushaltsausschuss

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten KatrinKunert, Dr. Dietmar Bartsch, Diana Golze, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Wer bestellt, bezahlt – Konnexität zugunstender Kommunen im Grundgesetz verankern

– Drucksache 17/6491 – Überweisungsvorschlag:Innenausschuss (f)RechtsausschussFinanzausschussAusschuss für Arbeit und Soziales

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten BrittaHaßelmann, Katja Dörner, Hans-Josef Fell, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN

Gemeindefinanzkommission gescheitert – Jetztfinanzschwache Kommunen – ohne Sozialab-bau – nachhaltig aus der Schuldenspirale be-freien

– Drucksache 17/7189 – Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss (f)InnenausschussAusschuss für Arbeit und SozialesHaushaltsausschuss

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen aufden Drucksachen 17/7141, 17/7171, 17/6491 und17/7189 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus-schüsse vorgeschlagen. Sind Sie einverstanden? – Dasist der Fall. Dann ist das so beschlossen.

Tagesordnungspunkt 16:2)

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Menschenrechte undHumanitäre Hilfe (17. Ausschuss) zu dem Antragder Abgeordneten Tom Koenigs, Volker Beck(Köln), Marieluise Beck (Bremen), weiterer Ab-geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN

1) Anlage 132) Anlage 14

Seenotrettung im Mittelmeer konsequentdurchsetzen und verbessern

– Drucksachen 17/6467, 17/7174 –

Berichterstattung:Abgeordnete Erika SteinbachWolfgang GunkelSerkan TörenAnnette GrothTom Koenigs

(Beifall des Abg. Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss fürMenschenrechte und Humanitäre Hilfe empfiehlt in sei-ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7174, denAntrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-sache 17/6467 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be-schlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen?– Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen derKoalitionsfraktionen gegen die Stimmen der SPD undder Grünen bei Enthaltung der Linken angenommen.

Tagesordnungspunkt 17:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutzund Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu der Un-terrichtung

Vorschlag für eine Richtlinie des EuropäischenParlaments und des Rates zur Beherrschungder Gefahren bei schweren Unfällen mit ge-fährlichen Stoffen (inkl. 18257/10 ADD 1 und18257/10 ADD 2) (ADD 1 in Englisch)

KOM(2010) 781 endg.; Ratsdok. 18257/10

– Drucksachen 17/4598 Nr. A.20, 17/5891 –

Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Michael PaulUte VogtDr. Lutz KnopekRalph LenkertDorothea Steiner

Dr. Michael Paul (CDU/CSU): Am 21. Dezember 2010 hat die EU-Kommission den

Vorschlag für die Seveso-III-Richtlinie vorgelegt, durchdie die bestehende Seveso-II-Richtlinie ersetzt werdensoll. Ziel der alten wie der neuen Richtlinie ist es,schwere Unfälle mit gefährlichen Stoffen zu verhütenund Unfallfolgen für die menschliche Gesundheit unddie Umwelt zu begrenzen. Die verheerenden Chemieun-fälle in der Vergangenheit – ich erinnere an die Unfällevon Seveso, Bhopal, Schweizerhalle – Sandoz –, En-schede, Toulouse und Buncefield, bei denen viele Men-schen ihr Leben verloren, die Umwelt geschädigt wurdeund Kosten in Milliardenhöhe verursacht wurden – ha-ben gezeigt, dass ein besonderes Augenmerk auf die Si-cherheit solcher Anlagen gerichtet werden muss, in de-nen mit giftigen und hochgiftigen Stoffen umgegangenwird. Die sogenannten Seveso-Richtlinien sind die Ant-wort der EU auf diese Gefahren.

Page 160: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/dip21/btp/17/17130.pdfDeutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitz ung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 III in Verbindung

15350 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011

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Dr. Michael Paul

Von der bestehenden Richtlinie 96/82/EG zur Beherr-schung der Gefahren bei schweren Unfällen mit gefähr-lichen Stoffen, der sogenannten Seveso-II-Richtlinie,werden in der Europäischen Union rund 10 000 Be-triebe erfasst, davon circa 2 000 in Deutschland. DieWahrscheinlichkeit von schweren Industrieunfällen undderen Folgen konnte maßgeblich verringert werden.

Anlass für den Änderungsbedarf bei der bestehendenSeveso-II-Richtlinie ist die Anpassung des Anwendungs-bereichs an die veränderten EU-Regelungen zur Einstu-fung und Kennzeichnung von Stoffen und Gemischen– CLP-Verordnung. Dieses neue europäische Einstu-fungs- und Kennzeichnungssystem ist nicht deckungs-gleich mit dem bisherigen System.

Zurzeit werden die von der Europäischen Kommis-sion vorgeschlagenen Änderungen im Rat diskutiert. Mitdem Entschließungsantrag der Koalition unterstützenwir die Bundesregierung in ihren Verhandlungen aufEU-Ebene mit dem Ziel, eine alternative Anpassungsva-riante für den Anwendungsbereich einzubringen. Diesesoll die Abweichungen vom bisherigen Anwendungsbe-reich so gering wie möglich halten.

Um es klar zu sagen: Es geht nicht darum, möglicheAusweitungen der Richtlinie auf eine größere Anzahlvon Betrieben zu verhindern. Es geht vielmehr darum,der auch an einigen Stellen vorgesehenen Absenkungdes Schutzniveaus entgegenzutreten. Ausnahmeregelun-gen zum Anwendungsbereich würden dadurch entbehr-lich und damit die Möglichkeit für die Mitgliedstaaten,einzelne Betriebe von bestimmten Pflichten zu befreien.Es soll weiterhin ein einheitliches Schutzniveau in derEU gelten, und es soll nicht zu nationalen Alleingängenund damit zu Wettbewerbsverzerrungen zwischen denMitgliedstaaten kommen. Wir wollen gleiche Bedingun-gen für alle Unternehmen in der EU.

Weiterhin fordern wir die Bundesregierung auf, sichdafür einzusetzen, dass der Vollzug für Betreiber undBehörden im Vergleich zu den bisherigen Verfahrenswei-sen nicht verkompliziert wird.

Ein weiterer Punkt unseres Entschließungsantragsbetrifft die sogenannten delegierten Rechtsakte. Es han-delt sich dabei um die Befugnis der Kommission, ohneBeteiligung der europäischen Legislative den im An-hang I festgelegten Anwendungsbereich der Richtliniezu ändern, damit also materielle Regelungen der Richt-linie zu ändern. Wie der Bundesrat so hält auch die Ko-alition nichts davon, dass die EU-Kommission den denAnwendungsbereich bestimmenden Anhang I mittels de-legierter Rechtsakte ändern kann. Eine solche Stärkungder Rechte der Exekutive steht nicht im Einklang mitdem Grundsatz der Gewaltenteilung. Die Mitgliedstaa-ten müssen aber ausreichend beteiligt werden.

Des Weiteren haben wir in unserem Entschließungs-antrag Punkte aufgenommen wie die Inspizierungsfris-ten, die Informationspflichten und den Informationsaus-tausch.

Die vorgesehene Neuformulierung des Artikels überInspektionen würde zu einer deutlichen Mehrbelastungder Betriebe und der Behörden führen. Da sich das be-

stehende System in Deutschland bewährt hat, soll sichdie Bundesregierung für eine Beibehaltung der Flexibi-lität hinsichtlich der festgelegten Inspektionsfristen ein-setzen und so eine Mehrbelastung von Behörden und Be-trieben vermeiden.

Die Einbeziehung bestimmter sicherheitsrelevanterInformationen in die Unterrichtung der Öffentlichkeitsehen wir kritisch. Es gibt bereits ausreichende Informa-tionspflichten aufgrund der bestehenden Rechtslage.Die Veröffentlichung darüber hinausgehender sensiblerInformationen ist aus Sicherheitsgesichtspunkten abzu-lehnen.

Die im Richtlinienvorschlag getroffenen Regelungenzur Information und Beteiligung der Öffentlichkeit wer-den bereits durch die Richtlinie über den Zugang der Öf-fentlichkeit zu Umweltinformationen gefordert und inDeutschland umgesetzt. Doppelregelungen brauchenwir nicht.

Die von der Fraktion der SPD im Umweltausschussin ihrem Entschließungsantrag vorgelegten Punkte sindfür die Verhandlungen auf EU-Ebene nicht von zentralerBedeutung. Die Änderung des Titels des Art. 12 in„Raumordnung und Flächennutzung“ ist unnötig. Dader englische Ausdruck der Richtlinie, nämlich „LandUse Planning“, unverändert ist, ist die deutsche Fas-sung der Überschrift ausreichend.

Bei Punkt 2 des SPD-Entschließungsantrags geht esnur scheinbar um eine redaktionelle Änderung, indemeine Klammer mit Inhalt verschoben wird. Damit istaber auch inhaltlich eine Änderung verbunden, weil sichdie Formulierung nunmehr auf die Hauptverkehrswegebeschränken soll. Diese Regelung ist mit Blick auf dasdeutsche Recht überflüssig. In § 50 des Bundes-Immis-sionsschutzgesetzes ist geregelt, dass sämtliche schutz-würdigen Nutzungen der Gebiete bei raumbedeutsamenPlanungen und Maßnahmen so aufeinander abgestimmtsein müssen, dass diese Eingriffe so weit wie möglichvermieden werden. Im deutschen Recht existiert dahereine Regelung, die über das hinausgeht, was die SPDfordert.

Im Interesse eines anspruchsvollen Umweltschutzes,aber auch im Interesse eines für alle Beteiligten unkom-plizierten Vollzugs bitte ich Sie um Zustimmung zumEntschließungsantrag der Koalitionsfraktionen.

Ute Vogt (SPD): Die Richtlinie zur Beherrschung der Gefahren bei

schweren Unfällen mit gefährlichen Stoffen, auch „Se-veso-Richtlinie“ genannt, gibt es aus einem gutenGrund. Seveso ist uns eine ständige Mahnung. Im italie-nischen Seveso kam es zu einem folgenschweren Dioxin-unfall, zu einem der folgenschwersten Chemieunfälleüberhaupt, eine dramatische Katastrophe für die dort le-benden Menschen. Um schwere Unfälle mit gefährlichenStoffen zu verhüten und die Unfallfolgen für Mensch undUmwelt zu begrenzen, wurde 1982 die erste Seveso-Richtlinie erlassen mit dem Ziel, in der ganzen EU einhohes Schutzniveau zu gewährleisten.

Zu Protokoll gegebene Reden

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 15351

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Ute Vogt

Mit der Seveso-II-Richtlinie von 1996 wurde dieRichtlinie überarbeitet und wurden wichtige Änderun-gen und neue Konzepte eingeführt. Der Umweltschutzbekam stärkeres Gewicht, und der Anwendungsbereichwurde auf Stoffe ausgedehnt, die als gefährlich für dieUmwelt und insbesondere das Wasser gelten. Aufgenom-men wurden neue Anforderungen in Bezug auf Sicher-heitsmanagementsysteme, Notfallpläne und Raumpla-nung. Verschärft wurden die Bestimmungen fürInspektionen, und die Unterrichtung der Öffentlichkeitwurde aufgenommen.

Wir begrüßen den Richtlinienvorschlag für die Se-veso-III-Richtlinie. Es ist notwendig, die Seveso-II-Richtlinie an das geänderte Chemikalienrecht anzupas-sen. Das Schutzniveau für Gesundheit und Umwelt mussfür uns dabei mindestens gleich bleiben oder sich, bes-ser noch, steigern. Ziel der Überarbeitung ist die Anpas-sung an das neue Einstufungs- und Kennzeichnungssys-tem der EU für gefährliche Stoffe in der sogenanntenCLP-Verordnung. Wegen der Unterschiede im bisheri-gen und neuen Einstufungssystem ist eine Änderung desbestehenden Anwendungsbereichs erforderlich. Mit derÜberarbeitung sollen strengere Inspektionsnormen ein-geführt und der Umfang an Informationen, die der Öf-fentlichkeit bei einem Unfall zur Verfügung stehen, ver-größert werden. So weit, so gut.

Die Unterrichtung zum Richtlinienvorschlag lässt beiuns aber große Unzufriedenheit zurück:

Es beginnt leider bereits bei der handwerklichen Um-setzung, denn schon die Übersetzung ist stellenweisemangelhaft und führt damit zu inhaltlichen Fehlern. Soheißt es in der englischen Version „Land Use Plan-ning“, was in der deutschen Übersetzung dann nicht al-lein „Flächennutzung“ heißen darf, sondern zumindest„Raumordnung und Flächennutzung“ heißen muss.Dies ist inhaltlich ein wesentlich anderer Wirkungsbe-reich bzw. Planungsbereich mit anderen Zuständigkei-ten.

Falsch wäre es aus unserer Sicht auch, das Sicher-heitsabstandsgebot zwischen Betrieben und zum Bei-spiel Wohn- oder auch Erholungsgebieten allein ins pla-nerische Ermessen zu stellen. Ein angemessenerAbstand muss verbindlich gewahrt werden. Eine Aufwei-chung, wie sie in Art. 12 Abs. 2 formuliert ist, nämlichdass der Abstand nur „so weit möglich“ angemessensein muss, ist für uns allenfalls in Bezug auf Hauptver-kehrswege denkbar.

Leider ist aus der vorliegenden Unterrichtung auchnicht ersichtlich, welche Betriebe zukünftig erfasst wür-den. Ich fordere daher die Bundesregierung auf, unsdiesbezüglich konkrete Informationen zugänglich zu ma-chen. Denn nur wenn klar ist, welche Betriebe zukünftigunter die überarbeitete Richtlinie fallen bzw. welche ge-gebenenfalls aus ihr herausfallen würden, kann einsachgerechtes Votum erfolgen.

Ausgesprochen positiv bewerten wir allerdings dasZiel, die Öffentlichkeit besser zu informieren. Es ist mirunverständlich, meine Kolleginnen und Kollegen von

CDU, CSU und FDP, warum Sie eine Ausweitung derbestehenden Informationspflichten ablehnen.

Ebenso zu begrüßen ist es natürlich auch, wenn eineengere Koordination der beteiligten Behörden erreichtwerden kann. Aber für einen effektiven Schutz der Bür-gerinnen und Bürger ist es dann auch nötig, dass allebeteiligten Behörden ebenfalls das Ziel haben, die Öf-fentlichkeit gut und umfassend zu informieren. Was alsGrundsatz auf dem Papier vorhanden ist, wird – daszeigt die Erfahrung – von den ausführenden Behördennicht immer geschätzt und in die Praxis umgesetzt.

Es sind also nach dieser Unterrichtung noch vieleFragen offen. Darüber aber, dass die Überarbeitung derSeveso-II-Richtlinie inzwischen überfällig ist und auchzeitnah erfolgen muss, herrscht hier im Haus sicher Ei-nigkeit.

Dr. Lutz Knopek (FDP): Die Namen Bhopal, Seveso, Schweizerhalle, En-

schede, Toulouse und Buncefield haben eines gemein-sam: Sie stehen für industrielle Unfälle, die viele Men-schen das Leben gekostet haben und die die Umweltgeschädigt sowie Kosten in Milliardenhöhe verursachthaben. Als Reaktion auf den schweren Unfall in Sevesowurde daher 1982 die erste Richtlinie über die Gefahrenschwerer Unfälle bei bestimmten Industrietätigkeiten,umgangssprachlich auch „Seveso-Richtlinie“ genannt,erlassen. Rund 10 000 Betriebe in Europa, davon etwa2 000 in Deutschland, werden derzeit von der 1996überarbeiteten Richtlinie erfasst. Dadurch wurden dieWahrscheinlichkeit schwerer Industrieunfälle und vorallem deren mögliche Folgen maßgeblich verringert. In-nerhalb Europas besteht daher große Einigkeit, dass dieSeveso-II-Richtlinie ihren Zweck gut erfüllt.

Dem Bundestag liegt nunmehr der Entwurf zur zwei-ten Revision dieser Richtlinie vor. Sie ist notwendig ge-worden, weil die EU-Regelungen zur Einstufung undKennzeichnung von gefährlichen Stoffen aufgrund vonAnpassungen an das weltweite GHS-System nicht mehrmit den Regelungen in der Seveso-Richtlinie korrespon-dieren. Wegen der Unterschiede im bisherigen und imneuen Einstufungssystem ist eine Eins-zu-eins-Anpas-sung des Anwendungsbereichs jedoch nicht möglich.Daher wird eine Anpassung zwangsläufig zur Folge ha-ben, dass einige Stoffe aus dem Anwendungsbereich derRichtlinie herausfallen, während andere neu hinzukom-men.

Da sich die Regelungen bewährt haben, liegt das In-teresse der FDP-Fraktion darin, eine Anpassung vorzu-nehmen, die die Abweichungen vom bestehenden Systemmöglichst minimiert. Der vorliegende Entwurf wird die-sem Anspruch leider nicht gerecht. Nach Schätzungender chemischen Industrie entstehen dadurch jedochMehrkosten von circa 40 bis 50 Millionen Euro pro Jahr,ohne das Schutzniveau zu verbessern. Wir haben dahergemeinsam mit unserem Koalitionspartner einen Ent-schließungsantrag verabschiedet, der die Bundesregie-rung auffordert, sich für einen alternativen Anpassungs-vorschlag einzusetzen. Die Technical Working Groupauf europäischer Ebene, die den Richtlinienvorschlag

Zu Protokoll gegebene Reden

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15352 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011

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Dr. Lutz Knopek

vorbereitet hat, hat in ihrem Bericht aufgezeigt, dass esmöglich ist, eine Anpassung vorzunehmen, die das be-stehende Schutzniveau weitestgehend unverändert lässt.Es geht uns also nicht darum, einseitig Verschärfungenzu verhindern, sondern auch der in einigen Teilen vorge-sehenen Absenkung des Schutzniveaus entgegenzutre-ten.

Der zweite wesentliche Punkt, den wir in unseremEntschließungsantrag aufgegriffen haben, ist der Zu-gang der Öffentlichkeit zu sicherheitsrelevanten Infor-mationen. Wir sind der Auffassung, dass die bestehen-den Informationspflichten ausreichend sind. DerBundesrat hat zudem zu bedenken gegeben, dass eineAusweitung des öffentliche Zugangs zu sicherheitsrele-vanten Informationen die Gefahr berge, dass diese fürgezielte Anschläge auf Chemieanlagen genutzt werdenkönnten. Da sich die bestehenden Regelungen über vieleJahre bewährt haben, sehen wir keine Notwendigkeit,dieses Risiko einzugehen. Wir haben daher die Anregun-gen des Bundesrates aufgegriffen und sprechen uns ge-gen eine solche Ausweitung der Informationspflichtenaus.

Insgesamt lässt sich feststellen, dass die bestehendeSeveso-II-Richtlinie ihren Zweck außerordentlich gut er-füllt hat und dass die jetzt erforderlich gewordene An-passung sich daher auf das wirklich zwingend Notwen-dige beschränken sollte. Die schwarz-gelbe Koalition istsich in diesem Punkt mit der Bundesregierung vollkom-men einig, und wir sind zuversichtlich, dass die derzeitandauernden Verhandlungen auf europäischer Ebene zueinem guten Ergebnis kommen werden.

Ralph Lenkert (DIE LINKE): Die Seveso-II-Richtlinie hat sich bewährt. Wie der

Name Seveso es ausdrückt, soll die Richtlinie vor schwe-ren Unfällen mit Chemikalien schützen. Niemand weiß,wie viele Tote und Verletzte durch Unfälle mit gefährli-chen Stoffen konkret mit dieser Richtlinie vermiedenwerden konnten. Jedoch steht fest, dass Zusammen-hänge von Schulungen und Sorgfalt im Umgang mit ge-fährlichen Stoffen mit der Anzahl der Unfälle bestehen.Der beste Unfallschutz ist Vorsicht und vor allem eineKenntnis der Gefahren.

Deshalb wäre eine weltweite Vereinheitlichung derGefahrenkennzeichnung von Stoffen eigentlich zu begrü-ßen. Doch die jetzigen Piktogramme nach der CLP-Richtlinie über die Kennzeichnungen gefährlicher Stoffeerschließen sich oft nur den Eingeweihten. Diese Richt-line opfert eine klar erkenn- und bewertbare Kennzeich-nung gefährlicher Chemikalien einer teils verharmlo-senden Vereinheitlichung.

So werden beispielsweise Gefahren für die Gesund-heit durch das Brustbild einer Person mit angedeuteterLunge dargestellt und mit den Worten „Gefahr“ und„Achtung“ ergänzt. Ob die Substanz im Verdacht steht,Krebs zu erzeugen, wie Zigaretten, oder sehr giftig ist,wie Quecksilber, lässt sich nicht unterscheiden. Das Er-kennen der Warnung vor der Ätzwirkung von Flüssigkei-ten erfordert vom unbedarften Betrachter viel Fantasie,und ob eine Flüssigkeit leichtentzündlich oder nur

brennbar ist, erfährt der Betrachter ebenfalls nicht. Soist fehlerhaftes oder leichtsinniges Verhalten vorpro-grammiert.

Positiv für die Linke sind die in der EU-Vorlage aus-geweiteten Informationsrechte für EU-Bürger. DasRecht der Umweltverbände und unabhängigen Fach-leute, die im Rahmen der Richtlinie erhobenen Datenund an die EU übermittelten Informationen einzusehen,bringt mehr Transparenz und erhöht die Sicherheit füruns alle. Aber gerade diese Transparenz wollen CDUund FDP mit ihrer Art der Umsetzung der EU-Richtlinieaushebeln, genauso wie die Koalition optimalen Ver-braucherschutz durch höhere nationale Schutzniveausmit der Begründung „das benachteiligt unseren Stand-ort“ verhindert. Die Koalition will den Schutz der Ver-braucher und Beschäftigten über Anpassung nach untenauf ein möglichst niedriges, kostenneutrales Level sen-ken. Die Gewinne aus dieser Absenkung werden dieChemiekonzerne einfahren. Das Leid bleibt bei den un-nötig Verletzten und die Kosten für die Behandlung un-nötiger Opfer trägt die Gesellschaft. Leider spielenUnion und FDP auch in diesem Bereich das Spiel: Ge-winne privat, Verluste dem Staat.

Die Linke teilt die Befürchtung von Fachleuten, dassdie Liste der überwachungspflichtigen Stoffe zu kurz istund dass die dort festgelegten Mengenschwellen zurÜberwachung zu großzügig angesetzt sind. Dass sogargesundheitsgefährdende Stoffe aus der Überwachungherausfallen, passt ins Bild der die Menschen ignorie-renden, aber die Industrie streichelnden Koalitionspoli-tik.

Wir haben Seveso und die anderen Orte schwererChemieunfälle nicht vergessen, die Toten, die Krankenund die Menschen, die Hab und Gut verloren. All diesgeschah durch die Gier nach mehr Profiten und dieIgnoranz oder Aufhebung von strengen Regeln für dieIndustrie unter dem Deckmantel von Standortsicherung,Wettbewerbsfähigkeit und Entbürokratisierung.

Im Interesse der Menschen muss die Linke diesenVorschlag ablehnen.

Dorothea Steiner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Derzeit wird die sogenannte Seveso-II-Richtlinie aus

dem Jahr 1996 überarbeitet. Ziel der Richtlinie ist es,schwere Unfälle mit gefährlichen Stoffen zu verhindernund Unfallfolgen für Mensch und Umwelt zu begrenzen.Industrieanlagen, die der Seveso-Richtlinie unterliegen,also mit gefährlichen Stoffen in erheblichen Mengenumgehen, müssen zusätzliche Sicherheitsauflagen ein-halten. Außerdem bestehen verschärfte Informations-pflichten, vor allem bei Unfällen mit gefährlichen Che-mikalien.

Ziel der Überarbeitung der EU-Richtlinie ist es, dieInformationsflüsse über die gefährlichen Chemikalienzu verbessern. Außerdem war dringend eine Anpassungder Liste der gefährlichen Stoffe an das UN-System zurEinstufung gefährlicher Stoffe notwendig, um zu welt-weit einheitlichen Listen zu kommen.

Zu Protokoll gegebene Reden

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Dorothea Steiner

Die Europäische Kommission hat einen Vorschlagzur neuen Seveso-III-Richtlinie vorgelegt, der viele guteAnsatzpunkte enthält. So werden zum Beispiel Verbesse-rungen bei der Bürgerinformation und Bürgerbeteili-gung beim Umgang mit gefährlichen Stoffen im neuenRichtlinienentwurf vorgenommen. Die Ausweitung derInformations- und Berichtspflichten ist zu begrüßen, umdie Menschen im Umfeld solcher Anlagen, die gefährli-che Stoffe verwenden, besser zu informieren – vor allem,wenn Unfälle auftreten.

Sorge bereitet uns, dass im jetzigen Entwurf die Ent-scheidung, welche Stoffe in welchen Mengen auf die Lis-ten gefährlicher Stoffe gesetzt werden, zukünftig ohneGesetzgebungsverfahren abgeändert werden könnte.Wenn dieses dazu führt, dass beliebig Stoffe von derListe gestrichen werden, wäre dies sehr bedenklich. EineAusweitung der Liste gefährlicher Stoffe wäre für uns je-doch denkbar, zum Beispiel hinsichtlich kanzerogenerStoffe, die gentoxisch wirken, oder großer Mengen Koh-lendioxid, wie es zukünftig in CCS-Anlagen vorkommenkönnte.

Der Antrag der Regierungsfraktionen zielt darauf ab,die Verbesserungen hinsichtlich der Informationspflich-ten beim Umgang mit gefährlichen Stoffen gegenüberder Öffentlichkeit zu verhindern. Die öffentlichen Infor-mationen sollen den Anwohnerinnen und Anwohnerndazu dienen, Art und Ausmaß von Störfällen zu erken-nen. Wir sprechen hier schließlich von schlimmen undschlimmsten Unfällen, die im Umgang mit gefährlichenChemikalien immer wieder passieren, und zwar welt-weit.

Mit ihrem Antrag fordern die Koalitionsfraktionenvon der Bundesregierung, die Interessen der Industriehöher zu werten als die berechtigten Informationsinte-ressen der betroffenen und besorgten Menschen vor Ort.Dies ist ganz klare Klientelpolitik.

Im Umweltausschuss zeigte sich, dass insbesondereden Abgeordneten der FDP die Interessen der Chemie-industrie wichtiger sind als die berechtigten Sorgen derMenschen im Umfeld von Anlagen, die gefährlicheStoffe produzieren oder verarbeiten. Die Redebeiträgeübernahmen wortwörtlich die Forderungen der Chemie-industrie, wie wir sie auch der Presse entnehmen kön-nen.

Die Grünen unterstützen die von der Kommissionvorgeschlagenen Verbesserungen bei der Bürgerinfor-mation und Bürgerbeteiligung beim Umgang mit gefähr-lichen Stoffen im neuen Richtlinienentwurf ausdrück-lich. Wir sehen eher die Notwendigkeit, die Liste dergefährlichen Stoffe zu erweitern und über ihren Einsatzgrößtmögliche Transparenz herzustellen. Wir wollen,dass Deutschland und die Europäische Union auf die-sem Weg weitergehen.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für

Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt inseiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5891, inKenntnis der Unterrichtung eine Entschließung anzuneh-

men. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Ge-genstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfeh-lung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegendie Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Unter-stützung der Fachkräftegewinnung im Bundund zur Änderung weiterer dienstrechtlicherVorschriften

– Drucksache 17/7142 – Überweisungsvorschlag:Innenausschuss (f)RechtsausschussAusschuss für Arbeit und SozialesHaushaltsausschuss gemäß § 96 GO

Armin Schuster (Weil am Rhein) (CDU/CSU): Mit dem von der Bundesregierung eingebrachten Ge-

setz zur Unterstützung der Fachkräftegewinnung imBund und zur Änderung weiterer dienstrechtlicher Vor-schriften halten wir unser Versprechen aus der Koali-tionsvereinbarung und steigern die Wettbewerbsfähig-keit des Bundes gegenüber anderen Dienstherren undder Wirtschaft. Bundesverwaltung und Bundeswehr be-nötigen für die Erfüllung ihrer vielfältigen und an-spruchsvollen Aufgaben gut ausgebildetes und zum Teilhochspezialisiertes Personal. Wir haben im Wettbewerbmit der Privatwirtschaft damit sicher noch nicht ganzAugenhöhe erreicht. Aber auf dieser langen Leiter sindwir bereits durch flexiblere Arbeitszeiten für ältere Be-schäftigte im Bundesbesoldungs- und -versorgungsan-passungsgesetz im vergangenen Jahr einige Sprossenvorangekommen. Und mit dem vorliegenden Gesetzent-wurf gelingen uns wieder wesentliche Fortschritte, umdie Attraktivität einiger Berufsbilder im öffentlichenDienst zu steigern. Die Kernregelungen sind unter ande-rem der Personalgewinnungszuschlag, die Gewährungeiner Ausgleichszahlung bei Versetzung in den Bundes-dienst, die Verbesserung der Vergütung von IT-Fach-kräften oder des ärztlichen Bereitschaftsdienstes derBundeswehr sowie die Anerkennung von Kinderbetreu-ungs- und Pflegezeiten.

Bis 2025 wird die Zahl der erwerbsfähigen Mitbürge-rinnen und Mitbürger um etwa 6,7 Millionen abnehmen.Diese Entwicklung werden auch die Ministerien und Be-hörden zu spüren bekommen. Schon heute ist ein Groß-teil der Beschäftigten dort Mitte 50 oder älter. Deshalbagiert die Regierungskoalition und setzt den kontinuier-lichen Prozess einer verbesserten Fachkräftegewinnungkonsequent fort.

Wie sehr der Schuh von allen Seiten drückt, zeigt sichalleine an den vielfältigen Initiativen der Wirtschaft,zum Beispiel der Aktion „MINT- Zukunft schaffen“ vonBDI und BDA oder dem Netzwerkprojekt „Fachkräfte-gewinnung“ der einzelnen Industrie- und Handelskam-mern. Im Mai 2011 waren auf dem freien Markt mehr als150 000 Stellen für Hochqualifizierte in den BereichenMathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Tech-nik, kurz „MINT“, unbesetzt. 43 Prozent der Unterneh-

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Armin Schuster (Weil am Rhein)

men erwarten Probleme bei der künftigen Fachkräfte-suche. BDI-Präsident Professor Dr.-Ing. Hans-PeterKeitel sagte schon im Dezember letzten Jahres, dassdurch bloßes Aufmachen der deutschen Grenzen dieFachleute im MINT-Sektor keineswegs Schlange stün-den. Auch Staatssekretär Gerd Hoofe vom Bundesminis-terium für Arbeit und Soziales teilt die Sorge, da sichnicht die Frage stellt, ob wir die Fachkräfte wollen, son-dern ob die Fachkräfte zu uns kommen wollen. Kurz ge-sagt: Die Arbeitgeber bewerben sich künftig bei denFachkräften und nicht mehr umgekehrt. Genau hier setztunser Gesetzentwurf zur Unterstützung der Fachkräfte-gewinnung an.

Lassen Sie mich auf die eingangs schon erwähntennächsten Sprossen näher eingehen:

Mit dem Instrument des Personalgewinnungszu-schlags soll es Bundesbehörden künftig ermöglicht wer-den, mit finanziellen Anreizen auf Personalengpässesystematisch zu reagieren. Gezielt sollen dazu Fach-kräfte, zum Beispiel Ärztinnen und Ärzte bei der Bundes-wehr oder IT-Fachkräfte bei der Polizei, gewonnen wer-den. Ob und wie dieser Zuschlag seinen Einsatz findet,liegt im Ermessen der Personalstellen. Er ersetzt und er-weitert die bisherigen Sonderzuschläge und kann bis zu20 Prozent des Grundgehaltes betragen; für A 13 sinddas zum Beispiel 690 Euro pro Monat. Der Personal-gewinnungszuschlag kann für höchstens 48 Monate ent-weder als Monatsbetrag oder als Einmalzahlung ge-währt werden. Eine einmalige Verlängerung wirdmöglich sein. Den Bundesbehörden wird hier eine fle-xible und bedarfsgerechte Ausgestaltung des Zuschlagsermöglicht. Die Besoldungsausgaben eines Ressorts fürdiesen Zweck sollen von 0,1 Prozent auf 0,3 Prozent er-höht werden. Dies entspricht insgesamt 22 MillionenEuro.

Ebenso werden wir Besoldungsverluste beim Wechselin den Bundesdienst ausgleichen. Landes- und Kommu-nalbeamte erleiden bei ihrem Wechsel oft Einkommens-einbußen, zum Beispiel ein Rechtspfleger aus Baden-Württemberg, der zum Bundesamt für Justiz nach Bonnwechselt.

Die Einstiegsbedingungen für IT-Fachkräfte im geho-benen Dienst verbessern wir. Künftig können IT-Fach-kräfte auch im Eingangsamt A 10 eingestellt werden.

Daneben werden wir die Vergütung der Sanitätsoffi-ziere in den Bundeswehrkrankenhäusern verbessern undder im zivilen Gesundheitssystem angleichen. Beispiels-weise werden die ärztlichen Bereitschaftsdienste deut-licher berücksichtigt.

Auch die Polizeizulage in der Bundesfinanzverwal-tung wird durch dieses Gesetz neu geordnet. Die Ab-grenzungsschwierigkeiten beim Zoll im Bereich der voll-zugspolizeilichen Aufgaben werden beseitigt, und dasBundesministerium für Finanzen entscheidet über diezulagenberechtigten Bereiche künftig selbst.

Zugleich werden wir eine Verpflichtungsprämie fürdie polizeiliche Auslandsverwendung einführen. Mit die-ser Prämie sollen Vergütungsunterschiede bei 6-Mo-nats-Diensten im Rahmen von bilateralen Projekten und

EU-Projekten beseitigt werden. Lassen Sie mich an die-ser Stelle einfügen, dass bei Besuchen verantwortlicherPolitiker zum Beispiel bei den in Afghanistan eingesetz-ten Polizisten diese ungerechtfertigte Situation noch-mals eindringlich verdeutlicht wurde und wir hieraufjetzt konsequent reagieren und das Problem beseitigen.

Ebenso werden wir den alten §147 Abs. 2 des Bundes-beamtengesetzes in das neue Dienstrecht überleiten:Damit können nun auch Beamtinnen und Beamte, dievor dem 12. Februar 2009 in ein Beamtenverhältnis aufProbe berufen wurden, bereits nach drei Dienstjahrenauf Lebenszeit verbeamtet werden.

Und schließlich verbessern wir die Regelungen zuKinderbetreuungs- und Pflegezeiten. Das am schnells-ten zu mobilisierende Arbeitskraftpotenzial in unsererGesellschaft liegt bei den Frauen, insbesondere beiFrauen mit Kindern. Der vorliegende Gesetzentwurfwird diesem Umstand in besonderem Maße Rechnungtragen: Zukünftig werden Kinderbetreuungs- und Pfle-gezeiten bis zu drei Jahren wie berufliche Erfahrungs-zeiten voll anerkannt. Die Bundesverwaltung ist bei derThematik der Gleichstellung der Frauen und familien-freundlicher Arbeitgeber sicher schon heute wettbe-werbsfähig. Mit diesem Angebot wollen wir unsere Stär-ken stärken.

Die Steigerung der Attraktivität des Bundes als he-rausragender Arbeitgeber wird mit diesem Gesetzes-schritt wieder ein gutes Stück vorangebracht. Das Endeder Leiter ist aber noch lange nicht erreicht. Nach Aus-bildung und Studium ist eine Entscheidung für einenstaatlichen Arbeitgeber, im Gegensatz zur Wirtschaft,meist eine Lebensentscheidung. In einem arbeitnehmer-freundlichen Markt mit steigendem Mangel an Fach-kräften in allen Branchen und Sektoren wird das Argu-ment der Arbeitsplatzsicherheit im öffentlichen Dienstaber zunehmend schwächer. Hier muss der Bund sichnicht nur mit internationalen Konzernen und ausländi-schen Universitäten sowie Forschungseinrichtungen,sondern auch mit Ländern und Kommunen messen las-sen. Insofern gilt es für uns, weiter am Ball zu bleibenund den Menschen interessante Modelle zum Einstieg indie öffentliche Verwaltung zu bieten. Unser Berufsbildersind bereits anspruchsvoll und attraktiv; an verbesser-ten gesetzlichen Rahmenbedingungen werden wirgleichwohl konsequent weiterarbeiten. Ich gehe nicht zuweit, wenn ich Ihnen schon heute ankündige, dass wirbereits die nächsten Sprossen unserer Leiter konstruie-ren.

Für heute freuen wir uns zunächst einmal über diesenGesetzentwurf der Regierung und stimmen deshalb mitÜberzeugung zu.

Michael Hartmann (Wackernheim) (SPD): Es geschieht nicht allzu oft, dass die Vorschläge die-

ser Regierung und dieses Innenministeriums nicht mitscharfer Kritik zu belegen sind. Das gilt leider ganz be-sonders, wenn es um den Umgang mit den Bundesbeam-tinnen und Bundesbeamten geht. Doch heute ist diesausnahmsweise einmal anders. Denn offensichtlich wirdmit dem nun vorliegenden Gesetzentwurf zur Fachkräf-

Zu Protokoll gegebene Reden

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Michael Hartmann (Wackernheim)

tegewinnung und zur Änderung weiterer dienstrechtli-cher Vorschriften ein überfälliger Schritt vollzogen. Wirwollen uns daher nicht verweigern, wenn einmal mehrals nur Lippenbekenntnisse zum Berufsbeamtentum vonder Koalition zu vernehmen sind.

Die Regelungen verweisen auf ein drängendes Pro-blem: In Zeiten des demografischen Umbruchs beginntdie Jagd nach Fachkräften auf dem Arbeitsmarkt. Oft-mals kann der öffentliche Dienst dabei nicht mithalten.Denn die Bezahlstrukturen hier lassen es für junge Men-schen oftmals nicht attraktiv erscheinen, Bundesbeamteroder Bundesbeamtin zu werden. Sie denken dabei zukurz, lassen sich vom schnellen Geld verführen, ohne andie nach wie vor vorhandene Sicherheit im öffentlichenDienst und die auch ansonsten langfristig bestehendenVorteile einer Tätigkeit dort zu denken. Allerdings ist eszum Beispiel dem jungen Absolventen eines Informatik-studiengangs nicht zu verdenken, dass er sich sofortnach seinem Examen für die private Wirtschaft entschei-det, wenn ihm dort von Anfang an Traumgehälter win-ken. Die Nachteile werden für ihn vielleicht erst spätererkennbar.

Wie dem auch sei: Unser Land benötigt mehr denn jegut ausgebildete Menschen, die ihre Zukunft im öffentli-chen Dienst sehen, beispielsweise um unsere Polizei aufder Höhe der Zeit zu halten, wichtige Entwicklungen inder Datensicherheit voranzutreiben oder bei der Bun-deswehr dauerhaft zu dienen. Deshalb ist es auch ausunserer Sicht gut und richtig, nunmehr einen erstenSchritt zu gehen, um Anreize zu schaffen, beispielsweisedurch Zuschläge bei der Personalgewinnung oder einverbessertes Eingangsamt für IT-Fachkräfte. Denn sowird das enge Korsett der Bezahlstrukturen des öffentli-chen Dienstes wenigstens ein bisschen geweitet.

Allerdings nutzt dies alles nichts, wenn wir unserenBerufsbeamtinnen und -beamten nicht mehr echte Wert-schätzung entgegenbringen. Allzu oft neigen auch vieleMitglieder dieses Hohen Hauses leider dazu, lieberStammtischparolen zu bedienen. Es deutet sich ja nun-mehr an, dass die Koalition auf unseren Druck hin denVertrauensbruch beim Weihnachtsgeld endlich rückgän-gig macht. Ein halbherziger Akt, mit dem die damaligeSchandtat nicht getilgt wird. Sie haben darin Ihr wahresbeamten- und leistungsfeindliches Gesicht gezeigt. Nurder Protest, nicht die Einsicht lässt sie jetzt umschwen-ken. Dieses Hü und Hott ist für sich genommen schonunerträglich und wird Ihnen nicht bekommen!

Wer A sagt, der muss auch B sagen. Denn jede Attrak-tivitätssteigerung bleibt auf halber Strecke stehen, wenndie Mitnahmefähigkeit der Versorgungsbezüge nicht inzeitgemäßer Weise erfolgt. Am 12. November 2008 hat-ten Sie schon gemeinsam mit uns die Bundesregierungaufgefordert, eine gesetzliche Regelung der Mitnahme-fähigkeit noch in der 16. Wahlperiode zu ermöglichen.Danach hat Sie der Mut wieder verlassen – oder hattenSie es nicht ernst gemeint? Wir werden Ihnen Gelegen-heit geben, sich wieder eines Besseren zu besinnen.

Es ist keineswegs so, dass es nicht genügend jungeMenschen gäbe, die dem deutschen Staat als Beamtin-nen und Beamte dienen wollen. Sie erkennen sehr ge-

nau, wie großartig ein solcher Dienst sein kann. DochBorniertheit und Ignoranz schlagen ihnen entgegen undverschrecken sie. Es ist an uns, die Türen für jene Inte-ressierten und Engagierten weit aufzumachen. Seien siedabei!

Dr. Stefan Ruppert (FDP): Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf legt die Koali-

tion ein nachhaltiges Lösungskonzept für das Problemder Rekrutierung gut ausgebildeten Fachpersonals imöffentlichen Dienst vor. Wie Arbeitgeber aus der Wirt-schaft und anderen Bereichen müssen Bundesverwal-tung und Bundeswehr konkurrenzfähig bleiben, um qua-lifizierte Nachwuchskräfte für sich gewinnen zu können.Der Gesetzentwurf setzt sich zum Ziel, mit Instrumentenwie dem vorgesehenen Personalgewinnungszuschlag dieWettbewerbsfähigkeit des Bundes in dieser Hinsicht zuverbessern. Damit setzen wir einen weiteren Punkt ausdem Koalitionsvertrag um, den die FDP federführendmitgestaltet hat.

Der Entwurf konzentriert sich im Wesentlichen aufzwei Schwerpunkte. Zum einen werden bei den Ergän-zungen im Bundesbesoldungsgesetz Elemente, die sichauf alle Bereiche beziehen, mit solchen kombiniert, dieeinzelne Berufsgruppen besserstellen. Zum anderenwerden Änderungen vorgenommen, die in der Beamten-versorgung aufgrund der Rechtsprechung und aus Pra-xiserwägungen schon lange notwendig sind.

Zu den wichtigsten, für alle Berufsgruppen relevan-ten Punkten gehört der bereits oben genannte Personal-gewinnungszuschlag (§ 43 BBesG). Der Zuschlag gibtden Bundesbehörden ein konkretes Mittel in die Hand,auf Personalengpässe flexibel reagieren zu können.Falls für eine Stelle innerhalb eines angemessenen Zeit-raums kein geeigneter Bewerber gefunden werden kann,ermöglicht der Zuschlag der jeweiligen Bundesbehörde,das Anfangsgehalt einer Nachwuchskraft um maximal20 Prozent pro Monat zu erhöhen. Befristet wird dieseSubventionierung auf vier Jahre mit der Möglichkeit ei-ner einmaligen Verlängerung um denselben Zeitraumauf höchstens acht Jahre. Der Zuschlag kann entwederals Einmalzahlung oder als monatlicher Betrag geleistetwerden. Das Instrument kann in geringerem Umfangauch als Anreiz für schon vorhandene Fachkräfte ge-nutzt werden, zwischen oder innerhalb von Bundesbe-hörden die Stelle zu wechseln. Da jedes Ressort maximal0,3 Prozent seiner Personalausgaben für den Zuschlagausgeben darf, wird dafür gesorgt, dass der Aufwandden Nutzen nicht übersteigt.

Darüber hinaus existiert schon lange das Problem,dass der Wechsel von Landesbehörden in die Bundesver-waltung sich finanziell negativ für Beschäftige auswir-ken kann. Deshalb ist die Bereitschaft zu einer Verset-zung aus den Ländern in die Bundesverwaltung oft nichtsehr groß. Um an dieser Stelle einen Anreiz zu schaffen,wird eine Zulage eingeführt, die das Absinken des Besol-dungsniveaus ausgleicht, das bei einer Versetzung even-tuell anfallen kann (§ 19 b BBesG). Diese Zulage sichertdas Gehaltsniveau zum Zeitpunkt des Übertritts zum

Zu Protokoll gegebene Reden

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Dr. Stefan Ruppert

Bund und wird bei Gehaltserhöhungen dann schritt-weise abgebaut.

Außerdem werden Kinderbetreuungs- und Pflegezei-ten nach dem Gesetzentwurf in Zukunft als Erfahrungs-zeiten angerechnet (§ 28 Abs. 2 BBesG). Jungen Elternsoll dadurch der Eintritt in den Bundesdienst erleichtertwerden. Diese Maßnahme ist Ausdruck einer familien-freundlichen Politik, der wir als FDP uns besonders ver-pflichtet fühlen.

In Bezug auf Änderungen, die auf die Besserstellungeinzelner Berufsgruppen zielen, sind besonders die Sa-nitätsoffiziere und IT-Fachleute herauszugreifen. Sowird die Vergütung von Rufbereitschaft und Bereit-schaftsdienst der im zivilen Gesundheitssystem angenä-hert (§ 50 b BBesG), und das Besoldungsniveau von IT-Fachkräften im gehobenen Dienst wird von A 9 auf A 10angehoben (§ 23 BBesG).

Sonstige Änderungen, deren Notwendigkeit sich so-wohl aus der Rechtsprechung als auch aus der Praxisergeben, sollen nach dem Gesetzesentwurf unter ande-rem zu polizeilichen Auslandsverwendungen in besonde-ren Einzelfällen sowie im Bundesbeamtengesetz vorge-nommen werden.

So wird mit der Einführung einer Prämie für Solda-ten, die sich für sechs Monate verpflichten, versucht,wieder mehr Soldaten zu einer Langzeitverpflichtung zubewegen, die für wichtige Einsätze dringend nötig ist(§ 57 BBesG).

Eine Änderung im Bundesbeamtengesetz wird ermög-lichen, ein Beamtenverhältnis auf Probe schon vor Voll-endung des 27. Lebensjahres in ein Beamtenverhältnisauf Lebenszeit umzuwandeln (§ 147 Abs. 2 BBG). Dieswird der Fall sein, soweit seit der Berufung mindestensdrei Jahre vergangen sind. Bisher galt für Beamte, dievor dem 12. Februar 2009 als Beamte auf Probe berufenwurden, ein Mindestalter von 27 Jahren für die Um-wandlung in ein Beamtenverhältnis auf Lebenszeit.

Das Fachkräftegewinnungsgesetz setzt bei vielenBrennpunkten in der Beamtenbesoldung an. Es bietetdringend nötige Anreize, um den öffentlichen Dienst at-traktiver zu gestalten. Es wird jedoch auch deutlich,dass der Gesetzentwurf hauptsächlich punktuelle Lösun-gen bei der Fachkräftegewinnung und im Dienstrechtbietet, indem er eine Vielzahl an Themengebieten auf-greift. Es lässt sich beispielsweise die Frage stellen, wa-rum neben IT-Fachkräften und Sanitätsoffizieren nichtauch wichtige Berufsgruppen wie die dringend benötig-ten Ingenieure bessergestellt werden.

Mit diesen Maßnahmen allein wird es nicht gelingen,die Verknappung von Fachpersonal in den Griff zu be-kommen. Ein Lösungsansatz, der weiterhin Aufmerk-samkeit verdient, ist das Aufbrechen des öffentlichenDienstes als vom übrigen Arbeitsmarkt abgetrennter Be-reich. Eine größere Flexibilität zu erreichen, ist hiermehr als wünschenswert. Solange für Bundesbeamte dieMitnahme von Versorgungsanwartschaften nicht mög-lich ist, wird es eine größere Flexibilität an dieser Stellenicht geben. Hier gilt es anzusetzen und unter Umstän-

den den öffentlichen Dienst auch deshalb als Arbeitge-ber interessanter zu machen.

Frank Tempel (DIE LINKE): Die Politik dieser Bundesregierung, aber auch ihrer

Vorgänger hat zu massiven Problemen beim Fachkräfte-besatz in der Bundesverwaltung geführt. Personalab-bau, Überalterung und unzureichende Ausbildungszah-len bzw. Neueinstellungen kennzeichnen die Situation.Daraus resultiert eine immer geringere Personaldecke.Die einzelnen Beschäftigten sind deshalb einem immerhöheren Aufgabenzuwachs ausgesetzt. Übergroße Auf-gabenverdichtung führt über kurz oder lang zu Frustra-tion, innerer Kündigung und – wie jeder den Statistikenentnehmen kann – zu erhöhter Zahl von Krankschrei-bungen. Womit wird dieser Missklang musikalisch be-gleitet? Mit längeren Arbeitszeiten und Einkommenskür-zungen für die Beamtinnen und Beamten! So gilt dieWeihnachtsgeldkürzung von 2005 – entgegen allen Ab-sprachen mit den Gewerkschaften – bis 2015! Ich sagean die Adresse der Bundesregierung: Die Attraktivitätdes Arbeitgebers Bundesverwaltung hat stark gelitten.Aber auch Ihnen ist nicht entgangen, dass qualifiziertesPersonal selbst in abgespeckten Verwaltungen vonnötenist. Und auch Ihnen ist klar, dass sich der Bund ange-sichts der gesunkenen Arbeitslosigkeit mit Länderver-waltungen und der Wirtschaft in einer verschärften Kon-kurrenz um qualifizierte Fachkräfte befindet.

In Ihrem Gesetzentwurf sind verschiedene Maßnah-men vorgesehen, um die Attraktivität des Dienstes in derBundesverwaltung zu steigern. Diese Maßnahmen sindsinnvoll, gehen aber nicht weit genug.

Ihrem Vorhaben, Ausgleichszahlungen für Beamtin-nen und Beamte zu ermöglichen, die in die Bundesver-waltung wechseln, stimmen wir zu. Bei der von der Lin-ken geforderten Wiedereinführung eines einheitlichenBesoldungsrechts wären solche Zahlungen allerdingshinfällig.

Die Einführung eines Personalgewinnungszuschla-ges stellt einen besonderen Anreiz für den Dienst in derBundesverwaltung dar. Der Personalgewinnungszu-schlag ist allerdings nicht ruhegehaltfähig. Warum?

Mit der Anerkennung von Kinderbetreuungs- undPflegezeiten soll der Dienst in der Bundesverwaltunginsbesondere für Eltern attraktiver gemacht werden.Das ist ein wichtiges Zeichen zur Vereinbarkeit von Be-ruf und Familie.

Auch die Erleichterung der Anerkennung außerhalbhauptberuflicher Zeiten erworbener Zusatzqualifikatio-nen ist ein Schritt in die richtige Richtung. Fraglich istaber, wieso Sie diese Regelung nicht generalisieren,sondern auf Einzelfälle beschränken. Warum Sie will-kürlich nur drei Jahre an Zusatzqualifikationen aner-kennen wollen, Regelstudienzeiten und durchschnittli-che Promotionszeiten aber nicht, ist ebenso unklar.

In der Praxis der Gesetzesanwendung muss eingroßes Augenmerk auf die Transparenz bei der Gewäh-rung der Zuschläge gelegt werden. Die Erfahrungen beiden Leistungszuschlägen zeigen, dass unklare und in-

Zu Protokoll gegebene Reden

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Frank Tempel

transparente Verfahren zu Günstlingswirtschaft führenkönnen. Nur mit einer starken Einbindung der Mitarbei-terschaft und der Personalvertretungen werden Trans-parenz und Akzeptanz hergestellt werden können.

Wir stimmen Ihrem Gesetzentwurf zu, wohl wissend,dass die Schritte in die richtige Richtung nicht die not-wendigen Verbesserungen bei der Gehaltsstruktur erset-zen, beispielweise die Rücknahme der Weihnachtsgeld-kürzung. Weder die aktuellen Personalprobleme nochdie viel gravierenderen demografischen Probleme in derBundesverwaltung werden Sie mit solchen Detailmaß-nahmen in den Griff bekommen. Der dbb beamtenbundund tarifunion weist darauf hin, dass in den nächstenzehn Jahren der öffentliche Dienst aufgrund des demo-grafischen Wandels fast 20 Prozent der Beschäftigtenverliert. Ohne grundsätzliche Änderungen in der Ein-stellungspolitik wird das nicht lösbar sein. Die Linkefordert deshalb eine umfassende Ausbildungs- und Ein-stellungsoffensive.

Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):

Meine Fraktion und ich nehmen grundsätzlich posi-tiv zur Kenntnis, dass sich die Bundesregierung Gedan-ken über die Attraktivität und Zukunftsfähigkeit desöffentlichen Dienstes des Bundes macht. Die mit demvorliegenden Gesetzentwurf eingebrachten Maßnah-men – insbesondere die verbesserte Berücksichtigungvon Kinderbetreuungs- und Pflegezeiten, ein flexibleresPersonalgewinnungsinstrument oder auch die Förde-rung der Durchlässigkeit zwischen Landes- und Bundes-dienst durch Vermeidung von Besoldungsdiskrepanzen –sind alle begrüßenswert. Bei Licht besehen aber muss esder Einstieg in eine weitaus umfassendere Reform desDienstrechts mit dem Ziel sein, die Attraktivität des öf-fentlichen Dienstes insgesamt zu steigern.

Studien belegen, dass bei Weitem nicht nur monetäreFaktoren die Attraktivität und die Entscheidung für ei-nen Arbeitsplatz ausmachen. Insofern ist der Stellung-nahme des Deutschen Gewerkschaftsbundes zu demheute vorliegenden Gesetzentwurf ausdrücklich zuzu-stimmen, wenn er das Fehlen nichtmonetärer Anreizebemängelt.

Nach unserer Vorstellung geht es um weit mehr. Esgeht um Fragen des Betriebsklimas im öffentlichenDienst, das Zulassen flacherer Hierarchien, breitererEntscheidungskompetenzen auch im gehobenen Dienst,teamorientierte Ansätze und Mitspracherechte, um nureinige Ansatzpunkte zu nennen, mit denen der öffent-liche Dienst im Wettbewerb um kluge Köpfe punktenmuss. Diese sind maßgebliche Motivationsfaktoren undsollten bei dem Bemühen um einen attraktiveren öffent-lichen Dienst eine weitaus bedeutendere Rolle spielen,als dies heute der Fall ist. Dies muss zwingend auch vordem Hintergrund gesehen werden, dass der Bund einemimmer schmaler zulaufenden finanziellen Korridor ent-gegensieht und in zunehmenden Maße dem schon längstglobalen Fachkräftemarkt der Konkurrenz aus der Wirt-schaft ausgesetzt ist.

Positiv zu werten sind die Bemühungen um eine ver-besserte Personalgewinnung durch den Bund. Der Bundmuss auch langfristig konkurrenzfähig bleiben, der Ein-satz für öffentliche Belange auf Bundesebene muss at-traktiv bleiben bzw. attraktiver werden. Dies gilt für denBund besonders, da man als Beamtin oder Beamter imBundesdienst in bestimmten Verwendungsbereichen eineerhöhte persönliche bzw. familiäre Flexibilität aufwei-sen muss. Inwiefern die neue Vorschrift des § 43 BBesGhier ein Erfolg sein wird, bleibt abzuwarten und ist denErgebnissen einer hoffentlich aussagekräftigen Evaluie-rung durch das Bundesinnenministerium vorbehalten.Wie man es bei der Evaluierung von Gesetzen jedenfallsnicht machen sollte, hat das Ministerium – wenn auch inanderem Zusammenhang – bei den sogenannten Anti-Terror-Gesetzen ja eindrücklich und wiederholt gezeigt.

Der Schwerpunkt bei der Schaffung von Anreizen fürdie Gewinnung von IT-Personal ist richtig, wird abervermutlich angesichts der immensen Herausforderungdurch die umfassende Digitalisierung auch bei den Poli-zeien und Sicherheitsbehörden und den Herausforderun-gen, die in diesem Bereich vor uns liegen, schon in aller-nächster Zukunft durch weitere Maßnahmen verstärktwerden müssen. Der jüngste Vorfall um den Hack vonRechnern der Bundespolizei sowie des Zolls gibt inso-weit Anlass zur Sorge; denn nach allem, was wir heutehierüber wissen, hat auch eine mangelnde Kompetenzder Verantwortlichen zu den massiven Sicherheitslückenbeigetragen.

Flexibilität ist das Stichwort für den Bereich der Aus-landsverwendung von Polizistinnen und Polizisten. DieNeuregelung des § 57 BBesG ist grundsätzlich willkom-men, es muss in diesem Bereich allerdings noch einigesmehr passieren, damit die Attraktivität einer – auchmehrfachen – Auslandsverwendung steigt. Im Kernmuss es darum gehen, Polizeibeamtinnen und -beamtegrundsätzlich zu motivieren, ihren beruflichen und per-sönlichen Erfahrungsschatz durch eine Auslandsver-wendung zu erweitern. Es reicht nicht aus, lediglich Un-terschiede zwischen der Vergütung für Einsätze inbilateralen und solchen im Rahmen von EU- oder VN-Missionen zu beseitigen. Der internationale Einsatz fürMenschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und Sicherheit darffür die Vita/Karriere von Polizistinnen und Polizisteninsgesamt keinen Nachteil bedeuten.

Die nachbessernde Regelung des § 19 b BBesG ist imLichte einer verbesserten Durchlässigkeit vom Landes-in den Bundesdienst zu begrüßen. Sie wäre allerdingsvermeidbar gewesen, wenn man sich nicht vor einigenJahren in einer anderen Regierungskoalition auf dieÜbertragung der Besoldungshoheit für Landes- undKommunalbeamtinnen und -beamte auf die Länder unddamit auf die Schaffung eines besoldungsrechtlichenFlickenteppichs verständigt hätte.

Meine Fraktion erkennt die Bemühungen der Bundes-regierung an, die Attraktivität und Zukunftsfähigkeit desöffentlichen Dienstes des Bundes zu verbessern. Das istein richtiger Schritt. Zweifellos gehen einzelne Maßnah-men des uns heute vorliegenden Gesetzentwurfs in dierichtige Richtung und werden von mir und meiner Frak-

Zu Protokoll gegebene Reden

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Dr. Konstantin von Notz

tion daher ausdrücklich begrüßt. Dennoch reichen dievon Ihnen angestoßene Reformschritte bei Weitem nichtaus.

Meine Fraktion und ich werden uns im Zuge der an-stehenden Verhandlungen in den Fachausschüssen füreine Reform des Dienstrechts einsetzen, die sowohl imSinne der Bediensteten als auch im Sinne der Steigerungder Attraktivität der Beschäftigung im öffentlichenDienst insgesamt ist. Der vorliegende Gesetzentwurfbietet hierfür eine erste Diskussionsgrundlage.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-

wurfs auf Drucksache 17/7142 an die in der Tagesord-nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Siedamit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist das sobeschlossen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 19 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Menschenrechte undHumanitäre Hilfe (17. Ausschuss) zu dem Antragder Abgeordneten Katrin Werner, Jan van Aken,Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter undder Fraktion DIE LINKE

Menschenrechte und Friedensprozess in SriLanka fördern

– Drucksachen 17/2417, 17/4699 –

Berichterstattung:Abgeordnete Jürgen KlimkeChristoph SträsserSerkan TörenKatrin WernerVolker Beck (Köln)

Jürgen Klimke (CDU/CSU): Die Situation in Sri Lanka beschäftigt uns im Deut-

schen Bundestag bereits zum wiederholten Mal und diesaus gutem Grund:

War es zunächst der anhaltende Bürgerkrieg, der seit1983 zwischen den tamilischen Liberation Tigers of Ta-mil Eelam (LTTE) und der singhalesischen Regierungtobte und der im Jahr 2009 mit einem Sieg der Regie-rung endete, so ging es danach vor allem um die Lageder tamilischen Bevölkerung und ganz besonders um dieBinnenvertriebenen, die anfangs in einer Zahl von meh-reren hunderttausend Menschen in Lagern interniertwaren und deren humanitäre Situation prekär war undfür die dort verbliebenen Menschen wohl auch immernoch ist. Diese Unterbringung in Lagern ist eine völker-rechtswidrige Maßnahme, weshalb seit 2010 zunehmendder Druck der internationalen Gesellschaft auf die Frei-lassung der Menschen gestiegen ist.

Ich selbst beschäftige mich intensiv mit der Situationvor Ort und bin mehrfach selbst in Sri Lanka gewesen,zuletzt im März dieses Jahres. Mein Eindruck ist dabeiinsgesamt zweischneidig:

Einerseits ist nicht zu leugnen, dass es auch weiterhinmassive Menschenrechtsverletzungen gibt, andererseitsist schon seit längerer Zeit eine positive Entwicklungfestzustellen, einen Willen der Regierung, die unerträg-lichsten Verletzungen der Menschenrechte in Sri Lankaabzustellen. Letztes augenfälliges Indiz dafür ist die Auf-hebung der Notstandsgesetze durch die Regierung EndeAugust dieses Jahres, nachdem diese für fast 30 Jahre inKraft waren. Dadurch wurde der Polizei zumindest dasRecht entzogen, umfassende Maßnahmen gegen die Ta-milen in Form von Wohnungsdurchsuchungen und will-kürlichen Verhaftungen zu vollziehen. Allerdings bestehtbei fast allen Beobachtern Einigkeit, dass die Anstren-gungen noch erhöht werden müssen und eine wirklichepolitische Integration der tamilischen Bevölkerungsmin-derheit nicht die allerhöchste Priorität genießt.

Positive Entwicklungen sind – neben dem Ende derNotstandsgesetze – in verschiedenen Bereichen sichtbar.Besondere Anerkennung verdienen Infrastrukturpro-jekte im Norden des Landes sowie die bereits weit voran-geschrittene Auflösung der Flüchtlingslager. Von denBinnenvertriebenen sind von den ursprünglich 300 000Lagerinsassen nur noch maximal 20 000 übrig, in denSonderlagern, in denen die mutmaßlichen LTTE-Kämp-fer gefangen waren, sind inzwischen 6 500 Menschenfreigelassen worden, die restlichen 5 500 Personen sol-len bis auf 800 Gefangene ebenfalls alle befreit werden.Den Übrigen soll der Prozess vor Gericht gemacht wer-den.

Die Auflösung der Lager kann jedoch nur ein ersterSchritt zur Verbesserung der Gesamtsituation sein.Langfristig muss die politische Integration der tamili-schen Bevölkerung weiter vorangetrieben werden. Hiermuss insbesondere die Regierung grundlegende Ände-rungen verinnerlichen und vor allem auch durchsetzen.Dabei geht es in erster Linie darum, den Friedenspro-zess mit der tamilischen Bevölkerungsminderheit voran-zubringen. Denn die Beendigung des Bürgerkriegsdurch die sri-lankischen Regierungstruppen hatte leiderbisher noch nicht die Versöhnung mit den tamilischenRebellen zur Folge. Vielmehr besteht die Gefahr einerlangfristigen Benachteiligung der Tamilen insgesamt.Deshalb muss es nun zur obersten Priorität des Regie-rungshandelns werden, die beiden Lager wieder mitei-nander in Einklang zu bringen. Nur so wird es für SriLanka möglich sein, endgültig mit der langen Zeit desBürgerkriegs abzuschließen und einen neuen demokrati-schen und friedlichen Staat zu errichten.

Von großer Hilfe bei der Versöhnung zwischen Tami-len und Singhalesen ist die Kirche, welche im Nordenund Süden des Landes vertreten ist. Allerdings mussauch die Regierung aktiv an der Integration der Minder-heit arbeiten. Ein erster Schritt wäre die stärkere Aner-kennung der tamilischen Sprache und die Verfassungder gemeinsamen Hymne der Tamilen und Singhalesenin eben dieser Sprache zur Förderung der Gleichberech-tigung der ethnischen Gruppen. Wir fordern im Rahmendieser Anregungen auch das Zugeständnis von ausführ-lichen Minderheitenrechten für die bisher diskriminier-ten Tamilen.

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Jürgen Klimke

Die sri-lankische Regierung muss sich neben der In-tegration der tamilischen Bevölkerung auch noch stär-ker für den tatsächlichen Erhalt grundsätzlicher Men-schenrechte einsetzen, um international wieder mehrAnerkennung zu finden. Zurzeit werden in Sri LankaMenschenrechte noch immer massiv missachtet. Es wirdein organisiertes „Verschwindenlassen“ von Menschenbetrieben und die Todesstrafe bleibt weiterhin legal.

Ausgesprochen problematisch ist auch die Lage derWitwen der ehemaligen LTTE-Kämpfer im Norden undOsten des Landes. Diese leiden nicht nur unter grundle-genden Problemen wie dem Mangel an einer Unterkunft,sondern auch unter gesellschaftlicher Ausgrenzung. Da-rüber hinaus ist es ihnen aufgrund ihrer katastrophalenSituation unmöglich, ihr Leben in die eigenen Hände zunehmen. In ihrer Verzweiflung sehen viele nur einenAusweg in der Prostitution; die Selbstmordrate unter ih-nen ist offenbar ebenfalls besorgniserregend hoch. Umdie Lage dieser Witwen nachhaltig zu verbessern ist da-her offensichtlich auch die Unterstützung durch psycho-logische Hilfe gefragt. Dies wird von der Regierung al-lerdings bislang nicht akzeptiert. Bisher hat dieRegierung auch keinerlei Vorkehrungen bezüglich derfinanziellen Unterstützung der Witwen getroffen. Ledig-lich Nichtregierungsorganisationen und Kirchen helfen.

Ein weiteres Thema ist die unzureichende Gesund-heitssituation in den tamilischen Gebieten. Das ist sienicht nur, weil die Versorgung vor Ort insgesamt nochverbesserungswürdig wäre, sondern vor allem auch,weil die zuständigen Ärzte oft nicht die Sprache der Be-völkerung sprechen können. Sie werden von der Regie-rung in die tamilischen Gebiete geschickt, ohne vorherderen Sprache zu erlernen.

Neben diesen Fragen der wirtschaftlichen und sozia-len Rechte gibt es aber auch noch erhebliche Defizite beiFreiheits- und Bürgerrechten:

Menschenrechtsverteidiger und Journalisten, welchedie Situation kritisch beobachten und bewerten, werdenzunehmend bedroht und unter Druck gesetzt. Die Ver-brechen der Kriegsparteien bleiben straflos und die Re-gierung lehnt unabhängige Untersuchungen dieser Ver-brechen durch UN-Experten ab. Wir wissen, dass zumBeispiel die Bedingungen in den „Sonderlagern“, in de-nen die mutmaßlichen LTTE-Kämpfer inhaftiert sind,katastrophal und unmenschlich sind und dringend hu-manitäre Hilfe vonnöten wäre. Es ist uns aber schlicht-weg unmöglich, diese Hilfe zu leisten, da die sri-lanki-sche Regierung internationalen Hilfsorganisationen wiezum Beispiel dem Roten Kreuz den Zutritt noch immerverweigert.

Vonseiten der UN und Deutschlands werden dieseMenschenrechtsverletzungen scharf verurteilt. Ich for-dere deshalb ausdrücklich, dass Menschenrechtsbeob-achter und Journalisten endlich Zugang zu den tamili-schen Gebieten und den Lagern bekommen, damit dieinternationale Gemeinschaft sich ein genaues Bild derLage machen und den Betroffenen in einem zweitenSchritt dann auch endlich humanitäre Hilfe zukommenlassen kann. Wir appellieren daher an die sri-lankischeRegierung, in Zukunft eng mit den Vereinten Nationen

zusammenzuarbeiten sowie die Genfer Konvention ein-zuhalten.

Bis zur konkreten Umsetzung dieser Forderungenwird Deutschland die Aufstockung seiner Entwicklungs-hilfe für Sri Lanka weiterhin nicht vornehmen und SriLanka den Status als vollständiges Partnerland nicht zu-erkennen. Neben dieser direkten Sanktion von deutscherSeite hat auch die Europäische Union die Handelsvor-teile für Sri Lanka suspendiert, um die Einhaltung derMenschenrechte einzufordern. Ich unterstütze dieseMaßnahmen, bilden sie doch einen Hebel, um Verbesse-rungen herbeizuführen. Vielleicht haben sie sogar Ein-fluss auf die jetzt erfolgte Aufhebung der Notstandsge-setze gehabt.

Trotzdem ist es wichtig, die Arbeit mit Sri Lanka aufanderer Ebene fortzusetzen. In diesem Zusammenhangmöchte ich ausdrücklich die intensive Arbeit der deut-schen Botschaft in Colombo loben und auf das Engage-ment der Helmut-Kohl-Stiftung für ein deutsches Kran-kenhaus verweisen, das wahrscheinlich von der KfWgefördert wird.

Uns ist bewusst, dass neben diesen unmittelbarenMaßnahmen zur Verbesserung der humanitären Situa-tion auch die Verbesserung der wirtschaftlichen Lagevon großer Wichtigkeit ist. Nicht zu unterschätzen ist da-bei der Einfluss Chinas und Indiens, zweier Länder, dieunter anderem bei der Finanzierung von Behausungeneine große Rolle spielen. China unterstützt darüber hi-naus auch die Infrastruktur des Landes.

Äußerst relevant ist dabei neben der schnellstmögli-chen Schaffung von Erwerbsmöglichkeiten auch die Be-reitstellung von Wohnraum. Die Errichtung von dauer-haften Behausungen ist insbesondere angesichts deranstehenden Monsunzeit von elementarer Bedeutung.Bislang sind dies neben der schlechten Versorgungslageder rückgesiedelten Bevölkerung die größten Probleme.Darüber hinaus bekommen Familien, die keinen Land-besitz nachweisen können, bislang von der Regierungnur wenig Unterstützung. Die Frage des Landbesitzesmuss daher umgehend geklärt werden, damit die ver-bliebenen Menschen aus den Lagern entlassen und sichnach der langen Zeit des Bürgerkriegs endlich wiedereine Existenz aufbauen können. Eine mögliche Maß-nahme wäre auch hier die Einführung von Mikrokredi-ten, da der Regierung und der Bevölkerung das Geldfehlt, die Situation der Menschen nachhaltig zu verbes-sern.

Eine Schlüsselrolle könnte bei der wirtschaftlichenEntwicklung auch der Tourismus einnehmen. Sri Lankaist eine bekannte Tourismusdestination, die unter ande-rem auch bei deutschen Urlaubern sehr beliebt ist. DerTourismus bietet die Möglichkeit, mit relativ geringenVoraussetzungen und überschaubaren Investitionennachhaltig Arbeitsplätze zu schaffen und im Umfeld desTourismus Wertschöpfungsketten aufzubauen. Bisherwächst der Tourismus jedoch vor allem im Osten und sogut wie gar nicht im von vorwiegend von Tamilen be-wohnten Norden, obwohl es auch hier gute Vorausset-zungen für eine touristische Entwicklung gibt. DieChancen werden auch von Vertretern der Tamilen selbst

Zu Protokoll gegebene Reden

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Jürgen Klimke

durchaus gesehen und die Hoffnung in den Tourismus istauch hier nicht gering. Ein solcher Prozess der touristi-schen Erschließung muss vor allem auch die sri-lanki-sche Verwaltung unterstützt werden. Das vorhandenePersonal muss unter anderem durch Sprachtrainingsbesser geschult werden und zur besseren Bewältigungder Aufgaben enger mit der Regierung zusammenarbei-ten. Aber auch deutsche Reiseunternehmen und Exper-ten könnten Sri Lanka gerade auf dem Gebiet der Ent-wicklung eines nachhaltigen Tourismus unterstützen.

Dem Antrag der Linken, der die Grundlage der heuti-gen Debatte bildet, der aber bereits vor mehr als einemJahr eingebracht wurde, können wir als CDU/CSU-Fraktion nicht zustimmen, da er aus unserer Sicht veral-tet ist. Die Bundesregierung hat bereits zu den Men-schenrechtsverletzungen in Sri Lanka Stellung genom-men und fordert ebenfalls die Untersuchung dermenschenrechtlichen und demokratischen Verfehlungender Regierung durch eine unabhängige Kommission. Al-lerdings muss vor allem an einem Konzept über die zu-künftige Zusammenarbeit mit der Regierung gearbeitetwerden, die im Interesse der Menschen vor Ort ist. Da-bei ist der richtige Umgang mit der tamilischen Minder-heit besonders wichtig.

Diese Fragen müssen geklärt werden, damit SriLanka nicht weiter in die Arme totalitärer Staaten wieIran oder Myanmar getrieben wird. Letztendlich gilt es,die Situation in Sri Lanka nachhaltig zu verbessern unddie Regierung im Prozess der Demokratisierung und In-tegration der tamilischen Minderheit zu unterstützen,damit in Zukunft die Menschenrechte besser durchsetz-bar und die humanitäre Lage mit internationalen Be-stimmungen vereinbar ist. Unser mittelfristiges Ziel istes deshalb auch, nachdem die Regierung sich aktiv da-für eingesetzt hat, die derzeitigen Menschenrechtsverlet-zungen vor Ort zu beenden, die deutsche Entwicklungs-hilfe wieder zu intensivieren und Sri Lanka dieMöglichkeit zu geben, als vollwertiges Partnerland er-neut anerkannt zu werden.

Wie Sie sehen, ist die Situation in Sri Lanka nichtganz einfach, sondern es gibt zwei Seiten der Medaille:Einerseits muss anerkannt werden, dass durch die Been-digung des lange währenden Bürgerkriegs und die fastabgeschlossene Auflösung der Flüchtlings- und Gefan-genenlager deutliche Fortschritte zu verzeichnen sind,andererseits hat das Land in der Tat noch viele Aufga-ben zu bewältigen. So müssen vor allem die Menschen-rechte und die Integration der tamilischen Bevölkerungeinen höheren Rang auf der Prioritätenliste der sri-lan-kischen Regierung erhalten. Die Aufhebung der Not-standsgesetze begrüßen wir in diesem Zusammenhangausdrücklich. Jetzt gilt es, diese Aufhebung zum Anlasszu nehmen, an einer tatsächlichen Versöhnung sowie derIntegration der tamilischen Minderheit zu arbeiten. Einweiterer Schritt ist dann die wirtschaftliche Entwicklungund Schaffung von Arbeitsplätzen vor allem in den tami-lischen Gebieten.

Diesen Prozess wird Deutschland an der Seite derUNO weiterhin sowohl unterstützend als auch kritischbegleiten.

Angelika Graf (Rosenheim) (SPD): Es ist gut, dass Jagath Dias, der seit 2009 als stellver-

tretender Botschafter der sri-lankischen Vertretung fürDeutschland, die Schweiz und den Vatikan in Berlin no-tifiziert war, nun Mitte September abgezogen wurde. DerVerdienst der deutschen Bundesregierung ist dies aller-dings nicht: Bereits 2009 bei der Notifizierung des Di-plomaten wurde von dem European Center for Constitu-tional and Human Rights e. V., ECCHR, ein Dossierveröffentlicht, in dem Jagath Dias beschuldigt wurde,als Generalmajor der sri-lankischen Armee in derSchlussoffensive gegen die Liberation Tigers of TamilEelam, LTTE/Tamil Tigers, an einem Angriff beteiligtgewesen zu sein, bei welchem nach Berichten der Ver-einten Nationen 40 000 Zivilisten umgekommen sind.Über die Gründe des Abzugs durch die sri-lankische Re-gierung ist allerdings noch nichts bekannt. Da sich nachMedienberichten weder die sri-lankische Botschaft inBerlin noch das Generalkonsulat in Genf dazu äußernwollen, bleibt abzuwarten, was der genaue Anlass ist.Ich hoffe, dass eine ordentliche Strafermittlung derGrund war.

Bisher hat mich die sri-lankische Regierung unterStaatspräsident Mahinda Rajapaksa – das muss ich ehr-lich sagen – unter menschenrechtlichen Gesichtspunk-ten selten positiv überrascht: Nach 25 Jahren Bürger-krieg, der seit 2009 beendet zu sein scheint, stellen wirimmer wieder einen großen Mangel an Menschenrechts-bewusstsein und demokratischer Entwicklung fest.

So sind die von Amnesty behandelten Fälle des ver-schwundenen Pattani Razeek, dem Leiter der sri-lanki-schen Nichtregierungsorganisation Community TrustFund, CTF, oder des regimekritischen Journalisten undKarikaturisten Prageeth Eknaligoda zu nennen. Dassind nur die prominenten Gesichter der Opfer, die es inSri Lanka zu beklagen gilt. Bewaffnete Gruppen, die mitder Regierung verbündet sind, sind weiterhin aktiv undbegehen Menschenrechtsverletzungen, zu denen dasVerschwindenlassen, Töten, Entführen und Foltern vonKritikern gehören. Die Sicherheitsorgane sind ebensofür willkürliche Festnahmen und Inhaftierungen, Folterund extralegale Hinrichtungen verantwortlich. Men-schenrechtsverteidiger und Journalisten werden verfolgtund bedroht, ihre Meinungs- und Versammlungsfreiheitund die aller anderen Bürger sind durch die immer nochgeltenden Notstands- und Antiterrorgesetze stark einge-schränkt.

Die Tamilen werden auch weiterhin ausgegrenzt: Vonden ursprünglich 300 000 binnenvertriebenen Tamilenbefinden sich immer noch circa 20 000 in sogenanntenFlüchtlingslagern. Das Verlassen des Lagers durch dieBetroffenen oder Besuche von internationalen Hilfsor-ganisationen sind aber noch immer schwierig und nurunter Kontrolle des Verteidigungsministeriums möglich.Die Einrichtungen und die Versorgungsmöglichkeitensind nach Berichten dieser Organisationen, zum Bei-spiel des internationalen Roten Kreuzes, noch verbesse-rungsfähig, und die Regierung beeilt sich nicht gerade,die ungeklärten Grundbesitzfragen zu klären oder dieBetroffenen in andere Regionen und vernünftige Unter-künfte umzusiedeln.

Zu Protokoll gegebene Reden

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Angelika Graf (Rosenheim)

Zudem sind von den ehemals 9 000 festgehaltenenmutmaßlichen LTTE-Kämpfern immer noch 1 300 in densogenannten Rehabilitationslagern auf Verdacht inter-niert, ohne dass sie einem ordentlichen Strafverfahrenzugeführt werden. Da internationale Organisationenhier keinen Zutritt haben, können wir die schlimmen Zu-stände nur erahnen.

Große Sorgen bereitet mir daher das bisherige Schei-tern jeglicher Bemühungen der Vereinten Nationen, derEuropäischen Union und der deutschen Bundesregie-rung, welche die sri-lankische Regierung zu einer unab-hängigen und systematischen Aufarbeitung der Verbre-chen während des Bürgerkrieges bewegen wollen. Dabeiwäre dies so dringend geboten, denn die Abwesenheit ei-nes Bürgerkrieges macht noch keinen Frieden.

Die Tamil Tigers haben jahrzehntelang Zivilisten an-gegriffen, Kinder und Jugendliche zwangsweise für denbewaffneten Kampf rekrutiert, Politiker ermordet und inder Endphase des Konfliktes Zivilisten als menschlicheSchutzschilde benutzt. Aber auch die sri-lankische Re-gierungsarmee und verbündete bewaffnete Gruppen ha-ben extralegale Hinrichtungen durchgeführt, gefoltertund Menschen verschwinden lassen; am Ende des Kon-flikts haben sie Wohngebiete von Zivilisten beschossenund deren allgemeine Versorgung in Kampfgebieten fastvollständig zum Erliegen gebracht. Allein in den letztenMonaten der Kämpfe sind Zehntausende Zivilisten vonbeiden Seiten mit Kalkül benutzt und ermordet worden.Bis heute ist dafür niemand zur Verantwortung gezogenworden – Aufklärung und die Haftbarmachung der Ver-antwortlichen ist daher dringend geboten.

Die aktuelle Angstorganisation durch die Staatsor-gane mithilfe extralegaler Gewalt und Repression, kom-biniert mit dem fehlenden Willen zur Aufarbeitung derKriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Mensch-lichkeit auf beiden Seiten, führt bisher zwar noch nichtzu einem erneuten Ausbruch des Bürgerkrieges, dochmehr als einen faulen Frieden haben wir in Sri Lankabisher nicht. Ohne ehrliche Aufarbeitung besteht kaumeine Chance darauf, dass es ein nachhaltiger Friedenwird. Das wissen wir aus eigener Erfahrung.

Der vorliegende Antrag der Linken thematisiert diesauch und geht prinzipiell in die richtige Richtung, aller-dings geht er teilweise von falschen Zahlen aus und istveraltet. Ich unterstreiche deshalb die dem Bundestagvorliegende Entschließung des Europäischen Parlamen-tes, P7_TA-PROV(2011)0242. Diese bezieht sich aufden Bericht der von VN-Generalsekretär Ban Ki-mooneingesetzten Expertengruppe zur Klärung der Frage derVerantwortlichkeiten für die Kriegsverbrechen. Mit dendarin gemachten Empfehlungen können in Übereinstim-mung mit der im Mai 2009 abgegebenen Erklärung dessri-lankischen Präsidenten Rajapaksa und VN-General-sekretär Ban Ki-moon die Verantwortlichen zur Rechen-schaft gezogen werden.

Daher mein dringender Apell an die Bundesregie-rung: Nehmen Sie ihre Verantwortung in Europa wahrund sprechen Sie über die Notwendigkeit der Aufarbei-tung und Demokratisierung mit der sri-lankischen Re-gierung! Vielleicht tut die sri-lankische Regierung mit

dem anfangs zitierten Fall des stellvertretenden Bot-schafters einen ersten wichtigen Schritt. Also, bitte nut-zen Sie auch den Wechsel in der Botschaft – hoffentlichhin zu jemandem, der nicht in diesen blutigen Konfliktinvolviert war – zur Chance auf einen neuen konstrukti-ven Austausch!

Serkan Tören (FDP):Wie aus der Beschlussempfehlung ersichtlich, lehnen

wir als FDP-Bundestagsfraktion den Antrag „Men-schenrechte und Friedensprozess in Sri Lanka fördern“der Fraktion Die Linke ab.

In der Tat ist die menschenrechtliche Situation in SriLanka nach wie vor höchst unbefriedigend. Wir habenwährend der Kriegshandlungen das inhumane Vorgehender Regierung und der Armee Sri Lankas sowie die sys-tematischen Menschenrechtsverletzungen scharf verur-teilt. Weiterhin sind Tausende Tamilen unter menschen-unwürdigen Bedingungen in Lagern eingesperrt.Internationale Beobachter haben keinen Zugang.

Richtigerweise setzt sich die Bundesregierung weiter-hin mit der Europäischen Union als Ganzes für eineVerbesserung der Situation ein. Dies betrifft eine Unter-stützung der Situation in den Lagern sowie einen umfas-senden Versöhnungsprozess in Sri Lanka insgesamt.

Aus Sicht der FDP-Bundestagsfraktion muss es vonder Regierung in Sri Lanka eine Verbesserung der men-schenrechtlichen Situation im Land auf verschiedenenEbenen geben. So fordern wir von der Regierung in SriLanka die Stärkung der Presse-, Meinungs- und Infor-mationsfreiheit.

Internationale und nationale Menschenrechtsorgani-sationen in Sri Lanka sehen sich nach wie vor staatli-chem Druck ausgesetzt. Der bisher existierende Ausnah-mezustand gibt den Sicherheitskräften weit gehendeRechte.

Zwar gibt es Bemühungen der Regierung in SriLanka, Infrastrukturprojekte im Bürgerkriegsgebiet imNorden des Landes zu errichten. Auch wird die Entlas-sung des großen Teils der Binnenvertriebenen aus men-schenrechtswidrigen Lagern vorangebracht. Sorge be-reiten uns allerdings die schlechte Versorgungslage undmangelnde Erwerbsmöglichkeiten der rückgesiedeltenBevölkerung. Die vielfach ungeklärte Frage des Land-eigentums wird aus unserer Sicht dadurch verschärft,dass die Armee noch Gebiete als Hochsicherheitszonenbesetzt hält. Eine überzeugende politische Integrationder tamilischen Bevölkerungsminderheit muss oberstePriorität der Regierung in Sri Lanka sein.

Als FDP unterstützen wir die Arbeit der von UN-Ge-neralsekretär Ban Ki-Moon ernannten dreiköpfigen in-ternationalen Expertengruppe, um die Verantwortlich-keit für Kriegsverbrechen, die während des bewaffnetenKonflikts in Sri Lanka begangen worden sind, zu unter-suchen. Wir fordern die Regierung von Sri Lanka auf,dabei eng mit den Vereinten Nationen zusammenzuar-beiten. Auch unterstützen wir die Forderung der Bun-desregierung, die Frage der mangelnden Untersuchungvon Menschenrechtsverletzungen durch die sri-lanki-

Zu Protokoll gegebene Reden

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Serkan Tören

sche Regierung gemeinsam mit den Partnern der Euro-päischen Union auf der Tagesordnung des Menschen-rechtsrates der Vereinten Nationen zu halten.

Als FDP-Bundestagsfraktion halten wir in der Ana-lyse den Antrag der Linken in vielen Punkten für richtig.Jedoch sind die vorgeschlagenen Konsequenzen desForderungsteils für die FDP zum Teil nicht tragbar. Da-rüber hinaus werden die im Antrag geforderte Verbesse-rung der Menschenrechte und der Friedensprozess inSri Lanka durch das Handeln der Bundesregierung be-reits gefördert.

So postuliert die Linke in Forderung 9 die Einrich-tung eines dauerhaften und transparenten Monitoringsfür in Sri Lanka tätige deutsche Unternehmen und ihreZulieferbetriebe. Dies soll gelten für die Einhaltung derdort geltenden Arbeitsgesetzgebung, die Achtung derArbeitnehmerrechte sowie die geltenden ILO-Konven-tionen. Auch sollen Umwelt-, Arbeits- und Sozialstan-dards entsprechend dem Pakt über die wirtschaftlichen,sozialen und kulturellen Rechte, UN-Sozialpakt, durch-gesetzt werden. All dies soll gemäß den Linken dann ineinen entsprechenden Bericht an den Deutschen Bun-destag gesandt werden.

Die FDP hält dies für überflüssig, da das geforderteMonitoring bereits durch die jeweiligen Organisationenerfolgt. So wird zum Beispiel die Einhaltung der ILO-Normen durch die ILO überwacht. Die progressive Ver-wirklichung und Umsetzung der WSK-Rechte des UN-Sozialpaktes werden durch den UN-Ausschuss für wirt-schaftliche, soziale und kulturelle Rechte, CESCR, kon-trolliert. Es ist nicht ersichtlich, warum hier auf nationa-ler Ebene dauerhaft Doppelstrukturen aufgebaut werdensollen.

In Forderung 11 wird ein genereller Abschiebestoppfür Flüchtlinge aus Sri Lanka gefordert. Eine solcheForderung hat die FDP zwar im Jahr 2007 noch mitge-tragen, zwischenzeitlich hat sich die Lage jedoch geän-dert. Der Bürgerkrieg ist, wie der Antrag korrekt aus-führt, offiziell beendet worden. Daher ist ein generellerAbschiebestopp nicht mehr angebracht. Vielmehr isteine Einzelfallprüfung vonnöten, um jeweils zu überprü-fen, ob Menschenrechtsverletzungen tatsächlich vorlie-gen oder zu befürchten sind.

Ferner engagiert sich das FDP-geführte BMZ in SriLanka im Rahmen einer angepassten Strategie zur Ent-wicklungszusammenarbeit. Die Vorhaben im Land wer-den konfliktsensibel gestaltet und auf ausgewieseneArmutsregionen konzentriert. Die Menschenrechtsdi-mension in Post-Konfliktregionen wird damit gestärkt.So ist einer der Themenschwerpunkte der laufendendeutschen Kooperation die Stärkung von Friedensinitia-tiven auf verschiedenen Interventionsebenen. Auch för-dert das BMZ eine Friedenserziehung, den Wiederauf-bau sowie Good Governance und die nachhaltigeWirtschaftsentwicklung in Armutsregionen.

Die Förderung der Menschenrechte und des Frie-densprozesses wird durch das Regierungshandeln derBundesregierung folglich bereits vorangetrieben. Aus

den oben genannten Gründen wird daher der Antrag derLinken von der FDP-Bundestagfraktion abgelehnt.

Katrin Werner (DIE LINKE): Ich möchte mit etwas Erfreulichem beginnen: Jagath

Dias, Ex-Generalmajor der sri-lankischen Streitkräfte,dem Kriegsverbrechen vorgeworfen werden, wurde alsVizebotschafter für Deutschland, die Schweiz und denVatikan abberufen. Der Pressemitteilung des ECCHRvom 22. September 2011 zufolge hat die schweizerischeBundesanwaltschaft angekündigt, im Fall seiner Wie-dereinreise ein förmliches Ermittlungsverfahren einzu-leiten. In Deutschland soll laut ECCHR ein Vorermitt-lungsverfahren gegen ihn eröffnet worden sein.

Dies sind gute Nachrichten für alle, die sich dafüreingesetzt haben, dass ein mutmaßlicher Kriegsverbre-cher bei uns keinen Unterschlupf findet. Ich möchte da-her an dieser Stelle im Namen der Linksfraktion demECCHR ausdrücklich Dank sagen, dass er mit seinemumfassenden Dossier einen maßgeblichen Beitrag fürdiesen Erfolg geleistet hat!

Für die Bundesregierung bedeutet die Entwicklungim Fall Dias allerdings eine schallende Ohrfeige. Kolle-ginnen und Kollegen aus meiner Fraktion wie auch ausanderen Fraktionen hatten seinerzeit die Bundesregie-rung gebeten, ihm bis zur Entkräftung der Vorwürfekeine Akkreditierung und damit diplomatische Immuni-tät zu gewähren. Es gab zudem genügend kritischeNachfragen und eindeutige Hinweise aus der tamili-schen Diaspora und von Menschenrechtsorganisatio-nen, dass die von Dias befehligte 57. Division inschwerste Menschenrechtsverletzungen verwickelt ge-wesen war. Nach Schätzungen der Vereinten Nationenwurden während der Schlussoffensive der sri-lankischenArmee gegen die Rebellen der „Liberation Tigers of Ta-mil Eelam“ auch circa 40 000 Zivilistinnen und Zivilis-ten getötet. Dennoch hat die Bundesregierung all diesignoriert und damit zumindest indirekt Beihilfe dazu ge-leistet, dass ein mutmaßlicher Kriegsverbrecher sich in-ternationaler Strafverfolgung entziehen konnte. Das istein politischer Skandal ersten Ranges!

Als Konsequenz muss zukünftig bereits im Visaverfah-ren für diplomatisches Botschaftspersonal etwaigenVorwürfen internationaler Kriegsverbrechen nachge-gangen werden. Sofern der Entsendestaat oder interna-tionale Strafverfolgungsbehörden noch keine Ermittlun-gen aufgenommen haben, muss die Bundesanwaltschaftgegebenenfalls auch eigene Vorermittlungen durchfüh-ren. Nur so lässt sich ein Wiederholungsfall verhindern.

In Sri Lanka selbst herrscht weiterhin ein allgemeinesKlima der Straflosigkeit für Kriegsverbrechen und Men-schenrechtsverletzungen vor. Die politische Führungunter Präsident Rajapaksa hat zwar im Bürgerkriegmilitärisch gesiegt, ein echter Friedens- und Versöh-nungsprozess zwischen Singhalesen und Tamilen hataber bislang nicht stattgefunden. Hierfür müssen die un-mittelbaren wirtschaftlichen und sozialen Lebensgrund-lagen für die tamilische Bevölkerung in den früherenKampfgebieten wiederhergestellt und die Ursachen desKonflikts beseitigt werden. Dies betrifft den Wiederauf-

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Katrin Werner

bau von zerstörten Häusern und Schulen, die Versor-gung mit Trinkwasser und Energie, die humanitäreMinenräumung und die Wiedernutzbarmachung derlandwirtschaftlichen Anbauflächen für die Reisproduk-tion. Insbesondere verwitwete und alleinerziehendeFrauen, die während des Krieges Männer und Söhneverloren haben, müssen vor Ausgrenzung und Armut ge-schützt werden. Die Linke fordert die Bundesregierungauf, sich in diesem Bereich mit zusätzlichen Entwick-lungshilfen, personeller und finanzieller Projektunter-stützung und technischem Know-how stärker zu enga-gieren. Darüber hinaus sollte sie die Regierung SriLankas auch bei der politischen und gesellschaftlichenKonfliktlösung unterstützen.

Ohne eine öffentliche Aufarbeitung des Kriegsge-schehens und die Bestrafung von begangenen Kriegs-verbrechen ist ein Friedensprozess kaum denkbar. Diesgilt für Kriegsverbrechen aller Seiten: der Regierung,der Paramilitärs und der Rebellen. Aus diesem Grundhält Die Linke an ihrer Aufforderung an die Bundesre-gierung fest, dass der Druck auf Sri Lanka erhöht wer-den muss, damit unabhängige internationale Untersu-chungen stattfinden und die Regierung in Colombo diesnicht ihr genehmen „Experten“ überlässt.

Ich will an dieser Stelle in aller Klarheit sagen: DieLinke kritisiert die jahrzehntelange staatliche Unterdrü-ckungspolitik gegen die tamilischen Bevölkerung in SriLanka. Gleichzeitig war, ist und bleibt Die Linke diePartei des Völkerrechts und der friedlichen Konfliktlö-sung. Wie dies schon am Beispiel des Kosovo zu erken-nen war, wenden wir uns entschieden gegen einseitigeSezessionen. Diese sind Teil des Problems und nicht derLösung. Für die Beilegung von Nationalitätenkonfliktenbietet das Völkerrecht vielfältige und geeignete Mög-lichkeiten zum Schutz von Minderheiten, wie beispiels-weise kulturelle und politische Autonomierechte.

Aus unserer Sicht ist im Fall Sri Lankas daher aucheine Amnestie für einfache Mitglieder und Sympathisan-ten der Rebellen geboten, um den innergesellschaftli-chen Aussöhnungsprozess zu unterstützen. Die früherenKriegsteilnehmer und Kindersoldaten brauchen zivileberufliche Perspektiven und nachholende Berufsqualifi-zierungsmaßnahmen zur Wiedereingliederung in die sri-lankische Gesellschaft. Die tamilische Bevölkerung be-nötigt insgesamt einen gleichberechtigten Zugang zu so-zialen Grunddiensten, vor allem bei Bildung und Ge-sundheit, bei Berufs- und Karrierechancen auch in derstaatlichen Verwaltung, und einen wirksamen Schutz vorDiskriminierung insbesondere beim Gebrauch der eige-nen Sprache.

Die tamilische Diaspora in Deutschland gehört mitzu den am besten integrierten Migrantengruppen über-haupt. Zahlreiche Tamilinnen und Tamilen sind beruf-lich sehr erfolgreich und verfügen über ein hohesBildungsbewusstsein. Gleichzeitig bestehen verständli-cherweise noch häufig enge familiäre Bindungen an dasHerkunftsland. Ich möchte nicht, dass hier lebende Ta-milinnen und Tamilen sich aus Enttäuschung und Ver-zweiflung über die Zustände in Sri Lanka politisch radi-kalisieren. Die Bundesregierung kann hierzu einen

Beitrag leisten, indem sie auf diplomatischer Ebene denberechtigten Anliegen der tamilischen Bevölkerung Ge-hör verschafft und eine friedliche Konfliktlösung unter-stützt. In diesem Sinne sollten Sie unserem Antrag zu-stimmen.

Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die rund 37 Jahre währenden bewaffneten Auseinan-

dersetzungen in Sri Lanka zwischen den LiberationTigers of Tamil Eelam, LTTE, und der Regierung sind imFrühjahr 2009 zu einem Ende gekommen. Durch dieKämpfe starben etwa 100 000 Menschen, darunter lautAmnesty International mindestens 10 000 Zivilisten, diewährend der letzten Monate des Bürgerkriegs, zumeistdurch Artilleriebeschuss der Armee, getötet wurden.Auch Krankenhäuser, UN-Einrichtungen und Rot-Kreuz-Schiffe wurden gezielt beschossen. Normalitätherrscht in Sri Lanka nun auch zweieinhalb Jahre nachdem Krieg noch nicht. Die Presse-, Meinungs- und In-formationsfreiheit ist stark eingeschränkt. Journalistin-nen und Journalisten und NGO-Aktivistinnen und -Akti-visten verschwinden spurlos. Der Ausnahmezustandwird monatlich durch das sri-lankische Parlament ver-längert. 3 000 Menschen sind weiterhin aufgrund vonAnti-Terror-Gesetzen ohne Anklage inhaftiert.

Die Untersuchung von Kriegsverbrechen der sri-lan-kischen Armee durch eine Regierungskommission ist aufallen Ebenen lückenhaft. Der bereits erschienene Zwi-schenbericht der Lessons Learnt and ReconciliationCommission, LLRC, zeigt, dass die Täter weder identifi-ziert noch zur Verantwortung gezogen werden. Fünf deracht LLRC-Mitglieder waren ehemalige Regierungsmit-glieder, die die Regierung vor Vorwürfen wie Kriegsver-brechen verteidigten. Eine unabhängige Aufarbeitungder dramatischen Ereignisse im Norden des Landes lässtdie Regierung von Präsident Mahinda Rajapaksa abernicht zu.

Die Vereinten Nationen setzen sich weiter für eine in-ternationale Untersuchung der Menschenrechtsverlet-zungen während der Schlussoffensive Sri Lankas gegendie Tamil Tigers ein. Generalsekretär Ban Ki-moonüberwies vor wenigen Tagen einen im April dieses Jah-res veröffentlichten Expertenbericht dem Menschen-rechtsrat sowie dem Hochkommissariat für Menschen-rechte. Der Bericht macht Colombo für den TodTausender Zivilisten verantwortlich. Demnach griffenRegierungstruppen vorsätzlich Zivilisten an und verhin-derten den Transport von Lebensmitteln und Medika-menten. Den tamilischen Rebellen wirft der Bericht vor,Zivilisten als Schutzschilde missbraucht und Kinder alsSoldaten rekrutiert zu haben.

Die Aufgabe der Bundesregierung und ihrer Außen-politik ist es an dieser Stelle, ihren politischen und diplo-matischen Einfluss zu nutzen. Denn um diesen Berichtnun tatsächlich in offizielle Debatten der Vereinten Na-tionen einzuführen, wird einige Überzeugungsarbeitnotwendig sein. Auch in der 18. Sitzung des UN-Men-schenrechtsrates hatte die Bundesregierung leider nurvornehme Zurückhaltung geübt, als es notwendig gewe-sen wäre, die Hochkommissarin Navi Pillay in ihrer Kri-

Zu Protokoll gegebene Reden

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Volker Beck (Köln)

tik an der sri-lankischen Regierung zu stützen. Für ihrekritischen Äußerungen zu der Untersuchung der Kriegs-verbrechen und der Menschenrechtslage hatte sie vonsri-lankischer Seite hart einstecken müssen. Und leiderhatte es die Bundesregierung versäumt, ihr in diesemMoment den Rücken zu stärken.

Die gegenwärtige Regierung Sri Lankas scheint nichtzu realisieren, dass ein militärischer Sieg allein nichtzum dauerhaften Frieden führen wird. Eine politischeLösung setzt einen Prozess unter Beteiligung aller Be-völkerungsgruppen voraus. Dies setzt ebenfalls voraus,eine Entwicklungsstrategie mit dem Ziel zu erarbeiten,die großen materiellen Differenzen zwischen dem Südendes Landes und dem Norden bzw. Osten des Landes zuüberwinden. Ohne eine nachhaltige Verbesserung derLebensbedingungen, den angemessenen Zugang zu Bil-dung und Gesundheit sowie verbesserten Leistungen imWasser- und Energiebereich wird keine dauerhaft fried-liche Entwicklung zu erreichen sein. Für die Bundesre-gierung sowie die Europäische Union ergibt sich darausdie Pflicht, die diplomatischen Beziehungen an Leitli-nien zu knüpfen, die verbindliche und überprüfbareMenschenrechtskriterien aufweisen.

Die Kernforderung des vorliegenden Antrags derLinksfraktion, den internationalen Druck auf die Regie-rung Sri Lankas mit dem Ziel zu verstärken, dass dieKriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen, dievon der Regierung, der Armee, den paramilitärischenGruppen und Rebellen begangen wurden, von einer un-abhängigen Kommission untersucht und die Verantwort-lichen zur Rechenschaft gezogen werden, ist daher abso-lut richtig und unterstützenswert. Wir teilen dieinhaltliche Analyse des Antrages, die weitgehend mitunserer eigenen früheren Einschätzung übereinstimmt,die wir in unserem Antrag, dem Antrag der Fraktion vonBündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Menschenrechtein Sri Lanka stärken“ auf Drucksachennummer 17/124,zum Ausdruck gebracht haben. Wir werden dem Antragder Linken deshalb zustimmen.

Jagath Dias, Generalmajor der sri-lankischen Streit-kräfte während der schrecklichen Schlussoffensive, waranschließend bis September 2011 sri-lankischer Vizebot-schafter für Deutschland, die Schweiz und den Vatikan.Im Januar 2011 hatte das European Center for Constitu-tional and Human Rights, ECCHR, dem AuswärtigenAmt ein umfassendes Dossier vorgelegt, in dem der seitlangem bekannte Vorwurf, Jagath Dias habe eine Viel-zahl von Kriegsverbrechen zu verantworten, minutiösdargelegt wurde. Die Fraktion von Bündnis 90/Die Grü-nen hatte kurz darauf in einer Kleinen Anfrage aufDrucksachennummer 17/6005 nach der Haltung derBundesregierung zu diesen Vorwürfen gefragt. Herauskam in der Antwort auf Frage 9 zumindest, dass derBundesregierung die Vorwürfe aus dem ECCHR-Dos-sier bereits zum Zeitpunkt der Akkreditierung JagathDias’ bekannt waren. Wie es dann zu einer Akkreditie-rung kommen konnte, ist mir schleierhaft. Die Bundesre-gierung hätte diesen Mann nie als Diplomaten inDeutschland akkreditieren dürfen, ihm aber zumindestrasch nach Bekanntwerden solcher Vorwürfe das Diplo-matenvisum entziehen müssen. Dass sie dies nicht getan

hat, war ein politisch und menschenrechtlich miserablesSignal an die sri-lankische Regierung.

Mittlerweile hat die schweizerische Bundesanwalt-schaft angekündigt, bei Wiedereinreise von Jagath Diasein förmliches Ermittlungsverfahren gegen ihn wegender Begehung von Kriegsverbrechen zu eröffnen. InDeutschland wurde bereits ein Vorermittlungsverfahrenzu möglichen Völkerstraftaten während der Endphasedes sri-lankischen Bürgerkrieges eröffnet.

Bis zu seiner Abberufung als Vizebotschafter genossJagath Dias diplomatische Immunität vor einer Straf-verfolgung, die er durch Ausstellung eines Diplomaten-visums in Deutschland erhalten hatte. Ich fordere dahervon der Bundesregierung, Vorwürfen von internationa-len Verbrechen zukünftig bereits im Verfahren der Visa-erteilung für diplomatisches Botschaftspersonal ernst-haft nachzugehen und dabei notfalls auch eigeneErmittlungen anzustellen. Der Fall Dias, in dem durchdie Ausstellung eines diplomatischen Visums eine Straf-verfolgung verhindert wurde, darf sich nicht wiederho-len.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für

Menschenrechte und Humanitäre Hilfe empfiehlt in sei-ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4699, denAntrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/2417abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-lung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Be-schlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitions-fraktionen gegen die Stimmen der Linken und derGrünen bei Enthaltung der SPD angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines NeuntenGesetzes zur Änderung des Bundesvertriebe-nengesetzes

– Drucksache 17/5515 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-schusses (4. Ausschuss)

– Drucksache 17/7178 –

Berichterstattung:Abgeordnete Stephan Mayer (Altötting)Daniela Kolbe (Leipzig)Serkan TörenUlla JelpkeMemet Kilic

Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): Mit dem Entwurf eines Neunten Gesetzes zur Ände-

rung des Bundesvertriebenengesetzes wird heute eineÄnderung des Bundesvertriebenenrechts vollzogen, diein ihrer rein quantitativen Wirkung begrenzt ist. Für dieBetroffenen ist sie jedoch von außerordentlicher undwichtiger Bedeutung. Schließlich geht es für die Betrof-fenen um die Möglichkeit, einen neuen Lebensmittel-punkt zu wählen.

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Stephan Mayer (Altötting)

Die Fälle, in denen schwer kranke Eltern darauf hof-fen, dass die damals im Aussiedlungsgebiet verbliebe-nen Kinder zur Pflege nach Deutschland kommen, sinduns allen bekannt. Uns haben in den vergangenen Mo-naten zahlreiche Petitionen erreicht, die die besonderenSituationen der Betroffenen eindrucksvoll schildern. DiePetitionen belegen die Dringlichkeit und den Bedarf fürdie beabsichtigte rechtliche Anpassung. Es freut mich,dass diese Einschätzung auch weitestgehend von denanderen Fraktionen dieses Hauses geteilt wird.

Mit der Einführung einer neuen Härtefallregelunggibt die christlich-liberale Koalition Ehepartnern undAbkömmlingen von Spätaussiedlern die Möglichkeit,nachträglich bei Vorliegen eines Härtefalls in den Auf-nahmebescheid eines anerkannten Spätaussiedlers auf-genommen zu werden.

Die Gründe, warum man damals zunächst im Aus-siedlungsgebiet geblieben ist, sind sehr verschieden.Dass nun die nachträgliche Einbeziehung rechtlich er-möglicht wird, ist ein äußerst wichtiger Schritt.

Auf die im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens vorge-tragenen Änderungsvorschläge möchte ich nachfolgendnoch einmal detailliert eingehen:

Die im Änderungsantrag des Bundesrates geforderteBefristung des Aufnahmebescheids auf drei Jahre stelltkeine Verbesserung des vorliegenden Gesetzentwurfsdar. Eine untergesetzliche Regelung bezüglich der Be-fristung des Aufnahmebescheids kann deutlich angemes-sener, flexibler und praxistauglicher die spezifische Si-tuation abbilden.

Eine starre Frist im Gesetz ist dafür ungeeignet. DieGültigkeit des Bescheids muss grundsätzlich an das Be-stehen der Härte gebunden sein. Dies sollte entspre-chend im Falle einer andauernden Nichtinanspruch-nahme des Aufnahmebescheids geprüft werden. InAbhängigkeit dieser Prüfung bleibt dann die Gültigkeitdes Aufnahmebescheids bestehen oder sie erlischt.

Ebenfalls vonseiten des Bundesrates wurde der Vor-schlag unterbreitet, die neue Regelung auf „besondereHärten“ zu beschränken. Dies würde jedoch zu einer er-heblichen Einschränkung des Personenkreises führen,und damit für viele Betroffene keine Verbesserung ihrerLebenssituation darstellen. Sinn und Zweck der Ände-rung des Bundesvertriebenengesetzes ist gerade einebreite Lösung, die möglichst viele der unterschiedlichenLebensschicksale erfasst. Die vorgeschlagene Ein-schränkung ist daher abzulehnen.

Auch der Vorschlag der Bundestagsfraktion Bünd-nis 90/Die Grünen, auch die eingetragenen Lebenspart-nerschaften in den Kreis der Begünstigten mit aufzuneh-men, ist im Ergebnis nicht zielführend. Schließlich ist diein Deutschland vorhandene Rechtsform der eingetrage-nen Lebenspartnerschaft in den Aussiedlungsgebieten,insbesondere in Russland und Kasachstan, nicht vor-handen. Die vorgeschlagene Änderung würde somitvollständig ins Leere laufen.

Ebenso verfehlt ist die Forderung, auf die Vorausset-zung der Grundkenntnisse deutscher Sprache für die an-

erkannten Härtefälle zu verzichten. Bereits die Tatsache,dass diese Voraussetzung zu Zeiten der rot-grünen Bun-desregierung in das Gesetz mit aufgenommen wurde,lässt mich an der Ernsthaftigkeit dieses Vorschlags zwei-feln. Es sollte doch politischer Konsens sein, dassGrundkenntnisse der deutschen Sprache von enormerintegrationspolitischer Bedeutung sind. Dieser Ände-rungsvorschlag ist somit schlicht integrationsschädlichund daher abzulehnen.

Insgesamt muss eine Lösung für die bekannt gewor-denen Probleme im Bundesvertriebenengesetz auf derBasis der bisherigen Grundlagen erfolgen. Es müssenweiterhin die bestehenden Strukturen des geltendenRechts beibehalten und fortgeführt werden. Die neueHärtefallregelung ist ein kleiner, aber kunstvoller Ein-griff und kein Systemwechsel im Vertriebenenrecht, sowie es beispielsweise Bündnis 90/Die Grünen in ihremÄnderungsantrag vorgeschlagen haben.

Die Bundesregierung hat einen sehr guten und unter-stützenswerten Gesetzentwurf vorgelegt, der für aufge-tretene Schwierigkeiten im geltenden Recht gute undvertretbare Lösungen anbietet. Die geltende Rechtslagewird durch ihn in angemessener und folgerichtiger Artund Weise fortgeschrieben.

Die christlich-liberale Koalition nimmt sich hiermiteinem der drängendsten Anliegen der Spätaussiedler an,das meiner festen Überzeugung nach die breite Unter-stützung aller politischen Parteien in Deutschland ver-dient und verlangt. Ich kann daher die Kolleginnen undKollegen der Oppositionsfraktionen nur dringend auf-fordern, diesem Gesetzentwurf in der vorliegendenForm ebenfalls zuzustimmen. Sie würden damit unterBeweis stellen, dass auch Sie an einer schnellen Verbes-serung der bewegenden menschliche Schicksale interes-siert und sich der gemeinsamen Verantwortung für dieVertriebenen und deren Lebenssituation bewusst sind.

Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD): Heute erfolgt die Abschlussberatung über den Ent-

wurf eines Neunten Gesetzes zur Änderung des Bundes-vertriebenengesetzes. Wir beschließen eine sinnvolleRegelung für Spätaussiedler. Bisher fehlte im Bundes-vertriebenenrecht eine konkrete Regelung, die es bei-spielsweise dem Ehegatten oder Abkömmling einesSpätaussiedlers ermöglicht, auch nachträglich ins Bun-desgebiet auszusiedeln, wenn ein Härtefall vorliegt.

Heute schaffen wir endlich diese Härtefallregelung,um eben in Zukunft unvertretbare Familientrennungenbei Spätaussiedlern zu vermeiden. Wir schaffen ab heutedie Möglichkeit, auch wenn die Anzahl Betroffener ver-gleichsweise gering ist. Wir schaffen die Möglichkeit,einzelne Härtefälle bei der Aufnahme von Spätaussied-lern zu lösen, die zum Teil dramatische Familientren-nungen zur Folge hatten.

Die Regierung spricht davon, dass dies nur ein paarwenige Fälle betreffe. Nun, in Deutschland leben mitt-lerweile rund 2,4 Millionen Spätaussiedler. Und ja, viel-leicht betrifft diese Änderung nur eine Handvoll. Viel-leicht. Diese Gesetzesänderung, denke ich, wird jedoch

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Daniela Kolbe (Leipzig)

für den Einzelnen, den es betrifft, wie beispielsweise deneinen oder anderen Deutschen in der ehemaligenSowjetunion, eine sehr persönliche und sehr wesentlicheBedeutung haben. Für den einzelnen Betroffenen istdiese Änderung mehr als nur überfällig und kann hof-fentlich jahrelange Trennungen und Leid heilen.

Meine Kollegen aus dem Petitionsausschuss habenmir in etlichen intensiven Gesprächen berichtet, wieviele Petitionen allein hierzu beim Deutschen Bundestaganhängig sind, welche Schicksale einzelner Familiendahinterstehen. Daher verbinde ich mit dem heute zuverabschiedenden Gesetzentwurf auch die Hoffnung,dass einige von diesen Schicksalen positiv abgeschlos-sen werden können.

Daher begrüßen wir auch als SPD die Bemühung derBundesregierung, für die Betroffenen Abhilfe zu schaf-fen.

Dennoch, zwei kritische Anmerkungen muss ich ma-chen; denn dies ist wieder so typisch für diese Bundesre-gierung. Zum Beispiel der Punkt Lebenspartnerschaf-ten. Was ich nicht verstehe, meine Damen und Herrenvon CDU/CSU und FDP, ist die Tatsache, dass Sie wie-der nur halbe Sachen machen. Warum werden Lebens-partner, so wie es ein Antrag der Grünen vorsieht, undzwar zu Recht vorsieht, nicht mit einbezogen? Warummüssen Sie immer an der heutigen Lebensrealität und ander der Menschen vorbeiregieren?

Wir haben seit dem 1. August 2001 ein Lebenspart-nerschaftsgesetz in Deutschland, das mehrfach von Ent-scheidungen des Bundesverfassungsgerichts gestütztwurde, gerade auch in der jüngsten Vergangenheit, indenen vielfach die Lebenspartnerschaft mit der Ehegleichgesetzt wird. Darum frage ich mich: Warum leh-nen Sie eine derartige Regelungen ab? Das ist realitäts-fremd. Ich kann Sie nur auffordern, hier aufzuwachenund noch einmal nachzubessern.

Ein anderer Punkt, der mir aufgestoßen ist, ist dieFrage nach den Spracherfordernissen im Härtefall.Auch hier kann ich Sie nur auffordern, noch einmalnachzudenken; denn auch hier verkennen Sie die Reali-tät der Betroffenen. Ich kann die Grünen nur unterstüt-zen. Gerade ältere Menschen oder Menschen aus bil-dungsfernen Schichten ist der Spracherwerb im Auslandoftmals nicht möglich oder kostet sie Unsummen, wasnicht heißt, sie sollen nicht Deutsch lernen. Im Gegen-teil. Aber sie sollen es vernünftig können und qualifi-ziert. Hierfür ist aber ein Deutschkurs in Deutschlandsinnvoller und effektiver als einer im Ausland.

Einen letzten Punkt, den ich noch für weiterhin dis-kussionswürdig erachte, ist der Punkt Integration; dennman kann nicht auf der einen Seite fordern, die Men-schen müssen und haben sich zu integrieren, wenn mannicht auf der anderen Seite dafür Sorge trägt, dass dieMenschen das auch können. Allein wenn ich an dasheute verabschiedete Gesetz zur Anerkennung ausländi-scher Bildungsabschlüsse denke, fehlt mir der Glaube.Das gut gemeinte Gesetz allein zeigt: Von Ihnen sind nurBabysteps, Babyschritte, zu erwarten. Mit diesem Gesetzschaffen Sie es weder Hunderttausenden von Betroffe-

nen zu helfen und den Fachkräftemangel in Deutschlandwirksam zu beseitigen noch ein schlüssiges Gesamtkon-zept vorzulegen. Ein mutiges und gutes Gesetz wäre aberdringend nötig. Bereits heute können wegen des beste-henden Anerkennungschaos bis zu 500 000 Menschenmit im Ausland erworbenen Qualifikationen nicht in ih-ren Berufen arbeiten.

Das Gleiche gilt für die Diskussion um die Kosten vonIntegrationskursen. Auch hier fehlt Ihnen jegliches Kon-zept. Ihr Konzept lautet: Geld sparen bei denen, die sichnicht wehren. Dass aber auch die Lehrkräfte darunterleiden, weil sie zu Dumpinglöhnen arbeiten müssen,scheint für Sie nur ein leidiger Kollateralschaden zusein. Ich kann Sie nur vehement auffordern und an Sieappellieren, hier endlich nachzubessern. Bessern Siehier bei den Honoraren nach, damit auch die Lehrkräfteentsprechend entlohnt werden.

Auch die unter diese Novellierung fallenden Spätaus-siedler nehmen Integrationskurse in Anspruch. Das be-deutet, im Punkt Haushaltsmittel für Integrationskursemuss schleunigst nachgebessert werden, sehr geehrteBundesregierung. Ich kann nur schlicht sagen: Ich binüberrascht, dass Sie hier keine weiteren Kosten erwar-ten.

Ich kann mich nur wiederholen: Sie rechnen mit einerMindestzahl von 5 000 Härtefallanträgen. Das wirktsich auch auf Integrationskurse aus; die sind schon jetztunterfinanziert. Darum fordere ich Sie auf: Nehmen Siemehr Geld für Integrationskurse und Sprachkurse in dieHand. Es lohnt sich für die Zukunft unseres Landes. Al-les andere wäre blauäugig und fatal. Die Menschen, dielernen wollen, die sich integrieren wollen, müssen beiuns auch die Möglichkeit dazu erhalten. Machen Sieendlich Integrationspolitik mit Weitsicht und an derRealität orientiert.

Serkan Tören (FDP): In zweiter und dritter Lesung beraten wir heute den

Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Änderung desBundesvertriebenengesetzes. Ziel ist die Einfügung ei-ner Härtefallregelung in das Bundesvertriebenengesetz.Mit dieser Regelung ermöglichen wir die nachträglicheAufnahme von im Aussiedlungsgebiet verbliebenen Ehe-leuten und Abkömmlingen von Spätaussiedlern in denAufnahmebescheid. Diese neue Regelung hat ausdrück-lich einen Ausnahmecharakter.

Erfreulicherweise besteht grundsätzlich Einigkeitüber die Notwendigkeit einer solchen Regelung unter al-len Fraktionen im Hohen Hause.

Mit der nun zu verabschiedenden Regelung soll aufdie schwierige Lage mancher Spätaussiedlerfamilieneingegangen und Abhilfe geschaffen werden. Es geht umFamilien, die nach einer bewussten Entscheidung, ge-trennte Wege zu gehen, nun doch wieder zusammen le-ben möchten. Eine generelle Möglichkeit, eine einmalgetroffene Entscheidung bezüglich der familiären Situa-tion zu ändern, ist allerdings ausgeschlossen. Es gehteinzig und allein um eine Lösung für Härtefälle in Spät-aussiedlerfamilien.

Zu Protokoll gegebene Reden

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Serkan Tören

Im Rahmen der Beratungen haben Bündnis 90/DieGrünen zwei Änderungsanträge eingebracht. Im erstenÄnderungsantrag geht es um die Streichung von notwen-digen Grundkenntnissen der deutschen Sprache vor derÜbersiedlung in die Bundesrepublik Deutschland. Imgleichen Antrag wird die Berücksichtigung von Famili-enangehörigen von Spätaussiedlern gefordert, die nichtmehr im Aussiedlungsgebiet wohnhaft sind. Die gefor-derte Streichung der Grundkenntnisse der deutschenSprache wird die Integration von Spätaussiedlern sehrerschweren und ist somit abzulehnen. Genauso ist dievon Bündnis 90/Die Grünen geforderte Ausweitung derHärtefallregelung auf Familienangehörige abzulehnen,die nicht mehr im Aussiedlungsgebiet wohnhaft sind.Eine solche Ausweitung ist aus meiner Sicht mit demCharakter einer Härtefallregelung bzw. Ausnahmerege-lung nicht vereinbar.

Was den zweiten Antrag von Bündnis 90/Die Grünenim Hinblick auf Lebenspartnerschaften angeht, möchteich Folgendes erwidern. Leider ist von Ihrer Seite keineinziger Fall vorgetragen worden, bei dem sich diesbe-züglich ein Problem ergeben hat. Dies wäre hilfreich ge-wesen, um zu sehen, inwieweit hier tatsächlich einHandlungsbedarf besteht. Meiner Ansicht nach ist die-ser zweite Änderungsantrag ein reiner Symbolantrag. Erbringt uns und die Spätaussiedler keinen einzigenSchritt weiter. Er ist daher ebenso wie der erste Ände-rungsantrag abzulehnen.

Lassen Sie uns die wahren Probleme der Spätaussied-ler anpacken, und stimmen Sie für den Antrag der Bun-desregierung.

Ulla Jelpke (DIE LINKE): Die Absicht der Bundesregierung, Härtefallregelun-

gen für die Familien von Spätaussiedlern einzuführen,ist im Grundsatz richtig – die Regierung selbst will sieallerdings nur halbherzig umsetzen.

Wer als Spätaussiedler in die Bundesrepublik über-siedelte, der musste bislang seine engsten Verwandten inden sogenannten Aussiedlungsgebieten, also in Russ-land, vor die Wahl stellen: Entweder ihr kommt mit mir,und zwar jetzt sofort, oder die Familie bleibt für immergetrennt. – Denn es war nicht möglich, Familienangehö-rige, die selbst nicht als Deutsche im Sinne des Grund-gesetzes galten, nachträglich in den Aufnahmebescheidfür die Spätaussiedler aufzunehmen. Das hat, wie manvorausahnen konnte, eine Reihe von Härtefällen produ-ziert: Kinder, die nun ihre pflegebedürftigen Eltern oderSchwiegereltern unterstützen wollen, oder Eltern, dieselbst auf Pflege ihrer Nachkommen angewiesen sind,genauso wie Geschwister usw., die nun doch zu ihrenVerwandten in die Bundesrepublik ziehen wollen, deneneine Familienzusammenführung aber nicht mehr mög-lich ist. Das produziert im Einzelfall – die Bundesregie-rung erwartet rund 5 000 Härtefallanträge – humanitäreProbleme.

Dem Lösungsansatz der Bundesregierung werden wiraber nicht unsere Stimme geben. Ich will kurz erläutern,warum sich die Linke bei der Abstimmung enthaltenwird:

Uns lagen während der Beratung im Innenausschusseinige diesbezügliche Petitionen vor. Die Probleme dermeisten Petenten können durch die vorgeschlagenen Ge-setzesänderungen gelöst werden. Aber insgesamt ist dieRegelung nicht weitgehend genug. Schon in der Geset-zesbegründung ist davon die Rede, dass wohl nur dieHälfte aller Härtefälle so gelöst werden kann. Dennselbst bei der Härtefallregelung hält die Bundesregie-rung daran fest, dass die potenziellen NachzüglerDeutschkenntnisse nachweisen müssen. Das steht demGedanken einer Härtefallregelung diametral entgegen:Ein Härtefall ist ja von der Definition her ein Fall, indem die betroffenen Menschen in einer humanitärenoder wirtschaftlichen Notlage sind. Da kann man nichteinfach Dienst nach Vorschrift machen und an sämtli-chen Ausschlusstatbeständen des Bundesvertriebenen-gesetzes festhalten. Richtig wäre es, diesen Menschennach ihrer Ankunft umfassende Angebote zum Spracher-werb zu machen, falsch ist es aber, Deutschkenntnissezur Vorbedingung ihrer Einreise zu machen.

Ganz grundsätzlich gelten unsere Bedenken gegendie fortbestehende aufenthaltsrechtliche Privilegierungder sogenannten Spätaussiedler weiter. Wir können kei-nen triftigen Grund dafür erkennen, dass Menschen, de-ren Vorfahren zum Teil vor Jahrhunderten aus Deutsch-land nach Russland ausgewandert sind, bessergestelltsein sollen als die Nachfolger nichtdeutscher Migran-ten, die in der zweiten oder dritten Generation inDeutschland leben. Die Linke setzt auf soziale Aspekte,nicht auf völkische. Wir halten daher an unserer schonin früheren Debatten erhobenen Forderung fest, endlichdie spezialgesetzlichen Regelungen für die Nachkom-men der Deutschen in den Ländern Osteuropas aufzuge-ben und sie in den Geltungsbereich des normalen Auf-enthalts- und Staatsangehörigkeitsrechts zu überführen.

Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Es ist mir unverständlich, warum sich die Koalitions-

fraktionen dauerhaft verweigern, homosexuellen Paarenjene Rechte einzuräumen, die sie sonst auf dem Umwegüber Karlsruhe erhalten. Heute geht es bei der Ände-rung des Bundesvertriebenengesetzes nur um die Ände-rung von Art. 1, in den die eingetragene Lebenspartner-schaft aufgenommen werden soll.

Mit dem am 1. August 2001 in Kraft getretenen Le-benspartnerschaftsgesetz schufen wir für gleichge-schlechtliche Paare das neue familienrechtliche Institutder Eingetragenen Lebenspartnerschaft. Allerdingswurden eingetragene Lebenspartnerinnen beziehungs-weise Lebenspartner in das Bundesvertriebenengesetzbislang nicht einbezogen.

Diese Benachteiligung der eingetragenen Lebens-partnerschaften gegenüber Ehen wurde bisweilen damitgerechtfertigt, dass es dem Gesetzgeber wegen des ver-fassungsrechtlichen Schutzes der Ehe aus Art. 6 Abs. 1GG nicht verwehrt sei, diese gegenüber anderen Le-bensformen zu begünstigen.

In seinem Beschluss vom 7. September 2009 hat dasBundesverfassungsgericht hingegen grundlegend ent-schieden, dass der bloße Verweis auf das Schutzgebot

Zu Protokoll gegebene Reden

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Volker Beck (Köln)

der Ehe gemäß Art. 6 Abs. 1 GG eine Benachteiligungder eingetragenen Lebenspartnerschaft gegenüber derEhe nicht rechtfertigen könne. Demnach stellt die Recht-fertigung der Privilegierung der Ehe auf die auch recht-lich verbindliche Verantwortung für den Partner ab.Das Bundesverfassungsgericht stellt damit aber klar,dass sich in diesem Punkt Ehen nicht von eingetragenenLebenspartnerschaften unterscheiden: Beide sind aufDauer angelegt und begründen eine gegenseitige Ein-standspflicht.

Auch in seinem Beschluss vom 21. Juli 2010 zum Erb-schaftsteuerrecht bestätigte das Bundesverfassungsge-richt seine Auffassung über die Verfassungswidrigkeitder Ungleichbehandlung von Lebenspartnern gegen-über Ehegatten. Es betonte, dass die eingetragene Le-benspartnerschaft sowie die Ehe auf Dauer angelegt seiund eine gegenseitige Unterhalts- und Einstandspflichtbegründe.

Eine Ungleichbehandlung von eingetragenen Le-benspartnerschaften im Bundesvertriebenengesetz ent-spricht daher nicht mehr den Grundsätzen der Recht-sprechung des Bundesverfassungsgerichts. Mit demvorliegenden Änderungsantrag wird diese ungerechteund grundrechtswidrige Behandlung beseitigt.

Falls es doch nicht das Ziel der Koalition sein sollte,hier den Rekord der meisten kassierten Gesetze in Karls-ruhe aufzustellen, stimmen Sie dem Änderungsantrag zu.Weder Sie noch irgendein Mensch sonst wird davon ei-nen Nachteil haben. Es würde aber eine Minderheit inunserem Land der Mehrheit gleichstellen.

Laut der Begründung des Gesetzentwurfes der Bun-desregierung ist auch das Ziel der Neuregelung, Härte-fälle zu vermeiden, die durch dauerhafte Familientren-nungen entstehen, und dadurch die Integration vonSpätaussiedlern in Deutschland weiter zu fördern. Die-sem begrüßenswerten Ziel wird die Neuregelung jedochnicht uneingeschränkt gerecht.

Außerdem wollen wir unnötige Härten vermeiden.Unser Änderungsantrag sieht nicht nur die Streichungdes Spracherfordernisses im Härtefall nach dem neuenAbs. 3 vor, sondern auch bei der Einbeziehung in denAufnahmebescheid nach Abs. 1. Damit steht die Ände-rung im Einklang mit dem Gesetzentwurf zum Ehegat-tennachzug – Drucksache 17/1626 –, mit dem die Strei-chung des Spracherfordernisses beim Ehegattennachzugnach dem Aufenthaltsgesetz verfolgt wird. Insbesondereälteren Menschen und Personen aus bildungsfernenSchichten ist der Spracherwerb im Ausland oft nichtmöglich. Es steht außer Frage, dass es für das Zusam-menleben in Deutschland wichtig ist, dass die Familien-angehörigen Deutsch sprechen. Dafür ist aber einDeutschkurs im Ausland weder notwendig noch geeig-net. Den nachgezogenen Familienangehörigen steht inDeutschland ein umfangreiches Angebot an Integra-tionskursen zur Verfügung. Der Spracherwerb inDeutschland ist viel leichter, schneller, günstiger undweniger belastend für die Betroffenen als im Ausland.

Mit dem Änderungsantrag wird der Gesetzentwurfdahin gehend geändert, dass auch Ehegatten und Ab-

kömmlinge, die nicht im Aussiedlungsgebiet verbliebensind, zur Bezugsperson in Deutschland nachziehen kön-nen; denn in einem Härtefall soll es nicht erheblich sein,an welchem Ort das Familienmitglied sich befindet. Da-mit werden auch diejenigen Familienmitglieder von dernachträglichen Einbeziehung erfasst, die ohne einenEinbeziehungsbescheid das Herkunftsland verlassen ha-ben oder hier weder vertriebenenrechtlich Aufnahmegefunden noch ausländerrechtlich einen gesichertenAufenthalt erlangt haben.

Die Änderung wird ebenfalls vom Land Hessen imAntrag zum Entwurf eines Neunten Gesetzes zur Ände-rung des Bundesvertriebenengesetzes gefordert. Des-halb bitte ich Sie um die Zustimmung zu unseren beidenÄnderungsanträgen.

Dr. Christoph Bergner, Parl. Staatssekretär beimBundesminister des Innern:

Seit 20 Jahren ist es Spätaussiedlern im sogenanntenvertriebenenrechtlichen Aufnahmeverfahren möglich,unter Wahrung ihrer Familienbindungen gemeinsam mitihren nächsten Angehörigen nach Deutschland auszu-siedeln. Entschlossen sich allerdings Ehegatten und Ab-kömmlinge von Spätaussiedlern, bei deren Aussiedlungim Aussiedlungsgebiet zu verbleiben, so kam es in derPraxis auch zu tragischen Fällen der Trennung von Fa-milien von Spätaussiedlern. Hierher gehört zum Beispielder Fall, dass sich Kinder des Spätaussiedlers zunächstentschieden haben, im Herkunftsgebiet zu bleiben, umdort noch einen Angehörigen zu betreuen, dann aber– selbst nach schweren Schicksalsschlägen – nicht mehrnachträglich aussiedeln konnten. Weitere Ursachen fürderartige tragische Familientrennungen habe ich imRahmen der ersten Beratung des vorliegenden Gesetz-entwurfs bereits dargestellt. Auch der Petitionsaus-schuss des Bundestages hat sich mit dieser Problematikschon mehrfach beschäftigt.

Eine befriedigende Lösung solcher Fälle ermöglichtdas geltende Vertriebenenrecht nicht, selbst in Härtefäl-len erlaubt das Bundesvertriebenengesetz keine nach-trägliche Einbeziehung. So ist Abkömmlingen von Spät-aussiedlern nicht einmal dann der Nachzug zu ihrenEltern in Deutschland möglich, wenn diese pflegebe-dürftig werden oder aufgrund ihres fortgeschrittenen Al-ters gravierend unter der Trennung von ihren engstenFamilienangehörigen leiden. In solchen und ähnlichenHärtefällen will die Bundesregierung nun durch denvorliegenden Gesetzentwurf den betroffenen Familienhelfen. Im Härtefall soll Ehegatten und Abkömmlingenvon in Deutschland lebenden Spätaussiedlern der Nach-zug ermöglicht werden, auch falls sie damals die Auf-nahmevoraussetzungen noch nicht erfüllten, diese aberjetzt erfüllen, zum Beispiel weil sie zwischenzeitlichGrundkenntnisse der deutschen Sprache erworben ha-ben.

Die geschilderten Beispiele zeigen: Die Ihnen vorlie-gende Härtefallregelung ist geboten, wenn wir den his-torisch-moralischen Verpflichtungen des deutschenStaates gegenüber den Spätaussiedlerfamilien angemes-sen Rechnung tragen wollen. Umso mehr freue ich mich

Zu Protokoll gegebene Reden

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Parl. Staatssekretär Dr. Christoph Bergner

darüber, dass die meisten von Ihnen dies ebenso sehenund deshalb die Härtefallregelung letzte Woche im In-nenausschuss unterstützt haben. Diese Unterstützungverdient sie auch weiterhin. Im Einzelnen habe ich diesja bereits anlässlich der ersten Befassung mit dem Ge-setzentwurf erläutert. Daher beschränke ich mich heuteauf eine knappe Darstellung der wesentlichen Argu-mente für die neue vertriebenenrechtliche Härtefallre-gelung.

Erstens. Mit der Härtefallregelung bekundetDeutschland seine dauerhafte historische Verantwor-tung gegenüber den Menschen, die als Deutsche in Ost-europa und Südosteuropa sowie in den Staaten der ehe-maligen Sowjetunion unter den Folgen des ZweitenWeltkrieges am längsten gelitten haben. Dies entsprichtauch unserer Verfassung, deren Art. 116 Abs. 1 die Soli-darität mit Vertriebenen, Flüchtlingen und deren Ehe-gatten und Abkömmlingen verbürgt.

Zweitens. Die nachträgliche Einbeziehung von bis-lang zurückgebliebenen Ehegatten oder Abkömmlingenermöglicht nicht etwa den Verzicht auf die „üblichen“Voraussetzungen einer Aufnahme nach dem Bundesver-triebenengesetz. Nach dem Gesetzentwurf kann einenachträgliche Einbeziehung vielmehr nur dann erfol-gen, wenn alle anderen Voraussetzungen, die im Falleeiner Einbeziehung vor Aussiedlung vorliegen müssen,erfüllt sind. Damit sind auch weiterhin deutsche Sprach-kenntnisse notwendig.

Den von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vorge-legten Änderungsanträgen kann ich nicht folgen:

So besteht bereits kein Bedarf für die beantragteSchaffung einer gesonderten Norm zur Gleichstellungvon eingetragenen Lebenspartnern mit Ehegatten. Dennauf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion gibt eskeine eingetragenen Lebenspartnerschaften als eigen-ständige Rechtsform. Es gibt also für diese Norm keiner-lei Bezugsgröße.

Der beantragte Wegfall der Beschränkung der neuenHärtefallregelung auf die im Aussiedlungsgebiet ver-bliebenen Ehegatten und Abkömmlinge wäre vertriebe-nenrechtlich zweck- und systemwidrig. Sinn und Zweckder Neuregelung ist es, im Einklang mit der Systematikdes Vertriebenenrechts den vormals im Aussiedlungsge-biet verbliebenen Ehegatten und Abkömmlingen eine„zweite Chance“ zur nachholenden Aussiedlung zu er-öffnen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass als „Aussied-lergebiet“ alle Nachfolgestaaten der Sowjetunion gel-ten, sodass etwa ein Umzug von Kasachstan nachRussland bei Härtefällen der nachträglichen Einbezie-hung keine grundsätzlichen Hindernisse schafft.

Wenn mit dem Änderungsantrag auch diejenigen imNachhinein noch eine vertriebenenrechtliche Aufnahmefinden sollen, die bereits – womöglich auf ausländer-rechtlicher Basis – in Deutschland leben, entsprächedas nicht dem Sinn der Regelung. Die zu lösenden Fälletragischer Familientrennungen – Härtefälle – sind nichtvorstellbar, wenn sämtliche Familienangehörigen be-reits in Deutschland leben.

Ich begrüße sehr, dass auch die Länder die Schaffungeiner neuen Härtefallregelung grundsätzlich gutheißen.Mit der Absicht der Länder, missbräuchliche Handha-bungen und zeitlich unkalkulierbare Zuzüge von Famili-enangehörigen zu unterbinden, stimmt die Bundesregie-rung überein. Aus den von mir bei der ersten Beratunggenannten Gründen wollen wir dem Anliegen der Län-der allerdings durch untergesetzliche Regelungen Rech-nung tragen, nicht durch eine gesetzliche Befristung dernachträglichen Einbeziehung. So ermöglichen wir zu-künftig eine flexible Handhabung, in deren Rahmen wirauch zeitnah Erkenntnisse aus der Praxis berücksichti-gen können.

Lassen Sie mich schließlich darauf hinweisen, dassdie hier vorgestellte Härtefallregelung keine unüber-schaubare Welle neuer Spätaussiedlung zur Folge habenwird. Sie ist weder Teil einer Zuwanderungspolitik nochsollte sie als ein Teil davon verstanden werden. Die vor-liegende Härtefallregelung ist vielmehr Ausfluss des bisin unsere Tage fortreichenden Bemühens aller bisheri-gen Bundesregierungen, sich der VerantwortungDeutschlands im Blick auf die Folgen des Nationalso-zialismus und des Zweiten Weltkrieges für die am stärks-ten betroffenen deutschen Minderheiten zu stellen.

Vor diesem Hintergrund verdient die Härtefallrege-lung unsere Unterstützung.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Wir kommen zur Abstimmung. Der Innenausschuss

empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-che 17/7178, den Gesetzentwurf der Bundesregierungauf Drucksache 17/5515 anzunehmen. Hierzu liegenzwei Änderungsanträge der Fraktion Bündnis 90/DieGrünen vor, über die wir zuerst abstimmen.

Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache17/7214? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Än-derungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfrak-tionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen ab-gelehnt.

Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache17/7215? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Än-derungsantrag ist mit dem gleichen Stimmenverhältnisabgelehnt.

Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf zu-stimmen wollen, um das Handzeichen. – Gegenstim-men? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in zwei-ter Beratung angenommen mit den Stimmen derKoalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Enthal-tung der Linken und der Grünen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurfist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und derSPD-Fraktion bei Enthaltung der Linken und der Grünenangenommen.

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Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:

Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Konstantin von Notz, Krista Sager, VolkerBeck (Köln), weiterer Abgeordneter und derFraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Förderung von Open Access im Wissen-schaftsbereich und freier Zugang zu den Re-sultaten öffentlich geförderter Forschung

– Drucksache 17/7031 – Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss (f)InnenausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Bildung, Forschung und TechnikfolgenabschätzungAusschuss für Kultur und Medien

Ansgar Heveling (CDU/CSU): Frei ist nicht umsonst, liebe Kolleginnen und Kolle-

gen von den Grünen. Sie behaupten in Ihrem Antrag,Open Access fördern zu wollen, aber in Wahrheit geht esIhnen darum, Urheber und deren Verleger um ihreRechte zu bringen. Sie diskreditieren damit die Idee desOpen Access.

Open Access ist grundsätzlich eine gute Idee, die eszu fördern gilt. Schon heute stehen den Wissenschaftlernmit dem grünen und dem goldenen Weg zwei Open-Access-Publikationswege zur Verfügung. Wissenschaft-ler wollen aber immer im Verlag mit dem höchsten Re-nommee veröffentlichen, weswegen viele von OpenAccess keinen Gebrauch machen.

Deswegen wollen Sie die Verlage und die Wissen-schaftler jetzt dazu zwingen. Das halte ich für einen ge-fährlichen Weg, der weder nachhaltig noch zu Ende ge-dacht ist.

Mir ist bewusst, dass es einige Wissenschaftsbereichegibt – vor allem den Bereich Science, Technics und Me-dicine, STM –, in denen wissenschaftliche Literaturüberteuert angeboten wird. Manche Verlage nutzendiese Monopolbildung aus und verlangen daher immerhöhere Preise und erreichen dadurch Margen von bis zu70 Prozent. So müssen teilweise öffentliche Hochschulenoder auch öffentliche Bibliotheken öffentlich geförderteForschungsarbeit wiederum mit öffentlichen Gelderneinkaufen. Der Staat bezahlt folglich einmal für die Ver-öffentlichung und anschließend noch einmal für die wei-tere Nutzung.

Damit wir uns nicht falsch verstehen: Der Zugang zuWissen ist auch bei dem beschriebenen Problem nachwie vor frei – allerdings kann die Lizenz zur Nutzung ge-wisser Werke durchaus teuer sein. Ich kann aber auchverstehen, dass nach einer Lösung für dieses Problemgesucht wird, und bin offen für neue Ideen.

Ihren Vorschlag, den Urhebern im Urhebervertrags-recht ein verbindliches Zweitverwertungsrecht einzu-räumen, halte ich jedoch für den falschen Weg. Die Ver-lage wären damit vor große Kalkulationsproblemegestellt, wie die von ihnen verlegten Werke amortisiertwerden können. Sie würden daher die Preise entweder

noch weiter erhöhen oder sogar viele Werke einfachnicht mehr verlegen. Dies führt letztendlich zu wenigerVeröffentlichungen und weniger Qualität.

Weder die Verlage, die nicht jedes Werk verlegen wol-len, noch die Urheber, die ja gerade in einschlägigenJournalen veröffentlichen wollen, werden sich zwingenlassen. Dies zeigt das große Missverständnis bei OpenAccess.

In dieser Diskussion gerät das eigentliche Prinzip deskontinentalen Urheberrechts oft aus dem Blick: die Ein-heit der Persönlichkeits- und Verwertungsrechte. DieOpen-Access-Bewegung diskutiert immer nur aus demökonomischen Blickwinkel und betont die Interessen derNutzer und der Allgemeinheit.

Letztendlich wollen Sie mit Ihrem Antrag nur eineKostenverlagerung vom Nutzer auf den Kreativen errei-chen. Es geht also nicht um freien Zugang, sondern umkostenlosen Zugang zu wissenschaftlichen Publikatio-nen – ähnlich wie auch bei der Einführung der Schrankezugunsten von Wissenschaft und Forschung. Dabeibleibt der Urheber auf der Strecke. Ich bin jedoch davonüberzeugt, dass stets der Kreative und sein Schaffen imVordergrund stehen muss, denn ohne ihn gibt es keineInhalte, die von der Allgemeinheit genutzt werden kön-nen.

Damit also weiterhin qualitativ wertvolle Inhalte fürjeden zugänglich und auch bezahlbar veröffentlicht wer-den, müssen die richtigen Anreize gesetzt werden:

Erstens. Bessere finanzielle Ausstattung der Biblio-theken. Die Digitalisierung hat dazu geführt, dass eseine Explosion an Veröffentlichungen gab – digital wieauch analog. Die öffentlichen Etats für den Erwerb wis-senschaftlicher Veröffentlichungen sind jedoch nicht ingleichem Maße gewachsen – sie sind sogar zurückge-gangen. Je mehr Menschen von ihren Veröffentlichun-gen leben wollen, desto mehr Geld muss auch ins Systemfließen, sonst kann das nicht funktionieren.

Zweitens. Auflagen für geförderte Veröffentlichun-gen. Wenn die öffentliche Hand für staatlich geförderteVeröffentlichungen nicht zweimal bezahlen will, so kannsie bei der Förderung Auflagen erteilen. Im VereinigtenKönigreich ist es durchaus üblich, dass Wissenschaftlerim universitätseigenen Verlag veröffentlichen müssen.Auch in Deutschland wären solche Auflagen in den Pro-motionsordnungen oder als Voraussetzungen für eineFörderung möglich.

Beide Vorschläge können problemlos umgesetzt wer-den und fördern Open Access nachhaltig.

Hier sind aber die Bildungspolitiker gefordert – nichtdie Rechtspolitiker! Warum also gleich nach Verbotenrufen, wenn es andere Wege gibt? Der Staat sollte neueGeschäftsmodelle wie Open Access mit Anreizen för-dern, aber keinesfalls durch verbindliche Zweitverwer-tungsrechte erzwingen. Verbote oder Regulierungensind der falsche Weg. Kreative Wissenschaftler brau-chen Unterstützung, aber sie wollen keine Vorgaben.Daher halte ich es im Grundsatz nach wie vor für denrichtigen Ansatz, den Wissenschaftlern möglichst viele

Zu Protokoll gegebene Reden

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Ansgar Heveling

Rechte einzuräumen und sie selbst entscheiden zu las-sen, wie sie ihre Werke veröffentlichen.

Ich wünschte mir also, Sie wären mit Ihrem Antragkreativer und vor allem nachhaltiger gewesen. So ist IhrAntrag nichts anderes als ein billiger Abklatsch desSPD-Antrags zu einem verbindlichen Zweitverwertungs-recht: dreist abgekupfert!

Tankred Schipanski (CDU/CSU): Open Access ist schon heute Realität. In vielen Diszi-

plinen ist das digitale Publizieren zur gängigen Praxisgeworden – moderne, zielorientiere und standortüber-greifende Forschung ist dort anderweitig nicht mehrvorstellbar. Digitale Publikationen sind vielerorts zu ei-ner unabdingbaren Voraussetzung moderner For-schungsarbeit geworden.

Dennoch werden auch noch heute wissenschaftlicheTexte überwiegend in Print-Form veröffentlicht. DieGründe hierfür sind vielfältig. Zum einen ist es das Inte-resse des wissenschaftlichen Autors, seinen Text in einermöglichst angesehenen Fachzeitschrift zu veröffentli-chen. Das ist verständlich, und die Wahl des Publika-tionskanals ist nicht allein deshalb zu Recht ein grund-rechtlich geschützter Aspekt der Wissenschaftsfreiheit.Es mag hier in vielen Bereichen noch an einer notwendi-gen Akzeptanz von Open-Access-Zeitschriften mangeln.

Tatsächlich lässt sich aber auch nicht verbergen, dasseiner größeren Anzahl von Publikationen im Wege vonOpen Access auch die gegenwärtigen Verlags- und Ver-öffentlichungsstrukturen entgegenstehen. Zwar bietetdas Urheberrecht in seiner jetzigen Form alle notwendi-gen Schranken, die erforderlich sind, um dem Autor eineOpen-Access-Veröffentlichung zu ermöglichen. Rechts-technisch steht das Urheberrecht also einer digitalenPublikation nicht entgegen. Problematisch ist jedoch,dass der Autor regelmäßig seine Rechte nicht wirklichfrei ausüben kann, da er mit dem Veröffentlichungsver-trag in aller Regel sämtliche Verwertungsrechte gegen-über dem Verlag einräumt bzw. einräumen muss.

Zur Förderung von Open Access sehen wir uns folg-lich mit zwei Aufgaben konfrontiert:

Erstens. Wie schaffen wir neue Anreize, um den wis-senschaftlichen Autor für digitale Veröffentlichungen zuinteressieren?

Zweitens. Wie können wir auf die gegenwärtigenStrukturen einwirken, damit der Autor seinen Willen, imWege von Open Access zu veröffentlichen, auch tatsäch-lich verwirklichen kann?

Die erste Frage ist zunächst eine Frage der Akzep-tanz von Open-Access-Zeitschriften und -Repositorien.Es mag hier mit einiger Berechtigung angeführt werden,dass diese Akzeptanz nur dann zu steigern sein wird,wenn die Zahl der Erst- und Zweitveröffentlichungen insolchen Zeitschriften zunimmt. Als Anreiz wird daherschon seit längerem diskutiert, die Vergabe von For-schungsmitteln daran zu binden, dass die Ergebnisse imWege von Open Access publiziert werden. Dies gilt nicht

zuletzt, als ins Feld geführt wird, dass mit Steuermittelnfinanzierte Forschung auch frei zugänglich sein sollte.

Auf die Frage, wie dem Autor auch tatsächlich dieMöglichkeit zur Open-Access-Veröffentlichung gegebenwerden soll, ist zunächst zwischen der Erst- und Folge-veröffentlichungen zu unterscheiden. Bei einer Erstver-öffentlichung im Wege von Open Access sieht sich derAutor regelmäßig mit keinen Hindernissen konfrontiert.Problematisch wird es für ihn, wenn er einer Veröffentli-chung im Print-Wege eine digitale, frei zugängliche Pu-blikation folgen lassen will. Dies ist ihm aufgrund derumfassenden Rechteeinräumung gegenüber dem Verlagzumeist verwehrt. Dennoch werden viele Wissenschaft-ler verständlicherweise nicht auf die Veröffentlichung ineinem angesehenen Verlag verzichten wollen. Vonseitender Wissenschaftsorganisationen wird daher ebenfallsseit längerem ein unabdingbares, formatgleiches Zweit-verwertungsrecht gefordert.

Die Vorteile beider Vorschläge liegen auf der Hand,bedürfen aber einer ausführlichen Abwägung der ver-schiedenen Interessenlagen. Während ein Zweitverwer-tungsrecht eine gesetzgeberische Tätigkeit im Urheber-recht erfordert, ist eine Bindung der Forschungsmittelaußerhalb des Urhebergesetzes zu verwirklichen. Eineendgültig verpflichtende Bestimmung, nach der For-schungsmittel nur bei folgender Open-Access-Publika-tion zur Verfügung gestellt werden, kann jedoch Pro-bleme mit der Wissenschaftsfreiheit aufwerfen, wenndadurch die Wahlfreiheit des öffentlich geförderten Au-tors, welchen Publikationskanal er für den richtigenhält, genommen würde.

Für den Gesetzgeber muss feststehen, dass es bei derFrage des Zweitverwertungsrechts vor allem darum ge-hen muss, die rechtliche Position des wissenschaftlichenAutors zu stärken. Zweifelsohne wird dies durch einZweitverwertungsrecht zunächst erreicht werden, dennder Autor kann seiner Print-Veröffentlichung nach Ab-lauf der Embargo-Frist eine Zweitveröffentlichung aufeinem frei zugänglichen Repositorium folgen lassen. Je-doch ist von Autorenseite darauf hingewiesen worden,dass Rechte, die nicht mehr vollumfänglich Dritten ein-geräumt werden können, an Wert verlieren. Auch diesePosition gilt es zu beachten.

So haben wir auf der einen Seite das Interesse des Au-tors, das sich zwischen einer Wahrung seiner Rechte undder tatsächlichen Möglichkeit einer freien Rechteausü-bung bewegt. Daneben steht das Interesse der Wissen-schaftsorganisationen, der Förderung von Open Accessnachhaltigen Auftrieb zu geben. Schließlich dürfen aberauch die Verlage nicht außer Acht gelassen werden, de-ren Bedeutung für die Förderung und Kommunikationqualitativer wissenschaftlicher Arbeit gar nicht groß ge-nug eingeschätzt werden kann. Letztendlich müssen wirdie Gemengelage in unserer Wissenschaftslandschaftberücksichtigen. Während für den Bereich der Natur-wissenschaften der freie Zugriff auf digitale Veröffentli-chungen unentbehrlich ist, hat Open Access für den Be-reich der Geisteswissenschaften naturgemäß eineweitaus geringere Bedeutung.

Zu Protokoll gegebene Reden

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Tankred Schipanski

Die Einführung eines Zweitverwertungsrechts hättezweifelsohne weitreichende Folgen für die Publikations-kultur und die Verlagslandschaft in unserem Lande. Diebislang von vielen Verlagen angebotenen kostenpflichti-gen Datenbanken müssten wohl vom gegenwärtigenSubskriptionsmodell auf sogenannte Publikationsge-bühren umstellen. Öffentliche Mittel, durch die derzeitAbonnements solcher kommerzieller Datenbanken fi-nanziert werden, müssten derart umverteilt werden, dasssie dem öffentlich geförderten Autor bei der Finanzie-rung der Publikationsgebühr zur Verfügung stünden.

Die CDU/CSU-Fraktion hat sich daher in den zu-rückliegenden Monaten im Rahmen des Dritten Korbesder Urheberrechtsreform umfassend mit den vielfältigenFragen eines Zweitverwertungsrechts auseinanderge-setzt. Es geht dabei um dessen grundsätzliche Notwen-digkeit, die Auswirkungen auf die urheberrechtlicheStellung des Autors und auf die wirtschaftliche Situationder Verlage und nicht zuletzt um den Umfang eines sol-chen Rechts, etwa hinsichtlich der Notwendigkeit derFormatgleichheit. Nicht zuletzt darf ich an dieser Stelleauch auf die Tätigkeit der Enquete-Kommission „Inter-net und digitale Gesellschaft“ verweisen.

Die zunehmende Bedeutung von Open Access und diedaraus resultierende Notwendigkeit, diese Entwicklungnachhaltig zu fördern, steht für die CDU/CSU-Fraktionaußer Frage. Die Forderungen nach einem Zweitver-wertungsrecht und nach einer Bindung der Forschungs-mittel werden dabei intensiv diskutiert. Aus Sicht derBildungs- und Forschungspolitik ist es für uns ein we-sentliches Ziel, einen modernen wissenschaftlichen Dis-kurs zu fördern. Den hier diskutierten Antrag kann ichdaher grundsätzlich nur begrüßen. Zweitverwertungs-recht und Bindung der Forschungsmittel halte auch ichfür bedeutende Grundentscheidungen, die uns diesemZiel näher bringen können. Ob sie sich nach Abwägungaller Interessen und urheberrechtlichen Aspekte letzt-endlich als gangbarer und zielführender Weg erweisen,kann zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht endgültig fest-gestellt werden.

René Röspel (SPD): Ein wesentliches Merkmal von Forschung ist der

freie und stetige Austausch von Wissen und Erkenntnis-sen innerhalb der forschenden Gemeinschaft. Gemein-hin erfolgt dies neben der normalen Kommunikation undder Präsentation auf Kongressen über den Weg der wis-senschaftlichen Veröffentlichung. Die allein ist zwareine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung fürAustausch und Erkenntnisgewinn innerhalb der Wissen-schaft. Mindestens ebenso wichtig für den Erfolg vonWissenschaft ist der (ungehinderte) Zugang zu deren Er-gebnissen. Insbesondere im Zeitalter der Digitalisierungist eine schnelle und ungehinderte Wissenskommunika-tion eine unabdingbare Voraussetzung für Innovationund Fortschritt.

Die besondere Bedeutung eines möglichst freien Zu-gangs zu wissenschaftlicher Information wurde auchvonseiten der Europäischen Kommission unterstrichenund mehrfach aufgegriffen: So äußert sich die Kommis-

sion in ihrer Empfehlung zum Umgang mit geistigem Ei-gentum bei Wissenstransfertätigkeiten und für einenPraxiskodex für Hochschulen und andere öffentlicheForschungseinrichtungen vom 10. April 2008 wie folgt:Die Europäische Kommission empfiehlt den Mitglied-staaten, „die weite Verbreitung von Wissen, das mit öf-fentlichen Mitteln geschaffen wurde, zu fördern, indemSchritte für einen offenen Zugang zu Forschungsergeb-nissen angeregt werden, wobei gegebenenfalls derSchutz des betreffenden geistigen Eigentums zu ermögli-chen ist“.

Leider sieht sich dieser wünschenswerte Austausch inder Praxis der Wissenschaft konfrontiert mit zahlreichenHindernissen: Insbesondere die Beschränkungen durchdas Urheberrecht erschweren eine ungehinderte Wis-sensdiffusion in die Gesellschaft.

Der unter dem Stichwort „Open Access“ firmierendeAnsatz versucht, mittels eines freien Onlinezugangs zuwissenschaftlichen Erkenntnissen dieses Problem anzu-gehen. Dabei gilt es, vonseiten des Gesetzgebers einenAusgleich zwischen dem Urheberrecht einerseits unddem legitimen Interesse von Wissenschaft und Gesell-schaft an Teilhabe an wissenschaftlichen Erkenntnissenandererseits zu schaffen. Wenn aber der Zugang zu For-schungsergebnissen, die das Resultat einer mehrheitlichdurch öffentliche Mittel finanzierten Forschung sind,aufgrund urheberrechtlicher Beschränkungen von derGesellschaft ein weiteres Mal „erkauft“ werden muss,ist das schlichtweg nicht hinnehmbar.

Dies wird in weiten Teilen der wissenschaftlichenCommunity ebenfalls so gesehen. In der sogenanntenBerliner Erklärung über offenen Zugang zu wissen-schaftlichem Wissen vom Oktober 2003 haben die gro-ßen Wissenschaftsorganisationen sich klar für OpenAccess ausgesprochen.

Die Bundesrepublik Deutschland selbst unterstütztindirekt über ihren Finanzierungsbeitrag zum Euro-pean Research Council, ERC, bereits eine Verfahrens-weise, die auf einen freien Zugang zu Forschungser-gebnissen setzt. Der ERC hat in seinen Richtlinien zumOpen Access insbesondere festgehalten, dass For-schungsergebnisse, die mit ERC-Mitteln erzielt wur-den, innerhalb von spätestens sechs Monaten öffentlichzugänglich gemacht werden müssen.

Umso verwunderlicher ist es, dass die deutsche Bun-desregierung auf nationaler Ebene in dieser Frage sehrzurückhaltend ist und immer noch keine Lösung präsen-tieren kann.

Vor diesem Hintergrund begrüßen wir den Antrag derFraktion Bündnis 90/Die Grünen zum Thema „Open Ac-cess“. Allerdings stellen wir auch hier mit Verwunde-rung fest, dass das Problem zwar aufgegriffen wird, einadäquater Lösungsansatz in Form eines konkreten Ge-setzentwurfs jedoch nicht vorgelegt wurde. Vonseitender SPD-Bundestagsfraktion sind wir in diesem Punktschon viel weiter: Mit unserem Entwurf eines Gesetzeszur Änderung des Urheberrechtsgesetzes, (Drucksache17/5053) haben wir schon vor einem halben Jahr eineklare gesetzgeberische Handhabe für ein Zweitverwer-

Zu Protokoll gegebene Reden

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René Röspel

tungsrecht für Urheber von wissenschaftlichen Beiträ-gen vorgelegt, die vorwiegend aus öffentlichen Mittelnfinanziert wurden.

Abgesehen von diesem Umstand und einer Reihe vonÜbereinstimmungen ergeben sich für uns als SPD-Frak-tion auch noch einige Kritikpunkte inhaltlicher Art:Zwar stellt der von der Fraktion Bündnis 90/Die Grüneneingereichte Antrag zu Recht fest, dass eine erfolgreicheStrategie im Bereich des Open Access sich nicht aus-schließlich auf das Urheberrecht beschränken sollte,doch schießt das im Antrag vorgestellte Maßnahmen-bündel in Teilen über das Ziel hinaus:

Da wäre zunächst die im Antrag von Bündnis 90/DieGrünen genannte rechtliche Voraussetzung für einZweitverwertungsrecht. Bei grundsätzlicher Zustim-mung halten wir diesen Punkt an einer Stelle für frag-würdig. Wir haben in unserem Gesetzentwurf – andersals im vorliegenden Antrag – festgeschrieben, dass einZweitverwertungsrecht nur für Forschungsergebnissegelten solle, die zu mindestens 50 Prozent mit öffentli-chen Mitteln gefördert bzw. finanziert wurden. Wennmehr als die Hälfte der Kosten von öffentlicher Hand be-reits getragen wurden, halten wir das für gerechtfertigt.Im Grünen-Antrag fehlt eine solche Grenze. Gilt dasschon bei einem Anteil von 10 Prozent?

Auch die undifferenzierte Publikationspflicht im Rah-men von Open Access, wie sie der Antrag der FraktionBündnis 90/Die Grünen vorsieht, würde insbesondere imBereich der anwendungsorientierten Auftragsforschungaus der Industrie ein Anreizhemmnis für Kofinanzierungdarstellen bzw. in vielen Fällen abschreckende Wirkungentfalten. Dass eine solche undifferenzierte Lösung we-der im Interesse der Forschung noch der Gesellschaftals Ganzes ist, liegt auf der Hand. Eine Lösung mit Au-genmaß muss demnach diesem Umstand Rechnung tra-gen.

Als noch problematischer sehen wir, dass eine grund-sätzliche Verpflichtung zur Publikation im Rahmen vonOpen Access in unseren Augen leicht mit dem Hinweisauf die in Art. 5 Abs. 3 der Verfassung geschützte Frei-heit der Wissenschaft abgelehnt werden kann.

So sieht auch das Bundesverfassungsgericht in seineneinschlägigen Entscheidungen zur Wissenschaftsfreiheitin Art. 5 Abs. 3 ein Abwehrrecht, welches nicht nur ge-gen jegliche staatliche Einwirkung auf den Prozess derWissensgewinnung selbst schützt, sondern auch explizitdie Vermittlung von wissenschaftlicher Erkenntnis miteinbezieht. Der Schutzbereich des Art. 5 Abs. 3 umfasstsomit auch die Rechte der Forschung Betreibenden hin-sichtlich einer Publikation bzw. einer Unterlassung der-selben. Folglich stellt nicht nur die Beschränkung derMöglichkeiten der wissenschaftlichen Publikationselbst, sondern auch die gesetzlich geregelte Verpflich-tung zur Publikation nach unserer Auffassung eine Ver-letzung der verfassungsgemäßen Grundrechte der Wis-senschaft dar. Man kann im Normalfall keinen Forscheroder keine Forscherin dazu verpflichten, ein Ergebnis zuveröffentlichen.

In diesem Kontext gilt es zu bedenken, dass es vonsei-ten der Wissenschaft gute Gründe geben kann, von einerPublikation bestimmter Ergebnisse abzusehen. Dies wä-ren zum Beispiel Forschungsergebnisse, welche in denAugen der Forschenden nicht bestimmte Qualitätsstan-dards erfüllen und folglich weder einen Beitrag zum all-gemeinen Erkenntnisgewinn noch zum eigenen Ansehenin der Wissenschaft leisten. Einschränkend sei an dieserStelle ausdrücklich darauf hingewiesen, dass Ergebnisseklinischer Studien hier auszunehmen sind, da auch einnegatives Ergebnis den Erfolg bzw. Misserfolg einerTherapie oder Medikaments bestätigen kann.

Mindestens ebenso bedeutsam sind mögliche ethischeBedenken, die Forschende davon abhalten könnten, ihreErgebnisse publiziert zu sehen. Dabei gilt es, unter Wür-digung des Einzelfalls die etwaigen Vorbehalte der For-schenden zu berücksichtigen. Nicht nur die Publikationvon Forschungsergebnissen, sondern auch – wie im vor-liegenden Antrag gefordert – die von Primärdaten be-dürfen der inhaltlichen und gegebenenfalls ethischenGewissensprüfung durch den Wissenschaftler selbst. Einstaatlicher Eingriff in die Wissenschaftsfreiheit in Formeiner Publikationspflicht stellt im konkreten Einzelfalldie individuelle Gewissensentscheidung der jeweiligenWissenschaftler in Frage und wäre nach unserem Emp-finden eine nicht nur unrechtmäßige, sondern auchethisch nicht vertretbare Einschränkung der Wissen-schaft.

Zudem ist es vermessen, anzunehmen, dass einegrundsätzliche Verpflichtung zur Offenlegung aller wis-senschaftlichen Erkenntnisse grundsätzlich im Interesseder Gesellschaft ist. Vielmehr kann eine Offenlegungjeglicher Resultate und Erkenntnisse von Forschung undWissenschaft in einigen ausgewählten Fällen unabseh-bare Gefahren für die Gesellschaft mit sich bringen. Vordiesem Hintergrund gilt in Anlehnung an DürrenmattsTheaterstück „Die Physiker“ der Grundsatz: Was ein-mal publiziert wurde, kann nicht wieder zurückgenom-men werden. Nach unserem Ermessen ist eine uneinge-schränkte Publikationspflicht im Rahmen von OpenAccess mindestens nicht immer im Interesse der Wissen-schaft oder der Gesellschaft als Ganzes.

Eine praktikable Lösung zur Auflösung dieses Verfas-sungskonfliktes könnte wie folgt aussehen: Die grund-sätzliche Entscheidung zur Veröffentlichung sollte stetsin der Entscheidung des Forschers oder der Forscherinliegen. Entscheidet sich dieser oder diese jedoch zurVeröffentlichung der Ergebnisse, könnte die angespro-chene Verpflichtung zu Open Access wirksam werden.

Abgesehen von den im Vorangegangen geäußertenBedenken hinsichtlich einer uneingeschränkten Open-Access-Publikationspflicht, haben wir noch zu den imAntrag unter Punkt 3 „Benachteiligung von Open Access-Publikationen abbauen“ aufgeführten Punkten einige An-merkungen zu machen:

Da wäre zunächst die – durchaus wünschenswerte –Forderung, dass Open-Access-Publikationen nicht zuBenachteiligungen bei Berufungs- und Besetzungsver-fahren führen dürfen. Die Antwort auf die Frage, wie

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dies sichergestellt werden kann, bleibt der Antrag je-doch schuldig.

Gleiches gilt für die an dieser Stelle genannte Forde-rung, dass bei Antragsverfahren Veröffentlichungen un-geachtet der Publikationsart entsprechend der Qualitätzu berücksichtigen sind. Hier sei die Frage angemerkt,wie die geforderte Qualität einer solchen Publikation si-chergestellt werden kann. Auch hier sollte der Antrageine schlüssige Lösung zur Qualitätssicherung vonOpen-Access-Ergebnissen im Rahmen einer Antragstel-lung geben. Denn nur wenn Open Access ein Mindest-maß an Qualität garantieren kann, wird es sich als er-folgversprechender Ansatz in der Wissenschaftdurchsetzen.

Abgesehen von den genannten Kritikpunkten begrü-ßen wir den Vorstoß der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-nen zum Thema „Open Access“ und freuen uns auf eineweitere fruchtbare gemeinsame Diskussion, um OpenAccess weiter zu fördern.

Manuel Höferlin (FDP): Als ich den Antrag der Grünen „Förderung von Open

Access im Wissenschaftsbereich und freier Zugang zuden Resultaten öffentlich geförderter Forschung“ aufder Tagesordnung gesehen habe, habe ich mich zunächstdarüber gefreut, denn Open Access ist in der Wissensge-sellschaft eine neue und immer wichtigere Form für dieVerbreitung von Informationen.

Und: Die FDP-Bundestagsfraktion begrüßt Open-Access-Modelle in der Wissenschaftslandschaft aus-drücklich als Ergänzung zu herkömmlichen Verlagspu-blikationen.

Doch bei genauer Lektüre Ihres Antrags bin ich ein-mal mehr zu dem Ergebnis gekommen, dass „gut ge-meint“ und „gut gemacht“ bei den Grünen – wie so oft –weit auseinander liegen.

Mehr noch: Mittlerweile bezweifle ich ernsthaft, obSie – liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen – esmit diesem Antrag wirklich gut mit der Wissensgesell-schaft und den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaft-lern in Deutschland meinen.

So stellen Sie in Ihrem Antrag zahlreiche Forderun-gen auf, die aus meiner Sicht weit über das Ziel hinaus-schießen.

Ihre Regelungen greifen in das Recht auf Freiheit vonWissenschaft und Forschung ein, indem Sie den Wissen-schaftlern, deren Forschung aus öffentlichen Mitteln fi-nanziert wird, vorschreiben wollen, wie sie ihre Ergeb-nisse veröffentlichen sollen. Ein Wissenschaftler solltedas selbst entscheiden dürfen!

Darüber hinaus ist Ihr Verhalten an dieser Stelleschädlich für die Forschung. Bereits jetzt wird eine Viel-zahl von Forschungsprojekten von der Wirtschaft mitfi-nanziert. Diese legt oft gesteigerten Wert darauf, dassZweitveröffentlichungsrechte vertraglich zunächst zu-rückgestellt werden. Ihre Politik der zwangsweisen Ver-öffentlichung von Forschungsergebnissen bei staatli-cher Beteiligung untergräbt diese bewährte Praxis.

Oder glauben Sie, dass Ihre Politik Universitäten beider Drittmittelakquise hilft? Ich habe an dieser Stelleenorme Bedenken. Auch sind Ihre Vorschläge im Bezugauf das Urheberrecht wenig brauchbar. Das von Ihnengeforderte unabdingbare Zweitveröffentlichungsrechtlehne ich ab. Sie greifen damit zu tief in die Vertragsfrei-heit von Autoren und Verlagen ein. Diese sollten selbstentscheiden können, wie sie ihre Zweitveröffentli-chungsrechte wahrnehmen wollen.

Ein tragfähiges Open-Access-Modell birgt aus unse-rer Sicht große Potenziale in sich. Und es zeigt sich auchschon jetzt, dass immer mehr Verlage und Wissenschaft-ler bereit sind, ihr Wissen auf der Basis von Open Accesszu verbreiten. Sie selbst beschreiben dies ja in Ihrer An-tragsbegründung! Warum nun an genau dieser Stelle re-guliert werden soll, ist für mich nicht nachvollziehbar,liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen. Sie ge-fährden damit das erfolgreiche Wachstum von OpenAccess aus eigener Kraft mit einem untauglichen Ver-such staatlicher Kontrolle.

Sicherlich ist das Zweitveröffentlichungsrecht für denFundus von Open-Access-Publikationen auch hilfreich.Aber noch einmal: Eine gesetzliche Verpflichtung dazuist der falsche Weg. Jeder Wissenschaftszweig wird sichbeim Bereich Open Access unterschiedlich entwickeln.Und Wissenschaftler sollten selbst festlegen können, obsie mehr an der Verbreitung ihrer Werke oder an einervertraglichen Bindung mit einem Verlag interessiertsind. Das Renommee eines Wissenschaftlers kann mannicht gesetzlich verordnen. Es ist bedingt durch Qualitätund durch Verbreitung. Diese Balance soll der Wissen-schaftler selbst herstellen können! Ich vertraue fest da-rauf, dass sich die Vorteile von Open Access ohne Ihrekünstlichen Konstruktionen durchsetzen werden.

Und zuletzt: Mit Ihren in der Antragsbegründung ge-nannten Vorstellungen einer Veröffentlichungsgebührfür die Publikationsorgane schädigen Sie, liebe Kolle-ginnen und Kollegen der Grünen, die Wissenschaftler,deren Institute und die Zeitschriften. Mehr noch: Siekehren die Publikation von wissenschaftlichen Textenins Absurde, indem Sie den Autoren bzw. deren Einrich-tungen für ihre Mühen auch noch Gebühren abverlan-gen. Die derzeit in Deutschland hohe Publikationsfreu-digkeit wissenschaftlicher Autoren werden Sie mitdiesem Vorschlag wohl kaum fördern.

Der Antrag der Grünen ist aus urheberrechtlicherSicht und aus Gründen der Freiheit von Wissenschaftund Forschung keine Hilfe. Sie, liebe Kolleginnen undKollegen der Grünen, wären gut beraten, diesen Antragzurückzuziehen, denn der Sache Open Access erweisenSie damit einen Bärendienst.

Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): Open Access, also das digitale wissenschaftliche Pu-

blizieren ohne finanzielle, rechtliche oder technischeSchranke für die Nutzerschaft, findet berechtigterweiseimmer mehr Unterstützung. Gestern veröffentlichte dieHistorikerin Wenke Richter im offiziellen Blog derFrankfurter Buchmesse einen Artikel mit der Über-schrift „Liebe Fachverlage, passt auf Eure Autoren

Zu Protokoll gegebene Reden

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Dr. Petra Sitte

auf!“. Darin schreibt sie über die wachsende Zahl vonstudentischen Open-Access-Zeitschriften in Deutsch-land, die mithilfe einer guten Mischung aus Engage-ment, moderner Technik und traditionellem Peer Revieweine erstaunliche Reichweite für qualitativ hochwertigeForschung bei Studierenden erreichen. Diese Zeitschrif-ten laufen auf gängigen Contentsystemen, vermittelnmeist, durch Open-Source-Software, Metadaten zu denPublikationen an Bibliothekskataloge und sind so welt-weit abrufbar. Hier wächst eine wissenschaftliche Gene-ration heran, die sich offenbar nicht mehr an die hierar-chischen Publikationswege alter Zeiten hält und dabeihöchst erfolgreich ist.

Bereits 2009 initiierte der Diplom-Chemiker und Wis-senschaftsjournalist Lars Fischer eine Petition an denBundestag, die den kostenfreien Zugang für alle zu öf-fentlich geförderter Forschung forderte. Diese Petitionwurde von annähernd 24 000 Mitunterzeichnern unter-stützt, darunter waren unzählige Wissenschaftlerinnenund Wissenschaftler.

Wer, wie beispielsweise der Heidelberger GermanistRoland Reuß, behauptet, Open Access sei eine Entmün-digung der Wissenschaft durch „die Politik“ und die gro-ßen Forschungsförderungseinrichtungen wie die DFG,übersieht also offensichtlich, wie stark Open Access ausden Reihen der Akademikerinnen und Akademiker selbstgefordert wird!

Auch ein zweites Argument der deutschen Open-Access-Gegner zeigt sich als nicht tragfähig. Sie fürch-ten eine massenweise Flucht heller Köpfe aus Deutsch-land, wenn hierzulande verstärkt auf Open-Access-Publikationen gesetzt würde. Aber das Land der Elite-universitäten, die USA, setzt nicht nur bei der Drittmit-telförderung auf Open Access. Die Unis in Harvard undseit vergangener Woche auch Princeton verpflichtenihre Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler per Ar-beitsvertrag dazu, die eigenen Publikationen auf denUni-Servern, ohne Sperrfristen, frei verfügbar zu ma-chen. Die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wis-senschaften verfährt ähnlich. Auch wenn in diesen Fäl-len Ausnahmen von dieser Regelung möglich sind, dasSignal ist klar: Die Zukunft wissenschaftlichen Publizie-rens liegt bei Open-Access-Modellen.

Neben unzähligen Einzelpersonen, Interessengrup-pen und den Wissenschaftsorganisationen sieht das be-kanntermaßen auch der Bundesrat so. Die eben er-wähnte Petition ist im Juli dieses Jahres offiziell an dasJustizministerium weitergleitet worden, da sie – Zitataus dem Ausschussprotokoll – geeignet scheint, in dieVorarbeit eines entsprechenden Gesetzentwurfs einbezo-gen zu werden.

Nachdem SPD und Linke bereits dieses Frühjahr Vor-stöße in den Bundestag eingebracht haben, die daraufabzielen, die rechtlichen Grundlagen des Zweitverwer-tungsrechts zum Wohle von Open Access zu erneuern,kann nun die Fraktion von Bündnis 90/Grüne für sich inAnspruch nehmen, einen umfassenden Antrag zur För-derung von Open Access eingebracht zu haben. Einzigdie Bundesregierung kommt bei diesem Thema offenbarnicht voran.

Die Linke stimmt dem vorliegenden Antrag grund-sätzlich zu, dass ein Zweitverwertungsrecht für wissen-schaftliche Beiträge gebraucht wird. Allerdings reicht esuns – wie in unserem Antrag hierzu vom April zu lesenist – nicht aus, dieses Recht auf Beiträge aus Sammel-werken und Periodika zu beschränken. Das Zweitveröf-fentlichungsrecht muss auch für Monografien gelten.Weiter fordern wir, dass eine Sperrfrist für die Zweitver-öffentlichung maximal sechs Monate betragen darf.Dies ermöglicht weiter eine exklusive und unfreie Erst-veröffentlichung, ohne diese unnötig zu privilegieren.

Obwohl der vorliegende Antrag sich auch dafür aus-spricht, den goldenen Weg bei Open Access zu fördern,also die freie und nichtexklusive Erstveröffentlichungvon Forschungspublikationen, bleiben die vorgeschla-genen Maßnahmen hinter diesem Anspruch zurück.

Publikationen, die im Rahmen öffentlich geförderterProjekte oder in den Ressortforschungseinrichtungendes Bundes entstanden sind, sollen nach dem vorliegen-den Antrag „spätestens zwölf Monate nach Erstveröf-fentlichung“ frei verfügbar sein. Wieder fehlt es hier aneinem Regelungsvorschlag für Monografien. Weiterbleiben bei den Grünen einige Fragen unzureichend be-antwortet: Wieso beschränkt sich der Antrag auf öffent-lich geförderte Drittmittelprojekte? Warum sollen selbstdie Ergebnisse der Ressortforschung des Bundes zu-nächst unfrei publiziert werden? Wieso wird nicht fürjegliche Art öffentlich geförderter Forschung der freieZugang zu den Ergebnissen zur Regel?

Die Antwort ist vordergründig einfach: Weil inDeutschland Wissenschaftsfreiheit so ausgelegt wird,dass es den Forscherinnen und Forschern überlassenbleibt, wie sie ihre mit Steuermitteln finanzierten Er-kenntnisse verbreiten.

Sicher, eine Umsetzung der vorliegenden Vorschlägewäre ein Fortschritt gegenüber der aktuellen Lage, aberwie gesagt: Princeton und Harvard machen vor, dass esauch andersherum geht – in einem Land, in dem die in-dividuelle Freiheit besonders hoch eingeschätzt wird.

Die Linke teilt den Ansatz der US-amerikanischenUniversitäten: Wissenschaftliche Publikationen sollenin der Regel sofort frei publiziert werden, die Exklusivi-tät bleibt die Ausnahme.

Dabei ist zu beachten: Im Moment sind es vor allemFachverlage, die das entsprechende Know-how haben,Publikationen sofort frei zur Verfügung zu stellen. Nebendieser kommerziellen Variante will die Linke die Eigen-publikation durch Forschungseinrichtungen und For-schungsverbünde stärken.

Die Linke stellt sich den Herausforderungen, OpenAccess nicht nur auf dem grünen Weg voranzubringen,und wird demnächst eine eigene Initiative einbringen,die einen goldenen Weg zu mehr Open Access aufzeigt.

Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):

Keine Herrschaft des Volkes ohne gleichberechtigtenZugang zum Wissen. Wissen ist die Grundlage für infor-

Zu Protokoll gegebene Reden

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mierte Entscheidungen freier Bürger, für ein demokrati-sches Miteinander und für mehr Pluralismus. GeteiltesWissen ist ohne Weiteres vielfaches Wissen. Daher for-dern wir, gemeinsam mit einem inzwischen breiten Bünd-nis von Wissenschaftlern und Wissenschaftsorganisatio-nen, die Öffnung der Zugangsmöglichkeiten zu Wissenund Information, zu Forschungsvorhaben, -daten und-ergebnissen. Open Access, also der dauerhafte und fürNutzerinnen und Nutzer kostenfreie Zugang zu öffentlichgeförderter Forschung, ist eigentlich eine Selbstver-ständlichkeit. Denn wie sollen wir nachkommenden Ge-nerationen erklären, warum der Staat und seine Institu-tionen die Forschung mit Steuergeldern fördern, diePublikationskosten tragen und die Zeitschriften am Endedennoch für viel Geld zurückkaufen müssen?

Die Situation ist inzwischen ganz besonders prekärbei Bibliotheken und anderen öffentlichen Institutionen.Aufgrund der Monopolstellung großer Fachverlage beider Verbreitung von Forschungsergebnissen fehlt einKorrektiv bei der Preisentwicklung. In der Konsequenzlässt sich bis heute ein kontinuierlicher Anstieg der Zeit-schriftenpreise feststellen. Als Reaktion darauf sehensich Bibliotheken und auch Hochschulen gezwungen, ihrZeitschriftenangebot einzuschränken, um die Kosten fürdie wichtigsten Publikationen zu stemmen. Auf dieseWeise ist Vielfalt in der Wissenschaft oftmals schlichtnicht mehr leistbar. Der Kostenanstieg bei den Zeit-schriften bleibt nicht nachvollziehbar, weil Gutachterin-nen und Gutachter größtenteils ehrenamtlich arbeiten,Autorinnen und Autoren ihre Beiträge in fast druckfähi-gem Format einreichen und mancherorts sogar Publika-tionsgebühren von den Autorinnen und Autoren getra-gen werden müssen.

Die Privatisierung von Wissen ist kontraproduktiv.Wissen kann sich nicht entfalten, wenn Art und Umfangder Weiterverbreitung letztlich allein auf kommerziellenMechanismen beruhen und der Zugang lediglichkleinste Wissenschaftszirkel privilegiert. Daher unter-stützen wir die Open-Access-Bewegung aus vollem Her-zen und freuen uns darüber, dass unsere Initiativen sogroßen Widerhall erleben.

Umso erstaunlicher ist es, wie lange die Bundesregie-rung zögert, die entscheidenden Schritte zu gehen. Seitlangem angekündigt, bleibt sie bis heute der deutschenWissenschafts-, Forschungs- und Bildungswelt die Re-form des Urhebergesetzes, den Dritten Korb, der aus-drücklich als sogenannter Wissenschafts- und Bildungs-korb angekündigt wurde, schuldig. Dabei sind geradeurheberrechtliche Privilegien für Bildung und Wissen-schaft angebracht, fördert doch der Zugang zu Wissenund Information den wissenschaftlichen Diskurs, dieEntwicklung von Innovationen sowie die gesamtgesell-schaftliche Wohlfahrt. Es wird Zeit, dass auch die Bun-desregierung die großen Chancen von Digitalisierungund Internet erkennt und endlich tätig wird.

Als Oppositionsfraktion gehen wir – einmal mehr –mit unserem Antrag mit gutem Beispiel voran und zeigenIhnen, wie eine Reform aussehen könnte. Ein wichtigerSchlüssel – da scheinen sich bezeichnenderweise alleParteien einig – ist das unabdingbare Recht zur Zweit-

veröffentlichung für wissenschaftliche Autorinnen undAutoren im Format der Erstveröffentlichung. Es darfnicht sein, dass Autorinnen und Autoren dahin gehenderpressbar sind, dass sie sich auf sämtliche Bedingun-gen des Verlagsvertrages einlassen müssen, wenn sieihre Beiträge einem Verlag zur Verfügung stellen.

Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die aufhohe Sichtbarkeit Wert legen und an einem Diskurs zuihren Werken bzw. Forschungsergebnissen interessiertsind, müssen in die Lage versetzt werden, diese Werkeauch an anderer Stelle zu veröffentlichen. Die Zweitver-öffentlichung auf der eigenen Homepage oder in einemOpen-Access-Journal dient dabei nicht zuletzt auch demerstveröffentlichenden Verlag, der ebenfalls von der er-höhten Sichtbarkeit der Beiträge profitiert.

Um nicht unnötige Abgrenzungsschwierigkeiten beider Frage, wo und in welchem Rahmen eine Zweitveröf-fentlichung erfolgen soll, hervorzurufen, bietet es sichan, auch eine Veröffentlichung zu kommerziellen Zwe-cken zu erfassen. Wir haben uns für die kommerzielleZweitveröffentlichungsmöglichkeit entschieden, weil wirder Überzeugung sind, dass nur auf diese Weise auchneue Geschäftsmodelle gefördert werden können, die esvermögen, auf innovative Art und Weise Weiterverarbei-tungen entsprechender Inhalte zu ermöglichen. Damiteinhergehen könnten zusätzliche Verbesserungen bei derZugänglichmachung des öffentlich geförderten Wissens.

Der dauerhafte und entgeltfreie Zugang zu For-schungsergebnissen wird aber – das hat die SPD offen-bar missverstanden – nicht allein durch ein Zweitver-wertungsrecht gewährleistet. Open Access brauchtrechtliche Rahmenbedingungen im Urhebergesetz, inden Vergaberichtlinien, für die Übernahme der Publika-tionskosten und im Aufbau einer Open-Access-Infra-struktur.

Ein wesentlicher Schritt zur Förderung von OpenAccess ist nämlich auch die rechtliche Unterstützung di-gitaler Erstveröffentlichungen unter Open-Access-Be-dingungen. Öffentliche Forschung muss vor Monopoli-sierungen durch Private geschützt und der dauerhafteZugang zu Wissen gesichert werden; die Ergebnisse öf-fentlicher Forschung müssen wieder- und weiterverwen-det werden dürfen. Öffentliche Forschungsgelder solltendaher dann vergeben werden, wenn die Open-Access-Veröffentlichung garantiert ist. Open Access sollte alsomaßgebliche Bedingung für die Vergabe öffentlicherGelder sein. So kann sichergestellt sein, dass der Staatnicht mehrfach, sowohl bei Entstehung wissenschaftli-cher Beiträge als auch bei deren Nutzung, zahlt.

Open Access hat das Ziel, für Nutzerinnen und Nutzergebührenfrei zu sein. Allerdings entstehen auch beiOpen Access Kosten. Daher schlagen wir vor, dass Pu-blikationsgebühren durch einen Publikationsfonds über-nommen werden sollen. Anteile dieses Fonds könnenprivate und öffentliche Institutionen, Drittmittelfinan-ziers oder auch Forschungseinrichtungen halten.

Für die verbesserte globale Sichtbarkeit deutscherForschung ist außerdem erforderlich, dass wir den Auf-bau einer Open-Access-Infrastruktur, wozu Reposito-

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rien, Lehr- und Lernplattformen, Datenbanken, vernetzteOpen-Access-Journals etc. gehören, nachdrücklich un-terstützen. Hier braucht es einheitliche Formate undoperable Schnittstellen, um Wissen adäquat zu verbreitenund den Wissenschaftsdiskurs effektiv zu befördern.

Schließlich erwarten wir von der Bundesregierungeine Evaluation zu den bislang unternommenen Anstren-gungen zur Förderung von Open Access. Die Fragen,die im Rahmen einer solchen unabhängigen Evaluationbeleuchtet werden sollten, sind unter anderem folgende:Wie stehen wir international im Vergleich zu Frankreichund dessen nationaler Open-Access-Initiative? Wie ste-hen wir im Vergleich zu den USA und ihren parlamenta-rischen Open-Access-Initiativen? Wird Deutschland miteiner Open-Access-Gesamtstrategie der vorgeschlage-nen Art Vorbild für europäische Bemühungen um ein-heitliche Open-Access-Standards sein können? DieseFragen müssen ehrlich beantwortet werden, da wir unsauf dem Feld der Digitalisierung und des Internets in ei-nem Gebiet großer Dynamik bewegen und die Chancenergreifen sollten, die sich daraus ergeben. Hier hätte dieBundesregierung einmal die Gelegenheit, sich fort-schrittlich zu zeigen. Mit ihrer zögerlichen Art, grundle-gende Reformen des Urheberrechts zu ergreifen, lässtsie bewusst diese Chance verstreichen.

Open Access sollte ein Schritt hin zum Aufbau einerumfassenden Wissensallmende sein, von der noch unsereNachkommen zehren können, weil der Staat sich in derForschungsförderung nachhaltig engagiert hat. Wissenist heute ein ganz entscheidender Faktor zur Förderungvon Demokratie, Pluralismus und gesellschaftlichemWohlstand. Das muss auch die Bundesregierung lang-sam erkennen.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 17/7031 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist das so beschlos-sen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf:

Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachtenEntwurfs eines Gesetzes zur Einführung vonKammern für internationale Handelssachen(KfiHG)

– Drucksache 17/2163 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss (f)Ausschuss für Wirtschaft und Technologie

Dr. Jan-Marco Luczak (CDU/CSU): Das deutsche Recht und die deutsche Justiz genießen

international hohe Achtung. Abstraktionsgrad und sys-tematische Stringenz des deutschen Rechtssystems sowiedie Effizienz, die Leistungsfähigkeit und die verhältnis-mäßig niedrigen Gerichtskosten sind weltweit aner-kannt. Deutsches Recht dient daher als Vorbild für Re-formen in anderen Staaten, insbesondere in Schwellen-und Entwicklungsländern. „Made in Germany“ als Gü-

tesiegel steht weltweit nicht nur für beste Qualität ausDeutschland im Bereich der Automobil- und Maschinen-bauindustrie. Auch Recht „Made in Germany“ ist einExportschlager.

Dennoch steht das deutsche Recht in einem harten in-ternationalen Wettbewerb. Gerade bei Verträgen oderRechtsstreitigkeiten mit internationalem Bezug wird oft-mals nicht die Geltung des deutschen Rechts, nichtDeutschland als Gerichtsstandort vereinbart. DieGründe sind vielfältig. Sie wurzeln zum Teil im materiel-len Recht, zum Teil im Verfahrensrecht. Da Recht aberdurchaus auch ein wirtschaftlicher Standortfaktor ist,haben sich die Bundesnotarkammer, die Bundesrechts-anwaltskammer, der Deutsche Anwaltverein, der Deut-sche Notarverein sowie der Deutsche Richterbund zuder Initiative „Law – Made in Germany“ zusammenge-schlossen: Ziel ist es, für den Rechtsstandort Deutsch-land zu werben und ihn attraktiver auszugestalten.

In diesem Zusammenhang ist die heute zur Beratunganstehende, von den Ländern Hamburg und Nordrhein-Westfalen eingebrachte Bundesratsinitiative zum Ent-wurf eines Gesetzes zur Einführung von Kammern fürinternationale Handelssachen zu sehen. Worum geht es?

Nach dem Bundesrat leidet der GerichtsstandortDeutschland darunter, dass § 184 Gerichtsverfassungs-gesetz allein Deutsch als Gerichtssprache zulässt. Diessoll nach Analyse des Bundesrates ausländische, vor al-lem englischsprachige Vertragspartner und Prozesspar-teien davor abschrecken, vor einem deutschen Gerichtzu verhandeln: Ein Prozess mit einer fremden, nur imWege der Übersetzung indirekt verständlichen Sprachesei für ausländische Unternehmen unattraktiv. Im Er-gebnis würde das deutsche Recht trotz all seiner Vorzügekaum gewählt und bedeutende wirtschaftsrechtlicheStreitigkeiten im englischsprachigen Ausland ausgetra-gen.

Der Gesetzentwurf des Bundesrates sieht nun vor, imGerichtsverfassungsgesetz die Möglichkeit zu veran-kern, bei den Landgerichten Kammern für internatio-nale Handelssachen einzurichten, vor denen das Verfah-ren unter bestimmten Voraussetzungen – Handelssachemit internationalem Bezug und übereinstimmender Willeder Parteien – in englischer Sprache geführt wird. ImRahmen des Verfahrens sollen auch das Protokoll unddie Entscheidungen des Gerichts in englischer Spracheabgefasst werden.

Wie ist dieser Vorstoß nun zu bewerten? Richtig istzunächst, dass eine fremde Sprache tatsächlich eineBarriere sein kann, die bei der Wahl des Gerichtsstand-ortes – zumindest psychologisch – eine Rolle spielenkann. Die Möglichkeit der Verfahrensführung in engli-scher Sprache könnte daher in der Tat zu einer Stärkungdes Rechtsstandorts Deutschland führen. Bei internatio-nalen Rechtsstreitigkeiten sind die zugrunde liegendenVerträge und die Kommunikationen zwischen den Par-teien zudem in aller Regel ebenfalls in Englisch. Wennhier eine Kongruenz zwischen der Vertragssprache undder Sprache des gerichtlichen Verfahrens hergestelltwird, kann dies zu einer größeren Rechtssicherheit füh-ren. Auch Kosten für Übersetzungen oder Dolmetscher

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Dr. Jan-Marco Luczak

würden verringert werden. Es gibt also durchaus guteArgumente für diese Bundesratsinitiative.

Wahr ist aber auch, dass mit der Prozessführung inenglischer Sprache eine gewisse Einschränkung der Ge-richtsöffentlichkeit einhergeht. Nun mag es so sein, dasszwar die Verfahrensbeteiligten, die Rechtsanwälte undauch die Richter über gute Englischkenntnisse verfügen.Auch hier müssen wir allerdings genau hinschauen, obdie erforderlichen Sprachkompetenzen wirklich in aus-reichendem Maß vorhanden sind oder ob nicht zusätzli-che Ausbildung mit den entsprechenden Kosten notwen-dig ist. Selbst deutsche Juristen mit sehr gutemenglischen Fachvokabular werden auf Anhieb nur mitMühe einen „Kostenfestsetzungsbeschluss“, die „Dritt-widerspruchsklage“, die „Haupt- oder Nebeninterven-tion“, die „streitgenössische Nebenintervention“ oderden Begriff „Schriftsatznachlassfrist“ übersetzen kön-nen. Aber selbst wenn dies dahingestellt sei, so könnenwir jedenfalls nicht davon ausgehen, dass jeder Prozess-zuschauer einem Prozess mit komplizierten juristischenFachtermini in Englisch folgen kann. Wenn das aber soist, ist dies zwar vielleicht nicht verfassungsrechtlich,aber doch rechtspolitisch durchaus fragwürdig. Ich ver-kenne nicht, dass das Bundesverfassungsgericht betonthat: „Prozesse finden in der, aber nicht für die Öffent-lichkeit statt.“ Dennoch – die Öffentlichkeit der Ge-richtsverhandlung wurzelt im Demokratieprinzip und istdaher tragender Grundsatz unseres Prozessrechts – gilt:Einschränkungen bedürfen besonderer Rechtfertigung.

Zu bedenken ist auch, dass die Rechtssprache inte-graler Bestandteil unserer in Deutschland gewachsenenRechtskultur ist. Beides hat sich zusammen entwickelt,ist aufeinander bezogen. Rechtssprache und materiellesRecht sind also auf das Engste miteinander verschränkt.Das bedeutet umgekehrt, dass es zu Unsicherheiten beider Anwendung des materiellen oder auch prozessualenRechts kommen kann, wenn in einem Prozess in engli-scher Sprache deutsches, also in deutscher Sprache ab-gefasstes Recht angewendet wird.

Schließlich muss auch gefragt werden, ob für eng-lischsprachige Kammern für internationale Handelssa-chen ein wirklicher Bedarf besteht. Am OLG Köln gibtes seit dem 1. Januar 2010 das Modellprojekt „Englischals Gerichtssprache“. Die Überlegungen zu diesem Mo-dellprojekt waren die gleichen, wie sie hier vom Bundes-rat angeführt werden. Für das Modellprojekt haben dieLandgerichte Köln, Aachen und Bonn je eine Kammersowie das Oberlandesgericht Köln einen Senat einge-richtet, vor denen Zivilprozessparteien unter bestimmtenVoraussetzungen in englischer Sprache verhandeln kön-nen. Nach gut eineinhalb Jahren gab es in diesem Mo-dellprojekt sage und schreibe einen einzigen Fall – näm-lich am Landgericht Bonn –, in dem die Parteientatsächlich in Englisch verhandeln wollten. Das Beru-fungsverfahren am Oberlandesgericht Köln wurde hin-gegen wieder in deutscher Sprache durchgeführt. Auchdiesen Umstand muss man bewerten.

Als Fazit möchte ich daher nach allem festhalten:Grundsätzlich sollten wir uns der fakultativen Einrich-tung von Kammern für internationale Handelssachen

nicht a priori verschließen – es gibt eine Reihe von gutenArgumenten, die hierfür sprechen, die dafür sprechen,dass Deutschland als Rechtsstandort gestärkt und sichdaraus positive volkswirtschaftliche Effekte ergebenwürden. Allerdings gibt es aus meiner Sicht noch einigeFragezeichen: Die Öffentlichkeit der Gerichtsverhand-lung darf nicht eingeschränkt, Rechtsunsicherheitendurch das Auseinanderfallen von Prozesssprache undSprache des materiellen Rechts müssen vermieden undder tatsächliche Bedarf muss ermittelt werden.

Diese Fragen werden wir im parlamentarischen Ver-fahren ergebnisoffen beraten, prüfen und abwägen. Fürein endgültiges Votum ist es an dieser Stelle daher nochzu früh.

Burkhard Lischka (SPD): Das vorgeschlagene Gesetz will erreichen, dass be-

deutende wirtschaftsrechtliche Streitigkeiten künftig andeutschen Landgerichten ausgetragen werden. Deshalbsollen dort Kammern für internationale Handelssacheneingerichtet werden. Dort sollen die Prozesse in engli-scher Sprache geführt werden. Das bedeutet: Die münd-liche Verhandlung wird auf Englisch geführt und auchSchriftsätze, Protokolle und Gerichtsentscheidungensollen in englischer Sprache abgefasst sein. Lediglichder Tenor von Entscheidungen soll auch in die deutscheSprache übersetzt werden.

Ich weiß, dass der Deutsche Anwaltverein ein Unter-stützer dieser Idee ist. Der Ausschuss für internationa-len Rechtsverkehr erhofft sich einen größeren Anteil aninternationalen Rechtsstreitigkeiten für deutscheDienstleister. Ich weiß aber auch, dass die nicht ganz sogroßen Anwaltskanzleien nicht begeistert sind. DieRechtsanwaltskammer Stuttgart hat mehr für diese Be-rufsgruppe gesprochen und den Entwurf als verfehlt be-zeichnet.

Nun machen wir das Recht ja nicht nur für die An-wälte, auch wenn wir uns freuen, wenn es ihnen gut geht.Das Recht, auch das Prozessrecht, ist für die Bürger undfür die Unternehmen da.

Und deshalb ist meine erste Frage: Wollen die betrof-fenen Unternehmen überhaupt ihre internationalenHandelsstreitigkeiten vor deutschen staatlichen Gerich-ten austragen? Fakt ist doch, dass „die internationaleHandelsschiedsgerichtsbarkeit die ordentlichen Ge-richte im Bereich der grenzüberschreitenden Streit-schlichtung weitgehend verdrängt hat“. So heißt es indem im Gesetzentwurf zitierten Beitrag von ProfessorGralf-Peter Calliess und Hermann Hoffmann. Ja, das istso. Aber warum freuen wir uns nicht darüber?

In allen anderen Bereichen fördern wir die außerge-richtliche Streitbeilegung. „Schlichten statt Richten“heißt das Motto bei kleineren Streitwerten und Nachbar-schaftsstreitigkeiten. Dort sind wir teilweise sehr weitgegangen und schreiben dem einfachen Bürger denGang zur Schlichtungsstelle vor, bevor er sich an dasstaatliche Gericht wenden darf. Wir haben auch die Me-diation entdeckt und freuen uns, wenn die Menschen ei-

Zu Protokoll gegebene Reden

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Burkhard Lischka

nen guten Interessenausgleich selbst vereinbaren kön-nen.

Wenn aber große Unternehmen ihre Streitigkeiten pri-vat schlichten, wollen wir den privaten Schiedsgerichtenoffenbar Konkurrenz machen. Wozu? Gibt es einenSchrei der Wirtschaft nach der staatlichen Gerichtsbar-keit? Gibt es Beschwerden von großen Unternehmen,weil sie zu privaten Schiedsgerichten gezwungen wer-den? Mir wäre das nicht bekannt. Ich vermute, dass da-für kein echter Bedarf besteht.

Denn die internationale Handelsschiedsgerichtsbar-keit hat einige Vorteile, die die staatlichen Gerichte sonicht bieten können und auch nicht unbedingt bietenwollen. Ich will sie nur kurz aufzählen: Die Beteiligtenkönnen sich das anwendbare materielle Recht aussu-chen und sich auch auf private Regelwerke verständi-gen. Die Beteiligten können sich ihre Schiedsrichteraussuchen. Sie können sich darüber verständigen, ob sieeinen oder mehrere Schiedsrichter brauchen. Sie könnenden Ort des Schiedsverfahrens bestimmen. Das Schieds-verfahren geht schnell. Es gibt nur eine Instanz. Die Ver-fahren sind nicht öffentlich und damit diskret.

Alles das können die staatlichen Gerichte entwedergar nicht oder nicht vollständig oder nur mit erhebli-chem Aufwand bieten. Warum sollten wir diesen Auf-wand betreiben, obwohl die Dienstleistung gar nicht be-nötigt wird?

Aber unterstellt, es wäre für unsere Unternehmenein Vorteil, wenn sich internationale Vertragspartner inZukunft vermehrt auf deutsches Recht oder zumindestauf den Gerichtsstandort Deutschland verständigenwürden – was wäre der Preis dafür, dass uns das über-haupt gelingen könnte?

Ich sage, das wird teuer. Wer eine echte Konkurrenzzur privaten Schiedsgerichtsbarkeit aufbauen will, dermuss dies konsequent, exzellent, langfristig und verläss-lich tun. Das ist harte Arbeit.

Zur Konsequenz würde zum Beispiel gehören, dassder Instanzenzug durchgängig bis zum Bundesgerichts-hof in englischer Sprache durchgezogen werden kann.Der Entwurf möchte für den BGH nur als Kannbestim-mung die englische Verhandlungsführung ermöglichen.Das wäre ein merkwürdiger Bruch im Angebot.

Mit ein paar guten internationalen Handelskammernan einigen Landgerichten und entsprechenden Senatenbei den Oberlandesgerichten wäre es ebenfalls nicht ge-tan. Diese Spruchkörper müssten personell so gut aus-gestattet sein, dass sie wirklich alle Verfahren schnellerledigen können. Es müssten genügend Richterinnenund Richter beschäftigt werden, die sich dieser Aufgabewidmen, und sie müssten nicht nur sprachlich gewandtsein, sondern auch ständig fachlich qualifiziert werden.Es stimmt zwar, dass sich international agierende Ver-tragspartner heute schon auf irgendein anzuwendendesnationales Recht verständigen können. Das sagt die eu-ropäische Rom-I-Verordnung. Das vereinbarte Rechtmuss dann von den Richtern in den europäischen Mit-gliedstaaten angewandt werden – eine enorme fachlicheHerausforderung für die nationalen Gerichte. Wie ge-

sagt, das ist heute schon so. Vielleicht ist es vor diesemHintergrund aber ganz gut, dass die Fallzahlen vor denKammern für Handelssachen seit Jahren sinken, sodasskeine Überforderung stattfindet.

Ich halte es aber für insgesamt sehr kühn, wenn dieBundesländer diese Verfahren gezielt und in großenFallzahlen an unsere Gerichte ziehen wollen. Wäre esnicht wichtiger, dass wir für den ganz normalen Bürger,für unseren Mittelstand und unsere Handwerksbetriebeschnellere Gerichtsverfahren gewährleisten könntenund hierfür die Richterkapazitäten verstärken würden?Die Beschwerden über die langen Verfahrensdauernkennen wir alle.

Fazit: Meine Skepsis ist da. Wir werden aber alle Ar-gumente wägen und sicher auch berücksichtigen, dassdie Länder ja nur eine Experimentierklausel wollen.Vielleicht sollten wir sie am Experimentieren nicht hin-dern. Ich freue mich jedenfalls auf weiterführende undinteressante Beratungen.

Marco Buschmann (FDP): Wir debattieren heute über einen vom Bundesrat ein-

gebrachten Gesetzentwurf zur Einführung von Kam-mern für internationale Handelssachen. Lassen Sie michkurz einführen, warum ich es als wichtig erachte, diesenGesetzentwurf hier im Deutschen Bundestag zu diskutie-ren.

In einer globalisierten Handelswelt begegnen wirdem Wettbewerb nicht nur auf rein ökonomischer Ebene.Ebenso muss sich unser Rechtssystem im Vergleich zuanderen Rechtskreisen behaupten. Insbesondere in derinternationalen Geschäftswelt ist das angelsächsischeRecht auf dem Vormarsch.

Das liegt nicht an der Überlegenheit des CommonLaw. Vielmehr herrscht in der juristischen Fachwelt dieAuffassung vor, dass das deutsche Recht im internatio-nalen Vergleich einen sehr hohen Qualitätsstandard fürsich beanspruchen kann. Dieser hohe Qualitätsstandardsetzt sich in der Rechtspflege fort; deutsche Gerichtsver-fahren führen in der Regel schnell und mit vergleichs-weise niedrigen Kosten zu einem für die Rechtsuchendenbefriedigenden Ergebnis. Somit eignen sich nicht nurunsere Waren als Exportschlager. Auch unser Rechtssys-tem könnte einer werden.

Jedoch ist das deutsche Recht im Vergleich zum Com-mon Law einem Wettbewerbsnachteil ausgesetzt. UnserRechtskreis könnte durch Abbau dieses Wettbewerbs-nachteils attraktiver werden.

Der angelsächsische Rechtskreis spielt bislang denVorteil der englischen Sprache als internationale Han-delssprache voll aus. Unternehmen weichen häufig aufenglischsprachige Gerichtsstände aus oder vereinbarenSchiedsklauseln unter Verwendung der Verfahrensspra-che Englisch, weil Englisch meist allen Beteiligtengeläufig ist. Die Einführung von Kammern für interna-tionale Handelssachen, in denen Englisch als Gerichts-sprache zugelassen werden soll, kann dazu beitragen,die Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Rechts interna-

Zu Protokoll gegebene Reden

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Marco Buschmann

tional erheblich zu verbessern und die Ausweichbewe-gungen abzumildern.

Dass es bereits jetzt ein Bedürfnis für einen solchenAnsatz gibt, hat ein Modellprojekt des Oberlandesge-richtsbezirks Köln gezeigt. Die Landgerichte Köln,Bonn und Aachen haben in ihren Geschäftsverteilungs-plänen Kammern eingerichtet, in denen auf Englischverhandelt werden kann. Sie berufen sich dabei auf§ 185 GVG, wonach bei Übereinstimmung des Klägersund des Beklagten die Verhandlung in englischer Spra-che geführt wird, wenn beide auf einen Dolmetscher ver-zichten und der Prozess einen internationalen Bezugaufweist. Sowohl die Justiz als auch die Anwaltschaft inKöln sind sich sicher, dass ihre Region, die Sitz von vie-len internationalen Unternehmen ist, nur so attraktivbleiben kann.

Der vorliegende Gesetzentwurf will dabei nicht nurerreichen, dass nach § 185 GVG ausnahmsweise in eng-lischer Sprache verhandelt werden kann, sondern dassauch Schriftsätze und Urteile entsprechend ausgefertigtwerden können. Damit kann die Sprachbarriere desdeutschen Rechts für internationale Unternehmen wei-ter abgebaut werden.

Um dieses Vorhaben zu prüfen und weiterentwickelnzu können, wird der Rechtsausschuss zu diesem Gesetz-entwurf im November eine öffentliche Anhörung durch-führen.

Zuletzt möchte ich noch auf die Sorgen der Kritikereingehen. Es geht nicht um die Ersetzung der deutschenSprache als Gerichtssprache. Vielmehr geht es darum,unser hervorragendes Rechtssystem zu bereichern. Esgeht lediglich um eine eng begrenzte Ausnahme für deninternationalen Handelsverkehr, die das Einverständnisaller Beteiligten voraussetzt. Dagegen kann, wie ichmeine, niemand etwas haben.

Jens Petermann (DIE LINKE): Das vorliegende Gesetzesvorhaben soll dem Ansehen

des Gerichtsstandortes Deutschland dienen und bedeu-tende wirtschaftsrechtliche Verfahren anziehen. Das willman durch die Einrichtung von Kammern für internatio-nale Handelssachen bei den Landgerichten erreichen,die ihre Verhandlung in englischer Sprache führen sol-len. Die nächsthöhere Instanz darf dann in englischeroder deutscher Sprache verhandeln und gegebenenfallseinen Dolmetscher hinzuziehen.

Man argumentiert, dass der GerichtsstandortDeutschland unter der ausschließlichen Verwendungder deutschen Sprache leide – eine Behauptung, die an-gesichts der schlechten Personallage an deutschen Ge-richten an der Realität vorbeigeht. Der GerichtsstandortDeutschland leidet nämlich nicht unter der Gerichts-sprache, welche aus gutem Grund Deutsch ist, sondernunter einer quantitativen und finanziellen Unterausstat-tung der Gerichte und Justizbehörden – ein Umstand,der aufgrund der gleichzeitig sehr angespannten Situa-tion auf dem Arbeitsmarkt für Juristen und Juristinnengleich doppelt schmerzlich ist.

Die Behauptung, zahlreiche Richterinnen und Richterwürden die englische juristische Fachsprache bereitshervorragend beherrschen, halte ich für fraglich. Jeden-falls trifft es nicht zu, dass mittlerweile eine Vielzahl vonRichtern über Auslandserfahrung im englischsprachi-gen Ausland und über einen LL.M-Titel verfügen. Dassind wohl eher die Ausnahmen. Der Gesetzentwurfselbst räumt die Notwendigkeit ergänzender Fortbildun-gen der Richterinnen und Richter sowie auch des nicht-richterlichen Personals ein, die im Falle einer Umset-zung auch notwendig sein wird. Ein deutlicher Mehrauf-wand und eine hohe zusätzliche Belastung für das Per-sonal sind hier vorprogrammiert. Im Gegenzug erwartetman gesteigerte Gebühreneinnahmen durch die ange-strebte Attraktivitätssteigerung. Meine Richterkollegenin Thüringen haben übrigens vornehmlich Handelssa-chen mit osteuropäischem Bezug zu verhandeln. Mit derEinführung der englischen Sprache für alle internatio-nalen Handelssachen müssten sich in solchen Verfahrenalle Beteiligten in einer Fremdsprache verständigen.Das wäre eine deutliche Verschlechterung gegenüberdem Status quo, bei dem sich nur eine Partei auf eineFremdsprache einstellen muss.

Höchst fraglich ist aber auch, ob das vorliegende Ge-setz überhaupt mit dem im Gerichtsverfassungsgesetznormierten Öffentlichkeitsgrundsatz vereinbar wäre.Um diesem zu genügen, müssen Gerichtsverfahren fürjedermann verständlich sein und dementsprechend aufDeutsch vollzogen werden. In der Begründung zum Ge-setzentwurf wird dies mit dem Hinweis auf eine Umfragebestritten, in der 67 Prozent der Befragten angaben,dass sie Englisch „einigermaßen gut“ sprechen und ver-stehen können. Hier wird zum einen nicht berücksichtigt,dass die juristische Fachsprache deutliche Besonderhei-ten aufweist und dementsprechend längst nicht jede desEnglischen mächtige Person einer auf Englisch gehalte-nen Gerichtsverhandlung folgen könnte. Zum anderenwäre es verfassungsrechtlich bedenklich, wenn nur einsprachlich entsprechend vorgebildeter Teil der Bevölke-rung die Kontrollfunktion der Öffentlichkeit tatsächlichausüben könnte. Es ist ja gerade der Sinn der Kontroll-funktion des Öffentlichkeitsgrundsatzes, die gesamte Be-völkerung zu beteiligen und niemanden auszuschließen.In einer Demokratie muss die Justiz als dritte Gewalt fürjedermann verständlich bleiben.

In dem Gesetzentwurf wird ferner behauptet, dassausländische Vertragspartner und Prozessparteien denGerichtsstandort Deutschland trotz international hoherAnerkennung für die deutsche Justiz meiden würden, umnicht in einer für sie unverständlichen Sprache verhan-deln zu müssen. Tatsache ist jedoch, dass heutzutageviele Rechtsanwaltskanzleien, insbesondere die ohnehininternational tätigen, längst über mehrsprachiges Per-sonal verfügen. Der Zugang zu deutschen Gerichten fürinternationale Mandanten ist mithin über die sie vertre-tenden Kanzleien bereits möglich. Die einzigen, diezweifelsfrei einen zählbaren Nutzen durch dieses Gesetzhaben dürften, sind eben diese mit englischsprachigenMandaten betrauten Anwaltskanzleien, die einen großenTeil ihrer lästigen Übersetzungsarbeit auf die Gerichteabwälzen könnten.

Zu Protokoll gegebene Reden

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Jens Petermann

Die Initiatoren dieses Gesetzes gehen davon aus, dasses durch die angeblich steigende Attraktivität des Ge-richtsstandortes Deutschland zu einer Zunahme an Ver-fahren mit hohen Streitwerten kommen wird. Dabei wer-den Gebühreneinnahmen erwartet, die die Kosten derUmstellung auf die englische Sprache bei weitem über-steigen. Das freut die Finanzminister der Länder. Auf-grund ihrer verfassungsmäßigen Verankerung imGrundgesetz darf die Justiz als dritte Gewalt des Staatesnicht an finanziellen Interessen und Kostendeckung ge-messen werden.

Auch die Bundesregierung bemerkt in ihrer Stellung-nahme zum vorliegenden Gesetzentwurf, dass sich impraktischen Vollzug erst noch erweisen müsse, ob für ge-richtliche Verfahren dieser Art überhaupt ein tatsächli-cher Bedarf bestehe. Diese Experimentierfreudigkeit istvöllig fehl am Platze. Letztlich bleibt festzuhalten, dassman die ohnehin äußerst begrenzten Mittel, die der Jus-tiz zur Verfügung stehen, nicht durch solch unnötige undverfassungsrechtlich bedenkliche Maßnahmen weiterstrapazieren sollte. Viel wichtiger wäre es, endlich diebestehenden Probleme anzupacken und das den Gerich-ten zur Verfügung stehende Personal deutlich aufzusto-cken. Nur so kann eine effektive Arbeit an den Gerichtenweiterhin gewährleistet werden, und nur dann bleibtauch die in diesem Gesetzentwurf angeführte hohe inter-nationale Anerkennung der deutschen Justiz erhalten.

Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Mit der Zunahme des globalen Wirtschaftsverkehrs

stellen sich auch im Handelsrecht neue Herausforderun-gen. Viele internationale Handelsverträge werden heutein englischer Sprache verfasst. Diese Vertragsspracheist ein Grund dafür, dass für Verträge häufig das anglo-amerikanische Recht gewählt und der Gerichtsstand imangloamerikanischen Raum begründet wird. So bewe-gen sich deutsche Unternehmen oft nicht mehr im deut-schen Recht bzw. in der deutschen Gerichtsbarkeit,wenn sie ihre Ansprüche durchsetzen wollen. Diesschwächt den Gerichtsstandort Deutschland und dieStellung des deutschen Rechts im Weltmarkt.

Der Bundesrat möchte mit seiner Gesetzesinitiativefür bestimmte Rechtsstreitigkeiten die englische Spracheals Gerichtssprache in Deutschland einführen. Ermög-licht werden soll die Einrichtung von Kammern für in-ternationale Handelssachen, die Handelssachen mit in-ternationalem Bezug in englischer Sprache verhandelnkönnen. Hierdurch will der Bundesrat die Attraktivitätdes Rechtsstandortes Deutschland und des deutschenmateriellen Rechts steigern.

In der Praxis wird es sich vermutlich um eine über-schaubare Anzahl von Fällen handeln, die vor den Han-delskammern für internationale Handelssachen ausge-tragen werden. Diese Fälle können jedoch von hoherBedeutsamkeit sein und so die Bedeutung deutschenRechts fördern. Deshalb lohnt es sich, dass wir dieseGesetzesinitiative sorgfältig prüfen.

Im deutschen Recht berücksichtigen wir bereits dieBesonderheiten von Handelssachen. Die Kammern für

Handelssachen sind nicht nur mit Berufsrichtern, son-dern mit einem Richter und zwei ehrenamtlichen Rich-tern aus dem Kaufmannsstand besetzt. Durch die Mi-schung aus Fach- und Sachkompetenz erreichen wireine hohe Qualität in der Entscheidungsfindung.

Es wäre kein Novum, wenn in Deutschland in fremderSprache nach deutschem Recht verhandelt würde. VorSchiedsgerichten können die Parteien bereits die Spra-che, in der das Verfahren geführt werden soll, vereinba-ren. So werden vor Schiedsgerichten Verfahren in engli-scher Sprache geführt, die nach deutschem Rechtentschieden werden. Die Freiheit der Sprachwahl trägtsicher zu der „Abwanderung“ von den Handelskam-mern an die Schiedsgerichte bei.

Auch die deutsche Rechtswissenschaft hat sich schonlange auf einen internationalen Wettbewerb eingestellt.Es gibt englischsprachige Vorlesungen, Seminare undStudiengänge. Zahlreiche Studentinnen und Studentenverbringen einen Teil ihres Studiums im Ausland. Wirsollten nun auch unser deutsches Rechtssystem und un-sere deutsche Rechtsordnung am internationalen Wett-bewerb teilhaben lassen und als interessante Alternativezum angloamerikanischen Recht fördern.

Uns Grünen ist neben der internationalen „Wettbe-werbsfähigkeit“ deutscher Gerichte aber auch wichtig,dass Deutsch als Gerichtssprache seine Bedeutung bei-behält. Englisch soll nicht als generelle weitere Ge-richtssprache eingeführt werden. Es soll auch keineVermischung der Sprachen geben. Die Anwendung eng-lischer Sprache soll auf die Fälle beschränkt werden, dievor den Kammern für internationale Handelssachen ver-handelt werden. In den Verfahren muss es sich um eineHandelssache mit internationalem Bezug handeln, unddie Parteien müssen zugestimmt haben, das Verfahren inenglischer Sprache durchführen zu wollen. Niemandemsoll aufgedrängt werden, in einer Fremdsprache zu ver-handeln. Sollten alle Parteien des Rechtsstreits aus-drücklich erklären, dass sie eine Verhandlung in engli-scher Sprache bevorzugen, so soll ihnen dieser Weg nichtversperrt sein. In der Praxis wird sich dann noch erwei-sen müssen, wie sich in diesen Verfahren der Instanzen-zug bis zum Bundesgerichtshof bewährt.

Zusammenfassend begrüßen wir Grüne, dass der vor-liegende Gesetzentwurf die Stärkung des deutschenRechtssystems im globalen Wettbewerb zum Themamacht. Das ist auch uns ein wichtiges Anliegen. Der Ge-setzentwurf geht daher in die richtige Richtung.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-

wurfs auf Drucksache 17/2163 an die in der Tagesord-nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Findetdas Ihr Einverständnis? – Dann ist das so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten MatthiasW. Birkwald, Diana Golze, Dr. Martina Bunge,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKE

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Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms

Die finanzielle Deckelung von Reha-Leistun-gen in der gesetzlichen Rentenversicherungaufheben – Reha am Bedarf ausrichten

– Drucksache 17/6914 – Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)Ausschuss für Gesundheit

Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): Der Grundsatz „Reha vor Rente“ ist ein zentrales

Prinzip in der gesetzlichen Rentenversicherung. Es ent-spricht dem Grundsatz der Humanität, alles zu tun,damit Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer durch Be-rufstätigkeit verursachte gesundheitliche Beeinträchti-gungen wieder überwinden können.

Auch Arbeitgeber, Rentenversicherung und Sozial-versicherungsträger, die ganze Gesellschaft, haben ander Verhinderung des vorzeitigen Ausscheidens aus demErwerbsleben und der dauerhaften Wiedereingliederungins Erwerbsleben ein nachvollziehbares Interesse. Stu-dien zeigen, dass die durchschnittlichen Kosten für eineRehabilitationsmaßnahme von 3 600 Euro sich bereitsamortisieren, wenn der Beginn einer Erwerbsminde-rungsrente um vier Monate hinausgeschoben wird. DasPrognos-Institut hat ermittelt, dass die Gesellschaft füreinen in medizinische Rehabilitation investierten Euro5 Euro zurückerhält.

Deutschland gehört zusammen mit vier weiterenOECD-Ländern zu denjenigen, die die höchsten Ausga-ben für Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben aufwei-sen. Die finanziellen Mittel, die der gesetzlichen Renten-versicherung für Leistungen zur Teilhabe, das sindinsbesondere medizinische Rehabilitation und berufs-fördernde Maßnahmen, zur Verfügung stehen, werdengemäß den gesetzlichen Vorgaben jährlich entsprechendder voraussichtlichen Entwicklung der Bruttolöhne und-gehälter je Arbeitnehmer aufgestockt. Deshalb ist dieAussage im Antrag der Linken schlichtweg falsch, dassein politisch willkürlicher Ausgabendeckel die Reha-leistungen begrenzt. Da auch die Einnahmen der gesetz-lichen Rentenversicherung gemäß den Lohnerhöhungenzunehmen, war es eine logische gesetzliche Regelung,die Lohnentwicklung auch als Bezugskriterium für dieErhöhung der Rehaausgaben zu wählen.

Andererseits stellt sich aber zu Recht die Frage, obdie bisherige Formel die tatsächliche Entwicklung desBedarfs auch für die Zukunft korrekt abbildet. Das hatinsbesondere drei Gründe:

Aufgrund der Altersentwicklung der Bevölkerungnimmt auch das Durchschnittsalter der Erwerbsbevölke-rung zu. Da mit zunehmendem Alter die Ausgaben fürGesundheitsleistungen steigen, wirkt sich dieses auchauf den Rehabilitationsbedarf aus.

Die Anhebung des Renteneintrittsalters und derdurchschnittlichen Lebensarbeitszeit führen mit auf-wachsender Tendenz zu zusätzlichem Rehabilitationsbe-darf.

Medizinischer Fortschritt mit neuen Behandlungs-möglichkeiten sowie eine veränderte Krankheitsstruktur

mit einem stärkeren Anteil chronischer und psychischerErkrankungen schlagen sich auch in der Kostenstrukturfür Rehabilitationsleistungen nieder.

Die bisherige Koppelung an die Lohnentwicklung inVerbindung mit diesen absehbaren Entwicklungen führtdazu, dass die bestehende Budgetierung – der soge-nannte Rehadeckel – faktisch von Jahr zu Jahr ver-schärft wird. Die Zahl der von den Versicherten bean-tragten beruflichen Rehabilitationsleistungen ist in denvergangenen Jahren kontinuierlich angestiegen. Sie lagim Jahr 2000 bei 1 605 724. Im Jahr 2010 gingen2 082 108 Anträge ein. Das entspricht einer Steigerungvon 29,7 Prozent. In derselben Zeit stieg das zur Verfü-gung stehende Finanzvolumen aber lediglich um22,1 Prozent, von 4 553,1 Millionen Euro im Jahr 2000auf 5 559,3 Millionen Euro im Jahr 2010.

Um mit dem bereitstehenden Geld auszukommen, hatdie Deutsche Rentenversicherung den Grundsatz „Am-bulant vor stationär“ gestärkt, die Aufenthaltsdauer inRehabilitationsmaßnahmen gekürzt und „Fremdbele-gungen“ restriktiver gehandhabt. Zugleich erfolgte einestrengere Antragsprüfung insbesondere bei rentennahenund arbeitsmarktfernen Versicherten. Dieses wird unteranderem auch darin deutlich, dass die Zahl der Bewilli-gungen von circa 70 Prozent im Jahr 2000 auf circa64 Prozent der Anträge im Jahr 2010 gesunken ist.

Die Deutsche Rentenversicherung stößt bei ihren Be-mühungen, mit den bereitgestellten Mitteln für Rehabili-tationsleistungen auszukommen, allmählich an dieGrenze des Machbaren. Eine weitere Öffnung derSchere zwischen Rehabilitationsbedarf und zur Verfü-gung stehenden Mitteln halten viele für nicht verkraft-bar. Wesentliche Spielräume durch Effizienzsteigerun-gen, die nicht zulasten der Versicherten gehen, sindkaum mehr vorhanden. Gerade wenn Arbeiten bis 67 füralle möglich sein soll, ist im Gegenteil sogar mehr be-rufliche Rehabilitation zum Erhalt und zur Wiederher-stellung der Arbeitskraft nötig. Dass nun die Linken un-ter Verweis auf diese Entwicklung die Anhebung desRehadeckels fordern, ist wohl ein Indiz dafür, dass trotzaller gegenteiligen Rhetorik die Linken mittlerweile mitder schrittweisen Anhebung der Regelaltersgrenze inder gesetzlichen Rentenversicherung auf 67 Jahre ver-söhnt sind. Das wäre ja immerhin ein beachtlicher poli-tischer Fortschritt.

Im Koalitionsvertrag von Union und FDP heißt estreffend: „Qualifizierte medizinische Rehabilitation isteine wichtige Voraussetzung zur Integration von Kran-ken in Beruf und Gesellschaft und nimmt im Gesund-heitswesen einen immer höheren Stellenwert ein.“ Beider Ausgestaltung der künftigen Ausgabengrenze undder Anpassungsformel für die Rehabilitation in der Ren-tenversicherung müssen strukturelle Veränderungenetwa im Bereich der Demografie und veränderte politi-sche Rahmenbedingungen wie die Anhebung des Ren-teneintrittsalters und damit die Ausweitung der Le-bensarbeitszeit – diese sind politisch gewollt undnotwendig – berücksichtigt werden. Zusätzliche finan-zelle Spielräume sind schwerpunktmäßig für Maßnah-men der beruflichen Rehabilitation zu nutzen, die derzeit

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Peter Weiß (Emmendingen)

rund 12 Prozent der Fallzahlen ausmachen. Die derzeitgünstigen finanziellen Rahmenbedingungen der gesetz-lichen Rentenversicherung sollten hierzu genutzt wer-den.

Doch nicht nur den finanziellen Spielraum der beruf-lichen Rehabilitation gilt es zu überprüfen. Damit dasSystem Rehabilitation wirksam und zielgerichtet funk-tionieren kann, müssen Konzepte und Aktivitäten gebün-delt und Leistungsträger und Leistungsempfänger bes-ser vernetzt werden. Die Weiterentwicklung derberuflichen Rehabilitation ist Kern- und Daueraufgabedes deutschen Sozialstaates.

Schon 2007 wurde deshalb vom Bundesministeriumfür Arbeit und Soziales die Initiative „RehaFutur“ ge-startet, die unter dem Leitmotiv „Entwicklungen ge-meinsam gestalten!“ Konzepte und Aktivitäten koordi-nieren soll. 2010 hat das Entwicklungsprojekt„RehaFutur“ begonnen. Zentrale Themen sind die För-derung und Verbesserung der Beratung zur Rehabilita-tion, mehr betriebliche Vernetzung und die Intensivie-rung von Forschungsaktivitäten.

Die Bundesregierung greift deshalb nicht allein ander finanziellen Seite der beruflichen Rehabilitation an,sondern auch an der praktischen Umsetzung, um mit ef-fizienten Mitteln ein zukunftsfähiges und innovativesSystem Rehabilitation zu gestalten.

Die Erfolge, die eine zielgerichtete und effiziente Re-habilitation und berufliche Integration bereits jetztschon haben, zeigen uns, dass dies der richtige Weg ist.Rehabilitation ermöglicht den Betroffenen einen Weg zu-rück in Beruf und Arbeitsleben und hilft, die Existenzvon Einzelpersonen und ihren Familien zu sichern. Ge-rade in Zeiten drohenden Fachkräftemangels sollten wiralle Möglichkeiten ausschöpfen, um durch Rehabilita-tion und Reintegration qualifizierte Arbeitskräfte, auchnach Krankheit oder Unfall, im Beruf zu halten. Letzt-endlich führt eine konsequente und funktionierende Re-habilitation mittel- und langfristig sogar zur Entlastungder Rentenkassen, denn Leistungsempfänger werdenwieder zu Leistungsträgern.

Anton Schaaf (SPD): Die Linke verlangt im vorliegenden Antrag, die De-

ckelung der Rehaleistungen in der gesetzlichen Renten-versicherung umgehend aufzuheben und die Leistungenzur Teilhabe allein am Bedarf der Betroffenen auszu-richten und nicht durch einen, wie sie es nennt, „poli-tisch willkürlichen“ Ausgabendeckel zu begrenzen.

Tatsächlich ist absehbar, dass sich in Zukunft dieSchere zwischen Rehabedarf und -leistungen öffnenwird. Das zur Verfügung stehende Budget der Renten-versicherung beträgt rund 5 Milliarden Euro. In denvergangenen Jahren wurde dieses nahezu ausgeschöpft.Für dieses Jahr zeichnet sich eine Überschreitung zulas-ten des Folgejahres ab.

In Zukunft wird das Geld nicht mehr reichen, um denRechtsanspruch nach dem SGB IX auf Leistungen zurTeilhabe der Versicherten zu erfüllen. Dies machen auchdie kontinuierlich steigenden Antragszahlen und Bewil-

ligungen zur medizinischen und beruflichen Rehabilita-tion sichtbar. Was wir vermeiden wollen, ist die Gewäh-rung von Leistungen zur Rehabilitation nach Kassen-lage. Wir müssen daher einen neuen Anpassungsgeme-chanismus finden, der Bedarf und Leistung besser inEinklang bringen kann. Eine völlige Aufgabe der Orien-tierung an den finanziellen Möglichkeiten der Renten-versicherung darf es allerdings nicht geben.

Die Linke knüpft mit ihrem Antrag an eine Debattean, die von den Koalitionsfraktionen, Teilen der Opposi-tion und den Sozialpartnern in den vergangenen Wochenöffentlich geführt wurde. Dabei ging es um das Für undWider einer möglichen Senkung bzw. einer Beibehaltungder Höhe der Beiträge zur Rentenversicherung. Was inder Debatte zu kurz kam, ist die Tatsache, dass der Bei-tragssatz nicht beliebig steuerbar ist und weder Wün-schen nach finanziellen Entlastungen noch nach Leis-tungsausweitungen unterliegt. Er gehorcht einem ge-setzlich festgelegten Mechanismus der Beitragssatzan-passung nach § 158 SGB VI. Entscheiden wir uns dafür,Leistungen in der gesetzlichen Rente zu verbessern,kann sich dies nur in der Folge auch auf den Beitrags-satz auswirken.

Seit 1997 wird das Wachstum der medizinischen Rehastreng gedeckelt. Die Größe des Budgets für Leistungenzur Teilhabe – geregelt in § 220 Abs. 1 SGB VI – richtetsich nach der voraussichtlichen Entwicklung der Brutto-löhne und -gehälter je Arbeitnehmer. Eine Orientierungam tatsächlichen Bedarf erfolgt bisher nicht. Von Exper-tenseite – hier möchte ich beispielhaft ein Gutachten derPrognos AG nennen – wird dringender Handlungsbe-darf gesehen.

Die Ausgabendeckelung wird in Zukunft vor allemwegen der demografischen Entwicklung – die Babyboo-mer kommen in die „reha-intensiven“ Jahre –, der Erhö-hung der Regelaltersgrenze auf 67 Jahre, aber auch an-gesichts des verlangsamten Anstiegs der Löhne undGehälter zum Problem. Obwohl in Anbetracht einer al-ternden Gesellschaft und eines schmelzenden Potenzialsan Fachkräften die Erkenntnis wächst, dass alle längerarbeiten müssen, spiegelt sich dies noch nicht hinrei-chend in der finanziellen Ausstattung der Rentenversi-cherung wider. Darüber hinaus müssten streng genom-men auch die Kostensteigerungen im Gesundheitswesenin die Betrachtung mit einbezogen werden.

Zudem müssen wir berücksichtigen, dass ja nicht nurdie Ausgaben für die Rehabilitation selbst einer Decke-lung unterliegen, sondern dass das sehr personalinten-sive Verfahren der Prüfung und Bewilligung der Anträgeauf Leistungen der Rehabilitation der gesetzlich nach§ 220 Abs. 3 SGB VI vorgeschriebenen Reduzierung derVerwaltungs- und Verfahrenskosten unterworfen war.Mit anderen Worten: Weniger Kolleginnen und Kollegenbei den Trägern müssen steigende Antragszahlen bewäl-tigen.

Aktuell gehen rund 2 Prozent der Ausgaben der ge-setzlichen Rentenversicherung in die Leistungen zurTeilhabe. Gemessen an den Gesamtausgaben der gesetz-lichen Rentenversicherung, die kontinuierlich angestie-gen sind, ist ihr Anteil sogar etwas gesunken. Dabei sind

Zu Protokoll gegebene Reden

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Anton Schaaf

die unterschiedlichen Rehaträger der Sozialversiche-rung seit jüngerer Zeit auch für präventive Maßnahmenverantwortlich.

Führen wir uns vor Augen, in welchem Spannungs-feld wir uns bewegen: Wer als Arbeitnehmer schwerkrank wird und in der Folge gemäß der Definition desSGB IX von Behinderung bedroht ist, hat die Möglich-keit, Rehaleistungen zu beantragen, um die Wiederein-gliederung in das Arbeitsleben zu erreichen. Nur wenndie gesundheitliche Einschränkung nicht in absehbarerZeit zu beseitigen ist, kommt eine Rente wegen Erwerbs-minderung infrage. Grundsätzlich müssen aber die ver-sicherungsrechtlichen und persönlichen Voraussetzun-gen erfüllt sein, um einen Anspruch auf Leistungen dergesetzlichen Rentenversicherung überhaupt geltend zumachen.

Zurzeit werden circa 64 Prozent der Anträge auf Re-haleistungen bewilligt. In den Jahren zuvor lag die Be-willigungsquote konstant bei 67 Prozent. Eine Überprü-fung ist daher, wie im Nationalen Aktionsplan derBundesregierung zur Umsetzung des Übereinkommensder Vereinten Nationen über die Rechte von Menschenmit Behinderungen vorgesehen, unbedingt geboten.

Zugleich wird rund die Hälfte der Anträge auf Er-werbsminderungsrente abgelehnt, zumeist weil die per-sönlichen Voraussetzungen nicht erfüllt werden. Dabeiwerden Renten wegen teilweiser Erwerbsminderunghäufiger gewährt als volle Erwerbsminderungsrenten.Was mit den Menschen geschieht, deren Anträge abge-lehnt werden, können wir erahnen. Wer krank ist und ausdiesem Grund seinen Arbeitsplatz verliert, wird irgend-wann bei entsprechender Bedürftigkeit auf Leistungendes SGB II oder des SGB XII angewiesen sein. Dies kannaber auch für Personen gelten, die eine Erwerbsminde-rungsrente beziehen. Damit wird deutlich, dass wir meh-rere Probleme stemmen müssen:

– Zum einen muss die Wiedereingliederung in den Ar-beitsmarkt mehr Menschen ermöglicht werden. Diesdarf nicht an einem zu engen Berechnungskorsettscheitern – zumal der gesamtgesellschaftliche Ge-winn den Aufwand deutlich übersteigen wird.

– Zum anderen muss es Verbesserungen in der Höheder Erwerbsminderungsrenten geben. Zugleich müs-sen wir Menschen, die gesundheitlich eingeschränktsind, neue Möglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt er-öffnen. Wer wegen Krankheit nach einem langen Ar-beitsleben früher in Rente geht, soll keinen mit Ab-schlägen verbundenen vorzeitigen Rentenbeginnakzeptieren müssen oder soll nicht vor dem Renten-eintritt auf Arbeitslosengeld II verwiesen werden.

– Darüber hinaus ist aber der enge Zugang zur Er-werbsminderungsrente gerade für ältere Arbeitneh-mer einer Prüfung zu unterziehen. Dabei ist zu be-denken, dass zum einen diese Renten grundsätzlichnur befristet geleistet werden und zum anderen aucheine Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt beiInanspruchnahme von Rehaleistungen im Bereichdes Möglichen liegt.

Tendenzen zur Verdichtung der Arbeit, insbesonderein Berufen mit belastenden Arbeitsbedingungen, bringengesundheitliche Risiken mit sich. Längeres gesundes Ar-beiten setzt daher einen alters- und alternsgerechtenUmbau der Arbeitswelt voraus. Von zentraler Bedeutungzur Erhaltung der Erwerbsfähigkeit ist dabei das be-triebliche Gesundheits- und Wiedereingliederungsma-nagement, mit dem frühzeitig gegen drohende Leistungs-minderung, Erkrankung, Behinderung und Erwerbs-minderung vorgegangen werden kann.

Leider geschieht gegenwärtig in den Betrieben undUnternehmen zu wenig. Nur ein Fünftel der Betriebeführt spezifische Maßnahmen zur Gesundheitsförderungdurch. Insbesondere kleine, aber auch mittlere Unter-nehmen müssen aber befähigt werden, ihren gesetzli-chen Pflichten nachzukommen und externe Unterstüt-zungsangebote zu nutzen. Sozialversicherungen undstaatliche Aufsichtsämter müssen ihre Verantwortungstärker wahrnehmen. Dazu ist aber auch dort der Vor-rang der Prävention nach § 3 SGB IX stärker zu veran-kern.

Wollen wir mehr Menschen den Weg zurück ins Ar-beitsleben ebnen, setzt dies einen stärkeren, zielgenaue-ren und flexibleren Einsatz der Instrumente zur berufli-chen Rehabilitation durch die Rentenversicherungvoraus. Auch Personen, die eine befristete Erwerbsmin-derungsrente beziehen, haben einen Anspruch auf Reha-bilitation und Unterstützung bei der Wiedereingliede-rung. Dieser Anspruch muss künftig besser umgesetztwerden, um den Betroffenen neue Perspektiven zu eröff-nen. Die demografische Entwicklung, die zurzeit gesetz-lich geregelte Anhebung des gesetzlichen Renteneintritts-alter, aber auch die Zunahme von psychischen und ande-ren chronischen Erkrankungen führen zu einem größe-ren Bedarf an Rehabilitationsmaßnahmen.

Die Kommission Alterssicherung des SPD-Parteivor-stands greift diese Themen auf und schlägt Lösungenvor, in Bezug auf Rehabilitationsleistungen die Erhö-hung des jährlich verfügbaren Budgets für Leistungenzur Teilhabe. Dazu soll vor allem die demografischeEntwicklung bei der Dynamisierung des Rehabudgetsberücksichtigt werden. Zu diesem Vorschlag und weite-ren Vorschlägen der Kommission – deren Arbeitsauftragist hauptsächlich darauf gerichtet, Maßnahmen gegenAltersarmut und für eine ausreichende Alterssicherungzu erörtern – wird die SPD-Bundestagsfraktion innächster Zeit einen Antrag in den Deutschen Bundestageinbringen.

Darüber hinaus liegt eine Entschließung des Bundes-rats auf Initiative von Mecklenburg-Vorpommern zumThema vor. Hier heißt es:

Der Bundesrat fordert die Bundesregierung auf,Vorschläge vorzulegen, wie die Regelung des § 220Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) zur Er-mittlung der jährlichen maximalen Ausgaben fürLeistungen zur Teilhabe an Hand objektiver Krite-rien und entsprechend dem tastsächlichen Bedarfan Teilhabeleistungen geändert werden kann.

Zu Protokoll gegebene Reden

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Anton Schaaf

Auch die Bundestagsabgeordneten Peter Weiß undKarl Schiewerling fordern eine Anhebung des bisheri-gen Rehabudgets. Dafür will sich die Union ausdrück-lich im Rentendialog starkmachen. Der Arbeitnehmer-flügel der CDU fordert ebenfalls, einen demografischenFaktor bei der Berechnung des Rehabudgets einzufüh-ren (Süddeutsche Zeitung vom 21. Juli 2011).

Es gibt also ausreichend Vorschläge und guten Wil-len. Leider hat die Union es in der Vergangenheit ver-säumt, sich mit diesem wichtigen Thema auseinanderzu-setzen. Sowohl als die Regelungen zur Rente mit 67 inder Großen Koalition beschlossen wurden, als auch beider Anwendung der Überprüfungsklausel wurde von derUnion jeder Handlungsbedarf verneint. Daher muss ichnochmals warnen: Gerade wer die schrittweise Erhö-hung des Rentenalters schon im nächsten Jahr will,muss zumindest sicherstellen, dass die Arbeitnehmerin-nen und Arbeitnehmer in Zukunft tatsächlich länger ar-beiten können. Alles andere wäre fahrlässig.

Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Rehabilitation ist ein zentrales Ziel unserer Sozial-

politik. Rehabilitation hilft nicht nur den betroffenenMenschen, sondern ist neben Vorsorge auch das richtigeKonzept, zukünftige Krankheiten und Behinderungen– und damit auch Kosten für das Sozialsystem – zu ver-meiden.

Dennoch ist auch in diesem Bereich die ständige Ab-wägung notwendig zwischen den Interessen der Betrof-fenen, der Leistungsanbieter und der Beitragszahler. Eswäre falsch, diese Abwägung von der Fraktion der Lin-ken zu erwarten, die auch mit diesem Antrag wieder ein-mal wohlfeile Forderungen in den Raum stellt, ohneauch nur ansatzweise die Belastung der Rentenversiche-rung und ihrer Beitragszahler zu berücksichtigen.

Für die FDP-Bundestagsfraktion ist und bleibt dieBeitragssatzstabilität ein sehr wichtiges Ziel. Im Inte-resse der Beitragszahler – man kann auch sagen: der ar-beitenden Bevölkerung – und im Interesse einer nach-haltigen wirtschaftlichen Entwicklung darf dieserAspekt nicht aus dem Blick geraten.

Der demografische Wandel, der gern als Argumentfür mehr Ausgaben im sozialen Bereich herangezogenwird, erfordert, Ausgaben nur dort anzuheben, wo siesich tatsächlich als zwingend nötig erweisen. So könnenSpielräume erhalten werden, die kommende Generatio-nen noch dringend benötigen. Gerade die demografi-sche Entwicklung ist also ein wichtiges Argument dafür,Ausgabensteigerungen zu vermeiden. Der Reha-Deckelist aus gutem Grund als Instrument eingeführt worden.

Es ist die Frage, ob eine Ausgabensteigerung zum jet-zigen Zeitpunkt notwendig ist.

Blicken wir also auf die vorgetragenen Argumente:Die Linke verweist auf die steigende Anzahl älterer Be-schäftigter. Das ist interessant! Die Redner der gleichenFraktion malen in diesem Haus ja bei anderen Gelegen-heiten ein dramatisches Bild über die angeblich soschlechte Beschäftigungssituation Älterer. TypischerFall von „Wie es gerade passt“. Dann folgt der Verweis

auf die „Rente erst ab 67“. Das ist verwunderlich, da esdie Rente mit 67 erst im Jahre 2029 geben wird undselbst die ersten Schritte dahin noch keinerlei Auswir-kung auf die aktuelle Ausgabensituation haben.

Weitere Argumente bringt die Linke nicht vor; siestellt lediglich ein angebliches „Spardiktat“ in denRaum. Eine etwas seriösere Argumentation wäre ange-messen. Und für die Bürger und Beitragszahler wäre esangenehm, ein einziges Mal auch bei der Linken ein Be-wusstsein dafür zu erahnen, dass Staat und Sozialkassenihr Geld nicht unbegrenzt ausschütten dürfen.

Wenn der Rehadeckel zu tief angesetzt ist, muss er ge-gebenenfalls angehoben werden. Wir sind bereit, dieseMöglichkeit jederzeit zu prüfen. Es ist nicht unwahr-scheinlich, dass die Erhöhung in den nächsten Jahrenerforderlich wird. Zum jetzigen Zeitpunkt ist das für unsfraglich.

Im Übrigen kann ich mich durchaus mit dem Vor-schlag meines Kollegen Peter Weiß anfreunden, die For-mel für die Anpassung des Rehabudgets zu überarbeiten.Das ist ein kreativer Ansatz, der zielführender ist als dievon den Linken geforderte vollständige Aufhebung desDeckels.

Außer Frage steht die Bedeutung der Leistungen, umdie es hier geht, für medizinische Rehabilitation, Teil-habe am Arbeitsleben und Sicherung des Unterhaltes.Die Ausgaben dafür liegen derzeit bei rund 5 MilliardenEuro jährlich und werden entsprechend der voraussicht-lichen Entwicklung der Bruttolöhne und -gehälter je Ar-beitnehmer fortgeschrieben. Das ist sachgerecht, auchdeswegen, weil die Rehabilitationsausgaben zu einemerheblichen Teil Personalkosten sind. In den vergange-nen 13 Jahren wurde die Ausgabenobergrenze durch dieTräger der DRV nicht überschritten. Im Jahr 2010 lagendie Ausgaben bei 98,9 Prozent des Ansatzes.

Ich bestreite nicht, dass das knapp ist. Die Deckelunghat aber den Zweck, einen überproportionalen Kosten-anstieg zu verhindern. Erst wenn die Qualität der Reha-Leistungen unter geänderten demografischen Verhält-nissen nicht mehr gewährleistet bleibt, müssen wir überLösungen nachdenken, allerdings ohne die gesetzlichfestgelegten Beitragssatzziele der GRV – maximal20 Prozent im Jahr 2020 und 22 Prozent im Jahr 2030 –infrage zu stellen. Auch die aktuellen Spielräume zurSenkung des Beitragssatzes in der Rentenversicherungsollten nicht gefährdet werden. Denn die Ausgaben fürRehabilitation werden unmittelbar wirksam. Der Reha-deckel schafft einen dosierten „Druck im Kessel“, umkreative Lösungen zu entwickeln.

Der vorliegende Antrag ist oberflächlich und greift zukurz. Wir lehnen ihn daher ab.

Matthias W. Birkwald (DIE LINKE): Wir müssen endlich weg von der irrwitzigen, ja an der

Lebenswirklichkeit der allermeisten Menschen weit vor-beigehenden Vorstellung, dass mit der Rente erst ab 67die Menschen automatisch länger in guter Arbeit seinwerden. Die meisten schaffen es kaum bis 65. Das würdesich auch dann nicht ändern, wenn jede und jeder genau

Zu Protokoll gegebene Reden

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15386 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011

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Matthias W. Birkwald

die Rehaleistungen erhielte, die sie oder er bräuchte, umwieder fit für das Erwerbsleben zu sein. Reha muss sein!Aber eine gute Reha ist keine Garantie für einen Job.Und deshalb will die Linke beides: eine bedarfsgerechteReha und den sofortigen Abschied von der Rente erst ab 67!

Immer mehr Menschen beantragen eine Rehamaß-nahme. In den vergangenen Jahren ist die Zahl derRehaanträge um knapp 30 Prozent oder 476 000 aufüber 2 Millionen, 2 082 108, gestiegen. Wir haben esalso ganz deutlich mit einem steigenden Bedarf unddamit auch mit steigenden Kosten zu tun. Das hat dazugeführt, dass das Rehabudget, also das für Rehamaß-nahmen zur Verfügung stehende Geld, nahezu vollstän-dig ausgegeben wird. Denn es ist leider nicht so, dassmit dem steigenden und wohlgemerkt rechtmäßigen Be-darf auch mehr Geld zur Verfügung gestellt würde – mit-nichten. Denn die gesetzliche Rentenversicherung darfnur einen politisch willkürlich festgesetzten Betrag fürRehaleistungen ausgeben – § 220 SGB VI. Das ist dersogenannte Rehadeckel: Das verfügbare Rehabudgetorientiert sich nicht am Bedarf, sondern an der Entwick-lung der Bruttolöhne und -gehälter je Arbeitnehmer.Das ist doch absurd! Die Menschen werden doch nichtgesünder, wenn die Löhne sinken! Da ist doch wohl eherdas Gegenteil der Fall! Dieser politisch motivierte De-ckel dient allein der Leistungskürzung – und das ist nunwirklich falsch!

Die Situation spitzt sich nun zunehmend zu: Der fi-nanzielle Rahmen ist nahezu ausgeschöpft. Die Renten-versicherungsträger sind daher kaum noch in der Lage,in ausreichendem Umfang Leistungen zur medizinischenRehabilitation, zur Teilhabe am Arbeitsleben und zur Si-cherung des Unterhaltes zu gewähren. Das Ziel, denvorzeitigen Ausstieg aus dem Arbeitsleben zu verhindernoder möglichst dauerhaft eine Wiedereingliederung zuerreichen, kann nicht mehr im erforderlichen Umfangerreicht werden. Herbert Rische, der Präsident derDeutschen Rentenversicherung Bund, fordert deshalbunmissverständlich, dass das System überdacht werdenmüsse, „um sicherzustellen, dass die notwendigen Reha-bilitationsleistungen auch wirklich erbracht werdenkönnen“. Recht hat er!

Durch diesen Finanzierungsdeckel werden die Leis-tungen zur Teilhabe also nicht am tatsächlichen Bedarfder Betroffenen bemessen. Vielmehr unterliegen dieseMaßnahmen einem politisch motivierten Spardiktat.Auch die schwarz-gelbe Bundesregierung hat das Pro-blem zur Kenntnis genommen. Im jüngst veröffentlichtenNationalen Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Behin-dertenrechtskonvention kündigt die Bundesregierungan, sie wolle „die Notwendigkeit einer Anhebung desReha-Deckels prüfen“. Doch im selben Atemzug formu-liert Schwarz-Gelb unmissverständliche Bedingungen:

Dabei hält die Bundesregierung allerdings an ihrerrentenpolitischen Grundentscheidung fest, dassAusgabensteigerungen im System der Rentenversi-cherung nicht zulasten der Generationengerechtig-keit gehen oder zu einer Gefährdung der gesetzli-chen Obergrenzen für den Beitragssatz führendürfen.

Das heißt im Klartext doch nichts anderes, als dassdie Prüfergebnisse schon jetzt vollkommen egal sind.Das ist die gleiche Logik, die auch heute schon dem Re-hadeckel zugrunde liegt. Statt am Bedarf wollen CDUund Liberale sich an der Beitragssatzstabilität orientie-ren. Statt den absurden Rehadeckel abzuschaffen, wol-len Union und FDP ihn nur anders begründen. DieLinke will, dass Union und FDP ihre Trickserei endlichsein lassen – und zwar zum Wohle der Betroffenen!

Die Linke fordert deshalb die Bundesregierung auf,einen Gesetzentwurf vorzulegen, der die Deckelung derRehaleistungen in der gesetzlichen Rentenversicherungumgehend aufhebt und die Leistungen zur Teilhabe amBedarf der Betroffenen ausrichtet. Wir wollen, dassSchluss ist mit der politischen Willkür in der Reha!

Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Reha vor Rente – dieser Grundsatz ist sinnvoll. Gute

Rehabilitation ist im Ernstfall die Voraussetzung für dieMöglichkeit, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Sieist vor allem wichtig, wenn wir auf die Entwicklungenschauen, die wir am Arbeitsmarkt in Zukunft zu erwar-ten haben. Die demografische Entwicklung wird zu einersteigenden Zahl älterer Beschäftigter führen. Die Ver-längerung des Erwerbslebens, die wir durch die Herauf-setzung des Renteneintrittsalters haben werden, trägtebenfalls dazu bei. Der Bedarf an Rehabilitation wirdsich erhöhen. Im Antrag der Linksfraktion wird das jagenau so formuliert.

Die Haushaltsmittel der gesetzlichen Rentenversiche-rung werden seit 1997 durch den § 220 im SGB VI, densogenannten Rehadeckel, begrenzt. Die jährlichen Aus-gaben werden demnach entsprechend der voraussichtli-chen Entwicklung der Bruttolohn- und -gehaltssumme jedurchschnittlich beschäftigtem Arbeitnehmer festge-setzt. Das Rehabudget orientiert sich also an der Lohn-entwicklung, nicht am Bedarf.

Zwei Drittel der Rehabilitationsausgaben der Deut-schen Rentenversicherung liegen im Bereich der medizi-nischen Rehabilitation. Und für diesen Bereich mussman feststellen, dass die Differenz zwischen der konti-nuierlich ansteigenden Zahl der Rehabilitationsanträgeund der Zahl der Bewilligungen seit 2006 immer größergeworden ist. Es werden im Verhältnis also weniger An-träge bewilligt, auch wenn die Zahl der bewilligten An-träge insgesamt leicht steigt.

Ganz offensichtlich steht die Rentenversicherung vordem Problem, die steigenden Ansprüche an ihre Leistun-gen im Rahmen ihrer Mittel zu bewältigen. Sie ist alsogezwungen, entweder weniger Anträge zu bewilligenoder ihre Ausgaben für die einzelnen Rehabilitations-leistungen zu senken. Es gibt durchaus politisch sinn-volle Maßnahmen, die auch zu Kostensenkungen führen:eine Schwerpunktlegung auf ambulante Leistungen oderindem Leistungen flexibel auf individuelle Fälle abge-stimmt werden. Nichtsdestotrotz steigt die Bedeutungder Rehabilitation insgesamt. Rehabilitation wird wich-tiger und muss entsprechend gesichert werden. EinePolitik der Ausgliederung, wie sie die Bundesregierungarbeitsmarktpolitisch faktisch betreibt, ist nicht zielfüh-

Zu Protokoll gegebene Reden

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Markus Kurth

rend. Es muss den Menschen auch tatsächlich möglichsein, entsprechend lange zu arbeiten. Die Rahmenbedin-gungen sind so zu setzen, dass niemand gezwungen ist,in Frührente zu gehen, weil es keine Alternativen gibt.

Der politische Wille zur Anhebung des Rehadeckelsist auf fast allen Seiten vorhanden: Nicht nur die Linkefordert, die Rehabilitationsleistungen dem Bedarf ent-sprechend zu gewähren und mit dieser Zielvorstellungauch die Regelung des § 220 SGB VI zu ändern. Auchdie Bundesregierung hat unter anderem in ihrem Ak-tionsplan zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskon-vention angekündigt, die Anhebung des Reha-Deckels zuprüfen. Dass hier etwas geschehen muss, ist wenig kon-trovers.

Eine Anhebung des Rehadeckels ist sinnvoll, sie reichtaber nicht aus. Es sind Verfahren zur Ermittlung und Klas-sifizierung des Rehabedarfs zu entwickeln, um die Lückezwischen Anträgen und erfolgreichen Bewilligungen sinn-voll zu verringern. Die Bundesregierung muss darüber hi-naus auch sicherstellen, dass entsprechend der Anforde-rungen, die sich aus dem demografischen Wandel und denVeränderungen auf dem Arbeitsmarkt ergeben, Rehabili-tationsmaßnahmen zur Verfügung stehen.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 17/6914 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie einverstan-den? – Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Familie, Senioren,Frauen und Jugend (13. Ausschuss) zu dem An-trag der Abgeordneten Dorothee Bär, MarkusGrübel, Michaela Noll, weiterer Abgeordneterund der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abge-ordneten Miriam Gruß, Nicole Bracht-Bendt,Sibylle Laurischk, weiterer Abgeordneter und derFraktion der FDP

Neue Perspektiven für Jungen und Männer

– Drucksachen 17/5494, 17/7088 –

Berichterstattung:Abgeordnete Michaela NollStefan SchwartzeMiriam GrußYvonne PloetzTill Seiler

Dorothee Bär (CDU/CSU): Eine moderne Gleichstellungspolitik muss gezielt die

Unterschiede in den Lebensverläufen von Frauen undMännern, von Mädchen und Jungen berücksichtigen.

Lange Zeit ist das Ziel der Gleichberechtigung vor-nehmlich durch frauenpolitische Maßnahmen verfolgtworden. Aktuelle Entwicklungen haben jedoch gezeigt,dass sich die Gleichstellungspolitik zusätzlich – diesesWort ist wichtig; ich spreche ausdrücklich nicht von

„ausschließlich“! – den Jungen und Männern zuwendenmuss.

In den letzten Jahren sind die Geschlechterrollen inBewegung geraten, und viele junge Männer sind auf derSuche nach Perspektiven jenseits traditioneller Lebens-entwürfe und stereotyper Erwartungen. Eine moderneGleichstellungspolitik muss diesen Entwicklungen Rech-nung tragen – und entsprechend erweitert werden. Zielunserer Gleichstellungspolitik ist dabei aber nicht, be-stimmte Lebensmodelle vorzuschreiben. Es geht viel-mehr darum, neue Optionen zu eröffnen und tatsächli-che Wahlfreiheiten zu gewährleisten.

Besonders wichtig sind in diesem Zusammenhang An-strengungen im Bildungsbereich. Derzeit werden Jungenhäufig als Bildungsverlierer wahrgenommen – und neh-men sich teilweise auch selber so wahr. Die Gründehierfür sind vielfältig: Nur halb so viele Jungen wieMädchen sind beispielsweise zum Zeitpunkt der regulä-ren Einschulung schulreif. Jungen wiederholen häufigereine Klasse als Mädchen und brechen die Schule häufi-ger ab. Im Lesen erzielen Jungen deutlich geringereKompetenzen als Mädchen. Das Risiko eines ungünsti-gen Bildungsverlaufs scheint insbesondere hoch zu seinbei Jungen mit Migrationshintergrund und aus bil-dungsfernen Familien.

Eine ausschließliche Fokussierung auf die eben vor-getragenen Tatsachen blendet jedoch aus, dass das Leis-tungsspektrum innerhalb der Gruppe der Jungen sehrbreit ist: Sowohl unter den schlechtesten als auch unterden besten Schülern eines Jahrgangs finden sich über-durchschnittlich viele Jungen. Erfolgreiche Jungenpoli-tik muss daher potenzial- und lösungsorientiert sein.

Kindertageseinrichtungen und Schulen kommt alsBildungs- und Erziehungseinrichtungen eine entschei-dende Aufgabe zu. Hier könnten Jungen von der Anwe-senheit männlicher Pädagogen profitieren. Entspre-chend müssen diese Tätigkeitsfelder für junge Männerweiter erschlossen werden. Junge Männer erhalten da-durch auch zusätzliche berufliche Perspektiven.

Auch in der Schule muss den besonderen Bedürfnis-sen von Jungen verstärkt Rechnung getragen werden.Gleiches gilt für die Kinder- und Jugendarbeit, die Ju-gendsozialarbeit und die Migrationsarbeit.

Zusätzlich bedarf es in Gesellschaft und Wirtschafteiner Anerkennung und Wertschätzung neuer männli-cher Lebensentwürfe, die sich jenseits traditionellerVorstellungen und stereotyper Erwartungen bewegen.

Damit sind nach meinem Dafürhalten insbesonderedie folgenden Maßnahmen zu ergreifen:

Die Erweiterung des Berufswahlspektrums von Jun-gen und Männern, insbesondere mit Blick auf pflegeri-sche Berufe, muss weiter vorangetrieben werden. Wich-tig sind daneben flexible Arbeitszeitmodelle undsogenannte Sabbaticals, um auch Vätern zu ermögli-chen, Zeit mit ihren Kindern zu verbringen. Zielführendsind in diesem Zusammenhang auch Maßnahmen imRahmen des Aktionsprogramms „Perspektive Wieder-einstieg“.

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Dorothee Bär

Eines möchte ich abschließend nochmals ausdrück-lich betonen: Es ist nicht unsere Intention, die Jungen-förderung zulasten der Förderung von Mädchen undFrauen zu betreiben – entgegen den Unterstellungen derOppositionsparteien. Es geht uns vielmehr darum, bei-den Geschlechtern Chancen zu geben und sie entspre-chend ihrer jeweils spezifischen Bedürfnisse zu fördern.

Michaela Noll (CDU/CSU): „Neue Perspektiven für Jungen und Männer“ – der

Titel unseres Antrags hat viele, als sie ihn zum erstenMal gehört haben, sicher überrascht. Denn währendüber Förderung von Mädchen und Frauen seit Jahr-zehnten – zu Recht – diskutiert wird, wurde die Frage,was wir für Jungen und Männer tun müssen, lange nichtgestellt, in meinen Augen viel zu lange nicht. Dies wol-len wir nun mit unserem Antrag ändern.

Viele fragen sich jetzt vielleicht: Warum wollen wirdas ändern? Warum sollten wir Jungen und Männer för-dern, wenn Frauen noch immer weniger verdienen, inden Aufsichtsräten und Vorständen der Unternehmen inder Minderzahl sind und noch immer die Hauptverant-wortung für Kindererziehung und Haushalt tragen? Da-rauf lässt sich ganz einfach antworten: weil Handlungs-bedarf besteht. Dies haben meine Kleine Anfrage ausdem Jahr 2004 und die Kleine Anfrage der FDP aus demJahr 2008 hinlänglich bewiesen.

Zudem haben Studien belegt, dass die Mädchen dieJungen in vielen Bereichen abgehängt haben. Zuletzt hatdie 16. Shell-Jugendstudie „Jugend 2010“ gezeigt, dassMädchen ihre männlichen Altersgenossen bei der Schul-bildung überholt haben. Auch machen sie die besserenHochschulabschlüsse. Dieser Vorsprung gilt aber nichtnur für die Bildung, sondern auch für andere Bereiche.So sind Jungen zum Beispiel stärker von Verhaltensauf-fälligkeiten betroffen als Mädchen.

An dieser Stelle ist es mir sehr wichtig, nicht falschverstanden zu werden. Deshalb möchte ich es hier nocheinmal ganz ausdrücklich betonen: Ich freue mich da-rüber, dass die Gleichberechtigung so große Fort-schritte gemacht hat. Ich freue mich über jede jungeFrau, die nach einem hervorragenden Schulabschlusseinen ebenso hervorragenden Hochschulabschlussmacht, der ihr alle beruflichen Möglichkeiten eröffnet.Und ich würde mir wünschen, dass diese jungen, gutausgebildeten und selbstbewussten Frauen die gleichenberuflichen Chancen hätten wie die meisten Männer,dass sie sich nicht mehr den Kopf an der Gläsernen De-cke stoßen oder sich mit weniger Geld zufriedengebenmüssten.

Dass bei den Mädchen und Frauen weiterhin Hand-lungsbedarf besteht, heißt ja nicht gleichzeitig, dass wirdie Jungen und Männer vergessen dürfen. Unser Ziel istes, beiden Geschlechtern gerecht zu werden. Denn beidehaben Förderbedarf, nur eben zu unterschiedlichen Zei-ten: Frauen später – beim beruflichen Aufstieg und Wie-dereinstieg –, Männer bzw. Jungen eben früher, nämlichin den Kindertageseinrichtungen, Schulen und beimÜbergang in den Beruf. Ich denke, dies wird kaum je-mand bestreiten wollen.

Mir ist es deshalb ein Rätsel, warum unser Antrag– und das Thema generell – vor allem bei der SPD aufAblehnung stößt. Immer wieder wird mehr oder wenigerdeutlich unterstellt, dass wir uns mit unserer Jungen-politik gegen die Mädchen wenden. Diesen Skeptikernhalte ich entgegen, dass sie nicht wahrhaben wollen,dass sich die Lebenswelten von Jungen und Männern ge-ändert haben und dass sich Jungen- und Mädchenpolitikergänzen muss, um sinnvoll zu sein. Wir wollen kein Ent-weder-oder, sondern ein Sowohl-als-auch. Denn wie sol-len junge Menschen Partnerschaften führen und Fami-lien gründen, wenn sie nicht zueinanderfinden und sichnicht auf Augenhöhe begegnen können? Ich befürchte,dies könnte schwierig werden, wenn wir Gleichstel-lungspolitik weiterhin als Gegeneinander und nicht alsMiteinander begreifen.

Meine Überzeugung, dass wir uns auch den Jungenund Männern zuwenden müssen, resultiert aber nichtnur aus der Lektüre von Studien. Ich bin in meinemWahlkreis häufig von Eltern und Lehrern angesprochenworden, die mir von ihren Erfahrungen und Beobach-tungen berichtet haben. Erst vor einigen Wochen habeich mit zwei Lehren gesprochen, die sich zu Jungen-Coaches haben ausbilden lassen, weil sie in ihrer tag-täglichen Arbeit gemerkt haben: Es besteht Bedarf aneiner besonderen Arbeit mit Jungen, Bedarf, Jungen beider Entwicklung eines positiven männlichen Selbstbil-des zu begleiten und in ihrem Verantwortungsbewusst-sein gegenüber sich und anderen zu stärken. Ihr Erfolggibt den beiden Lehrern recht.

Sprechen Sie doch auch einmal mit Lehrern und El-tern von Söhnen! Ich bin überzeugt, dass auch Sie vondiesen die Antwort bekommen werden: Jungen braucheneine gesonderte Aufmerksamkeit und eine besondere An-sprache.

Zudem habe ich Gespräche mit Verbänden und Verei-nen geführt, die seit Jahren in der Jungenförderung ak-tiv sind und immer wieder auf einen akuten Handlungs-bedarf hinweisen. Die Vereine sind übrigens ebenfallsder Meinung: Hier geht es nicht darum, den Mädchenund Frauen etwas streitig zu machen, sondern es gehtdarum, den Blickwinkel auf die Jungen und Männer zuerweitern.

Jetzt habe ich zusätzlich Rückendeckung aus Europabekommen. Auch die EU hat das Thema „Männer undGleichstellung“ aufgegriffen und eine entsprechende,von Workshops begleitete Studie, in Auftrag gegeben.Auch auf europäischer Ebene wurde erkannt, dassChancengleichheit nur erreicht werden kann, wenn wirdie Männer mit an Bord holen.

Natürlich hängen viele der Befunde, die darauf hin-weisen, dass die Mädchen die Jungen überholt haben,nicht nur mit dem „Jungensein“ zusammen. Selbstver-ständlich spielen die soziale Herkunft und das Vorhan-densein bzw. Nichtvorhandensein eines Migrationshin-tergrunds ebenfalls eine große Rolle. Aber das Risikoeines ungünstigen Bildungsverlaufs scheint höher, wennein Junge einen Migrationshintergrund hat und aus ei-ner bildungsfernen Familie stammt.

Zu Protokoll gegebene Reden

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 15389

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Michaela Noll

Ich bin deshalb sehr dankbar, dass sich Familien-ministerin Dr. Kristina Schröder der Förderung vonJungen verschrieben hat. Das Familienministerium ent-wickelt im Rahmen seiner Gleichstellungspolitik eineeigenständige Jungen- und Männerpolitik und setztspezielle Projekte für Jungen und Männer um. Exempla-risch sei hier die Einberufung eines Jungenbeirats ge-nannt. Aber auch schon unter FamilienministerinDr. Ursula von der Leyen wurden in der letzten Legisla-turperiode wichtige Projekte auf den Weg gebracht, wiezum Beispiel das Projekt „Neue Wege für Jungs“.

Auch mit unserem Antrag verfolgen wir das Ziel, ein-seitige Geschlechterrollen in Beruf und Familie zu über-winden und den Jungen auf die Sprünge zu helfen. Hier-für haben wir 19 Forderungen formuliert, aus der ichaus aktuellem Anlass eine herausgreifen möchte:

Die Drogenbeauftragte der Bundesregierung hat voreinigen Tagen die erste repräsentative Studie zumThema Onlinesucht vorgestellt. Diese belegt, dass dieSucht nach Onlinespielen verstärkt bei Jungen auftritt.Das ist problematisch, da Untersuchungen gezeigt ha-ben, dass erhöhter Computerspielekonsum zu gesund-heitlichen Beeinträchtigungen führen kann und zu einemgefährlichen Rückzug der Jungen aus der realen in einevirtuelle Welt. Zudem geht übermäßiger Medienkonsumoft mit schwächeren Lese- und Sprachkompetenzen ein-her und wirkt sich negativ auf die schulischen Leistun-gen aus.

In unserem Antrag fordern wir deshalb die Weiterent-wicklung von medienpädagogischen Projekten für Jun-gen, um deren Medienkompetenz zu stärken. Und auchdie pädagogischen Fachkräfte müssen besser geschultwerden, um kompetent auf die Risiken, die von einemerhöhten Konsum von Onlinespielen ausgehen können,reagieren zu können.

Männer wollen den Gleichstellungsprozess mitgestal-ten und eingebunden werden, damit sich auch ihnenneue Perspektiven und Möglichkeiten eröffnen. DieseChance sollten wir ihnen geben. Denn, wie es KaiGehring von den Grünen bei der ersten Lesung diesesAntrags auf den Punkt gebracht hat:

Moderne Gleichstellungspolitik lässt sich nur mitFrauen und Männern gemeinsam gestalten. DennMänner sind Partner für die Gleichstellungspolitik.

Stefan Schwartze (SPD): Geschlechterpolitik ist in der Vergangenheit vor al-

lem von Frauen initiiert und getragen worden, undFrauen haben schon eine Reihe von Verbesserungen fürsich erstritten. Das ist auch gut so. Zunehmend meldensich heute auch Männer und Väter zu Wort und setzensich für ihre Interessen ein. Auch das ist gut so. Frauenund Männer haben in der Geschlechterpolitik viele ge-meinsame Ziele. Männliches geschlechterpolitischesEngagement muss keineswegs automatisch zu feindli-cher Abgrenzung gegenüber Fraueninteressen oder demFeminismus führen.

Es ist nicht zielführend, eine Geschlechterpolitik zuetablieren, die auf den Geschlechterkampf ausgelegt ist,

die Männer und Frauen gegeneinander ausspielt.Gleichstellungspolitik muss beide Geschlechter im Blickhaben.

Sozialdemokratische Gleichstellungspolitik warschon immer darauf ausgerichtet, die Lebensbedingun-gen eines jeden Kindes und Jugendlichen unabhängigvom Geschlecht zu verbessern und auf Chancengleich-heit hinzuwirken. Wir von der SPD-Bundestagsfraktionwollen Geschlechterstereotype überwinden und nichtmanifestieren.

In dem schwarz-gelben Antrag wird von Jungen alsBildungsverlierern gesprochen; sie seien bei der regulä-ren Einschulung häufiger nicht schulreif, sie würdenhäufiger die Klasse wiederholen und brächen die Schulehäufiger ab als Mädchen. Dabei hält es die Bildungsfor-schung für falsch, männliche Schüler pauschal als Ver-lierer zu betrachten. Sehr differenziert setzt sich mit die-ser Behauptung die Expertise „Schlaue Mädchen –dumme Jungen?“ auseinander, die unter Federführungdes Deutschen Jugendinstituts entstand. Kriterien wiedie soziale Schicht oder eine Zuwanderungsgeschichtehaben danach eine größere Bedeutung als die Ge-schlechtszugehörigkeit.

Die Schlüssel, um die Bildungsbenachteiligung aus-zugleichen, sind längeres gemeinsames Lernen, Ganz-tagsschulen und frühe Förderung. Das hilft benachtei-ligten Jungen und Mädchen gleichermaßen. Das vonRot-Grün auf den Weg gebrachte Ganztagsschulpro-gramm war daher immens wichtig. Auch der Ausbau derKitas sowohl quantitativ als auch qualitativ ist dabei einwichtiger Weg. Unsere Kitas haben als Bildungseinrich-tungen eine besondere Bedeutung.

Es ist bekannt, dass der Kinderbetreuungsausbaunicht in dem Maße voranschreitet, wie er sollte. VielenKommunen fehlt schlichtweg das Geld. Doch widmetsich die Bundesregierung diesem Problem? Beruft sieeinen Krippengipfel ein und überlegt, wie sie den Kom-munen helfen kann? Nein, davon ist in diesem Antragnichts zu finden. Im Gegenteil, die CDU/CSU-Fraktionhält immer noch an der unsäglichen Idee des Betreu-ungsgeldes fest.

Was ist das für eine Idee, Geld dafür zu bekommen,dass eine Leistung nicht in Anspruch genommen wird,eine Prämie dafür, dass Kinder von guten Angebotenfrüher Bildung ferngehalten werden? Für benachteiligteJungen und Mädchen bedeutet die Einführung des Be-treuungsgeldes schlichtweg das Aus für frühkindlicheBildung. Eine frühe Sprachförderung würde für sie nichtmehr stattfinden. Zudem stellt das Betreuungsgeld einHindernis für einen raschen Einstieg beziehungsweiseWiedereinstieg in das Erwerbsleben dar. Die Union ver-festigt damit alte Rollenverteilungen im Familienalltag.Es ist wesentlich sinnvoller, die für das Betreuungsgeldvorgesehenen 2 Milliarden Euro in den Aus- und Aufbauvon Krippen- und Kindergartenplätzen zu investieren.

Aber die Bundesregierung geht noch weiter. Siestreicht und kürzt im Kinder- und Jugendplan des Bun-des für 2012 Maßnahmen zur Gleichstellung von Jungenund Mädchen, zur Integration junger Menschen mit Mi-

Zu Protokoll gegebene Reden

Page 200: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/dip21/btp/17/17130.pdfDeutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitz ung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 III in Verbindung

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Stefan Schwartze

grationshintergrund und zur sozialen und beruflichenIntegration junger Menschen sowie zur Inklusion jungerMenschen mit Behinderungen. Diese Politik lässt Kin-der und Jugendliche beiderlei Geschlechts zurück. Undhier macht die SPD-Bundestagsfraktion nicht mit.

Einzelne Zielrichtungen des Antrags begrüßen wir. Sobegrüßen wir zum Beispiel Maßnahmen, die darauf aus-gerichtet sind, die EU-Zielmarke „20 Prozent Männerals Erzieher“ zu erreichen. Auch die Handlungsempfeh-lungen des Gleichstellungsberichts fordern ein ausge-wogenes Verhältnis zwischen männlichen und weibli-chen pädagogischen Fachkräften, einschließlich einerErhöhung des Anteils männlicher Pädagogen in Kinder-tagesstätten und in der Grundschule, allerdings klarverbunden mit der Vermittlung von Kompetenzen einergeschlechtsbewussten Pädagogik. Das Projekt „MEHRMänner in Kitas“ lässt jedoch den Aspekt der Vermitt-lung von Kompetenzen einer geschlechtsbewussten Pä-dagogik außen vor, es greift daher eigentlich zu kurz.

Auch das Ziel, Männer in ihrer Aufgabe als Väter zustärken, teilen wir. Nur wollen wir eine echte Förderungund nicht nur die Förderung von einzelnen kleinen Vä-terprojekten, wie im Antrag gefordert. Wir schlagen eineStärkung der Partnermonate beim Elterngeld vor. Be-reits in der Großen Koalition gab es ja die Idee, diePartnermonate von zwei auf vier auszuweiten.

Diese Forderung findet sich auch in der Koalitions-vereinbarung von CDU, CSU und FDP wieder. Aber hatdie Bundesregierung hier etwas getan? Hat sie Geld indie Hand genommen und wirklich etwas verändert?Nein, Fehlanzeige, gestrichen und ad acta gelegt wegenGeldmangels! Der Einsatz der Bundesministerin dafürist gleich null.

Deshalb lehnt die SPD-Bundestagsfraktion den An-trag von CDU/CSU und FDP ab.

Marianne Schieder (Schwandorf) (SPD): Wenn man den vorliegenden Antrag der Koalition

liest, könnte man den Eindruck gewinnen, dass Deutsch-land seit Jahrzehnten vom Matriachat geprägt ist. Fürdie Bundesregierung mag das derzeit vielleicht stimmen,aber sicherlich nicht für die breite Gesellschaft.

Es ist ja schön, dass in der Koalition nun die ge-schlechtsspezifische Arbeit entdeckt wurde. Doch leiderist dort noch nicht angekommen, dass beide Geschlech-ter eine Rolle spielen. Der Antrag zeigt, dass die Bun-desregierung in puncto Geschlechtergerechtigkeit eherRück- statt Fortschritte macht.

Gender Mainstreaming ist seit der UN-Frauenkonfe-renz in Peking im Jahr 1995 – an der ich teilnehmenkonnte – ein internationales Instrument der Gleichstel-lung. Als solches wurde es in der EU und ihren Mit-gliedsländern eingeführt. Laut offizieller Website desBundesministeriums für Familien, Senioren, Frauen undJugend basiert diese Strategie – ich zitiere – „auf derErkenntnis, dass es keine geschlechtsneutrale Wirklich-keit gibt und Männer und Frauen in sehr unterschiedli-cher Weise von politischen und administrativen Ent-scheidungen betroffen sein können. Das Leitprinzip

Geschlechtergerechtigkeit verpflichtet die politischenAkteure, bei allen Vorhaben die unterschiedlichen Inte-ressen und Bedürfnisse von Frauen und Männern zuanalysieren und ihre Entscheidungen so zu gestalten,dass sie zur Förderung einer tatsächlichen Gleichstel-lung der Geschlechter beitragen.“

Angesichts dieser Aussagen kann ich es nicht verste-hen, wie dieser Antrag und das Ansinnen im Koalitions-vertrag von CDU/CSU und FDP zustande kam, jetzt ein-seitig Jungen- und Männerarbeit zu fördern. Der Antraghat sogar eher den Duktus, die Geschlechter zulastender Frauen auseinanderzudividieren.

Doch nun zu einigen Details aus dem Antrag. Wieernst ist es der Koalition überhaupt mit ihrem Ansinnen?Die Bundesregierung wird aufgefordert, im Rahmen derzur Verfügung stehenden Haushaltsmittel neue Impulsezu setzen. Wie soll das ohne zusätzliche Mittel gehen?Oder hofft man darauf, dass an anderer Stelle, am bes-ten noch bei den Mitteln zur Frauenförderung, gestri-chen wird?

Mehrfach wird im Antrag gefordert, dass Männer vorallem in die Arbeitsfelder gebracht werden müssen, indenen sie bisher unterrepräsentiert sind. Ich frage: Wa-rum sind sie gerade in den Bereichen der Erziehung un-terrepräsentiert? Vielleicht weil hier die Bezahlung be-sonders unattraktiv ist!? Daher sollten wir einmaldarüber diskutieren, warum insbesondere bei Berufenmit einem hohen Frauenanteil nach wie vor die Bezah-lung relativ bescheiden ist! Das hat relativ wenig mitJungen- und Männerpolitik zu tun.

Es ist zwar nett zu lesen, dass erzieherische und pfle-gerische Berufe mit Blick auf Weiterqualifizierung undDurchlässigkeit zwischen den einzelnen Berufen attrak-tiver ausgestaltet und Rahmenbedingungen verbessertwerden müssen. Doch viel notwendiger brauchen wirmehr Qualität und bundesweite Standards in der Ausbil-dung von Erzieherinnen und Erziehern. Darüber hinausmüssen wir darüber reden, wie die Träger von Kitas, dieKommunen, überhaupt in die Lage versetzt werden,mehr Personal für die Kinderbetreuung anzustellen. Nurwenn es überhaupt Erzieherinnen und Erzieher vor Ortgibt, können sie auch geschlechtsspezifisch arbeiten.

Wer vorherrschende Rollenmuster durchbrechen willund mehr Geschlechtergerechtigkeit will, muss bereitsbei der frühkindlichen und schulischen Bildung anset-zen. Doch hier liegt dank dieser Bundesregierung eini-ges im Argen.

Die soziale Herkunft spielt noch immer eine zu großeRolle für den Bildungserfolg, viel mehr, als es das Ge-schlecht spielt. Ich finde es daher unerhört, dass im Ko-alitionsantrag Jungen als Bildungsverlierer benanntwerden und man glaubt, durch Ermunterungen die Si-tuation zu verbessern. Die neueste PISA-Studie zeigt,dass ein sozial ungünstiges soziales Umfeld in keinemanderen Land zu so starken Leistungsverlusten bei denSchülerinnen und Schülern führt wie in Deutschland.Das ist bildungspolitisch unverantwortlich und zutiefstungerecht.

Zu Protokoll gegebene Reden

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Marianne Schieder (Schwandorf)

Daher brauchte es ein Zusammenwirken von Bund,Ländern und Kommunen, die Situation zu verbessern,statt die Geschlechter auseinanderzudividieren und ver-meintlich geschlechtsspezifische Appelle an die Bundes-länder zu richten.

Die Liste der sonderbaren Forderungen aus dem An-trag ließe sich leider noch eine ganze Weile fortführen.Doch ich denke, es ist bereits mehr als deutlich gewor-den, warum dieser Antrag keine Unterstützung verdient.

Aus meiner Sicht ist dieser Antrag lediglich ein Ge-fallen der Koalition für ihre Frauenministerin, die ent-gegen ihrer eigentlichen Aufgabe mit der Forderungnach mehr Jungen- und Männerarbeit Schlagzeilen ma-chen will. Diesem Ansinnen mit weitreichenden Folgenfür unsere junge Generation dürfen wir nicht entgegen-kommen. Vielmehr brauchen wir eine echte Verbesse-rung der geschlechtsspezifischen Arbeit und einen Aus-bau der Bildung für junge Menschen.

Aus diesem Grund lehnt die SPD-Bundestagsfraktionden Antrag von CDU/CSU und FDP ab.

Miriam Gruß (FDP): Die Welt dreht sich weiter. Waren es früher aus-

schließlich Mädchen und Frauen, die im Mittelpunkt derGleichstellungspolitik standen, haben wir jetzt unserenFokus erweitert: Eine moderne Gleichstellungspolitikberücksichtigt auch die spezifischen Bedürfnisse vonJungen und Männern. Die heutige Gesellschaft fordertvon ihnen heute schließlich teilweise größere Anpas-sungsprozesse als von Frauen.

Es ist längst überholt, dass wir ein Geschlecht bevor-zugen und einseitige Förderung fordern. Nicht zuletztdeshalb reden wir heute über einen Antrag der FDP undder Union, der sich mit der Gleichstellung von Jungenund jungen Männern in unserer modernen Gesellschaftbeschäftigt.

Diese Regierung ist die erste, die bei diesem Themaumfassend aktiv geworden ist. Im Koalitionsvertrag ha-ben wir uns zum Ziel gesetzt, eine eigenständige Jungen-und Männerpolitik zu entwickeln und bereits bestehendeProjekte in dieser Richtung fortzuführen.

„MEHR Männer in Kitas“, der „Boys Day“ und dieUnterstützung diverser Väterprojekte sind gute Bei-spiele dafür, was wir unter einer Gleichstellungspolitikverstehen, die sich nicht von falschen Rollenklischeesbremsen lässt, sondern ganz ideologiefrei den jeweilsspezifischen Handlungsbedarf bei beiden Geschlechternerkennt.

Es geht in dieser Diskussion letztlich um die Frage,wie wir werden, was wir sind. Warum gibt es beispiels-weise nur wenige Ingenieurinnen oder Maschinenbaue-rinnen? Oder warum gibt es so wenige männliche Erzie-her, Grundschullehrer oder Pfleger?

Ich bin der Überzeugung, dass wir durch eine inten-sive Förderung und Bildung von klein auf, jenseits vonRollenklischees, die einzelnen Stärken und Schwächender Menschen besser entdecken können. Im Übrigen istes auch unter dem Aspekt des drohenden Fachkräfte-

mangels notwendig, möglichst viele Menschen auf mög-lichst viele Berufsfelder vorzubereiten. Wir können esuns schlicht nicht mehr leisten, wenn junge Männer aufder Strecke bleiben.

Bislang galten Jungen häufig als Verlierer in der Bil-dungspolitik. Laut der PISA-Studie 2009 sind Jungsbeim Lesen deutlich schlechter als Mädchen und müssenaußerdem öfter Klassen wiederholen. Zudem brechen siehäufiger die Schule ab. Besonders hoch ist das Risikobei Jungen mit Migrationshintergrund oder aus bil-dungsfernen Familien. Im Durchschnitt machen aberauch 21,6 Prozent weniger Männer das Abitur alsFrauen.

Wir möchten keinen negativen Diskurs über ein „Sor-genkind Junge“ führen, sondern Stereotype aufbrechen.Teil unseres Antrags ist deshalb zum Beispiel die Forde-rung, sich bei den Bundesländern für geeignete Maß-nahmen zur Verbesserung der Lesekompetenz von Jun-gen einzusetzen.

Wir wollen junge Männer auch für sogenannte ty-pisch weibliche Berufe interessieren, beispielsweise alsPfleger oder Erzieher. Gerade in der frühkindlichen Bil-dung ist es wichtig, dass Kinder beide Geschlechterrol-len erleben können. Eine Studie des Statistischen Bun-desamts zeigt, dass der Anteil von Männern als Erzieherund Tagesväter mit 3,5 Prozent Anteil zwar sehr geringist. Allerdings sind im Jahr 2010 schon 15 400 Männermit pädagogischer Betreuung befasst gewesen und da-mit fast 40 Prozent mehr als in 2007.

Auch in den Schulen muss dieser Bildungsansatz wei-tergehen, so durch die besondere Förderung der Bedürf-nisse der Jungen. Nur so kann sich ein Aufbruch von Ste-reotypen auch in der Gesellschaft fortsetzen,beispielsweise in der Familie, der Partnerschaft oderdem Beruf.

Wir als FDP wollen keinen Geschlechterkampf, son-dern einen Geschlechtertanz! Das ist auch Leitlinie die-ses Antrags, der die Grundlage für einen weiteren Aus-bau der Jungen- und Männerpolitik darstellen wird undfür den ich deshalb um breite Zustimmung bitte.

Yvonne Ploetz (DIE LINKE): Man muss eingestehen: Sie haben schon besorgniser-

regendere Anträge vorgelegt! Im Grundsatz befürwortetDie Linke eine Jungen- und Männerpolitik, denn jedesKind und jede bzw. jeder Jugendliche – egal, welchenGeschlechtes, welcher Herkunft, welcher Weltauffas-sung und unabhängig von seiner oder ihrer sexuellenIdentität – muss bestmöglich in seiner Entwicklung ge-fördert und auf seinem Lebensweg unterstützt werden.Will die Regierung neue Gruppen in eine Förderung ein-beziehen, so ist das zunächst einmal zu begrüßen.

Wer Ihren Antrag jedoch im Detail liest, wird einigeFragezeichen setzen müssen. Wer ihn im Einzelnen stu-diert, kommt unweigerlich nicht um einige kritische Fra-gen und Einwände herum. Warum? Jede Politik der För-derung muss emanzipatorisch sein. Sie sollte bestehendeMachtverhältnisse kritisieren und hinterfragen. Bei ge-nau diesem Punkt liegt bei Ihrem Antrag die Krux. Denn

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dies tut Ihr Antrag nach meiner Einschätzung nicht. IhrAntrag darf einerseits nicht dazu führen, dass eine Jun-genförderung auf Kosten der bestehenden Frauen- undMädchenförderung stattfindet. So selbstverständlichdies sein sollte, so wichtig scheint es mir angesichts ei-ner Reihe öffentlicher Äußerungen der Ministerin in derVergangenheit zu sein, nochmals nachdrücklich auf die-sen Punkt zu verweisen. Sie darf auch nicht dazu führen,dass bestimmte Männlichkeits- und Rollenbilder aufKosten anderer gefördert werden, dass eben genau jeneJungen nicht gefördert werden, die einer Unterstützungbedürften, zum Beispiel weil sie aufgrund ihrer sexuel-len Neigung öffentlich diskriminiert werden. Ich habehier gewisse Befürchtungen – nicht zu Unrecht, wie ichdenke.

Aber zunächst einmal ist festzuhalten, dass Sie in Ih-rem Antrag eine große Zahl von Forderungen aufstellen,die meine ausdrückliche Unterstützung verdienen. Siewollen zum Beispiel mehr Männer für Erzieherberufegewinnen. Dies wird helfen, alte Stereotype in der Ar-beitswelt zu durchbrechen. Und das ist wirklich gut so.Sie wollen Männer in ihren Aufgaben als Väter stärken.Zweifelsohne ist dies ein wichtiger Punkt, der angegan-gen werden sollte. Sie stellen zudem eine Forderungnach neuen und weiteren wissenschaftlichen Studienauf. Es kann nie schaden, zu wissen, was der Patient hat,bevor man ihn behandelt. Des Weiteren wollen Sie beider Elternarbeit verstärkt die Väter einbinden. Es istkaum notwendig, zu erwähnen, dass dies überfällig ist.Und schließlich ist es insgesamt für unsere Gesellschaftgewinnbringend, wenn eine Politik für junge Menschenaus vielen unterschiedlichen Perspektiven zusammenge-führt und gebündelt wird. In all diesen Punkten bin ichganz auf Ihrer Seite.

Jedoch ist das nur die eine Seite der Medaille. Dieandere, weniger schöne Seite zeigt sich, wenn man ge-nauer hinsieht, zwischen den Zeilen liest und sie in denKontext Ihrer Wertevorstellung und Weltansicht stellt.Das erschließt sich, wenn man die vielen Äußerungender Bundesfrauenministerin Kristina Schröder heran-zieht, die wir alle kennen und die dazu geeignet sind, denAntrag in den Zusammenhang Ihrer politischen Absich-ten zu stellen.

Frau Schröder, zunächst eine Anmerkung: Man wirddas Gefühl nicht los, dass Sie verzweifelt nach einemkonservativen und öffentlichkeitswirksamen Marken-kern Ihrer Regierungszeit suchen. Sie glauben schein-bar, diesen in der Jungenpolitik gefunden zu haben. Ichhege den Verdacht, dass Sie, die Sie immerhin die Frau-enministerin sind, mit einem neuen Thema von IhrerBlockadehaltung in der Frauenpolitik ablenken wollen.Immer stärker rücken Sie die Belange von Jungen undMännern in den Fokus, Sie schreiben sie im Koalitions-vertrag fest und wenden sich gleichzeitig von der Mäd-chenpolitik ab. Jungenpolitik muss aber die Mädchen-politik sinnvoll ergänzen. Sie darf sie nicht – nichteinmal im Ansatz – verdrängen. Die strukturell veran-kerte Benachteiligung vieler Mädchen ist nicht zu leug-nen, und ihre Beseitigung muss unsere zentrale Aufgabebleiben. Es sollte also darum gehen, eine zusätzlicheFörderung zu schaffen, ein Miteinander von Mädchen-

und Jungenpolitik auf die Beine zu stellen! Es muss einMiteinander und kein Gegeneinander geben! Das kannich bei Ihnen aber nicht erkennen.

Zwar deuten Sie die Notwendigkeit eines ergänzen-den Miteinanders in dem Feststellungsteil Ihres Antragsan. Die in dem Antrag aufgestellten Forderungen bezie-hen sich aber nur auf männliche Kinder, Jugendlicheund Erwachsene. Den Andeutungen folgen keine Taten.Gleichzeitig entziehen Sie in der Förderpraxis heimlich,still und leise den Mädchenprojekten im Kinder- und Ju-gendplan Gelder und weisen sie den Jungenprojektenzu. Die kritische Frauenforschung hat mit Regelmäßig-keit darauf hingewiesen, dass Frauen und ihre Anliegenim politischen Prozess nicht voll repräsentiert werden.Ich bitte Sie, das Klischee der Frau als nicht repräsen-tiertes Geschlecht, sollte gerade von dem Ministerium,das sich um Gleichstellung bemühen soll, nicht bedientwerden.

Sehr geehrte Damen und Herren der Regierungsko-alition, muss ich Sie denn tatsächlich daran erinnern,dass eine Frauen- und Mädchenförderung immer nochvordringlich ist, dass sie wirklich weiterhin politischganz weit oben auf der Agenda stehen muss? Muss ichSie an all die tief verankerten Benachteiligungen vonFrauen in unserer Gesellschaft erinnern, zum Beispielim Bildungssystem oder in der Arbeitswelt, dass pres-tigeträchtige Berufe immer noch vor allem von Männerndominiert werden, dass sogenannten Frauenjobs nachwie vor ein geringer gesellschaftlicher Status zuge-schrieben wird, dass Frauen weniger verdienen, nur sel-ten in Aufsichtsräten und auf Chefposten anzutreffensind, dass Frauen im Durchschnitt trotz gleicher Bil-dung als unqualifizierter eingestuft werden, weil dieFrauendomänen des Arbeitsmarktes im gesellschaftli-chen Wertesystem einen geringeren Status haben?

Solche Statuszuschreibungen erschweren die Auf-stiegschancen vieler Frauen. Diese Rollenmuster kön-nen dazu führen, dass Frauen ihre eigenen Fähigkeitengeringer schätzen. Nach wie vor ist es gang und gäbe,dass die sogenannten „Old Boys Networks“ Frauenspätestens in der Mitte ihrer Karriereleiter stoppen.

Ähnliches lässt sich beispielsweise über die Situationvon Mädchen in der Ausbildung sagen: Weibliche Aus-zubildende bekommen eine geringere Ausbildungsver-gütung, arbeiten oftmals unter schlechteren Bedingun-gen, machen regelmäßiger Überstunden, erhaltenseltener Überstundenausgleiche. Ihre Wünsche bezüg-lich des Urlaubszeitpunkts werden wesentlich seltenerberücksichtigt.

Die Liste an solchen Beispielen könnte ich endlosverlängern. Sie sind in zahlreichen Studien erforschtworden und auch einer breiten Öffentlichkeit bekannt.Sie prägen den Alltag von Mädchen und Frauen in fastallen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens. Aberdennoch gibt es in der BRD bis dato keine umfassendepolitische Strategie zur Überwindung dieser Benachtei-ligungen, sondern nur Flickwerk.

Ein Punkt in Ihrem Antrag hat mich besonders irri-tiert. Habe ich Sie richtig verstanden, dass Sie die an-

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geblich zu hohe Zahl von Frauen in Erziehungs- und Bil-dungsberufen problematisch finden, da dadurch – ichzitiere – „positive Vorbilder“ für Jungen fehlen würden,sogenannte „moderne männliche Rollenvorbilder“, wiees Ihr Ministerium bezeichnet. Frau Schröder, müssennach Ihrer Auffassung Vorbilder für Jungs „echteKerle“ sein, wie man es in gewissen Kreisen ausdrückt?Gibt es nicht ganz verschiedene männliche Rollenbil-der? Und sind sie nicht alle gleich viel Wert? KönnenFrauen nicht für Jungs eine wertvolle Identifikation er-möglichen? Muss nicht gerade auch Jungen und Män-nern Geschlechterdemokratie, Gleichbehandlung unddie Vielfalt der Lebensweisen vermittelt werden? Solltees nicht gerade auch darum gehen, die Männlichkeit intraditioneller Form aufzubrechen und alle Lebensfor-men, gerade auch beispielsweise der Homosexualität, ineinem Projekt, das Jungen fördern will, positiv zu be-rücksichtigen? Ich denke schon! Ihr Vorschlag weistaber all diese Lücken und Blindflecken auf.

Frau Schröder hat ihre altmodische Sicht auf Ge-schlechterrollen in einen „SPIEGEL“-Interview vom8. November 2010 dargelegt. Dort giftete sie: „Jungs,die bei alleinerziehenden Müttern aufwachsen, bekom-men oft, bis sie zwölf Jahre alt sind, weder in der Kitanoch in der Grundschule einen Mann zu Gesicht“. Of-fensichtlich ein Skandal für sie. Das Zitat von ihr istnicht weniger als ein unerträglicher Angriff auf all diewundervollen Regenbogenfamilien und die vielen allein-erziehenden Frauen in diesem Land, die sich Tag für Taghingebungsvoll und gegen all die widrigen Umstände inBeruf und Alltag um ihre Kinder kümmern.

Ich halte es des Weiteren nicht für hilfreich, Jungs zuden sogenannten Sorgenkindern der Bildung zu erklä-ren. Denn es ist eben nicht so, wie uns die schwarz-gelbeRegierung weismachen will, dass Jungs per se schlech-ter in der Schule sind und deshalb hilfebedürftig sind –ebenso wenig wie angeblich „die“ Mädchen.

Die Verliererinnen und Verlierer des Bildungswesensin der BRD zu identifizieren, erfordert Differenzierungs-vermögen. Auf jeden Fall gilt es, ins Auge zu nehmen,was Thema unzähliger Studien der letzten Jahre war,nämlich, dass es vor allem sozial benachteiligte undarme Kinder und Jugendliche sind, die schlechtereChancen auf Bildung und späteren beruflichen Erfolghaben. Da müssten Sie politisch den Hebel ansetzen!Diesen Punkt im allerletzten Abschnitt ihres Antrags zuverstecken, dort auszuführen, hier „gegebenenfallsnachjustieren“ zu wollen, ist unzureichend und wirddem Problem keinesfalls gerecht, nicht einmal im An-satz!

In diesem Land, in der reichen BRD, ist mittlerweilejeder fünfte Jugendliche von Armut bedroht. Es bestehtalso ein großer sozial-, jugend- und familienpolitischerHandlungsbedarf. Dabei sollten wir festhalten: Nur einefröhliche und unbelastete Jugend ist eine wirkliche Ju-gend! Allen jungen Menschen müssen durch den Gesetz-geber Steine – welcher Art auch immer – aus dem Weggeräumt werden, damit jeder und jede die Möglichkeithat, seine bzw. ihre eigene Identität, ihre Stellung in derGesellschaft, ihre ökonomische Eigenständigkeit zu fin-

den, ohne dabei mit Perspektiv- und Chancenlosigkeitkonfrontiert zu werden.

Bitte berücksichtigen Sie unsere Anmerkungen, redenSie noch einmal Ihrer Ministerin ins konservative Ge-wissen, und Sie werden sehen, dass auch die linke Seitedieses Hauses einen Antrag aus Ihrer Feder mittragenwird.

Till Seiler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir Grünen verstehen unter moderner Gleichstel-

lungspolitik eine Politik, die gemeinsam von Männernund Frauen gemacht wird – und sich an beide Ge-schlechter richtet. Wenn die Bundesregierung nun ihrAugenmerk auf die Förderung von Jungen und Männernrichtet, ist das zunächst einmal erfreulich, weil das inder Vergangenheit tatsächlich zu wenig getan wurde.Wenn sie dies aber zulasten der Mädchen- und Frauen-förderung tut, läuft etwas grundfalsch! Beide Bereichemüssen im Haushalt 2012 ausreichend finanziert wer-den.

Anders als von der Familienministerin behauptet,sind nicht die Frauen schuld, dass sie weniger verdienenals die Männer, weil sie etwa die falschen Fächer studie-ren oder kein Verhandlungsgeschick besitzen. Von sol-chen Behauptungen fühlen Frauen sich zu Recht ver-höhnt. Denn sie sind es, die noch immer einen Großteilder Familienarbeit schultern – und dafür auf demArbeitsmarkt bestraft werden. Der Feminismus ist kei-nesfalls überholt. Vielmehr müssen endlich Rahmenbe-dingungen geschaffen werden, die gleiche Entwick-lungsmöglichkeiten für beide Geschlechter eröffnen!Und hier kommen die männlichen Feministen ins Spiel,zu denen auch ich mich zähle. Wirkliche Gleichstellungkann nur dann funktionieren, wenn die Geschlechter aneinem Strang ziehen.

Auch Männer möchten mehr Wahlmöglichkeiten unddamit mehr Freiraum für Selbstbestimmung haben.Auch sie möchten Kinder, Karriere, Engagement undFreizeit miteinander vereinbaren. Rund 60 Prozent derMänner mit Kindern unter 18 Jahren wünschen sich eineArbeitszeitreduzierung. Hier gibt es noch viel zu tun!Und hier folgen wir auch einigen grundsätzlichen Ideendes Antrags der Regierungskoalition.

Es ist richtig, dass schon mit Jungen und Mädchen inKindertageseinrichtungen und Schulen Rollenzuschrei-bungen thematisiert und kritisch hinterfragt werdenmüssen. Es müssen Methoden entwickelt werden, mit de-nen auch Jungen, die in der Tat häufig zu den sogenann-ten Bildungsverlierern gehören, angemessen gefördertwerden können. Wenn die Familienministerin dann aberöffentlich vorschlägt, es sollten mehr Diktate mit Fuß-ballgeschichten geschrieben werden, anstatt sich immernur mit Schmetterlingen und Ponys zu beschäftigen,dann ist das ein Rückschritt in vorfeministische Zeitenund eine Zementierung von Rollenzuschreibungen. Waswir brauchen, ist eine individuelle, geschlechtersensibleFörderung jedes Einzelnen. Und gerade keine Förde-rung „des Jungen“ oder „des Mädchens“ an sich.

Zu Protokoll gegebene Reden

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Um Kindern und Jugendlichen eine optimale Aus-einandersetzung mit Rollenmodellen zu ermöglichen,müssen in Kindertageseinrichtungen und Schulen männ-liche und weibliche Pädagogen gleichermaßen vertretensein. Hier können wir Ihrem Antrag folgen. Ohne dieVerankerung von Genderaspekten in der Lehrer- und Er-zieherausbildung bringt das aber wenig. Lehrer und Er-zieher müssen darauf vorbereitet werden, Kinder undJugendliche geschlechtersensibel zu fördern.

Nicht folgen können wir Ihnen, wenn Sie vorschlagen,zu prüfen, wie erzieherische und pflegerische Berufe at-traktiver ausgestaltet und Rahmenbedingungen verbes-sert werden können. Wieso denn ein Prüfauftrag? DieRahmenbedingungen, die notwendig sind, um eine wirk-liche Gleichstellung der Geschlechter zu erreichen, lie-gen doch seit Jahren auf der Hand. Packen Sie es an:Engagieren Sie sich für eine gute Bezahlung der erziehe-rischen und pflegerischen Berufe, damit sie für Männerwie für Frauen attraktiver werden! Sorgen Sie darüberhinaus aber auch für eine flächendeckende, qualitativhochwertige Ganztagsbetreuung! Setzen Sie Anreize füreine paritätische Aufteilung der Elternzeit! Machen Siesich für eine Frauenquote in Aufsichtsräten und Vor-ständen stark! Eine moderne Gleichstellungspolitikmuss Jungen und Mädchen, muss Frauen und Männerfördern!

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für

Familie, Senioren, Frauen und Jugend empfiehlt in sei-ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7088, denAntrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP aufDrucksache 17/5494 anzunehmen. Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltun-gen? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen mitden Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stim-men von SPD und Linken bei Enthaltung der Grünen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten KatjaKipping, Diana Golze, Matthias W. Birkwald,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKE

Existenzsicherung von Stiefkindern im Leis-tungsbezug des SGB II und des SGB XII ga-rantieren

– Drucksache 17/7029 – Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

Dr. Peter Tauber (CDU/CSU): Der vorliegende Antrag von der Fraktion Die Linke

auf Drucksache 17/7029 liest sich ganz flott, aber schonauf den ersten Blick zeigt sich, dass die politische Stoß-richtung Ihres Antrages untragbar ist.

Sie fordern allen Ernstes eine Regelung im SGB IIund SGB XII, nach der Einkommen und Vermögen einesneuen Partners des Elternteils bei der Bedarfsermitt-lung nicht zu berücksichtigen sind. Mit einer solchen Re-

gelung untergraben Sie die Konstruktion von Arbeitslo-sengeld II und des Sozialgeldes, um so einen weiterenSchritt bei der Einführung eines bedingungslosenGrundeinkommens zu gehen. Diesen Schritt werden wirnicht mit Ihnen gehen und lehnen Ihren Antrag daher ab.

Menschen, die in sogenannten Patchworkfamilien mitKindern zusammenleben, bilden keine bloße Wohnge-meinschaft. Der Entschluss, „zusammenzuziehen“, fälltnicht vom Himmel und ist in der Regel wohl überlegt.Dieses „Zusammenziehen“ begründet kein einfaches„Zusammenwohnen“, sondern ein „Zusammenleben“!Diese Einstandsgemeinschaft bildet die sogenannte Be-darfsgemeinschaft. Sie führen es selber in Ihrem Antragauf, dass das das Bundessozialgericht in seiner Ent-scheidung vom 13. November 2008 (B 14 AS 2/08) diebestehende Regelung als verfassungskonform einschätztund feststellt, dass der Gesetzgeber typisierend unter-stellen darf, dass der neue Partner auch die Verantwor-tung für die Kinder mit übernehme.

Sie thematisieren anschließend zwei Probleme: ers-tens die Bereitschaft und Fähigkeit des neuen Partners,diese Verantwortung zu übernehmen, und zweitens dieFrage, ob eine finanzielle Unterstützung tatsächlichstattfindet. Ich frage mich ja schon, in welcher Welt Sieleben und welches Menschenbild Sie vor Augen haben.Wenn der neue Partner – und ich vermisse in Ihrem An-trag die Formulierung der „neuen Partnerin“, aber dasnur am Rande – die finanzielle Fähigkeit nicht besitzt, sostellt sich das Problem nicht, da in diesem Fall alle Mit-glieder der Bedarfsgemeinschaft leistungsberechtigtsind.

Was die Frage der Bereitschaft betrifft, so möchte ichgerne eine Gegenfrage in den Raum stellen: Würden Siemit einem Menschen zusammenleben wollen, der mit Ih-nen zwar Tisch und Bett teilt, Ihnen aber klar zu verste-hen gibt, dass er Ihre Kinder nicht „durchfüttern“ wird?Mir käme das nicht in den Sinn. Und die Frage, ob einefinanzielle Unterstützung tatsächlich stattfindet, kannnicht Ihr Ernst sein. Gerade im Sinne einer solidari-schen und menschlichen Gesellschaft tun wir gut daran,Menschen eine solche Unterlassung nicht zu unterstel-len.

Die Fälle, in den die neue Partnerin oder der neuePartner den Kindern die Unterstützung in der Familieverwehrt, dürfen nicht als Regelfall dargestellt werden,da dies sicher nicht der Regelfall ist. Wie wollen Sie soetwas feststellen? Generalverdächtigungen bringen unsnicht weiter. Und wir als Parlament sollten nicht in dieFamilien hineinregieren. Menschen nicht zu bevormun-den, schreiben Sie sich doch immer auf die Fahne, wennes Ihnen gerade passt.

Kam nicht aus Ihren Reihen die massive Kritik an dendamals diskutierten Bildungsgutscheinen im Zuge derDebatte um das Bildungs- und Teilhabepaket? Die Gut-scheinlösung würde die Arbeitslosengeld-II-Empfängerbevormunden. Nach dem Sportwettenurteil des Landge-richts Köln wetterte die Kollegin Lötzsch auf demTheodor-Heuss-Platz in Bremerhaven: „Wenn Men-schen, die Hartz IV beziehen, sich entscheiden, einenTeil ihres Geldes für Sportwetten auszugeben, so ist das

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Dr. Peter Tauber

ihr gutes Recht. Wer arm ist, darf nicht noch bevormun-det werden.“

Viel entschiedener abzulehnen ist die Art und Weise,mit der Ihr Vorschlag die sogenannten Patchworkfami-lien privilegieren würde. Eine Nichtberücksichtigungdes Einkommens und Vermögens des neuen Partners ei-nes Elternteils in einer Bedarfsgemeinschaft würde dienichteheliche Patchworkfamilie finanziell wesentlichbesser stellen als eine Kernfamilie oder eine ehelicheStieffamilie im Leistungsbezug des SGB II und SGB XII.In diesem Zusammenhang möchte ich Sie an § 20SGB XII erinnern. Er besagt, dass Personen, die in ehe-ähnlicher oder lebenspartnerschaftsähnlicher Gemein-schaft leben, hinsichtlich der Voraussetzungen sowie desUmfangs der Sozialhilfe nicht besser gestellt werdendürfen als Ehegatten. Das bedeutet unter anderem, dassEinkommen und Vermögen des Partners in gleichemUmfang zu berücksichtigen sind wie Einkommen undVermögen eines Ehegatten.

Vor der Änderung im SGB-II-Fortentwicklungsgesetzwurden verheiratete Partner gegenüber unverheiratetenPartnern schlechter gestellt. Mit der Änderung der Gro-ßen Koalition wurde daher klargestellt, dass – auch ent-sprechend der ursprünglichen Absicht des Gesetzgebers –Einkommen innerhalb der Bedarfsgemeinschaft in bei-den Fallgestaltungen auf den Bedarf eines nicht leibli-chen Kindes anzurechnen sind. Damit würde dieSchlechterstellung von Ehen gegenüber nichtehelichenPartnerschaften aufgelöst.

Das Bundesverfassungsgericht wird über die vorlie-gende Verfassungsbeschwerde (1 BvR 1083/09) in ge-wohnter Art und Weise entscheiden.

Der Antrag der Fraktion Die Linke ist rückwärtsge-wandt und daher abzulehnen.

Paul Lehrieder (CDU/CSU):Mit Ihrem Antrag „Existenzsicherung von Stiefkin-

dern im Leistungsbezug des SGB II und des SGB XII ga-rantieren“ fordern Sie ein Gesetz, durch das eine Rege-lung in das SGB II und SGB XII eingeführt werden soll,wonach Einkommen und Vermögen der neuen Partnerdes Elternteils bei der Bedarfsermittlung des Kindesnicht zu berücksichtigen sind.

Hierbei verkennen Sie jedoch schlichtweg, dass dasBundessozialgericht in seinem Urteil vom 13. November2008 ausdrücklich die bestehenden gesetzlichen Rege-lungen bestätigt und keine verfassungsrechtlichen Be-denken sieht.

Oder möchten Sie allen Ernstes, liebe Kolleginnenund Kollegen der Linken, die Entscheidung des Bundes-sozialgerichts als oberstes Bundesgericht der Sozialge-richtsgerichtsbarkeit infrage stellen? Das kann dochnun wirklich nicht Ihr Ernst sein!

Bei den seit Inkrafttretens des § 9 Abs. 2 Satz 2 SGB IIin der Fassung des Fortentwicklungsgesetzes bestehen-den gesetzlichen Regelungen des SGB II und SGB XIIsind bei Personen, die mit einem Elternteil in einer Be-darfsgemeinschaft leben und ihren Lebensunterhalt

nicht aus eigenem Einkommen oder Vermögen sichernkönnen, auch Einkommen und Vermögen der Eltern oderdes Elternteils und dessen in Bedarfsgemeinschaft le-bender Partnerin oder lebenden Partners zu berücksich-tigen.

Dieser Regelung liegt der Gedanke zugrunde, dassPersonen, die miteinander in einem Haushalt leben, ja„aus einem Topf“ wirtschaften und in jeder Lebenslagefüreinander einstehen. Daher ist es auch sachgerecht,Vermögen und Einkommen dieser Personen – unabhän-gig von der rechtlichen Konstruktion der Partner-schaft – zu berücksichtigen.

Dies sieht auch das Bundessozialgericht so; denn dieWahl der Lebensform „eheähnliche Gemeinschaft“ darfgegenüber der Lebensform „Ehe“ nicht zum Nachteilder Allgemeinheit gereichen.

Auch Ihr Vorwurf, meine sehr geehrten Damen undHerren von der Linken, der Rechtsanspruch des Kindesauf Gewährung eines Existenzminimums gegen denStaat sei nicht hinreichend gewahrt, geht ins Leere.

So ist es zwar richtig, dass sich das Kind nach der ge-setzlichen Regelung des § 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II dasEinkommen einer Person „entgegenhalten“ lassenmuss, gegen die es aber keinen direkten Anspruch aufUnterhalt hat.

Allerdings sieht das Bundessozialgericht den Rechts-anspruch des Kindes auf Gewährung des Existenzmini-mums gegen den Staat, Art. 1 GG i. V. m. Art. 20 Abs. 1GG, als hinreichend gewahrt, da das Kind einen Unter-haltsanspruch gegen die Mutter bzw. den Vater aus dersogenannten Notgemeinschaft nach § 1603 Abs. 2 BGBhat, der auch ohne Berücksichtigung einer Selbstbe-haltsgrenze zu erfüllen ist.

Abschließend bleibt somit festzuhalten, dass die Kon-struktion der Bedarfsgemeinschaft im SGB II undSGB XII, die sowohl für verheiratete als auch nichtver-heiratete Paare gilt, absolut sachgerecht ist.

Hätten Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der Lin-ken, das Urteil des Bundessozialgerichts aufmerksamgelesen, dann hätten auch Sie festgestellt, dass Ihr An-trag dahingehend wenig zielführend ist.

Angelika Krüger-Leißner (SPD): Der Antrag der Fraktion Die Linke, den wir heute be-

raten, wirft schwierige Rechtsfragen auf, und so leichtwie die Antragsteller kann man es sich nicht machen.

Es geht um die Verfassungskonformität der Regelun-gen im SGB II und im SGB XII, die die Einkommens- undVermögensanrechnung vorsehen, speziell bei Kindern insogenannten Patchworkfamilien.

Wir sprechen hier insbesondere von der Neufassungdes § 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II durch das zum 1. August2006 in Kraft getretene Gesetz zur Fortentwicklung derGrundsicherung für Arbeitsuchende, das Fortentwick-lungsgesetz.

So sieht § 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II heute vor, dass beiunverheirateten Kindern, die mit ihren Eltern oder ei-

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Angelika Krüger-Leißner

nem Elternteil in einer Bedarfsgemeinschaft leben unddie ihren Lebensunterhalt nicht aus eigenem Einkommenoder Vermögen sichern können, auch das Einkommenund Vermögen der Eltern oder des Elternteils und des-sen in Bedarfsgemeinschaft lebender Partnerin oder le-benden Partners zu berücksichtigen sind. Gerade Letz-teres stößt bei Ihnen, verehrte Kolleginnen und Kollegender Linken, auf verfassungsrechtliche Bedenken.

Richtig ist insoweit, dass das hilfebedürftige Kind ineiner Patchworkfamilie keine einklagbaren Unterhalts-ansprüche gegenüber der neuen Partnerin oder demneuen Partner der leiblichen Mutter oder des leiblichenVaters hat. Sie fordern deshalb mit Ihrem Antrag unterBerufung auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichtsvom 9. Februar 2010 zu den Hartz-IV-Regelsätzen eineNeuregelung für das SGB II und das SGB XII, nach derEinkommen und Vermögen der neuen Partnerin oder desneuen Partners des Elternteils bei der Bedarfsermitt-lung des Kindes nicht zu berücksichtigen sind.

Zum Hintergrund verweisen Sie auf die Feststellun-gen des Bundesverfassungsgerichts in der oben genann-ten Entscheidung, wonach – ich zitiere –: „ein Hilfebe-dürftiger nicht auf freiwillige Leistungen des Staatesoder Dritter verwiesen werden darf, deren Erbringungnicht durch ein subjektives Recht des Hilfebedürftigengewährleistet ist“.

Sie sprechen in Ihrem Antrag davon, dass die gene-relle Unterstellung einer Unterstützung durch den mitdem Elternteil neu zusammenlebenden Partner einenverfassungsrechtlich unzulässigen Verweis auf freiwil-lige Leistungen Dritter darstelle.

Ich möchte im Folgenden darauf mit drei Anmerkun-gen näher eingehen:

Erstens. Es ist mir und meiner Fraktion durchaus be-wusst, dass unter Umständen tatsächlich infolge des an-gesprochenen Urteils des Bundesverfassungsgerichtsfür den speziellen Bereich der Einkommens- und Vermö-gensanrechnung bei Kindern in einer sogenanntenPatchworkfamilie eine Änderung der Rechtslage einge-treten sein kann. Die bisherige Bedarfsermittlung unterBerücksichtigung des Einkommens und des Vermögensder neuen Partnerin oder des neuen Partners des leibli-chen Elternteils könnte sich als nicht verfassungskon-form erweisen. Dann wäre der Gesetzgeber verpflichtet,zu handeln. Die bisherigen Regelungen im SGB II undim SGB XII hätten keinen Fortbestand, und wir bräuch-ten eine gesetzliche Neuregelung.

Ausschließen können wir das nicht. Jedoch ist es zur-zeit keineswegs sicher, ob die von der Linken moniertenRechtsnormen einer Überprüfung durch das Bundesver-fassungsgericht tatsächlich nicht standhalten.

Immerhin – und daran möchte ich in diesem Zusam-menhang erinnern – standen seinerzeit nicht die hier an-gesprochenen Einzelnormen im SGB II und SGB XII aufdem Prüfstand, sondern es ging bei der zitierten Ent-scheidung des Bundesverfassungsgerichts im Kern umdie generelle Herleitung und Ermittlung der Regelsätze.Dazu hat das Gericht umfassend ausgeführt. Es ist auchunstreitig, dass es mit seiner Entscheidung das Grund-

recht auf Gewährleistung des Existenzminimums be-gründet hat. Aber zu den hier maßgeblichen Regelungenhat sich das Gericht explizit nicht geäußert – also auchderen Verfassungswidrigkeit nicht festgestellt.

Ich weiß, dass Sie, liebe Kolleginnen und Kollegender Linken, das anders sehen. Ihre Auffassung ist aberdas Ergebnis einer Auslegung des Bundesverfassungs-gerichtsurteils, die natürlich in diesem Sinne zulässig,jedoch nicht zwingend ist. Man kann das durchaus auchanders werten – insbesondere, weil sich das Gerichteben nicht mit dem konkreten Sachverhalt der Einkom-mens- und Vermögensanrechnung bei Kindern in Patch-workfamilien auseinanderzusetzen hatte.

Insofern halte ich das mit Ihrem Antrag verfolgte An-liegen für verfrüht – wobei mir Ihre Intention schondurchaus klar ist: Die Grundsicherung für Arbeit-suchende ist Ihnen ja seit eh und je ein Dorn im Auge. Esist ja kein Geheimnis, dass Sie das SGB II am liebsten inGänze wieder abschaffen würden. Da das nicht funktio-niert, stellen Sie nun einzelne Vorschriften auf den Prüf-stand. Das ist legitim. Aber Sie handeln damit im vorlie-genden Fall aus meiner Sicht eindeutig vorschnell.

Ich möchte Ihnen dazu meine Zweifel näher erläu-tern.

Zweitens. Sie sagen, es sei nicht verfassungskonform,wenn von Gesetzes wegen unterstellt wird, dass jemand,der mit einer SGB-II-leistungsberechtigten Person mitKindern zusammenzieht, eine Bereitschaft zur Finanzie-rung des nicht leiblichen Kindes hat. Ich frage Sie: Istdas wirklich so realitätsfern? Ist das Zusammenziehennicht auch ein Ausdruck dessen, künftig füreinander unddie Kinder dieser Bedarfsgemeinschaft einstehen zuwollen – natürlich nicht im unterhaltsrechtlichen Sinne,aber eben doch durch die faktische gemeinsame Lebens-führung innerhalb eines Haushaltes? Ist der neue Part-ner des leiblichen Elternteils aufgrund von Einkommenund Vermögen in der Lage, Lebenshaltungskosten ingrößerem Umfang zu übernehmen, kommt das im Ergeb-nis auch dem nicht leiblichen Kind zugute. Das könnenwir an dieser Stelle nicht ausblenden.

Drittens. Aber auch vor dem Hintergrund des Urteilsdes Bundessozialgerichts, BSG, vom 13. November 2008habe ich meine Zweifel daran, ob wir es nach dem vonIhnen zitierten Urteil des Bundesverfassungsgerichtswirklich mit einer neuen Rechtslage zu tun haben. DasBSG hat doch explizit die von Ihnen angesprocheneVorschrift des § 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II zu prüfen gehabt– und zwar in einem Falle einer sogenannten Patch-workfamilie.

Viertens. Es kam dabei – worauf Sie ja in Ihrem An-trag auch völlig zutreffend hinweisen – zu einer unmiss-verständlichen Bewertung der Regelung: Sie wurde alsverfassungskonform angesehen!

Das BSG hat dargelegt, dass es 2006 der Neufassungdes § 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II bedurfte, da in der Vergan-genheit mit dem Bestehen einer Bedarfsgemeinschaftnoch nicht feststand, zwischen welchen Personen eineEinkommens- und Vermögensanrechnung stattfindet.Erst die Neufassung hat Klarheit geschaffen, dass eine

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Angelika Krüger-Leißner

Berücksichtigung von Einkommen und Vermögen nichtlediglich bei dem leiblichen Kind und dem Partner, son-dern auch bei dessen Kind, also dem nicht leiblichen,stattfinden soll. Ebendiese Regelung hat das BSG fürverfassungsgemäß erachtet. Es hat insbesondere – ent-gegen Ihrer Ansicht, liebe Kolleginnen und Kollegen derLinken – darin keine Verletzung des Gebots zur Siche-rung des Existenzminimums gesehen. Der Gesetzgeberdarf danach im Rahmen eines ihm zuzubilligenden Ge-staltungsspielraums – ich zitiere :

bei der Gewährung von Sozialleistungen unabhän-gig von bestehenden bürgerlich-rechtlichen Unter-haltspflichten die Annahme von Hilfebedürftigkeitdavon abhängig machen, ob sich für den Einzelnentypisierend aus dem Zusammenleben mit anderenPersonen Vorteile ergeben, die die Gewährungstaatlicher Hilfe nicht oder nur noch in einge-schränktem Umfang gerechtfertigt erscheinen las-sen.

Ich finde diese Argumentation des Gerichts schlüssigund nachvollziehbar. Wenn von einer Bedarfsgemein-schaft im Sinne des SGB II auszugehen ist, darf bei Kin-dern Einkommen und Vermögen des neuen Partners desleiblichen Elternteils angerechnet werden.

Wir können vor dem Hintergrund dieses Urteils desBundessozialgerichts derzeit nicht von einer verfas-sungswidrigen Gesetzeslage ausgehen. Sollte das Bun-desverfassungsgericht im Hinblick auf die anhängigeVerfassungsbeschwerde eines betroffenen Kindes aller-dings zu einer anderen Beurteilung als das Bundesso-zialgericht kommen und § 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II fürverfassungswidrig erklären, dann besteht für den Ge-setzgeber tatsächlich Handlungsbedarf.

Einstweilen halten wir den nicht für gegeben. Ihr An-trag ist voreilig. Es gilt zunächst den Ausgang des Be-schwerdeverfahrens abzuwarten. Dann erst haben wirendgültig Klarheit, ob die Regelung verfassungskonformist oder nicht.

Pascal Kober (FDP): Der Antrag der Linken zur Existenzsicherung von

Stiefkindern im Leistungsbezug des SGB II und SGB XIIzeigt sehr deutlich, wie die Kolleginnen und Kollegender Linken arbeiten. Sie stellen Behauptungen auf, diedie Bevölkerung bewusst verunsichern, die bewusstskandalisieren und die bewusst die Politik in Verrufbringen sollen. All dies tun sie wider besseres Wissen.Dieses Muster ihres Verständnisses von parlamentari-scher Arbeit wiederholt sich immer wieder bei den un-terschiedlichsten Themen, im Sozialbereich allerdingsmit einem besonderen Schwerpunkt.

Ich möchte dies belegen, indem ich erst einmal ausdem Antrag zitiere. Dort heißt es auf Seite 2:

Damit wird gegen das Grundrecht des Kindes aufein menschenwürdiges Existenzminimum verstoßen.Diese verfassungswidrige Gesetzeslage ist schnellst-möglich zu korrigieren.

Dem möchte ich folgendes Zitat gegenüberstellen:

Die zur Anwendung kommende Regelung ist verfas-sungsgemäß. …

Das Gebot zur Sicherung des Existenzminimumsaus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozial-staatsgebot des Art. 20 Abs. 1 GG wird durch diezur Anwendung kommende Regelung nicht verletzt.

Sie erkennen den offensichtlichen Widerspruch zwi-schen der Aussage aus dem Antrag der Linken und demzweiten Zitat. Letzteres Zitat ist aus einem Urteil desBundessozialgerichts vom 13. November 2008, in demes um die Berücksichtigung des Einkommens des Part-ners in der Bedarfsgemeinschaft zugunsten der nichtleiblichen Kinder ab dem 1. August 2008 geht.

Es geht also genau um den Sachverhalt, von dem derAntrag der Linken handelt. Die Einschätzung des höchs-ten deutschen Sozialgerichts ist eine vollkommen andereals die der Linken. Daher halte ich ihre Behauptungenfür unredlich und schädigend. Ich bin froh, dass inDeutschland Gerichte über die Verfassungsmäßigkeitvon Gesetzen entscheiden und nicht die Politik der Lin-ken.

Die bestehende Regelung, dass das Einkommen vonin einer Bedarfsgemeinschaft zusammenlebenden Er-wachsenen auch für nicht leibliche Kinder angerechnetwird, ist am 1. Juni 2006 im Deutschen Bundestag durchdas Gesetz zur Fortentwicklung der Grundsicherung fürArbeitsuchende mit den Stimmen von SPD und CDU/CSU beschlossen worden. Die FDP hatte damals gegendas Gesetz gestimmt, was aber nicht an dieser Einzelbe-stimmung lag, sondern an der grundlegend falschenAusrichtung des damaligen Gesetzes. Diese spezielleEinzelfalländerung des damaligen Gesetzes halte ich fürdurchaus nachvollziehbar und sinnvoll.

Die Kolleginnen und Kollegen der Linken stellen dieBehauptung auf, dass „die derzeitigen sozialrechtlichenRegelungen massive Hürden für neue Partnerschaftenund Familiengründungen darstellen.“ Sie müssen aberauch einmal weiterdenken: Eine Regelung, die erst danndas Einkommen des neuen Elternteils zur Anrechnungbrächte, wenn die beiden Partner verheiratet wären,würde massive Hürden für die Schließung einer Eheschaffen. Nun mag in Ihrem Weltbild die Ehe keine be-sondere Bedeutung haben; ich halte sie aber weiterhinfür schützenswert.

Es geht doch vielmehr um die Frage, ab wann Men-schen sozialrechtlich füreinander einstehen und welcheRolle dabei die Kinder spielen. Wer mit einem Partnerund dessen Kindern zusammenzieht, übernimmt Verant-wortung für diese. Daher ist es nur folgerichtig, dassdies auch sozialrechtlich so bewertet wird.

Maßgeblich ist für uns immer das Einkommen der Be-darfsgemeinschaft. Ganz unabhängig davon, welcherTeil der Bedarfsgemeinschaft welches Einkommen ein-bringt, wird dann geprüft, ob die Bedarfsgemeinschaftleistungsberechtigt im Sinne des SGB II ist.

Die Konsequenz des Antrags der Linken wäre, dasswir die Bedarfsgemeinschaft wieder auseinanderneh-

Zu Protokoll gegebene Reden

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15398 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011

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Pascal Kober

men und die jeweiligen Elternteile mit ihrem jeweiligenEinkommen berücksichtigen müssten. Dies lehnt dieFDP ab.

Katja Kipping (DIE LINKE): Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Ent-

scheidung zu den Hartz-IV-Regelsätzen festgestellt:„Ein Hilfebedürftiger darf nicht auf freiwillige Leistun-gen des Staates oder Dritter verwiesen werden, derenErbringung nicht durch ein subjektives Recht des Hilfe-bedürftigen gewährleistet ist.“ (BVerfG 1 BvL 1/09 vom9. Februar 2010, Absatznummer 136). Ein hilfebedürfti-ges Kind in einer Patchworkfamilie hat keine einklagba-ren Rechte gegenüber der neuen Partnerin oder demneuen Partner der leiblichen Mutter oder des leiblichenVaters. Insofern stellt die generelle Unterstellung einerUnterstützung durch den Stiefelternteil einen verfas-sungsrechtlich unzulässigen Verweis auf „freiwilligeLeistungen“ Dritter dar. Das nicht leibliche Kind gingein einem Rechtsstreit leer aus, weil es gar keinen Rechts-anspruch auf Leistungen von dem Stiefelternteil hat.Auch die denkbare Alternative eines Auszugs steht demunter 25 Jahre alten Nachwuchs aufgrund der rechtli-chen Einschränkungen nur bedingt offen. Damit wirdgegen das Grundrecht des Kindes auf ein menschenwür-diges Existenzminimum verstoßen. Diese verfassungs-widrige Gesetzeslage ist schnellstmöglich zu korrigie-ren.

Hartz IV stigmatisiert, diskriminiert, es verletztgrundlegende Grundrechte bei der Gewährung derExistenz- und Teilhabesicherung. Hartz IV legt Men-schen Unterhaltsverpflichtungen auf, die jeder zivil-rechtlichen Grundlage entbehren. Dies ist ein unhaltba-rer Zustand. Wenn Menschen keine unterhalts-rechtlichen Verpflichtungen eingegangen sind, so darfdurch das Sozialrecht nicht das Gegenteil unterstellt underzwungen werden. Gegen dieses Prinzip verstößt dieKonstruktion der Bedarfsgemeinschaft im Zweiten BuchSozialgesetzbuch, SGB II. Durch das SGB-II-Fortent-wicklungsgesetz von 2006 wird festgeschrieben, dassKinder in Patchworkfamilien zur Bedarfsgemeinschaftgehören. Seitdem gilt sowohl für verheiratete als auchfür nicht verheiratete Paare: Die Anrechnung von Ein-kommen und Vermögen findet grundsätzlich und immerstatt. Es bleibt unberücksichtigt, ob und inwieweit einefinanzielle Unterstützung tatsächlich stattfindet.

Etwas anders gelagert ist die Situation im SGB XII.Hier wird im Unterschied zum SGB II eine Bedarfsde-ckung des soziokulturellen Existenzminimums durch diePartnerin bzw. den Partner des leiblichen Elternteils un-ter Berücksichtigung von Freibeträgen ebenfalls unter-stellt, allerdings widerlegbar. Diese sozialrechtliche Un-terstellung ist in der Praxis aber nur schwerzurückzuweisen. Stellen Sie sich vor, ein Kind soll vorGericht aussagen, dass der verdienende Partner seinerMutter, zum Beispiel sein Stiefvater, nicht ausreichendGeld für alle gibt, speziell für das nicht leibliche Kindselbst.

Fakt ist: Mit den sozialrechtlichen Konstruktionen imSGB II und im SGB XII kann die Existenzsicherung der

Kinder in Patchworkfamilien nicht garantiert werden,weder die Existenzsicherung des nicht leiblichen Kindeseiner Mutter oder eines Vaters noch die Existenzsiche-rung der leiblichen Kinder einer Mutter oder eines Va-ters, weil die ausgezahlten Transferleistungen in der Be-darfs- bzw. Einsatzgemeinschaft nun für alle Kinder inder Patchworkfamilie reichen müssen.

Das Bundessozialgericht, BSG, hat in einer Entschei-dung vom 13. November 2008 (B 14 AS 2/08) die Rege-lung zwar als verfassungskonform eingeschätzt, der Ge-setzgeber dürfe typisierend unterstellen, dass der neuePartner auch die Verantwortung für die Kinder mitübernehme. Die Frage, ob aufseiten des neuen Partnerseine solche Bereitschaft und Fähigkeit besteht, hat dasBSG ebenso wenig als verfassungsrechtlich problema-tisch angesehen wie die Frage, ob eine finanzielle Un-terstützung tatsächlich stattfindet. Diese Argumentationist jedoch nicht überzeugend. Die entscheidende Frage,nämlich, wie die Existenzsicherung des Kindes garan-tiert werden kann, wird durch das Bundessozialgerichtnicht befriedigend beantwortet.

Aktuell liegt die Verfassungsbeschwerde eines betrof-fenen Kindes beim Bundesverfassungsgericht zur Ent-scheidung vor (1 BvR 1083/09). Der Gesetzgeber solltesich nicht seiner verfassungsrechtlichen Pflicht zur Ge-währleistung des Existenzminimums entziehen und aufdas Urteil warten. Es liegt in der Hand des Bundesge-setzgebers, die Sicherungslücken zu schließen und ver-fassungskonforme Regelungen zu schaffen. Dies sollteumgehend geschehen.

Auch jenseits der verfassungsrechtlichen Bewertungist ein dringender Handlungsbedarf gegeben. Denn diederzeitigen sozialrechtlichen Regelungen stellen mas-sive Hürden für neue Partnerschaften und Familien-gründungen dar. Neuerliche Partnerschaften und Fami-liengründungen werden für Leistungsberechtigte mitKindern faktisch mit Leistungsentzug sanktioniert.Diese unhaltbare Rechtslage ignoriert den sozialenWandel hin zu vermehrten Patchworkfamilien. Auch imSinne einer menschlichen und solidarischen Gesell-schaft sind die Barrieren und Hürden für die Gründungneuer Partnerschaften und Familien abzubauen.

Die Fraktion Die Linke beantragt aus genanntenGründen, das Grundrecht auf Gewährleistung des Exis-tenzminimums von Kindern in Patchworkfamilien ge-setzlich zu garantieren. Diese Garantie gilt unabhängigvon der Frage, ob das neue Paar verheiratet ist. Zu die-sem Zweck soll eine Regelung im SGB II und im SGB XIIeingeführt werden, nach der Einkommen und Vermögender neuen Partnerin oder des neuen Partners des El-ternteils bei der Bedarfsermittlung des nicht leiblichenKindes nicht zu berücksichtigen sind.

Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Fraktion Die Linke bringt mit dem vorliegenden

Antrag eine Forderung in den Deutschen Bundestag ein,die wir von Bündnis 90/Die Grünen nur unterstützenkönnen. Schon in der vergangenen Wahlperiode habenwir einem inhaltsgleichen Antrag der Fraktion (Druck-sache 16/9490) zugestimmt. Es ist völlig inakzeptabel,

Zu Protokoll gegebene Reden

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 15399

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Markus Kurth

dass minderjährige bzw. unter 25-jährige unverheirateteKinder von in einer gemeinsamen Wohnung lebendenStiefeltern bzw. stiefelternähnlichen Personen finanziellabhängig werden. Eine solche Regelung stigmatisiertdie betroffenen Kinder. Wir fordern weiterhin, wie schonin unserem Antrag vom 4. April 2006 „Hartz IV weiter-entwickeln – Existenzsichernd, individuell, passgenau“(Drucksache 16/1124), dass in eheähnlichen Gemein-schaften Lebensgefährtinnen und Lebensgefährten nichtgezwungen werden dürfen, ihr Einkommen für den Be-darf der Kinder der Partnerinnen und Partner einzuset-zen, wenn es nicht die gemeinsamen sind. Auch wenn einEhepartner Kinder in die Ehe einbringt, darf dies nichtzu einem sozialrechtlichen Unterhaltsanspruch führen,der über den zivilrechtlichen Anspruch hinausgeht.

Die mit den Stimmen der schwarz-roten Regierungs-koalition beschlossene und zum 1. August 2006 in Kraftgetretene Novellierung des § 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II re-gelte ausdrücklich, dass auf den Bedarf von mit einemElternteil in Bedarfsgemeinschaft lebenden unverheira-teten Kindern auch Einkommen und Vermögen des mitdem Elternteil in Bedarfsgemeinschaft lebenden Part-ners anzurechnen ist. Eine solche Regelung ist nicht nurunwirtschaftlich und unmenschlich, weil Partner darangehindert werden, zusammen in eine Wohnung zu zie-hen. Eine solche Regelung ist auch verfassungsrechtlichproblematisch. Wieder einmal könnte das Bundesverfas-sungsgericht, BVerfG, eine Regelung für nicht vereinbarmit dem Grundgesetz erklären. Eine entsprechende Ver-fassungsbeschwerde ist bereits beim BVerfG anhängig.

Darüber hinaus ist die Regelung aus rechtssystemati-schen Gründen abzulehnen. Eine Gleichstellung von Le-bensgemeinschaften mit Ehen im Sozialrecht steht nichtim Einklang mit den Regelungen im Zivilrecht. Wenn dieUnion in ihrer Begründung zur Ablehnung des Antragsder Linksfraktion ausführt, „das SGB II gehe davon aus,dass die Menschen in einer Bedarfsgemeinschaft fürein-ander einstünden und zwar unabhängig von der ge-nauen Familienkonstellation“ (Drucksache 16/11232),muss sie auch den ehrlichen Schritt gehen und zu einerwirklichen Gleichbehandlung der Rechte und Pflichtenim Zivilrecht beitragen.

Auch die FDP äußerte in der vergangenen Wahl-periode verfassungsrechtliche Bedenken an, „da Part-ner eines Elternteils nunmehr für die Stiefkinder wie füreigene Kinder aufkommen müssten, obwohl sie zivil-rechtlich hierzu nicht verpflichtet seien“ (Drucksache16/11232). Die FDP begründete ihre Enthaltung zumAntrag der Linksfraktion mit dem Umstand, dass bislangkeine präzise Vorstellung von dem zu korrigierendenMissstand vorliege. Die Bundesregierung müsse ersteinmal Fakten liefern, bevor der Deutsche BundestagEntscheidungen treffen könne. Die jetzt beginnende par-lamentarische Auseinandersetzung im Arbeits- und So-zialausschuss wird zeigen, ob die FDP in ihren nunmehrzwei Regierungsjahren entsprechend geliefert hat.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 17/7029 an die in der Tagesordnung aufge-

führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Dann ist das so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 auf:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Opti-mierung der Geldwäscheprävention

– Drucksache 17/6804 – Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss (f)InnenausschussRechtsausschuss

Peter Aumer (CDU/CSU): Neben den großen positiven Errungenschaften bietet

das Internet leider auch Kriminellen mit seinen schein-bar unbegrenzten Möglichkeiten immer neue Tatgele-genheiten. Eine Tathandlung ist der Missbrauch vonelektronischen Zahlungsmitteln, um hierdurch „Geld zuwaschen“.

Für das Jahr 2010 liegen aufgrund neuer Erfassungs-möglichkeiten erstmals Zahlen zur Internetkriminalitätin der Polizeilichen Kriminalstatistik vor.

Allein in Bayern sind 22 965 Fälle von Internetkrimi-nalität bekannt geworden. In 507 Fällen wurde das In-ternet als Tatmittel zur Geldwäsche genutzt.

Die gesetzlichen Grundlagen gegen Geldwäsche undTerrorismusfinanzierung in Deutschland werden maß-geblich von Standards im internationalen Kontext be-stimmt. Neben den Richtlinien des Rates und des Euro-päischen Parlaments sind dies als Motor derinternationalen Geldwäschebekämpfung die Empfehlun-gen der Financial Action Task Force on Money Launde-ring, FATF. Die FATF ist ein zwischenstaatliches Gre-mium, das mit eigenem Budget und Personal bei derOrganisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklung, OECD, in Paris angesiedelt ist. Deutsch-land ist als eines der Gründungsmitglieder der FATF ak-tiv an der Erarbeitung und Weiterentwicklung der inter-nationalen Standards zur Bekämpfung von Geldwäscheund Terrorismusfinanzierung beteiligt und hat sich stetszur nationalen Umsetzung der FATF-Empfehlungen be-kannt. Die 36 Mitgliedstaaten der FATF haben sich ver-pflichtet, diese Standards in nationales Recht umzuset-zen und deren Umsetzung in regelmäßigen Abständenvon der FATF überprüfen zu lassen.

Von der FATF wurden im Deutschlandbericht vom19. Februar 2010 Defizite im deutschen Rechtssystembei der Bekämpfung von Geldwäsche und Terrorismusfi-nanzierung identifiziert, die nach ausführlicher Prüfungund Diskussion in der Bundesregierung mit diesem Ge-setzentwurf beseitigt werden sollen. Über die Fort-schritte, die im Prüfungsbericht konstatierten Mängelabzustellen, muss Deutschland im Februar 2012 an dieFATF berichten. Um weitere reputationsschädliche Re-aktionen seitens der FATF zu vermeiden, ist es daher er-forderlich, dass Deutschland seine gesetzlichen Rege-lungen gegen Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung,soweit diese nicht mit dem FATF-Standard vereinbar

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15400 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011

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Peter Aumer

sind, bis Januar 2012 anpasst; das Gleiche gilt für dieImplementierungspraxis.

Die wesentlichen Monita der FATF betreffen dasGeldwäschegesetz, GwG, und die dort geregelten prä-ventiv wirkenden Sorgfalts- und Organisationspflichtenmit aufsichtsrechtlicher Ausrichtung. Mit diesen Pflich-ten sollen die Geldwäscherisiken der verpflichteten Un-ternehmen minimiert und dadurch die Integrität, Repu-tation und Stabilität des WirtschaftsstandortsDeutschland sichergestellt werden.

Zudem werden die geldwäscherechtlichen Vorschrif-ten im Kreditwesengesetz, KWG, Versicherungsauf-sichtsgesetz, VAG, in der Abgabenordnung, AO, sowieder Prüfungsberichtsverordnung, PrüfungsberichtsVO,angepasst, wobei es sich überwiegend um redaktionelleFolgeänderungen handelt.

Die christlich-liberale Koalition ist seit zwei Jahrendarum bemüht, Bürokratie abzubauen. Um sicherzuge-hen, dass mit diesem Gesetz nicht das Gegenteil pas-siert, werden wir wegen der genauen Anpassung dieöffentliche Anhörung der Sachverständigen am19. Oktober 2011 abwarten. Nach der Anhörung werdenwir im Finanzausschuss die letztliche gesetzliche Rege-lung beraten und beschließen.

Martin Gerster (SPD): Bereits zum dritten Mal in dieser Legislaturperiode

beraten wir heute einen Gesetzentwurf der Bundesregie-rung, in dem das Thema Geldwäscheprävention eineRolle spielt. Deutschland steht auf diesem Feld interna-tional in der Kritik – insbesondere seit der verheerendenBeurteilung durch die bei der OECD angesiedelten Fi-nancial Action Task Force on Money Laundering, FATF,vom Februar 2010. Bislang hat Schwarz-Gelb die Pro-blematik eher als unliebsamen Appendix behandelt. Sowurden sowohl dem Gesetz zur Umsetzung der ZweitenE-Geld-Richtlinie als auch dem sogenannten Schwarz-geldbekämpfungsgesetz mehr oder weniger umfangrei-che Regelungen beigefügt, die sich einzelne Teile derFATF-Kritik angenommen haben. Ich meine aber, dasThema ist zu wichtig, um es in Form von Stückwerk ab-zuhandeln, und habe dies in den zurückliegenden Geset-zesberatungen immer wieder kritisiert.

Insofern ist es zunächst einmal erfreulich, dass dervorliegende Gesetzentwurf endlich auch die zentralenPunkte der FATF-Kritik angehen will, die nicht im auf-sichts- und strafrechtlichen Bereich liegen. Immer wie-der wurden wir in den Ausschussberatungen von HerrnStaatssekretär Koschyk auf einen kommenden „großenWurf“ vertröstet. Mit Blick auf die zur Beratung anste-hende Initiative scheint jedoch die Sorge berechtigt,dass auch der weiteste Wurf am Ziel vorbeigehen kann.

Grundsätzlich kann an der Notwendigkeit, auf diesemGebiet am Ball zu bleiben, kein Zweifel bestehen. Daszeigen die Zahlen, die das BKA und die dort angesie-delte Zentralstelle für Verdachtsanzeigen, FIU, vorknapp zwei Wochen veröffentlich haben. Mit rund11 000 Verdachtsanzeigen wurde 2010 ein absoluterHöchststand erreicht, seit das Gesetz 1993 in Kraft ge-

treten ist. Das ist ein Anstieg um 22 Prozent innerhalbeines Jahres.

Dahinter steht einerseits die sicherlich wünschens-werte Entwicklung zu mehr Sensibilität im Umgang mitder Thematik. Gleichzeitig zeigen die Zahlen auch, dassin vielen Branchen nach wie vor zu wenig darauf geach-tet wird, ob ihre Kunden und Geschäftspartner mögli-cherweise versuchen, illegal erworbenes Vermögen inden legalen Geldkreislauf einzubringen und seine Her-kunft zu verschleiern.

Deshalb halte ich es für richtig, die im Geldwäsche-gesetz dargelegten Sorgfaltspflichten in weiteren Wirt-schaftszweigen zu verankern, Meldepflichten zu ergän-zen und Bußgeldregelungen zu verschärfen, wo gegendie entsprechenden Pflichten verstoßen wird. Speziell imNichtfinanzsektor und im Bereich der freien Berufewurde Geldwäschebekämpfung bislang zu wenig ernstgenommen. Auch Immobilienmakler, Steuer- undRechtsberater müssen zur Kenntnis nehmen, dass eskeine lässliche Verfehlung ist, in ihrem Arbeitsfeld ge-genüber Geldwäsche die Augen zu verschließen. Undgerade im Bereich der Spielbanken ist es sicherlich sinn-voll, strengere Regeln einzuziehen, um zu verhindern,dass Verbrecher den Spieltisch als Waschbrett für dieGelder der organisierten Kriminalität missbrauchen.Wo der Gesetzentwurf maßvolle Verschärfungen vor-sieht und mehr Sensibilität für die GesamtproblematikGeldwäsche einfordert, ist man – so meine ich – auf ei-nem zielführenden Weg.

An anderen Punkten schießt der Entwurf jedoch mög-licherweise über das Ziel hinaus. Da werden wir sehrgenau prüfen müssen, ob die gemachten Vorschlägewirklich einen Beitrag zur Kriminalitätsbekämpfungdarstellen oder letztendlich nur dem Bürokratieaufbaudienen. Wie immer, wenn es um Identifizierungspflichtenund Datenabgleich geht, sind zudem datenschutzrechtli-che Aspekte im Auge zu behalten. Erste Stellungnahmenvon Datenschützern lassen vermuten, dass der Gesetz-entwurf in seiner derzeitigen Form an einigen Stellen zugroßen Problemen führen könnte. So sollen Vertriebs-stellen für bestimmte Prepaid-Produkte zukünftig dazuverpflichtet werden, bei jedem Kauf – unabhängig vonder Höhe der erworbenen Guthaben – die Identität desKäufers zu verifizieren. Da es in der Praxis um kleineund kleinste Beträge gehen dürfte, die nur schwerlichzur Geldwäsche in großem Stil instrumentalisierbar seindürften, ist dies eine eher fragwürdige Maßnahme.

Denn einmal ganz unabhängig davon, dass dies fürbestimmte Geschäftsmodelle im E-Geld-Bereich mitmassiven Nachteilen verbunden wäre: Stehen hier Auf-wand und Ertrag tatsächlich noch im richtigen Verhält-nis? So wichtig es auch im Bereich des E-Geldes ist,Geldwäsche zu verhindern, müssen wir doch prüfen, obhier nicht das Kind mit dem Bade ausgeschüttet wird.Die Bundesregierung selbst hatte sich noch im Gesetzzur Umsetzung der Zweiten E-Geld-Richtlinie dazu be-kannt, „Marktzutrittsschranken zu beseitigen und dieAufnahme und Ausübung der Ausgabe von E-Geld zu er-leichtern“. Diesem Ziel dürften die vorgesehenen Be-

Zu Protokoll gegebene Reden

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Martin Gerster

schränkungen im E-Geld-Zahlungsverkehr diametralentgegenwirken.

Ähnlich schwierig erscheint mir die Idee der Bundes-regierung, sämtlichen Unternehmen mit mehr als zehnMitarbeitern regulär die Bestellung eines Geldwäsche-beauftragten vorzuschreiben. Zwar sollen großzügigausgelegte Ausnahmeregelungen dafür sorgen, dassletzten Endes lediglich rund 1 000 Unternehmen tat-sächlich aktiv werden müssen. Aber der Normenkon-trollrat hat hier bereits Zweifel angemeldet, ob die fakti-schen Auswirkungen der Regelung nicht weit über dieSchätzungen des Entwurfs hinausgehen.

Schließlich wird auch zu hinterfragen sein, wie pra-xistauglich die im Gesetzestext vorgesehenen erweiter-ten Pflichten im Umgang mit sogenannten politisch ex-ponierten Personen – PEP – und zur Identifizierung von„Strohmannkonstruktionen“ zugunsten von „wirtschaft-lich Berechtigten“ im Hintergrund sind. So wünschens-wert es ist, hier kriminelle Strukturen aufzudecken, soschwierig könnte sich die Anwendung der Vorgaben imGeschäftsalltag der erweiterten Verpflichtetenkreise ge-stalten. Auch hier ist zu begrüßen, dass der Normenkon-trollrat in seiner Stellungnahme eine rasche Evaluationder Gesetzespraxis anregt.

Grundsätzlich gilt: Wir müssen in Sachen Geldwä-scheprävention klare Kante zeigen, und der vorliegendeGesetzentwurf geht in vielen Punkten in die richtigeRichtung. Hinter die Anforderungen, die uns die FATFins Stammbuch geschrieben hat, dürfen wir nicht zu-rückfallen. Es drängt sich jedoch der Eindruck auf, dassder Entwurf in einzelnen Punkten ohne Not über die er-forderlichen Grenzen hinausgeht.

Insofern meinen wir, dass das geplante Gesetz zurOptimierung der Geldwäscheprävention noch optimie-rungsbedürftig ist. Wir werden uns nach der Anhörungein genaueres Bild machen, wie die vorhandenen Spiel-räume für Verbesserungen am besten zu nutzen sind.

Björn Sänger (FDP): Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf schließt die

christlich-liberale Koalition Lücken in der Verfolgungvon Geldwäsche. Als normaler rechtschaffener Bürgerhat man gar keine Vorstellung, auf was für Ideen dieHerrschaften, die Geldwäsche betreiben wollen, alleskommen. Das fängt schon mit der Definition an, wasGeldwäsche eigentlich ist. Eine Legaldefinition imStrafgesetzbuch gibt es nicht, aber es sei wohl ein Vor-gang, der darauf abziele, Vorhandensein, Herkunft oderBestimmung von Vermögenswerten zu verschleiern, dieaus illegalen Geschäften stammen, um sie dann alsrechtmäßige Einkünfte erscheinen zu lassen. Da hat manals Laie grob eine Vorstellung, dass jemand unter dubi-osen Umständen an eine Menge Bargeld gekommen ist,dieses zur Bank bringt und dort auf ein Konto einzahlt.Doch so simpel ist es bei Weitem nicht. Da es inzwischenentsprechende Monitoringsysteme gibt, haben diese Kri-minellen wirklich kreative Ideen, wie sie die Herkunft ih-rer Gelder verschleiern.

Und das sind unglaubliche Summen, um die es dageht: Allein in Deutschland werden jährlich circa 30 bis100 Milliarden Euro an kriminellen Geldern gewaschen.Weltweit geht es nach Schätzungen des IWF sogar umjährlich circa 590 bis 1 500 Milliarden Euro.

Um dies international einzudämmen, wurde die Fi-nancial Action Task Force on Money Laundering, FATF,gegründet. Diese bei der OECD angesiedelte Organisa-tion, deren Gründungsmitglied Deutschland ist, entwi-ckelt Standards, überprüft deren Einhaltung und sprichtdazu Empfehlungen aus, zu deren Einhaltung sich die36 Mitgliedsländer verpflichtet haben.

Nun hat die FATF Deutschland Missstände beschei-nigt, die mit dem vorliegenden Gesetzentwurf beseitigtwerden. Es bestehen wohl Defizite in Bezug auf die Be-aufsichtigung von Unternehmen wie Immobilienmak-lern, Versicherungsvermittlern, Juwelieren, Finanzun-ternehmern, Spielbanken sowie Personen, die gewerb-lich mit Gütern handeln. Die Bundesregierung hat mitdem Gesetzentwurf einen Maßnahmenkatalog vorgelegt,um diese Defizite zu bekämpfen.

Beim ersten Gedanken bin ich dann beruhigt überSchlupflöcher, die geschlossen werden. Dann kommenmir aber Zweifel, ob alle Maßnahmen wirklich praktika-bel und zielführend sind. Wir dürfen nicht ein bürokrati-sches Monster schaffen, das nur Organisationsaufwandund Kosten produziert und bei weitem nicht im richtigenVerhältnis von Ertrag und Ergebnis steht.

Auch bekomme ich als Liberaler Bauchschmerzen,wenn Datenmengen irgendwo angehäuft werden, derenSinnhaftigkeit zu bezweifeln ist. Das betrifft zum einenneue Pflichten bei Bareinzahlungen und zum anderenauch Prepaid-Kreditkarten, die nicht von Banken ausge-geben werden. Bei Letzterem ist auch fraglich, ob das ir-gendwie realistisch funktionieren kann, dass zum Bei-spiel in einer Tankstelle oder in einem Supermarktkünftig die Daten seitens der Kassenmitarbeiter erhobenwerden, wie es der Gesetzentwurf derzeit vorsieht. Hierwird man eine Modifizierung vornehmen müssen, wennman vermeiden möchte, dass diese Produkte aus demMarkt gedrängt werden.

Andererseits besteht schon die Pflicht zur Datener-fassung, wenn Banken diese Karten ausgeben. DieseDifferenzierung erscheint dann auch nicht ganz sachge-recht, denn: same business, same rules. Das werden wiruns sehr genau anschauen. Eine Prämisse ist dabei: Dasanonyme Bezahlen im Internet muss weiterhin möglichsein.

Ein weiterer wichtiger Punkt ist der Geldwäschebe-auftragte, den jedes Unternehmen, das mit Gütern han-delt, ab einer gewissen Größe künftig haben soll, um denEmpfehlungen der FATF zu folgen. Doch macht dasSinn? Jedes Unternehmen? Egal, welcher Branche? Hatder Geldwäschebeauftragte dann arbeitsrechtlich be-sonderen Schutz? An dieser Stelle müssen wir uns auchnoch umfassend Gedanken machen, wie wir hier eineLösung finden.

Gedanken mache ich mir außerdem über den Termi-nus „hindeuten“. Also, im Falle des Vorliegens von Tat-

Zu Protokoll gegebene Reden

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Björn Sänger

sachen, die darauf hindeuten, dass es sich bei Vermö-genswerten, die mit einer Transaktion oder Geschäfts-beziehung im Zusammenhang stehen, um den Gegen-stand einer Straftat nach § 261 StGB handelt, soll derVerdacht schon gemeldet werden. Hindeuten, wie kannman das genauer bestimmen? Gehen wir da nach demBauchgefühl eines Mitarbeiters? Wie schule ich zu-nächst den Mitarbeiter und erzähle ihm, er solle nachseinem Bauchgefühl gehen? Schaffen wir da wirklichRechtssicherheit oder Unsicherheiten in der Anwen-dung?

Mein Bauchgefühl sagt mir, dass wir uns das, nebenvielen anderen Punkten, sehr genau anschauen müssen.Das Gesetz wird aber in jedem Fall eine liberale Hand-schrift bekommen.

Richard Pitterle (DIE LINKE): Man sollte meinen, dass Geldwäsche so kompliziert

ist, dass sich nur einige wenige, die ihre gesamte krimi-nelle Energie darauf verschwenden wollen, damit befas-sen. Leider hat mich die Recherche für diesen Gesetzent-wurf eines Besseren belehrt. Ein Handy reicht schon füranonyme Geldtransfers. Der Geldwäscher lädt sich ei-nen beliebig hohen Betrag auf seine Prepaid-SIM-Karte.Dann kann er diese Summe per SMS an einen Kontakt inirgendeinem Land überweisen. Der Empfänger kannsich dann das Geld von einer Bank, einem Laden odereinem Händler mit einem Code auszahlen lassen – imJemen, in Pakistan oder wo auch immer er ist. DerGeldfluss selbst hinterlässt keine Spuren.

Nicht erst seit dem 11. September sprechen wir vonden Gefahren der Geldwäsche und Terrorfinanzierung.Deutschland ist seit ihrer Gründung im Jahr 1989 Mit-glied der Financial Action Task Force, kurz FATF, demwichtigsten internationalen Gremium zur Bekämpfungdieser Gefahren. Unter deutscher Präsidentschaft wur-den 2003 sogar Standards zur Bekämpfung der Geldwä-sche grundlegend überarbeitet.

Der Blick unter den eigenen Teppich aber offenbartInteressantes: Im vorliegenden Gesetzentwurf heißt es– ich zitiere –:

Die geänderten Informations- und Aufzeichnungs-pflichten … bestanden bereits nach dem Geld-wäschegesetz vom 25. Oktober 1993 bzw. nach demGeldwäschebekämpfungsergänzungsgesetz vom13. August 2008.

Wenn sie schon bestehen, warum brauchen wir danndas vorliegende Gesetz?

Im Text heißt es weiter: Die einschlägigen gesetzli-chen Regelungen sind bisher von den nach Landesrechtzuständigen Stellen weitgehend nicht umgesetzt worden.– Jetzt wird es klar. Was macht also das vorliegende Ge-setz? Es entzieht die Verantwortung für die Umsetzungdem Innenministerium und dem Wirtschaftsministeriumund schiebt sie dem Finanzministerium zu. Da fragt mansich: Wer hat diese Untätigkeit der beiden Ministerienzu verantworten? Wir wissen, dass es nicht an den fleißi-gen Beamtinnen und Beamten in den Ministerien liegt,wenn nichts oder zu wenig passiert ist. Der Fisch stinkt

immer vom Kopf. Offensichtlich fehlte es am politischenWillen und Anleitung durch die Spitzen.

Es ist schlicht peinlich, das Deutschland als Grün-dungsmitglied der FATF sich anhören muss, dass esRechtsstandards nicht umsetzen kann, ja dass es fast aufder schwarzen Liste der OECD gelandet wäre. Auf die-ser Liste landen nur jene Länder, die als Risiko für dasinternationale Finanzsystem eingestuft werden.Deutschland ist also wegen der Unfähigkeit des Innen-ministeriums und des Wirtschaftsministeriums interna-tional als Beinahe-Risiko für das internationale Finanz-system bekannt. Geldwäscheexperten gehen davon aus,dass in Deutschland zwischen 40 und 60 MilliardenEuro – ich wiederhole: 40 bis 60 Milliarden Euro – kri-minelle Gelder gewaschen werden. Selbst vor der EU-Kommission hat sich Deutschland schon zwei Vertrags-verletzungsverfahren eingehandelt. Von wegen deut-sches Vorzeigemodell!

Wenn Deutschland sich einen Rechtsstaat nennenwill, dann müssen Gesetze ohne Ausnahme umgesetztwerden. Dass die Verantwortung für Geldwäscheprä-vention dem Finanzministerium übergeben wird, unter-stützen wir. Aber dass die Untätigkeit des Innenministe-riums und des Wirtschaftsministeriums folgenlos bleibt,ist absolut inakzeptabel. Anstatt ständig einen Teil derOpposition, die Linke, zu bespitzeln, hätte das Innenmi-nisterium sich auf die konsequente Bekämpfung derGeldwäsche konzentrieren sollen.

Hoffen wir, dass das Finanzministerium das erreicht,woran Innenministerien und Wirtschaftsministerien ge-scheitert sind. Wenn im Februar kommenden Jahres dieFATF-Prüfer wieder nach Deutschland kommen, werdenwir die Ergebnisse ja sehen.

Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Der heute in den Bundestag eingebrachte Entwurf ei-

nes Gesetzes zur Optimierung der Geldwäschepräven-tion ist ein gutes Stück Fleißarbeit. Viele Kritikpunkteder Financial Action Task Force, FATF, die Deutschlandbisher als äußerst günstigen Standort für Geldwäschecharakterisiert, werden darin angegangen – allerdingserst zehn Jahre nach Entwicklung der Prüfkriterien. DieZahl der Verdachtsmeldungen im Nichtfinanzbereich istweiterhin eklatant niedrig. Erhebliche Mängel stellte dieFATF auch bei der Identifizierung der wirtschaftlich Be-rechtigten und der laxen Handhabung der Sorgfalts-pflichten fest.

Die deshalb im Gesetzentwurf vorgenommenen Kon-kretisierungen sind gut und richtig und werden von unsunterstützt. Dennoch würde ich darauf wetten, dass dasThema trotz dieser Novelle bald erneut auf die Tages-ordnung kommt. Beim Wetten ändert sich schon derBlickwinkel auf die Thematik: Wettbüros, Spielkasinos,Spielautomaten gehören genauso wie Immobilien- undGoldhandel zu den sensiblen Bereichen der Wirtschaft,in denen Geldwäsche stattfindet. Während es aus Sichtder Bundesregierung richtig ist, den Forderungskatalogder FATF abzuarbeiten, dürfte der Gesetzentwurf ausSicht eines Geldwäschers wenig bedrohlich erscheinen.Zwar werden einige Sicherheitslücken geschlossen, ein

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Dr. Gerhard Schick

wirklicher Hebel gegen Geldwäsche wird jedoch nichteingesetzt – ein gleichmäßiges Niveau der Geldwäsche-prävention über die verschiedenen möglichen Wege undFormen der Geldwäsche wird nicht erreicht. Das Ver-ständnis von Geldwäscheprävention, wie es aus dem Ge-setzentwurf hervorgeht, bleibt deshalb das einer Aufklä-rungskampagne für die sensiblen Branchen mit einigenSanktionsmöglichkeiten, falls die betroffenen Unterneh-merinnen und Unternehmer einer Bewusstseinsbildungfür verdächtige Geschäftspraktiken ihrer Kundinnen undKunden nicht nachkommen. Ein solches Bewusstsein istzwar nötig und wünschenswert, solange es nicht in einDenunziantentum ausartet, es löst aber fundamentaleProbleme nicht.

In Deutschland beträgt das GeldwäschevolumenSchätzungen zufolge jährlich einen höheren zweistelli-gen Milliardenbetrag. Diese illegal erwirtschaftetenGelder sind Teil transnational organisierter Kriminali-tät; dahinter können Drogen-, Waffen- und Menschen-handel stehen. Sie sind ein Sicherheitsrisiko, festigenkriminelle Strukturen, verweben sich mit dem legalenWirtschaftskreislauf und führen dort auch noch zu Wett-bewerbsverzerrungen.

Nehmen wir ein Beispiel, das sicher viele schon be-obachtet haben: Eine alteingesessene, gut laufendeKneipe verschwindet auf einmal aus dem Straßenbild,und an ihre Stelle tritt ein neues Lokal ohne Kunden. Beiauslaufendem Pachtvertrag wurde der bisherige Betrei-ber von einem Konkurrenten verdrängt, der kein origi-näres Interesse an Gastronomie hat, aber ganz anderePreise zu zahlen imstande ist, weil er durch noch zu wa-schende Einkünfte rentabler „wirtschaften“ kann als je-der ehrliche Unternehmer. Geldwäsche ist – das wird ineinem solchen Beispiel deutlich – nicht ein Randphäno-men in zweifelhaften Milieus, sondern kann zum wirt-schaftlichen Problem für jedermann werden.

Geldwäsche ist ein kreatives Geschäft. Es sind mitt-lerweile Fälle bekannt, bei denen populäre Onlinespieleals Plattformen für Geldwäsche genutzt wurden. DieNutzung des Internets bietet zahlreiche neue Möglich-keiten der „Geldkonvertierung“; die legendären Wasch-salons Al Capones sind längst Geschichte.

Es gilt daher, jetzt und in Zukunft viele Abwägungenzu treffen, um weder eine Überwachungshysterie nochrechtsfreie Räume entstehen zu lassen. Die Antwort aufeinen möglichen Missbrauch von Zahlungsströmen und-möglichkeiten darf nicht einfach „mehr Datensamme-lei“ heißen, was angesichts der Erfahrungen der letztenJahre zu befürchten ist. Ein Wust von teils föderalen undmeist branchenspezifischen Aufsichtsinstitutionen, diezwar den ehrlichen Unternehmen viele Lasten aufbrum-men, aber keinem systematischen und koordinierten An-satz der Geldwäscheprävention folgen, wird bei Geld-wäschern wenig Aufruhr verursachen.

So ist eine weitere Erfahrung der letzten Jahre, dasszahlreiche Defizite beim Vollzug in den Bundesländernbestehen. Das gilt zum einen für die Steuerfahndung.Die Ausstattung, vor allem mit Personal, bei der Steuer-fahndung ist dürftig, Geldwäsche geht aber oft mit dereben erwähnten Steuerhinterziehung einher. Das gilt

aber auch ganz konkret bei der Umsetzung der spezifi-schen Geldwäschenormen. Hier sei an das Vertragsver-letzungsverfahren der EU-Kommission gegen Deutsch-land Anfang des Jahres erinnert. Einige Bundesländerhatten nach drei Jahren nicht einmal die Benennung vonAufsichtsbehörden umgesetzt – vom Unterschied zwi-schen einer formal benannten und einer real funktionie-renden Aufsicht ganz zu schweigen.

Wenn die Bundesregierung willens ist, Geldwäscheals Problem ernst zu nehmen, wenn tatsächlich ein höhe-rer Anteil an Geldwäscheaktivitäten enttarnt werdensoll, dann braucht es eine Verständigung, wo und wiedas nötige Personal für Aufsicht, Ermittlung und Vollzugeingesetzt werden soll. Es braucht eine konsequenteBund-Länder-Strategie. Bei dieser Gelegenheit mussgleichzeitig die Architektur der Aufsicht auf den Prüf-stand. Ein aktuelles Beispiel ist das kürzlich beschlos-sene Glücksspielgesetz in Schleswig Holstein. Es be-trifft, wie gesagt, einen für Geldwäsche sensiblenBereich und verfolgt eine verfehlte Liberalisierungsstra-tegie. Da Glücksspiel heutzutage verstärkt im Internetstattfindet, da Schleswig-Holstein dadurch zum deut-schen Las Vegas werden und Kunden über die eigenenLandesgrenzen hinaus anziehen könnte, hat die Fehlent-scheidung eines einzelnen Bundeslandes Auswirkungenfür alle Länder.

Mit der Gesetzesnovelle sind die Bundesministerienfür Finanzen, Wirtschaft, Inneres und Justiz für die Prä-vention zuständig. Das entspricht durchaus der Materie,macht jedoch deutlich, dass die Koordination auf Bun-desebene bereits aufwendig ist. Dies mag auch erklären,warum eine nachvollziehbare Strategie Deutschlandsbei der Bekämpfung der Geldwäsche bisher ausbleibt.Das beim BMF geplante Expertengremium zum Themaist zwar ein Lichtblick in der Gesetzesbegründung, so-fern wir erwarten können, dass die zahlreichen Stimmenaus Fachkreisen dort ernst genommen werden.

Kürzlich fand eine Geldwäschetagung von Organisa-tionen wie dem Bund Deutscher Kriminalbeamter, derDeutschen Steuer-Gewerkschaft, dem Bund der Richterund Staatsanwälte und der Deutschen Zoll- und Finanz-gewerkschaft statt. Der Vergleich der dort diskutiertenProbleme mit dem jetzigen Gesetzentwurf offenbart,dass die Bundesregierung von einer politischen Agendagegen Geldwäsche weit entfernt ist. Nicht zuletzt wirddeutlich, dass angesichts der Summen und der Struktu-ren, um die es geht, die Sanktionen manchmal zu geringsind. Im nun anstehenden Gesetzgebungsverfahren wer-den wir uns deshalb unter anderem dafür starkmachen,den Bußgeldrahmen für besonders schwere Verstöße zuerhöhen. Dies entspricht nicht nur den Monita der FATF,sondern auch den Empfehlungen des Bundesrates.

Hartmut Koschyk, Parl. Staatssekretär beim Bun-desminister der Finanzen:

Für die Integrität des Wirtschaftsstandorts Deutsch-land ist es von großer Bedeutung, Geldwäsche und Ter-rorismusfinanzierung wirksam zu verhindern. Um diesesZiel zu erreichen, hat die Bundesregierung den Entwurf

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Parl. Staatssekretär Hartmut Koschyk

für ein Gesetz zur Optimierung der Geldwäschepräven-tion vorgelegt.

Dabei wollen wir nicht nur die nationalen Maßnah-men wirksamer ausgestalten, sondern zugleich auch dieeinschlägigen internationalen Standards sowie dieDritte EU-Geldwäscherichtlinie vollständig umsetzen.Dies ist aus zwei Gründen dringend angezeigt:

Zum einen hat die Financial Action Task Force onMoney Laundering, abgekürzt FATF, nach intensiverEvaluierung in ihrem Prüfbericht vom Februar 2010Defizite im deutschen Rechtssystem bei der Verhinde-rung von Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung fest-gestellt. Die dort im deutschen Rechtssystem gesehenenDefizite bestehen insbesondere bei der geldwäsche-rechtlichen Regulierung sogenannter Nichtfinanzunter-nehmen, das heißt der Gewerbeunternehmen wie zumBeispiel Versicherungsvermittler, Immobilienmakleroder Spielbanken im Zuständigkeitsbereich der Bundes-länder. Deutschland ist als Gründungsmitglied derFATF verpflichtet, die international maßgeblichenFATF-Empfehlungen zur Prävention von Geldwäscheund Terrorismusfinanzierung einzuhalten. Die Bundes-regierung möchte die konstatierten Mängel innerhalbder gesetzten Zeitvorgabe beheben. Deutschland mussim Februar 2012 über seine Fortschritte an die FATFberichten. Von diesem Ergebnis wird es abhängen, obDeutschland mit weiteren Maßnahmen der FATF rech-nen muss.

Zum anderen hat die Europäische Kommission Män-gel im Zusammenhang mit der nationalen Umsetzungder europarechtlich verbindlichen Dritten Geldwäsche-richtlinie aufgezeigt.

Seien Sie versichert: Die Bundesregierung hat dievon der FATF und der Europäischen Kommission gerüg-ten Mängel bei den geldwäscherechtlichen Vorschriftengenau analysiert und die Möglichkeiten, ihnen zu begeg-nen, sorgfältig geprüft und abgewogen. Viel ist bereitsumgesetzt. Soweit die festgestellten Defizite den Bereichder Kredit-, Finanzdienstleistungs- und Zahlungsinsti-tute, Versicherungsunternehmen sowie die Kompetenzender für den Nichtfinanzsektor zuständigen Aufsichtsbe-hörden betreffen, wurden diese bereits durch das Gesetzzur Umsetzung der Zweiten E-Geld-Richtlinie vom1. März 2011 und das sogenannte OGAW-IV-Umset-zungsgesetz vom 22. Juni 2011 beseitigt.

Der Entwurf für ein Gesetz zur Optimierung derGeldwäscheprävention stellt mit einem Paket von Maß-nahmen zur Behebung der noch verbliebenen Defiziteeinen ganz wesentlichen Baustein dar. Mit den Maßnah-men des Gesetzes wird niemand unter Generalverdachtgestellt. Es geht nicht zuletzt um die Einhaltung der Ver-pflichtungen Deutschlands international und auf euro-päischer Ebene. Wir sollten uns international in dieReihe der im guten Sinne beispielgebenden Länder ein-reihen. Dazu gehören wir zurzeit nicht in allen Berei-chen. Die Minimierung von Geldwäscherisiken liegtschließlich mit Blick auf potenzielle Reputationsschäden– für den Einzelnen wie für den WirtschaftsstandortDeutschland insgesamt – auch im Eigeninteresse derverpflichteten Unternehmen.

Selbstverständlich ist dabei darauf Wert zu legen, un-sere mittelständischen Unternehmen in der praktischenAusgestaltung der Regelungen nicht ungebührlich büro-kratisch zu belasten. Gerade diese Frage wird im Rah-men der jetzt beginnenden parlamentarischen Beratun-gen zu diskutieren sein.

Ich bitte um Unterstützung für diesen Gesetzentwurf.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-

wurfs auf Drucksache 17/6804 an die in der Tagesord-nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Auch hiersind Sie einverstanden. – Dann wird das so gemacht.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 27 auf:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Änderung des Beherbergungsstatistikge-setzes und des Handelsstatistikgesetzes

– Drucksache 17/6851 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Wirtschaft und Technologie (9. Aus-schuss)

– Drucksache 17/7200 –

Berichterstattung:Abgeordneter Dr. Martin Lindner (Berlin)

Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU): Mit dem uns vorliegenden Gesetzentwurf sind drei

wesentliche Regelungsschwerpunkte verbunden. DasBeherbergungsstatistikgesetz, das Handelsstatistikge-setz und last but not least die Aufhebung von Vorschrif-ten zum Verfahren des elektronischen Entgeltnachwei-ses; kurz: ELENA.

Ich meine, die Regelungen zum Beherbergungsstatis-tikgesetz und zum Handelsstatistikgesetz sind wenigerkontrovers diskutiert in diesem Haus als das ELENA-Verfahren. Das Beherbergungsstatistikgesetz wird euro-parechtlich harmonisiert, und darüber hinaus geht esum Entbürokratisierung. Betriebe und statistische Ämterwerden entlastet.

Ebenso wird das Handelsstatistikgesetz novelliert.Die Wirtschaft wird mit dem Gesetz in den BereichenKfz- und Großhandel durch die Einführung sogenannterMixmodelle von statistischen Berichtspflichten entlastet.Im Kfz-Handel wird mit den vorgeschlagenen Mixmo-dellen der Erhebungsumfang der Primärerhebung vonderzeit 5 700 Unternehmen auf etwa 2 800 gesenkt.Auch im Großhandel wird der Erhebungsumfang umetwa die Hälfte gesenkt – von 11 000 auf etwa 5 500.

Bei kleinen und mittleren Unternehmen unterhalb derAbschneidegrenzen haben die Mixmodelle eine vollstän-dige Entlastung zur Folge, da die erforderlichen Anga-ben aus Verwaltungsdaten gewonnen werden. Die Ab-schneidegrenzen liegen im Kfz-Handel bei 10 MillionenEuro Jahresumsatz oder 100 Beschäftigten und imGroßhandel bei 20 Millionen Euro Jahresumsatz oder100 Beschäftigten. Wir entlasten damit kleine und mit-

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Dr. Matthias Zimmer

telständische Betriebe, bei Sicherung der notwendigenQualität der statistischen Erhebung.

Nun komme ich auf ein häufig in unterschiedlichsterWeise diskutiertes Thema. Von Verteufelung bis Heils-bringung hat man ELENA schon alles nachgesagt. DasBundesministerium für Wirtschaft und Technologie unddas Bundesministerium für Arbeit und Soziales habensich nach eingehender Überprüfung des ELENA-Verfah-rens darauf verständigt, das Verfahren schnellstmöglicheinzustellen. Ich zitiere aus der gemeinsamen Pressemit-teilung:

Grund ist die fehlende Verbreitung der qualifizier-ten elektronischen Signatur. Umfassende Untersu-chungen haben jetzt gezeigt, dass sich dieser Si-cherheitsstandard, der für das ELENA-Verfahrendatenschutzrechtlich zwingend geboten ist, trotz al-ler Bemühungen in absehbarer Zeit nicht flächen-deckend verbreiten wird. Hiervon hängt aber derErfolg des ELENA-Verfahrens ab.

Dies ist zwar nicht die erfreulichste Entwicklung,zeigt aber ein verantwortungsvolles Umgehen mit demThema seitens der involvierten Ministerien. Die Opposi-tion mag es kaum glauben, aber verantwortungsvollesRegierungshandeln umfasst auch die Überprüfung vor-handener oder eingeführter Instrumente.

Zum weiteren Verfahren ist Folgendes zu sagen: DieBundesregierung wird dafür Sorge tragen, dass die bis-her gespeicherten Daten unverzüglich gelöscht und dieArbeitgeber von den bestehenden elektronischen Melde-pflichten entlastet werden. Es ist der Bundesregierungein wichtiges Anliegen, Lösungen aufzuzeigen, die diebisher getätigten Investitionen der Wirtschaft aufgrei-fen. Das Bundesministerium für Arbeit und Sozialeswird ein Konzept erarbeiten, mit dem die bereits beste-hende Infrastruktur des ELENA-Verfahrens und daserworbene Know-how für ein einfacheres und unbüro-kratisches Meldeverfahren in der Sozialversicherunggenutzt werden können.

Dies ist auch zwingend nötig, denn die Einstellungvon ELENA ist nicht die Aufgabe einer sehr guten undden Unternehmen zugutekommenden Idee, denn die Un-ternehmen haben erheblich in die Meldetechnik im Rah-men des ELENA-Verfahrens investiert. Die Datenstelleder Träger der Rentenversicherung und die Informa-tionstechnische Servicestelle der gesetzlichen Kranken-versicherung sowie die Bundesagentur für Arbeit habenbeim Aufbau und in der Meldephase des ELENA-Verfah-rens hervorragende Arbeit geleistet und ein umfangrei-ches Know-how erworben. Die Bundesregierung will imRahmen eines neuen Projekts – auch unter dem Ge-sichtspunkt des Bürokratieabbaus – sicherstellen, dassdie getätigten Investitionen nicht vergeblich waren unddas erworbene Wissen nutzbringend eingesetzt werdenkann. Vor allem ist der Einsparungseffekt für die Unter-nehmen nicht zu vernachlässigen, denn mit dem ELENA-Verfahren können die Unternehmen jährlich rund90 Millionen Euro einsparen.

Als Fazit kann man festhalten: Nach verantwortungs-voller Prüfung eines eingeführten Instrumentes und der

zwischenzeitlichen Einstellung wird ELENA weiterent-wickelt und unseren Unternehmen zugutekommen. Dieswäre ein guter Grund, dass die Opposition konstruktivmitarbeitet.

Doris Barnett (SPD): Vor 16 Jahren hat der Deutsche Bundestag die

Enquete-Kommission „Zukunft der Medien in Wirtschaftund Gesellschaft – Deutschlands Weg in die Informa-tionsgesellschaft“ eingesetzt. In fast vierjähriger Arbeithaben wir alle Aspekte des Themas ausgeleuchtet, ohneI-Phones, I-Pads, Facebook usw. auch nur ansatzweisezu erahnen. Aber was wir damals zu wissen glaubten,liest sich auf Seite 187 im Band 9 des 1998 vorgestelltenSchlussberichts wie folgt: „Mit der Einführung der digi-talen Signatur, der elektronischen Unterschrift und einerverbesserten Sicherheitstechnik können in absehbarerZukunft zunehmend mehr Anträge und Bescheide überdas Netz abgewickelt werden. Beim Wohnungswechselwird dann der mehrfache Gang zur Meldebehörde über-flüssig.“

In der Tat haben wir damals einen Blick in die Zu-kunft gewagt, wobei wir schon die eine oder andereStellschraube kannten, zum Beispiel die digitale Signa-tur.

2001 haben wir das Gesetz für elektronische Signatu-ren eingeführt. In 2002 wurde die Job-Card-Initiative,der Vorläufer von ELENA, gestartet. In NRW wurde die-ses System sogar in „echt“ getestet; das Ergebnis warpositiv. Anfang 2009 wurde ELENA dann endgültig be-schlossen und trat am 1. Januar 2010 in Kraft und Ar-beitsministerin von der Leyen verkündete zuversichtlich:„ELENA entlastet Arbeitnehmer.“

Und jetzt – drei Monate vor erstmaliger Anwendung,heißt es: Kill ELENA! Damit katapultiert diese Bundes-regierung unser Land zurück – nicht ganz in die Stein-zeit, aber zumindest ins 20. Jahrhundert! Selbst daskleine Estland mit seinen 1,3 Millionen Einwohnern istweit fortschrittlicher als wir. In Deutschland erfundenund entwickelt, verstolpern wir unsere eigenen Innova-tionen. Und wir sollen attraktiv sein für Computerspe-zialisten? Wenn die das hier erleben, dann glauben diesich doch in einem Kostümfilm nach dem Motto: Soschön waren die 80er des letzten Jahrhunderts.

Und warum das alles? Wegen Datenschutz? Nein, derspielt keine Rolle mehr, weil erkannt wurde, dass er denAnforderungen des BVerfG entspricht, ja sogar darüberhinaus geht, was andere wieder als Problem hinstellen.

Jetzt ist es die fehlende Verbreitung der qualifiziertenelektronischen Signatur. Dabei haben wir erst seit zehnJahren ein Signaturgesetz, das genau für Anwendungenwie ELENA geschaffen wurde. 2007 wurde die Grund-satzentscheidung für ELENA im Bundeskabinett getrof-fen. Aber weder die Minister Glos, von Guttenberg,Brüderle oder Rösler haben irgendwelche Anstrengun-gen unternommen, um dieses Authentifizierungsmerk-mal unter die Menschen zu bringen. Dabei waren dieMinister doch sonst in Sachen Öffentlichkeitsarbeit niezögerlich.

Zu Protokoll gegebene Reden

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Doris Barnett

Wie leicht hätte man diese elektronische Signatur aneiner anderen Karte mit anbringen können! Jetzt argu-mentiert diese Regierung, dass man sie mit dem neuenPersonalausweis verbinden könnte in Form eines elek-tronischen Identitätsnachweises. Aber bis jeder einensolchen hätte, schrieben wir nicht nur das Jahr 2020,sondern die Justizministerin hatte schon im Vorfeld ihreBedenken angemeldet, weil nicht der gleich hohe Schutzwie bei der qualifizierten elektronischen Signatur er-reicht würde. Also auch diese Idee für die Katz.

Vom Fleck gekommen ist diese Regierung keinen Mil-limeter. Aber Kosten hat sie erzeugt bei den Betrieben,Unternehmen und Verwaltungen – und das in dreistelli-gem Millionenbereich. Ob da jemand „Schadenersatz“ruft oder ob eine Art „ELENA II“ kommt, bei der Vor-handenes verwendet wird? Wieder Fehlanzeige. DieBundesregierung hat derzeit keine konkreten Pläne fürdie künftige Nutzung der für ELENA geschaffenenInfrastruktur, aber Hauptsache, das Ding ist wegge-hauen! Ich nenne ein solches Verhalten plan-, ziel- undkopflos – einer Bundesregierung eigentlich unwürdig.

Der Presse war zu entnehmen, dass man ein „projekt-orientiertes Meldeverfahren in der Sozialversicherung“beschlossen hätte, zunächst als „Forschungsprojekt“!Nicht nur, dass das wieder ein paar Jährchen Zeit kostet:Was wollen Sie denn noch zusätzlich erforschen! Es gibtdoch Studien, Gutachten, Erfahrungsberichte zuhauf.

Innovation, meine Damen und Herren von der Regie-rungsseite, sieht anders aus. Dafür muss man das Wortnicht nur schreiben können, sondern auch handeln. Undhandeln tun Sie, aber wie: Weil es das Wirtschaftsminis-terium nicht bringt, soll es jetzt das Arbeitsministeriumrichten.

Und ganz nebenbei haben Sie mit dem „Aus“ fürELENA dafür gesorgt, dass die Steuerberater die nächs-ten Jahre noch auf ihre Kosten kommen mit dem Ausstel-len von Papierbescheiden, gell!

Aber eines sollten Sie sich merken: Das Vertrauen,das Sie durch Ihre Verhaltensweise bei Betrieben, Unter-nehmen und den Menschen in einem so sensiblen Be-reich zerstört haben, das können Sie nicht durch einenRessortwechsel wiederherstellen. ELENA funktioniert– man muss es nur wollen –, aber Sie wollen nicht! Undwir wollen Ihr Abschaltgesetz nicht!

Hans-Joachim Hacker (SPD): Ich freue mich, dass ich als tourismuspolitischer

Sprecher meiner Fraktion die Gelegenheit habe, dieAuswirkungen des vorliegenden Gesetzentwurfes aufden Deutschlandtourismus darstellen zu können.

Wie man der Presse entnehmen konnte, boomt derDeutschlandtourismus wie nie zuvor. Deutschland istdas beliebteste Reiseziel der Deutschen. Im Vergleich zu2009 ist letztes Jahr die Zahl der Übernachtungen inlän-discher Reisender um 2 Prozent auf erstmals mehr als320 Millionen gestiegen, und dies trotz der Finanz- undWirtschaftskrise. Auch mit 60 Millionen Übernachtun-gen Reisender aus dem Ausland haben wir einen histori-schen Höchststand erreicht.

Die Übernachtungen in Städten mit mehr als 100 000Einwohnern nahmen im Vergleich zum Vorjahr um9 Prozent zu. Deutschland liegt auf Platz eins bei denÜbernachtungen europaweit. Die Städte Berlin, Mün-chen, Hamburg und Frankfurt liegen in der Statistik un-ter den 15 Städten mit den meisten Übernachtungen aufunserem Kontinent. Knapp 356 Millionen Übernachtun-gen wurden 2010 in gewerblichen Betrieben über 9 Bet-ten gezählt. Hinzu kommen 87 Millionen Übernachtun-gen in Privatunterkünften und 24,4 Millionen aufCampingplätzen. Dies wird belegt durch den Sparkas-sen-Tourismusbarometer 2010.

Das Statistische Bundesamt befragt momentan beider Monatserhebung im Tourismus ausschließlich Be-triebe, die 9 und mehr Schlafgelegenheiten anbieten, dasheißt mehr als 8 Gäste gleichzeitig unterbringen kön-nen. Campingplätze müssen bisher mindestens 3 Stell-plätze zur Verfügung stellen, um mit ihren Angaben Ein-gang in die Statistik zu finden.

Das soll sich nach dem Willen der Bundesregierungändern. Die einheitliche Abschneidegrenze, die die um-zusetzende EU-Richtlinie vorgibt, liegt bei 10 und mehrBetten und 10 und mehr Stellplätzen bei Campingplät-zen. Keiner hindert uns daran, die statistische Erfassungin Deutschland auf dem bisherigen Niveau zu belassen.Bei dieser Forderung ist sich die SPD-Bundestagsfrak-tion einig mit Empfehlungen aus der Tourismusbranche.Ich beziehe mich hier insbesondere auf die dem Touris-musausschuss vorliegenden Stellungnahmen des Deut-schen Tourismusverbandes und des Bundesverbandesder Campingwirtschaft in Deutschland.

Die vorgesehene Erhöhung der Abschneidegrenzestößt aufgrund der spezifischen kleinst- und kleinbe-trieblichen Strukturen, insbesondere im ländlichenRaum, auf verständliche Proteste aus der Branche. Eineinterne Analyse des Bundesverbandes der Campingwirt-schaft in Deutschland lässt darauf schließen, dass nachder geplanten Erhöhung der Abschneidegrenze im Teil-markt „Wohnmobilstellplätze“ rund 1,5 bis 2 MillionenTouristikübernachtungen künftig nicht mehr durch dieamtliche Statistik erfasst würden. Das Übernachtungs-angebot auf Wohnmobilstellplätzen ist inzwischen we-sentlicher Bestandteil des deutschen Campingangebotesund sollte daher weiter in die amtliche Statistik einflie-ßen.

Der Deutsche Tourismusverband weist darauf hin,dass entsprechend den Angaben des Statistischen Bun-desamtes in Deutschland insgesamt nahezu 660 Millio-nen private und geschäftliche Übernachtungen getätigtwerden. Dies sind 280 Millionen Übernachtungen mehr,als die bisherige amtliche Beherbergungsstatistik mitAngaben über mehr als 8 Betten ausweist.

In den letzten Jahren ist im Tourismusausschuss undvon den Verbänden sowie im Übrigen auch von der Bun-desregierung das Zahlenwerk über den Tourismus inDeutschland hinterfragt wurden. Wir waren uns einig,dass die Zielgenauigkeit der statistischen Angaben er-höht werden muss, um für die Entscheidungen im Be-reich der touristischen Infrastruktur eine qualifizierteGrundlage zu schaffen. Das liegt im Interesse der Tou-

Zu Protokoll gegebene Reden

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Hans-Joachim Hacker

rismusbranche aber auch der Kommunen und der Län-der.

Die Aussagekraft der Beherbergungsstatistik wirddagegen nach dem Gesetzentwurf der Bundesregierungverwässert. Das wird auch nicht durch die angeblicheReduzierung von Bürokratiekosten im Umfang von89 000 Euro jährlich ausgeglichen, deren Betrag sichjedoch durch zusätzliche Befragungen um 40 000 Eurojährlich reduziert.

Die Bundesregierung argumentiert in ihren Gesetz-entwurf mit der Verpflichtung des Statistischen Bundes-amtes zur Lieferpflicht von Tourismusdaten an das Sta-tistische Amt der Europäischen Union. Ich hatte bereitsdarauf hingewiesen, das einer differenzierten Erhebungvon statistischen Angaben nichts im Wege steht und wirtrotzdem die Berichtspflicht gegenüber der Europäi-schen Union erfüllen können.

Im Übrigen weise ich darauf hin, dass Deutschlandmit durchschnittlich 48 Schlafgelegenheiten deutlichkleinere Beherbergungseinheiten als andere EU-Länderwie zum Beispiel Frankreich mit 70 Betten pro Betriebhat.

Die Beherbergungsbranche benötigt umfassendeZahlen, um sich auf Strukturveränderungen einstellen zukönnen. Und die Politik benötigt ebenfalls aussagefähi-ges und somit belastbares statistisches Zahlenmaterial.Der Gesetzentwurf der Bundesregierung wird diesemErfordernis aus Sicht der Tourismuspolitik nicht ge-recht.

Wir stimmen gegen den Gesetzentwurf, weil es keinerÄnderung der Beherbergungsstatistik bezüglich der Ab-schneidegrenze bedarf, sondern wir eine Qualifizierungder Statistikangaben benötigen.

Gisela Piltz (FDP): Mit der Änderung des Beherbergungsstatistikgesetzes

und des Handelsstatistikgesetzes wird das Ziel von Bü-rokratieabbau für kleine und mittlere Unternehmen ver-folgt. Mit der Umsetzung einer neuen Verordnung derEuropäischen Union ist für das Beherbergungsgewerbeinsgesamt eine Entlastung von Bürokratielasten verbun-den, da in Zukunft nur noch Betriebe, die mindestenszehn Gäste gleichzeitig aufnehmen können, zur Abliefe-rung von statistischen Daten verpflichtet sind. Fürdiesen vom Mittelstand geprägten Wirtschaftsbereichbedeutet dies eine große Erleichterung, die wir sehr be-grüßen. Durch die Änderung der statistischen Berichts-pflichten zur Handelsstatistik im Kfz- und Großhandelwerden weniger Datenerhebungen erforderlich, da dieZahl der berichtspflichtigen Unternehmen erheblich ge-senkt wird. Das kommt den kleinen und mittleren Unter-nehmen zugute, die uns besonders am Herzen liegen.Gerade den Mittelstand von Bürokratielasten zu be-freien, ist dieser Koalition ein wichtiges Anliegen, dasmit dem vorliegenden Gesetzentwurf vorangetriebenwird.

Es gibt aber noch mehr Erfreuliches zu sagen; denndurch den Änderungsantrag der Koalitionsfraktionen istein weiterer Aspekt in dieses Gesetzgebungsverfahren

gekommen. Auf Drucksache 15/2315 erklärte die dama-lige rot-grüne Bundesregierung: „Ziel des ProjektesJobCard ist … der Einstieg in die zentrale Speicherungvon Arbeitnehmerdaten zur Entbürokratisierung derVerwaltung.“ Am 15. März 2010 erklärte die ParteiBündnis 90/Die Grünen in einer Pressemitteilung: „Seitdem 1. Januar 2010 werden in Deutschland Informatio-nen über Arbeitnehmer/innen wie zum Beispiel Einkom-mensnachweise zentral elektronisch gesammelt. … Wirlehnen diese massenhafte und unbestimmte Datensamm-lung ab. Statt Datensparsamkeit gibt es neue Daten-berge.“ Vielleicht sollte man den Grünen zu ihrer– wenngleich späten – Einsicht gratulieren.

Aber man darf nicht vergessen: Erfunden hat das Da-tenmonster ELENA Rot-Grün. Man darf auch nichtübersehen: Die Grünen reden gerne über Bürgerrechte;aber wenn sie regieren, dann sieht es doch ganz andersaus. In Baden-Württemberg steht in Ihrem Koalitions-vertrag, dass sie die Vorratsdatenspeicherung wiedereinführen wollen. In der Zeit der rot-grünen Bundesre-gierung hatten Sie keine Not damit, sich für eine „zen-trale Speicherung“ aller Arbeitnehmerdaten einzuset-zen.

In der erwähnten Pressemitteilung haben die Grünenaufgefordert, sich der Verfassungsbeschwerde gegen dasELENA-Verfahren anzuschließen. Die Verfassungsbe-schwerde verfolgt – richtigerweise – die Aufhebung desGesetzes, das von den Beschwerdeführern für verfas-sungswidrig gehalten wird. Mit dem heute zu beschlie-ßenden Gesetz erübrigt sich die Verfassungsbeschwerdezum Glück. Wir warten nicht darauf, dass Karlsruhe un-sere Arbeit macht. Wir machen sie lieber selbst – undhaben nach gründlicher Prüfung entschieden, ein Ge-setz, das wir für falsch halten, aufzuheben. Dass es denGrünen aber dann doch nicht darum geht, jetzt schnellund im parlamentarischen Verfahren das zu erreichen,was sie vorgeblich wollen, hat sich gestern im Wirt-schaftsausschuss gezeigt: Da haben Sie nämlich ver-sucht, das Verfahren zu verlangsamen und zu verzögern.Da müssen Sie sich schon mal entscheiden, was sie wol-len. Wenn es Ihnen ernst ist mit Datenschutz, wenn Siewirklich meinen, was Sie sagen, dann müssen Sie heutefür die Aufhebung des ELENA-Verfahrens stimmen. IhrStimmverhalten heute ist der Lackmustest für Ihre Poli-tik.

Die schwarz-gelbe Bundesregierung und die Fraktio-nen von CDU/CSU und FDP haben sich für das Richtigeentschieden: Sie haben die Einsicht, dass die von denGrünen erfundene „zentrale Datenspeicherung“ derfalsche Weg ist, umgesetzt und die konsequente Ent-scheidung getroffen: die Aufhebung des ELENA-Verfah-rens. Das ist nicht nur für den Datenschutz eine guteNachricht, sondern auch für die kleinen und mittlerenUnternehmen, die von unnötiger Datensammelwut be-freit werden. Es ist zugleich eine gute Nachricht für dieKommunen. Die kommunalen Spitzenverbände hattenerrechnet, dass das verfehlte Verfahren die Kommunenmit zusätzlichen 236 Millionen Euro allein in den Berei-chen Arbeitsagenturen, Elterngeld und Wohngeld belas-ten würde. Die kommunalen Spitzenverbände stelltenfest, dass das geplante ELENA-Verfahren sogar zu einer

Zu Protokoll gegebene Reden

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Gisela Piltz

zusätzlichen Bürokratiebelastung für die Bürgerinnenund Bürger führen würde, obwohl das Verfahren eigent-lich auf das Gegenteil zielen sollte.

Wir schauen gleichzeitig in die Zukunft: Es ist zu be-grüßen, dass die Bundesregierung beschlossen hat, dieErfahrungen des ELENA-Verfahrens zu nutzen, um künf-tig vernünftige Lösungen für E-Government zu finden.Dabei hat sie eines klipp und klar und unzweifelhaftdeutlich gemacht und ihn ihrem Eckpunktepapier auchbeschlossen: Eine zentrale Datenspeicherung wird esdabei nicht mehr geben.

Der Stopp für das ELENA-Verfahren ist kein Rück-schritt in die Bürokratiesteinzeit, sondern die Chance,jetzt ein vernünftigeres und unbürokratisches Verfahrenzu entwickeln. Die bereits gewonnenen Erfahrungen inden Unternehmen bezüglich sicherer elektronischer Da-tenübermittlung können und müssen hierbei ebenso ein-bezogen werden wie die neueren Entwicklungen im Be-reich der elektronischen Datenverarbeitung insgesamt.Insbesondere muss berücksichtigt werden, wie elektroni-sche Verfahren für die Bürgerinnen und Bürger einfach,praktikabel und unbürokratisch ausgestaltet werdenkönnen, ohne dabei Datenschutz und Datensicherheitaus den Augen zu verlieren. Die FDP-Bundestagsfrak-tion wird die Bundesregierung tatkräftig darin unterstüt-zen, Lösungen zu finden, die für Unternehmen, Bürge-rinnen und Bürger wie auch die Kommunen tragfähigund zukunftsgerichtet neue Medien für Entbürokratisie-rung nutzbar machen.

Sprichwörtlich heißt es: Das Gegenteil von „gut ge-macht“ ist „gut gemeint“. Was dabei nämlich herausge-kommen ist, dass Rot-Grün es „gut gemeint“ hat, siehtman beim ELENA-Verfahren. Wir hingegen machen esgut. Das ist der Unterschied zwischen Ihnen und uns.Das ist der Unterschied für die Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmer, deren Daten jetzt nicht mehr anlassloszentral gespeichert werden, für die Kommunen, derenHaushalte nicht mit sinnlosen Millionenbeträgen fürmehr Bürokratie belastet werden, für die kleinen undmittleren Unternehmen, die nicht mehr ohne Anlass Da-ten ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter erheben undübermitteln müssen. Das ist der Unterschied für dieMenschen in Deutschland.

Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE): Das Beherbergungsstatistikgesetz ist eigentlich keine

große Sache. Es regelt die Auskunftspflichten der Unter-nehmen für die Tourismusstatistik. Eine neue EU-Ver-ordnung verpflichtet alle Mitgliedstaaten der Europäi-schen Union zu weiteren statistischen Angaben, und dasGesetz wird nunmehr entsprechend geändert.

Für Betriebe der Hotellerie mit mehr als 25 Zimmernwerden zusätzlich Angaben zur Zimmerauslastung erho-ben. Die von der EU verlangten Änderungen der Beher-bergungsstatistik sind sinnvoll. Größere Unternehmenmüssen gehaltvollere Informationen liefern, währendgleichzeitig kleinere Unternehmen von Berichtspflichtenentlastet werden. So weit so gut.

Wir hätten zustimmen können, wenn Sie nicht einenbedeutenden Punkt einfach übergangen hätten: Deutsch-land hat – übrigens wie auch die EU – die UN-Behinder-tenrechtskonvention ratifiziert. Sie ist in Deutschlandseit dem 26. März 2009 geltendes Recht! Die Förderungdes barrierefreien Tourismus ist – nicht nur für die Linkeund die Behindertenbewegung – eine zentrale Zielstel-lung in der Tourismuspolitik. Dies wird unter anderem inden tourismuspolitischen Leitlinien der Bundesregie-rung und der Koalitionsvereinbarung deutlich.

Wir wissen, unter anderem dank des Beherbergungs-statistikgesetzes, ziemlich genau, wie viele Gästezimmerund -betten es in unserem Land gibt. Es fehlen jedoch bisheute Angaben darüber, wie viele barrierefreie Unter-künfte zur Verfügung stehen. Ich weiß aus eigenem Erle-ben sehr gut, wie schwer es ist, ein rollstuhlgerechtesHotelzimmer zu finden. Wie oft muss ich nach einer Ver-anstaltung noch einmal in ein Auto steigen, weil die Ho-tels am Veranstaltungsort kein barrierefreies Zimmer fürmich haben. Das beginnt in Altenberg im Erzgebirge,geht über Bremen, Nürtingen bis nach Zarrentin und Zit-tau.

Wenn wir daran etwas – auch mit Blick auf dieVerpflichtungen aus der UN-Behindertenrechtskonven-tion, insbesondere auf die Präambel sowie die Art. 9, 20und 30 – zielgerichtet ändern wollen, brauchen wir ge-nauere Informationen über den Istzustand.

Das können wir mit dem jetzt zur Abstimmung vorlie-genden Änderungsantrag der Linken leicht erreichen. Esgeht um die Einfügung von zwei Worten und schon wis-sen wir künftig anhand der geforderten Meldung überdie Zahl von barrierefreien Gästebetten und Gästezim-mern, wo wir hinsichtlich der Barrierefreiheit inBeherbergungseinrichtungen stehen. Der damit verbun-dene Mehraufwand ist – auch mit Blick auf Art. 31 „Sta-tistik und Datensammlung“ der UN-Behindertenrechts-konvention – mehr als gerechtfertigt.

Leider haben die anderen Fraktionen unseren Ände-rungsantrag in den Fachausschüssen mit den kurioses-ten Begründungen abgelehnt, und ich nehme an, dassdies auch in der folgenden Abstimmung so sein wird.Dies zeigt wieder einmal, wie ernst die Bekenntnisse zurFörderung des barrierefreien Tourismus zu nehmensind. Es ist – das sage ich auch als selbst Betroffener undVorsitzender des Allgemeinen Behindertenverbandes inDeutschland „Für Selbstbestimmung und Würde“ – fürdieses Hohe Haus einfach nur beschämend.

Nun noch einige Bemerkungen zum Handelsstatistik-gesetz: In den Bereichen Kfz- und Großhandel sollen beiden monatlichen Erhebungen Mixmodelle eingeführtwerden, bei denen die Angaben aus zwei unterschiedli-chen Quellen stammen: aus Primärerhebungen und ausVerwaltungsregistern. Diese Mixmodelle entlasten dieBetriebe, sichern jedoch vermutlich die notwendigeQualität und Zuverlässigkeit der Daten.

Primärerhebungen mit Daten aus Verwaltungsregis-tern zu kombinieren, ist sinnvoll. Die Zahl der zu befra-genden Unternehmen kann gesenkt werden. Eine Hal-bierung der Zahl auskunftspflichtiger Unternehmen geht

Zu Protokoll gegebene Reden

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Dr. Ilja Seifert

allerdings zu weit. Es wäre besser, die Zahl der berich-tenden Unternehmen zunächst behutsam zu senken.Denn welche Datenqualität das neue Mixmodell liefert,ist noch ungewiss.

Vollkommen lächerlich haben Sie sich aber gemacht,als sie die Abwicklung ihres gescheiterten ELENA-Pro-jekts zur elektronischen Übermittlung von Einkommens-nachweisen einfach an die beiden anderen Entwürfedrangehängt haben. Sie wollten sich die Peinlichkeit er-sparen, das noch einmal im Scheinwerfer der Öffentlich-keit tun zu müssen. Das ist ja verständlich, aber es ent-spricht dennoch nicht den parlamentarischen Sitten.

Die Linke lehnt aus den genannten Gründen den Ge-setzentwurf ab.

Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Seit der gestrigen Sitzung des Wirtschaftsausschusses

hat das Beherbergungsgesetz erheblich an Brisanz ge-wonnen. Union und FDP haben dem an sich recht harm-losen Statistikänderungsgesetz die Einstellung des hoch-umstrittenen ELENA-Verfahrens angehängt. Ein Endemit Schrecken ist in aller Regel besser als ein Schreckenohne Ende. Allerdings kommt diese Einsicht vonSchwarz-Gelb fast zwei Jahre zu spät. Gestartet istELENA Anfang des Jahres 2010. Schnell war klar, dassder eigentlich gute Ansatz, die Unternehmen von Millio-nen von Papierbescheinigungen zu befreien, zu einemBürokratiemonster mutiert. Die Kosten des Verfahrensexplodierten, und die Verunsicherung bei Unternehmenund Bürgern wuchs. Spätestens seit dem Urteil des Bun-desverfassungsgerichts zur Vorratsdatenspeicherung imMärz 2010 war für jeden, der sehen wollte, glasklar,dass ELENA auch datenschutztechnisch völlig aus demRuder gelaufen ist.

Wir Grünen haben die Regierung damals aufgefor-dert, genau das zu tun, was sie jetzt endlich tut, nämlichdie elektronischen Meldepflichten der Arbeitgeber auf-zuheben und die bereits erfassten Datensätze zu löschen.Union und FDP haben das damals leider abgelehnt, siebrauchten weitere eineinhalb Jahre, um sich das Schei-tern ihres elektronischen Meldeverfahrens einzugeste-hen. Das ist Politikunfähigkeit auf dem Rücken von2 Millionen vor allem kleinen und mittleren Unterneh-men. Diese haben Monat für Monat die gesetzlich gefor-derten Meldepflichten erfüllen müssen. Mittlerweile sta-peln sich 700 Millionen Datensätze bei der zentralenSammelstelle – ein Aufwand von mehreren 100 Millio-nen Euro für die Wirtschaft, der den Unternehmen keinbisschen Bürokratieabbau gebracht hat. Auch wennELENA noch von der Großen Koalition beschlossenworden war: Die Verantwortung für die ineffiziente Da-tenflut über viele Monate liegt bei Union und FDP. DasVertrauen der Unternehmen in den Willen und die Fä-higkeit der schwarz-gelben Regierung zum Bürokratie-abbau ist schwer beschädigt.

Offenbar ist das auch den Koalitionären klar, undvermutlich wurde das Aus für ELENA deshalb heimlich,still und leise in der parlamentarischen Sommerpauseverkündet. Peinlich ist auch das jetzige Verfahren:Union und FDP bringen die ELENA-Beendigung per

Koalitionsantrag am Normenkontrollrat vorbei in denBundestag ein. Im Wirtschaftsauschuss wurde dann ges-tern auch noch der Antrag von uns Grünen, den Nor-menkontrollrat doch noch hinzuzuziehen, niederge-stimmt. Das ist ganz schlechter Politikstil. Wir werdenden Gesetzentwurf aus diesem Grund komplett ableh-nen.

Die erweiterten Möglichkeiten zur Überprüfung vonBürokratiekosten durch den Normenkontrollrat sind da-mit gleich im ersten Praxistest von der Koalition blo-ckiert worden. Die Koalition hintertreibt ohne Not dievon ihr selbst geschaffenen Möglichkeiten. Um die De-batte über ihr gescheitertes Projekt zu vermeiden, nut-zen Union und FDP ein Schlupfloch und schwächen dieGlaubwürdigkeit bezüglich des Bürokratieabbaus wei-ter. Offenbar ist der Wille nach mehr Transparenz in derKoalition ein reines Lippenbekenntnis.

Ich würde es sehr begrüßen, wenn der Normenkon-trollrat trotz der Absage der Koalition seine Möglich-keit nutzt, die bürokratischen Belastungen durch dasELENA-Aus für die Unternehmen und die Verwaltungfestzustellen und wir Abgeordnete das Ergebnis auch er-fahren würden.

Wichtiger noch ist aber der Blick nach vorne. Die Un-ternehmen haben viele Millionen Euro in Aufbau undPflege der ELENA-Strukturen investieren müssen. Dasdarf nicht umsonst gewesen sein. Die Bundesregierungmuss nun umgehend zukunftsfähige und unbürokratischeMeldestrukturen aufbauen, die auch den hohen daten-schutzrechtlichen Anforderungen gerecht werden. Ange-kündigt ist jetzt, dass das Bundesministerium für Arbeitund Soziales federführend ein einfaches und unbürokra-tisches Meldeverfahren für die Sozialversicherungen er-arbeiten soll, das die getätigten Investitionen in derWirtschaft aufgreift und keine Massenspeicherung vonDaten vorsieht. Allerdings steckt dieses Projekt noch inden Kinderschuhen. Es gibt noch nicht einmal einenZeitplan. Ich hoffe sehr, dass der seit Monaten geführteZuständigkeitsstreit mit dem Wirtschaftsministeriumhier nicht weitergeht, sondern dass wir den Unterneh-men endlich den versprochenen Bürokratieabbau er-möglichen können.

Noch einmal zurück zur Beherbergungsstatistik: Bar-rierefreie Beherbergungsmöglichkeiten besser zu erfas-sen, ist ein sehr sinnvoller Vorschlag der Linksfraktion,der von Bundesregierung und Bundesrat eingehend ge-prüft werden sollte. Bevor wir eine solche Forderung de-tailliert ins Gesetz schreiben, sollten wir aber genauüberlegen, wie die Meldungen ausgestaltet sein müssen,damit sie auch wirklich aussagekräftig sind. Außerdembrauchen wir eine Abschätzung des Verwaltungsauf-wands. Die Länder ächzen ohnehin schon unter dem zu-sätzlichen Aufwand, ohne von der Bundesregierung un-terstützt zu werden. Wir werden uns deshalb bei derAbstimmung über den Antrag der Linksfraktion enthal-ten.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für

Wirtschaft und Technologie empfiehlt in seiner Be-

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Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms

schlussempfehlung auf Drucksache 17/7200, den Gesetz-entwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/6851 inder Ausschussfassung anzunehmen. Hierzu liegt ein Än-derungsantrag der Linken auf Drucksache 17/7221 vor,über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für diesenÄnderungsantrag? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –Der Änderungsantrag ist bei Zustimmung der Linken undbei Enthaltung von SPD und Grünen mit den Stimmen derKoalitionsfraktionen abgelehnt.

Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf inder Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand-zeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Ge-setzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen derKoalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposi-tionsfraktionen angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurfist mit gleichem Stimmenverhältnis angenommen.

Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-ordnung.

Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-destages auf morgen, Freitag, den 30. September 2011,9 Uhr, ein.

Die Sitzung ist geschlossen.

(Schluss: 21.10 Uhr)

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 15411

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Anlagen zum Stenografischen Bericht

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Anlage 1

Liste der entschuldigten Abgeordneten

Anlage 2

Erklärungen nach § 31 GO

zur namentlichen Abstimmung über den Ent-wurf eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzeszur Übernahme von Gewährleistungen im Rah-men eines europäischen Stabilisierungsmecha-nismus (Tagesordnungspunkt 3 a)

Herbert Behrens (DIE LINKE): Ich stimme demGesetz zur Ausweitung des Euro-Rettungsschirms ausfolgendem Grund nicht zu:

Meinen Kolleginnen und Kollegen aus meinem ge-werkschaftlichen Umfeld habe ich bei meinem Einzug inden Bundestag versprochen: Ich mache mein Abstim-mungsverhalten bei allen Entscheidungen davon abhän-gig, ob es den Interessen der Arbeitenden und Erwerbs-

Abgeordnete(r)entschuldigt biseinschließlich

Burchardt, Ulla SPD 29.09.2011

Dr. Geisen, Edmund Peter

FDP 29.09.2011

Hempelmann, Rolf SPD 29.09.2011

Dr. Jochimsen, Lukrezia DIE LINKE 29.09.2011

Kekeritz, Uwe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

29.09.2011

Lühmann, Kirsten SPD 29.09.2011

Nord, Thomas DIE LINKE 29.09.2011

Dr. Ott, Hermann E. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

29.09.2011

Dr. Priesmeier, Wilhelm SPD 29.09.2011

Senger-Schäfer, Kathrin DIE LINKE 29.09.2011

Dr. Stinner, Rainer FDP 29.09.2011

Wicklein, Andrea SPD 29.09.2011

Wolff (Wolmirstedt), Waltraud

SPD 29.09.2011

Wunderlich, Jörn DIE LINKE 29.09.2011

Zimmermann, Sabine DIE LINKE 29.09.2011

losen an Arbeit, gutem Lohn und Sicherheit beiKrankheit und im Alter dient.

Diesem Anspruch wird der europäische Stabilisie-rungsmechanismus in keiner Weise gerecht. Im Gegen-teil: Das Gesetz vergrößert die soziale Spaltung der Ge-sellschaften in den Staaten, die auf die Hilfe der Euro-Staaten angewiesen sind.

Der Rettungsschirm zwingt die Menschen in den be-troffenen Ländern zu Lohnverzicht, Arbeitslosigkeit undsozialer Unsicherheit. Das gefährdet den sozialen Frie-den in Europa, fördert antieuropäische Ressentimentsund Rassismus.

Veronika Bellmann (CDU/CSU): Der Euro ist un-sere gemeinsame Währung. Seine Stabilität zu sichern,liegt in deutschem und im europäischen Interesse. Diegegenwärtige Krise einzelner Eurostaaten muss daher sobekämpft werden, dass die europäische Wirtschafts- undWährungsunion als Ganzes gestärkt hervorgehen kann.

Vor diesem Hintergrund ist es nicht gegen die euro-päische Integration gerichtet, wenn ich der Aufstockungund Erweiterung der Europäischen Finanzierungsfazili-tät nicht zustimmen kann. Schon bei Einrichtung derRettungsschirme habe ich mit meinem Stimmverhaltensignalisiert, dass ich sie als Verstoß gegen Europarechtund das Verbot der Schuldenübernahme und damit alsrechtswidrig betrachte. Für die Ausweitung des Ret-tungsschirms gilt das ebenfalls.

Die in oben genanntem Gesetz genannten Maßnah-men sind ungeeignet, die Krise zu lösen. Sie führen nichtzu einem Abbau der gesamtwirtschaftlichen Ungleichge-wichte und Fehlentwicklungen in der Euro-Zone, son-dern verlängern sie nur mit immer höheren Kosten.Schon heute ist absehbar, dass die Gesetzesänderungennicht ausreichen, um die Euro-Zone zu stabilisieren.

Es gilt aus der bisherigen Rettungslogik herauszu-kommen, um wieder vom Reagieren zum Agieren zugelangen. Mit der Übernahme der Gewährleistung fürverschuldete Staaten haben die Euro-Länder die Soziali-sierung privater Verluste in Kauf genommen und dasVerbot der Schuldenübernahme ausgehebelt. Der andereAnsatzpunkt ist die Europäische Zentralbank. DerenÜbernahme von Staatsdefizitfinanzierung darf nicht wei-ter erlaubt sein. Die Quasigelddruckmaschine zeigt, dasssich die EZB nicht mehr der Geldwertstabilität ver-pflichtet fühlt, sondern der Finanzstabilität, also derBanken- und Staatsrettung. Die Banken wiederum müs-sen gezwungen werden, sich ausreichendes Kapital zubeschaffen, dass dann als Puffer dienen kann für die Ri-siken von Staatspapieren. Erst nach diesem Eigenbetragkönnen öffentliche Hilfen zum Einsatz kommen. Wennwir erst retten und dann erst zu eigener Anstrengung auf-fordern, bleibt jeglicher Reformwille auf der Strecke.

Staaten, die eine disziplinierte und solide Finanz- undWirtschaftspolitik betreiben, bleiben in der Euro-Zone.Sie wird nicht zusammenbrechen. Diejenigen, die objek-

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15412 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011

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tiv nicht fähig oder politisch nicht willens sind, die miteiner Währungsunion verbundenen anspruchsvollenKonvergenzbedingungen zu erfüllen und die wirtschafts-politischen Einschränkungen ihrer Autonomie zu akzep-tieren, werden sie – gegebenenfalls nur temporär – ver-lassen. Das stärkt den Euro nach innen und außen. dieausscheidenden Staaten haben mit einer eigenständigenGeld-, Zins- und Währungspolitik die Chance, zumWachstum zurückzukehren, und werden nicht weiter miteiner überzogenen Deflationspolitik gequält.

Eine nachhaltige Lösung der Staatsschuldenkrise vonEuro-Ländern erfordert die Rückkehr zu einer strengerenStabilitätskultur mit automatischer Sanktionierung vonVerstößen, zu solider Haushaltführung, zum Erhalt vonSteuerungs- und Anreizmöglichkeiten über die Zinshö-hen, zu starker Konditionalisierung der Hilfen, falls sienötig werden, und zur Reformpolitik. Diese Maßnahmendürfen immer nur Hilfe zur Selbsthilfe bleiben und nichtdazu verführen, sich günstig zu finanzieren. Die ver-schuldeten Staaten müssen in die Lage versetzt werden,zu eigenverantwortlichem Handeln zurückzukehren. Dievorgeschlagene Erweiterung geht darüber hinaus, weilsie keine wirksame Begrenzung von Finanzhilfen er-möglicht, sondern weiter Anreize zur Sozialisierung pri-vater Verluste und Vergemeinschaftung nationalerSchulden zulasten der deutschen und europäischen Steu-erzahler setzt.

Differenzen in den wörtlich unterschiedlichen Formu-lierungen des Gewährleistungsgesetzes und des EFSF-Rahmenvertrages werden zu Verunsicherung in der Aus-legung und Anwendung beider führen. Sie sind nicht ak-zeptabel, da sie nicht dem Grundsatz von Wahrheit undKlarheit folgen.

Selbst wenn sie mir noch als unvollkommen er-scheint, so befürworte ich doch ausdrücklich die Aus-weitung der Parlamentsbeteiligung, die den Vorgabendes Bundesverfassungsgerichts folgt und auch meineForderungen zumindest im Wesentlichen erfüllt. Durchdieses wichtige Mitbestimmungs- und Mitgestaltungs-recht des Deutschen Bundestages ist zwar meine grund-sätzliche Ablehnung der Rettungsschirmpolitik nichtaufgehoben, aber insofern günstiger gestellt, als dass ichmit Enthaltung votieren kann.

Karin Binder (DIE LINKE): Ich stimme dem Gesetzzur Änderung des Gesetzes zur Übernahme von Gewähr-leistungen im Rahmen eines Europäischen Stabilisie-rungsmechanismus nicht zu. Diese Entscheidung möchteich mit dieser Erklärung begründen.

In einer parlamentarischen Demokratie bedürfen Ent-scheidungen, die gravierende negative Folgen auch fürkommende Generation haben, der Beratung und demo-kratischen Beteiligung des Parlaments. Dieser Grundsatzwird mit diesem Gesetz verletzt. Es soll nur noch eineUnterrichtungspflicht gegenüber dem Haushaltsaus-schuss, nicht aber gegenüber dem ganzen Parlament gel-ten. Damit werden Parlamentarier unterschiedlicherRangordnung geschaffen. Das ist mit deren prinzipiellerGleichrangigkeit nicht zu vereinbaren.

Die Bundesregierung kann obendrein die Parlaments-beteiligung ganz umgehen, wenn sie besondere Eilbe-dürftigkeit oder Vertraulichkeit vorgibt. Dann soll nichteinmal mehr der Haushaltsausschuss, sondern ein ausnur wenigen Mitgliedern des Ausschusses bestehendesSondergremium entscheiden. Diese Beratungen und Ent-scheidungen mit weitreichenden Folgen werden am Par-lament und an der Bevölkerung vorbei getroffen. Das istnicht hinnehmbar.

Doch noch schwerwiegender für meine Entscheidungsind soziale Gründe.

Meine Fraktion, Die Linke, und ich lehnen die Erwei-terung des Euro-Rettungsschirms vor allem deshalb ab,weil schon die bisherigen Maßnahmen zur Euro-Rettungdie Ausweitung der Krise nicht verhindert haben. Im Ge-genteil: Die an die „Hilfskredite“ aus dem Rettungs-schirm geknüpften radikalen Kürzungsauflagen würgendie Binnenkonjunktur der Krisenländer ab, verhinderneine nachhaltige Erholung der Wirtschaft und verschär-fen die Schuldenkrise. Die Finanzmärkte wurden da-durch nicht beruhigt. Weiterhin werden gegen die soge-nannte Krisenstaaten Wetten abgeschlossen und es wirdmunter weiterspekuliert. Bereits heute gehen Expertin-nen und Experten sowie Finanzmarktakteure davon aus,dass auch die Aufstockung der EFSF nicht ausreichenwird.

Anstatt Konsequenzen aus der gescheiterten Politikzu ziehen, wird der Kurs unerschüttert fortgesetzt. In denKrisenländern bezahlen Arbeitnehmerinnen und Arbeit-nehmer, Rentnerinnen und Rentner und andere Bevölke-rungsgruppen mit Lohn- und Rentenkürzungen.

Der größte Sozialabbau der europäischen Nachkriegsge-schichte sorgt dafür, dass private Banken weiter spekulierenkönnen. In Deutschland werden die Steuerzahlerinnen undSteuerzahler in Haftung für die milliardenschweren Ga-rantien genommen. Solange die Finanzmärkte nicht striktreguliert, Banken nicht vergesellschaftet und die Staatsfi-nanzierung nicht von den Kapitalmärkten abgekoppeltwird, ist diese Krise nicht unter Kontrolle zu bringen

Mit dieser Politik wird die Umverteilung von untennach oben beschleunigt. Sie ist ökonomisch gefährlich,weil die Spardiktate eine ökonomische Belebung derKrisenländer verhindern. Die Überwindung der wirt-schaftlichen Ungleichgewichte in der Euro-Zone und EUist nicht vorgesehen. Dies gefährdet zunehmend die eu-ropäische Integration: Rechtspopulistische Parteien, diedie Ängste und die Wut der Menschen gegen Spardiktatein europafeindliche und nationalistische Propaganda ka-nalisieren, sind in vielen Ländern auf dem Vormarsch.Das Argument der Koalition – auch von SPD und Grü-nen –, es gehe mit dem Rettungsschirm darum, „Europazu retten“, ist daher schlicht falsch.

Das europäische Projekt hat nur dann eine Zukunft,wenn es sozial gerecht, wirtschaftlich vernünftig und de-mokratisch gestaltet wird. Da die „Euro-Rettung“ in ge-nau die entgegengesetzte Richtung weist, kann DieLinke als Europa bejahende Partei nicht zustimmen.

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Nicole Bracht-Bendt (FDP): Die Lösungen der Ko-alition in der europäischen Haushalts- und Finanzpolitiksollen die derzeitigen Turbulenzen an den Finanzmärk-ten eindämmen und neues Vertrauen etablieren. Nichtalle bisherigen oder geplanten Maßnahmen finden meineZustimmung.

Wer kämpft, kann verlieren. Wer nicht kämpft, hatschon verloren. Ich habe in der Fraktion mit Kolleginnenund Kollegen für eine andere Entscheidung gekämpft.Es ist uns nicht gelungen, die Mehrheit der FDP-Frak-tion zu überzeugen. Das respektiere ich. Aus Fraktions-disziplin und Solidarität werde ich daher heute mit mei-ner Fraktion stimmen. Weiteren wie auch immergearteten Ausweitungen eines Rettungsschirms werdeich nicht zustimmen.

Die Schaffung eines kleinen Gremiums, das anstelledes Haushaltsausschusses entscheiden kann, lehne ichab, zumal dieses Gremium der Vertraulichkeit unterliegt.Es steht zu befürchten, dass damit die Beteiligung desDeutschen Bundestages ausgehebelt wird.

Eine freie Abstimmung wäre eine gute Stunde für denDeutschen Bundestag gewesen. Es ist möglich, dass esnoch zu stärkeren Unsicherheiten für die Märkte kommt,falls heute keine Mehrheit aus der Koalition zustandekommt. Die Kapitalmärkte könnten entsprechend reagie-ren. Auch mit Blick auf die europäischen Nachbarn unddie Partner in der Welt ist es für Deutschland mit demZiel eines stabilen Euro wichtig, ein Zeichen für eine ge-schlossene und entschlossene Koalition zu setzen.

Das habe ich heute ebenfalls bei meinem Abstim-mungsverhalten berücksichtigt. Aufgrund dieser Abwä-gung stelle ich meine persönlichen Bedenken und Zwei-fel zu den im Gesetzesvorhaben getroffenen Regelungenzurück und stimme den Änderungen an dem Gesetz zumeuropäischen Stabilisierungsmechanismus zu.

Klaus Brähmig (CDU/CSU): Die heutige Entschei-dung ist fälschlicherweise zur Abstimmung über Kriegund Frieden in Europa hochstilisiert worden. Mit derAbstimmung über das Gesetz zur Änderung des Geset-zes zur Übernahme von Gewährleistungen im Rahmeneines europäischen Stabilisierungsmechanismus wirdder Versuch unternommen, die Versäumnisse, die bei derEuro-Einführung in der Vergangenheit gemacht wurden,auszugleichen. Den Unmut der Bürger kann ich teil-weise verstehen. Denn wir helfen heute den Staaten, dieseit Jahren wider besseres Wissen ihre Strukturverände-rungen bewusst nicht auf den Weg gebracht haben bzw.auf Kosten der zukünftigen Generationen leben. Damitverhöhnt man die Verträge von Maastricht und die Euro-Stabilitätskriterien, die wir als Deutsche damals wie einBanner vor uns hergetragen haben, um den Euro so starkund solide wie die DM zu halten.

Leider mussten die politischen Voraussagen zumThema „Eurostabilität und Griechenlandhilfe“ auch vonunserer Regierung aufgrund der finanzpolitischen Wirk-lichkeit ständig überholt werden. Dennoch beansprucheich für mich, dass ich bei der heutigen Abstimmung nachbestem Wissen und Gewissen und zum Wohle des deut-

schen Volkes entscheiden werde. Dies streite ich aberauch meinen Kollegen nicht ab, die vielleicht zu eineranderen Entscheidung gelangen. Persönlich hoffe ich,dass wir durch die Fraktionsführung, die betroffenenfachpolitischen Gremien und die Bundesregierung um-fassend informiert worden sind. Allerdings hätte ich mirgewünscht, dass unsere Fraktion stärker auch die Kriti-ker mit eingebunden hätte, unter anderem Wissenschaft-ler und Persönlichkeiten aus der Wirtschaft. Beispiels-weise hätte man dann in einer Art Synopse dieLösungsvarianten und die daraus abgeleiteten Risikenund Kosten aufzeigen können.

Meine heutige Entscheidung, das Gesetz zur Ände-rung des Gesetzes zur Übernahme von Gewährleistun-gen im Rahmen eines europäischen Stabilisierungsme-chanismus zu unterstützen, treffe ich auch alsSchutzmaßnahme für die einheimische, mittel ständischeWirtschaft, die in einem europäischen und weltweitenWettbewerb steht. Die Zeiten von Wechselkursschwan-kungen will ich im europäischen Raum für die deutscheWirtschaft nicht wieder erleben.

Mit meiner heutigen Zustimmung verbinde ich dieHoffnung, dass die Bundesregierung all ihre Kraft ein-setzt, die europäischen Stabilitätskriterien wieder in denMittelpunkt der Betrachtungen zu rücken. Dabei solltedurch die Einführung von Schuldenbremsen auf Ebeneder Nationalstaaten eine Kultur der Stabilität etabliertwerden. Außerdem ist es unumgänglich, dass National-staaten auch den Staatsbankrott erleiden können. Nurdann ist gewährleistet, dass der Markt als sensibler Wäh-rungshüter frühzeitig eingreift.

Wer aus meiner Zustimmung abliest, dass ich weiter-gehende Finanzbelastungen für die BundesrepublikDeutschland automatisch und damit ohne die Zustim-mung des Parlaments als gewählter Volksvertreter zu-lasse, der irrt. Eine nochmalige Ausweitung des Ver-handlungsspielraums werde ich nicht mittragen und mirentsprechende Konsequenzen für die Zukunft offenhal-ten.

Gemeinschaftlich mit Griechenland sollte die euro-päische Staatengemeinschaft darüber nachdenken, obund inwieweit Griechenland durch den Auf- und Ausbauvon Solaranlagen einen wichtigen Beitrag zur Energie-versorgung Europas leisten kann und damit die wirt-schaftliche Leistungsfähigkeit des Landes deutlich ver-bessert wird. Auch bei der Tourismusentwicklung gibt esOptimierungsmöglichkeiten, die Griechenland dringendnutzen muss, um einen der wichtigsten Wirtschafts-zweige wieder zu einem neuen Boom zu verhelfen unddie entstehenden Einnahmen der Gesundung seinerVolkswirtschaft zuzuführen.

Dem heute vorliegenden Gesetzentwurf stimme ichaus den oben genannten Gründen zu. Für die Zukunftwünsche ich mir objektivierende Diskussionen über sol-che Fachthemen. Jede Hausfrau und jeder Normalbürgerweiß, dass er Probleme bekommt, wenn er mehr ausgibt,als er einnimmt. Aus diesem Grund muss die Politik da-für Sorge tragen, dass auch in schwierigen Zeiten Haus-haltsdisziplin unser oberstes Ziel ist. Wir leben derzeitschon auf Kosten der kommenden Generationen. Eine

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Umkehr von diesem Weg der Haushaltsdisziplin versün-digt sich an der Zukunft Deutschlands und Europas.

Michael Brand (CDU/CSU): Diese heutige Ent-scheidung bedeutet eine große, eine sehr große Verant-wortung. Es geht um mehr als um die akute Nothilfe fürGriechenland und die Stabilisierung der Euro-Zone.

Es kommt darauf an, nach bestem Wissen und Gewis-sen zu entscheiden. Das Wissen um die Folgen dieserschwerwiegenden Entscheidung hat niemand für sich ge-pachtet, es gibt für diese Operation keine „Blaupause“,kein „Drehbuch“. Die üblichen Sicherheiten und auchmanche voll überzeugte Position sind angesichts der sehrunterschiedlichen, gar widersprüchlichen Einschätzun-gen auch seriöser Experten nicht überzeugend.

Es ist jedem klar, dass es keinen Königsweg gibt –wir haben die Wahl und die Pflicht, uns für die Lösungs-alternative zu entscheiden, die nach sorgfältiger Analysedie geringsten Risiken und die bestmögliche Aussichtauf die Lösung der Krise birgt.

Im Ergebnis aller dieser Sorgen, der Faktoren und Ar-gumente habe ich mehrfach und vielfach nachgefragtund hinterfragt, mich mit den Argumenten der Gegnerwie der Befürworter intensiv befasst, bis in die letztenTage und Stunden hinein.

Ich will hier ausdrücklich nur sehr knapp die bekann-ten Argumente einbringen, die für eine dauerhafte Lö-sung erforderlich sind.

Wir haben keine Euro-, sondern eine Schuldenkrise.Wer zu lange zu stark über seine Verhältnisse gelebt hat,der muss nun die Richtung ändern. Wir haben inDeutschland als dem stärksten EU- und Euro-Land dieSchuldenbremse in die Verfassung geschrieben. Wer dieSchulden zu hoch treibt und damit die Verfassung brichtwie kürzlich die rot-grüne Regierung in NRW, wird zurRechenschaft gezogen. Das muss auch in Europa sokommen, und andere Euro-Staaten haben begonnen, diesebenfalls in ihren Verfassungen zu verankern. Dazubrauchen wir Sanktionsmechanismen, die den Bruch derStabilitätskriterien teuer machen, ebenso wie präventiveMaßnahmen zur Überwachung staatlicher Haushalts-politik in den Euro-Ländern.

Wir brauchen endlich eine internationale Regulierungder Finanzmärkte, auch wenn das ein bekannt schwieri-ges Thema ist. Wir müssen das Kasino beenden, und wirbrauchen wieder Finanzmärkte, die nicht zocken, son-dern seriöse Kredite an seriöse Kreditnehmer vergeben.Auch die Ratingagenturen, die mit ihren falschen, offen-bar nicht geprüften Ratings in der Vergangenheit einenHauptanteil an der Finanzkrise hatten, müssen kontrol-liert werden. Die private Finanzwirtschaft muss an derSchadensbehebung unmittelbar beteiligt werden; ersteSchritte sind getan, aber weitere müssen folgen, in Eu-ropa und global.

Für Staaten und Banken, die der Krise am Ende dochnicht gewachsen sind, brauchen wir geordnete Verfahrenfür eine geordnete Insolvenz, die eben nicht andere mitin die Krise reißt. Hier könnten wir in Europa und bei

den G20 schon weiter sein, wenn die deutschen Argu-mente stärker berücksichtigt und Protektionismus für dieeigene Finanzwirtschaft von Großbritannien und denUSA nicht so massiv vorgebracht worden wären.

Der Europäische Stabilitätsmechanismus – ESM –und der Europäische Rettungsfonds – EFSF – waren undsind neue Antworten und Instrumente, um auf eine völ-lig neue Herausforderung zu reagieren. Sie sollen vor al-lem eines bringen: die gemeinsame Kraft der weltweitimmer noch starken Euro-Zone gegen die Krisen in ein-zelnen Euro-Ländern mit auf die Waagschale zu bringen,um ein Kippen der Lage zu verhindern und den schwieri-gen Weg aus der Krise geordnet zu gehen – statt in einFinanz- und Wirtschaftschaos abzugleiten, mit enormenWirkungen auf die Realwirtschaft, auf Mittelstand undArbeitsplätze, auch hier in Deutschland.

Schon bei der letzten großen Finanzkrise hat sich ge-zeigt, dass es „Gegenmittel“ gibt, die wir erfolgreich ein-gesetzt haben – nicht ohne Grund hat Deutschland eineim Vergleich zu anderen noch stärkere Position nach derKrise. Wir haben in der Krise die richtigen, jeweils er-forderlichen Schritte eingeleitet, um Wachstum und Be-schäftigung abzusichern und den Weg aus der Krise ein-zuleiten.

Dass Wirtschaft und Gewerkschaften gleichermaßendazu aufrufen, die Ausweitung des europäischen Ret-tungsschirms zu beschließen, ist ein nicht unwesentli-cher Hinweis auf die breite Unterstützung des Kurses derBundesregierung in dieser komplexen und nicht unge-fährlichen Lage.

Nicht zuletzt haben wir, die Deutschen, am stärkstenvom Euro profitiert. Und wir werden unseren Teil derVerantwortung zur Stabilisierung der Schuldenkriseauch wahrnehmen. Dabei gibt es keinen Freibrief fürSchuldensünder – für Hilfe muss Gegenleistung erbrachtwerden, und das verbindlich.

Nachdem ich mich sehr bewusst während der Bera-tungen mit Argumenten und auch mit Abstimmungsver-halten für eine Verminderung der Risiken für die Steuer-zahler und eine Stärkung der Beteiligungsrechte desDeutschen Bundestages eingesetzt habe, kann ich heutenicht übersehen, dass es hier auch Fortschritte gegebenhat.

Die Bürgerinnen und Bürger können sicher sein: Eswird keine zentralen Entscheidungen mehr geben ohneausdrückliche Beteiligung ihres Parlamentes, in das siedie Abgeordneten mit ihrem Vertrauen entsendet haben.Wir Abgeordneten stehen umso mehr in der Pflicht,sorgfältig zu analysieren und die Sorgen der Menschenaufzunehmen.

Wo Unsicherheit vorherrscht, ist Vertrauen mit dashöchste Gut. Darum geht es ganz zentral: wieder Ver-trauen schaffen. Vertrauen darauf, dass wir in Europa,mit aktiver deutscher Hilfe – als größter Wirtschaft inder EU –, die Krise meistern, wenn auch nicht von heuteauf morgen. Vertrauen darauf, dass wir kommende kriti-sche Phasen ordentlich überstehen, mit weniger Erschüt-terungen.

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Mittel- und langfristig geht es um die Stabilität unse-res Kontinentes in einer sich dramatisch veränderndenWelt. Es geht für uns, auch für unsere Kinder, um dieMöglichkeit, unsere Rolle in der Welt auch in Zukunftaktiv gestalten zu können.

Es ist viel von Vertrauen die Rede in diesen Wochenund Monaten. Und es geht um viel, und vor allem umviel Vertrauen in diejenigen, die handeln und entschei-den können, und müssen. Wir alle sollten ein gesundes,ja tiefes Misstrauen haben gegenüber solchen, die er-kennbar alles genau wissen und in keiner Weise nach-denklich zu sein scheinen: Wer bei dieser Dimensionnicht nachdenklich auftritt, lässt auch Zweifel aufkom-men, dass genug nachgedacht wurde.

Viele Bürgerinnen und Bürger haben sich mit Sorgenum den Euro, um ihr Erspartes, auch um die Alterssiche-rung und die Zukunft ihrer Kinder oder Enkel an michgewandt. Für mich sind das ernste Sorgen, die ich selbst-verständlich sehr ernst zu nehmen habe.

Bislang hat die Realwirtschaft in Deutschland keinenSchaden genommen, Deutschland stabilisiert mit seinerstarken Wirtschaft, auch mit dem Export weltweit und indie EU den Euro-Raum mit. Die Sorgen der Menschenwerden ernst genommen, und auch das schafft Ver-trauen, wie die letzten Zahlen zum Konsumklima als ei-nem der wesentlichen Indikatoren für das Vertrauen derBevölkerung in die wirtschaftliche Zukunft unterfüttern.

Keine Lösung ist die Haltung der Opposition, den eu-ropäischen Rettungsmechanismus in einen Automatis-mus auszudehnen, der keine effiziente Kontrolle fürSchuldensünder vorsieht. Schon bei der ersten notwendi-gen Hilfe gegen den Zusammenbruch Griechenlandshatte sich die SPD enthalten, die Lehman-Pleite hatte derdamalige Finanzminister Steinbrück in der Wirkung fatalfalsch eingeschätzt. Das ist wenig vertrauenswürdig fürdie Position der Opposition, die zudem mit ihrer damali-gen rot-grünen Regierung die fiskalischen Todsündengegen den Euro-Stabilitätspakt begangen hat: Schröder-Fischer-Eichel waren die ersten, die den von Kohl undWaigel ausgehandelten Stabilitätspakt gebrochen undKritiker an diesem Bruch verhöhnt haben. Zum anderenwurde ausgerechnet Griechenland in die Euro-Zone ge-holt, obwohl das Vertrauen in die offiziellen griechi-schen Zahlen schon damals bei Kennern erschüttert war.Wer so gehandelt hat, kann nicht auf großes Vertrauenzählen, wenn es um die Zukunft des Euro geht.

Dass die Bundesregierung sich mit ihrer Forderungnach einer strengeren Regulierung endlich bei der EU-Kommission durchgesetzt hat, ist ein später Erfolg derBundesregierung. Ebenso klar muss jeder wissen, dasssich SPD und Grüne im Europäischen Parlament in die-sen Tagen genau gegen diese Stabilitätskriterien geäu-ßert und gegen diese Vorschläge gestimmt haben.

Es ist also kein polemisches, populistisches Theater,das uns hier weiterhilft. Im Gegenteil: Das schafft keinVertrauen. Wir wollen, ich will für unsere Zukunft, fürmeine und unsere Kinder, dass wir ein durch die Krise ge-steuertes, erstarktes Europa haben und kein geschwächtesoder gar wirtschaftlich abgeschafftes Europa.

Insgesamt komme ich so in der Gesamtabwägung al-ler mir zur Verfügung stehenden Argumente, also desWissens zu diesem komplexen Thema zur Entscheidung,dass ich diese Ausweitung des europäischen Rettungs-schirms dieses Mal mittragen kann.

Das ist kein Freibrief für künftige Entscheidungen. Eshat die Entscheidung mitbeeinflusst, dass dank unseresdeutlichen Auftretens als Parlament gegenüber unsererRegierung, auch des Präsidenten des Deutschen Bundes-tages, unseres Kollegen Professor Dr. Lammert, dieRechte des Deutschen Bundestages bei der Stabilisie-rung der Euro-Zone nochmals deutlich gestärkt wurden.Es wird keinen Automatismus zu weiteren Ausweitun-gen der Garantien der Bundesrepublik Deutschland ge-ben, weil es diesen Automatismus nicht geben darf. ImGegenteil: Jeder nächste Schritt wird vom DeutschenBundestag geprüft, der Deutsche Bundestag muss ent-scheiden über Ja oder Nein – und erst dann wird, wie-derum im Bundestag, im Haushaltsausschuss unter die-sen Vorgaben über die Einzelheiten entschieden.

Das ist ein wichtiges Signal auch dafür, dass Demo-kratien diese nationalen und internationalen Herausfor-derungen besser bestehen als Länder wie China und an-dere, die keine Rücksichten auf die Sorgen ihrerBevölkerung nehmen.

Der Deutsche Bundestag vertritt den Souverän, dasdeutsche Volk, auch in diesen Fragen, auch gegenüberund manches Mal gar gegen die Forderungen der EUoder der Euro-Partner.

Unter diesen, auch vom Parlament erreichten Rah-menbedingungen fällt es mir nicht leicht, ist aber den-noch die nach Abwägung aller Positionen richtige Ent-scheidung, heute dem Gesetzentwurf zum europäischenRettungsschirm zuzustimmen.

Bei den weiteren Beratungen bleibe ich kritischerTeilnehmer als Vertreter der Menschen, die mich mitdem Vertrauen ausgestattet haben, ihre Interessen nachbestem Wissen und Gewissen zu vertreten.

Marco Bülow (SPD): Zu meinem Abstimmungsver-halten am heutigen Tage erkläre ich Folgendes: Ichstimme dem Gesetzentwurf zu, möchte aber folgendeBedenken zu Protokoll geben:

Das vorliegende Gesetz hat eine Dimension und eineTragweite, die selbst Fachleute nicht überblicken können.Ich bin kein Finanzexperte und muss eingestehen, dassich mich auf die Vorgaben der Fachleute verlassen muss.Ich sehe keine inhaltliche Alternative, die ich für unpro-blematischer halte, und folge deshalb der SPD-Fraktionund stimme dem Gesetz zu.

Zur Darlegung meiner inhaltlichen Kritikpunkte. EinePolitik, die darauf abzielt, Sozialleistungen und Löhneabzubauen und Löhne zu senken, wie das jetzt in Grie-chenland und teilweise in Südeuropa – auch durch Druckder Bundesregierung – geschieht und wohl weiterhin ge-schehen wird, ist zweifelhaft. Dies ist eine neoliberalePolitik, die ganz sicher zu keiner Stabilisierung der Ver-hältnisse in Griechenland führen wird.

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Die Binnenkonjunktur in Griechenland wird unterdiesen Maßnahmen leiden. Auch auf die deutsche Ex-portwirtschaft wird dieses Gesetz Auswirkungen haben.Sie wird zukünftig einen schwächeren Absatzmarkt inGriechenland vorfinden. Zudem sind andere Länder wieItalien, Spanien oder Frankreich in der Gefahr, dieselbenKonsequenzen tragen zu müssen. Die Regulierung derFinanzmärkte ist zwingend erforderlich, wenn wir daseuropäische Finanzsystem insgesamt stabilisieren wol-len. Dies muss nun zügig durchgesetzt werden.

Neben der inhaltlichen Abwägung gibt es allerdingsnoch die Diskussion über die demokratische Kontrolledes Rettungsschirms.

Ich sehe meine Rechte aus Art. 38 GG, Art. 20 GGsowie dem Demokratieprinzip durch die vorgeseheneLösung gefährdet. Ich halte die Beteiligung des Bundes-tages bei konkreten Hilfszusagen in jedem neuen Einzel-fall für unverzichtbar. Der Kompromiss, der auf Betrei-ben der SPD-Fraktion gefunden wurde, ist nur eineMindestlösung. Danach darf der Vertreter der Bundesre-gierung in der EFSF, der European Financial StabilityFacility, einem Beschlussvorschlag, der die haushalts-politische Gesamtverantwortung des Bundestages berührt,nur dann zustimmen, wenn das Parlament zuvor einen zu-stimmenden Beschluss gefasst hat. Bei besonderer Eilbe-dürftigkeit oder Vertraulichkeit sollen die Beteiligungs-rechte des Bundestages von einem Unterausschuss desHaushaltsausschusses wahrgenommen werden, demneun Mitglieder aus allen Fraktionen angehören sollen.Die SPD hat dazu einen Änderungsantrag vorgelegt,nach dem auch in Fällen der Eilbedürftigkeit oder Ver-traulichkeit der Haushaltsausschuss zustimmen soll –und nicht das Sondergremium. Dies wurde von der Re-gierung leider abgelehnt.

Insgesamt wird es sehr wichtig sein, dass wir genauüberprüfen, ob damit auch die erforderlichen Ziele er-reicht werden können. Diese Entscheidung reiht sich einin eine Politik, bei der die Rechte des Parlaments und dereinzelnen Abgeordneten immer weiter eingeschränktwerden. Diese Entwicklung halte ich für bedrohlich. Eswird Zeit, darüber endlich ausgiebig zu diskutieren undgegenzusteuern.

Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Ich stimmedem Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Übernahmevon Gewährleistungen im Rahmen eines europäischenStabilisierungsmechanismus aus zwei Gründen nicht zu:

Erstens: Die Aufstockung der Mittel des Stabilisie-rungsfonds ist im Ergebnis eine Unterstützung der Banken,der Finanzinstitute, der Reichen und der Superreichen. ImHaftungsfall werden wie immer die entstehenden Lastenaber von der großen Mehrheit der Steuerzahlerinnen undSteuerzahler getragen. Ich befürchte auch eine Kürzungvon Renten und anderen Sozialleistungen. Die Bundesre-gierung ist jedenfalls nicht bereit, für die gegenwärtigenSozialstandards eine Garantieerklärung abzugeben. Des-halb lehne ich das Gesetz ab.

Den Menschen in den Ländern, die Mittel von derEFSF erhalten, wird nicht wirklich geholfen: Die stren-

gen Auflagen treffen dort vor allem die Geringverdiene-rinnen und Geringverdiener, die Rentnerinnen und Rent-ner. Die Folge davon ist, dass die Binnennachfrageeinbricht. Dadurch werden weitere Menschen arbeitslos,und die Steuereinnahmen sinken. Die Fähigkeit zurRückzahlung der gewährten Kredite wird immer weitereingeschränkt. Das zeigt die Entwicklung in Griechen-land. Auch deshalb sage ich Nein zu dem Gesetz.

Wir wollen stattdessen die Regulierung der Finanz-märkte, also die Banken endlich an die Kette legen, dieHeranziehung der Riesenvermögen zur Schuldentilgungund eine konstruktive Unterstützung für die wirtschaftli-che Entwicklung in Griechenland und anderen betroffe-nen Ländern.

Zweitens: Ich lehne das Änderungsgesetz auch des-halb ab, weil es die demokratisch-parlamentarische Kon-trolle des Bundeshaushalts aushöhlt. Im Rahmen derEFSF werden Entscheidungen getroffen, die Auswirkun-gen für spätere Generationen haben – so viel zur viel be-schworenen Generationengerechtigkeit.

Die demokratische Kontrolle durch uns gewählte Ab-geordnete kann durch Unterrichtungen und Entscheidun-gen des Haushaltsausschusses nicht ersetzt werden. Nochweniger ist es mit demokratischen Grundsätzen verein-bar, wenn wichtige parlamentarische Entscheidungen anein kleines Sondergremium delegiert werden. Auch des-halb sage ich Nein zu dem Gesetz, das die Unterordnungdemokratischer Verfassungsprinzipien unter das Diktatder Finanzmärkte bedeutet.

Marco Buschmann (FDP): Wir debattieren heuteüber einen vom Bundesrat eingebrachten Gesetzentwurfzur Einführung von Kammern für internationale Han-delssachen. Lassen Sie mich kurz einführen, warum iches als wichtig erachte, diesen Gesetzentwurf hier imDeutschen Bundestag zu diskutieren.

In einer globalisierten Handelswelt begegnen wir demWettbewerb nicht nur auf rein ökonomischer Ebene.Ebenso muss sich unser Rechtssystem im Vergleich zuanderen Rechtskreisen behaupten. Insbesondere in derinternationalen Geschäftswelt ist das angelsächsischeRecht auf dem Vormarsch. Das liegt nicht an der Überle-genheit des Common Law. Vielmehr herrscht in der ju-ristischen Fachwelt die Auffassung vor, dass das deut-sche Recht im internationalen Vergleich einen sehrhohen Qualitätsstandard für sich beanspruchen kann.Dieser hohe Qualitätsstandard setzt sich in der Rechts-pflege fort. Deutsche Gerichtsverfahren führen in derRegel schnell und mit vergleichsweise niedrigen Kostenzu einem für die Rechtsuchenden befriedigenden Ergeb-nis. Somit eignen sich nicht nur unsere Waren als Ex-portschlager. Auch unser Rechtssystem könnte einerwerden.

Jedoch ist das deutsche Recht im Vergleich zumCommon Law einem Wettbewerbsnachteil ausgesetzt.Unser Rechtskreis könnte durch Abbau dieses Wettbe-werbsnachteils attraktiver werden: Der angelsächsischeRechtskreis spielt bislang den Vorteil der englischenSprache als internationale Handelssprache voll aus. Un-

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ternehmen weichen häufig auf englischsprachige Ge-richtsstände aus oder vereinbaren Schiedsklauseln unterVerwendung der Verfahrenssprache Englisch, weil Eng-lisch meist allen Beteiligten geläufig ist.

Die Einführung von Kammern für internationale Han-delssachen, in denen Englisch als Gerichtssprache zuge-lassen werden soll, kann dazu beitragen, die Wettbe-werbsfähigkeit des deutschen Rechts internationalerheblich zu verbessern und die Ausweichbewegungenabzumildern.

Dass es bereits jetzt ein Bedürfnis für einen solchenAnsatz gibt, hat ein Modellprojekt des Oberlandesge-richtsbezirks Köln gezeigt. Die Landgerichte Köln,Bonn und Aachen haben in ihren Geschäftsverteilungs-plänen Kammern eingerichtet, in denen auf Englischverhandelt werden kann. Sie berufen sich dabei auf§ 185 GVG, wonach bei Übereinstimmung des Klägersund des Beklagten die Verhandlung in englischer Spra-che geführt wird, wenn beide auf einen Dolmetscher ver-zichten und der Prozess einen internationalen Bezug auf-weist. Sowohl die Justiz als auch die Anwaltschaft inKöln sind sich sicher, dass ihre Region, die Sitz von vie-len internationalen Unternehmen ist, nur so attraktivbleiben kann.

Der vorliegende Gesetzentwurf will dabei nicht nurerreichen, dass nach § 185 GVG ausnahmsweise in eng-lischer Sprache verhandelt werden kann, sondern dassauch Schriftsätze und Urteile entsprechend ausgefertigtwerden können. Damit kann die Sprachbarriere des deut-schen Rechts für internationale Unternehmen weiter ab-gebaut werden. Um dieses Vorhaben zu prüfen und wei-terentwickeln zu können, wird der Rechtsausschuss zudiesem Gesetzentwurf im November eine öffentlicheAnhörung durchführen.

Zuletzt möchte ich noch auf die Sorgen der Kritikereingehen. Es geht nicht um die Ersetzung der deutschenSprache als Gerichtssprache. Vielmehr geht es darum,unser hervorragendes Rechtssystem zu bereichern. Esgeht lediglich um eine eng begrenzte Ausnahme für deninternationalen Handelsverkehr, die das Einverständnisaller Beteiligten voraussetzt. Dagegen kann, wie ichmeine, niemand etwas haben.

Sylvia Canel (FDP): Vertrauen in ein gemeinsamesEuropa mit einer gemeinsamen Währung setzt voraus,dass sich alle Länder an einen nachvollziehbaren undstabilitätsorientierten Ordnungsrahmen halten. DieserRahmen sollte eine schlüssige Perspektive und Anreizezum verlässlichen und nachhaltigen Handeln bieten. Ei-genverantwortung, Haftung und Kontrolle gehören zu-sammen und sind Grundlage unserer europäischen Ge-meinschaft und nicht voneinander trennbar.

Die Länder sind in hohem Maße eigenverantwortlichund dem Maastrich-Vertrag, der die Staatsverschuldungauf ein unkritisches Maß begrenzt, verpflichtet. DieSchwellenwerte von 3 Prozent für das laufende Defizitund 60 Prozent für den Schuldenstand – jeweils bezogenauf das Bruttoinlandsprodukt – haben einen ausge-glichenen Haushalt zum Ziel, ein Ziel, das mit Nach-

druck verfolgt werden muss. Der, der dazu nicht bereitist, gefährdet die Gemeinschaft und nicht der, der auf dieEinhaltung des Ziels besteht.

Trotz der Richtigkeit des gemeinsamen Vertrageswurde dieses Ziel immer weiter aus den Augen verloren.Es fehlte der politische Wille zur Umsetzung. Es exis-tiert also kein unmittelbares Regelungsdefizit, sondernein Vollzugsdefizit, das die heutige Krise begründet. Diezunehmende Verflechtung der Finanzinstitutionen machtes jedoch auch erforderlich, nachzusteuern und neue Re-gelungen zu ergänzen. Meine Fraktion hat diese Instru-mente maßgeblich erarbeitet. Diese Arbeit unterstützeich, deshalb stimme ich nicht mit einem Nein.

Die vorgelegten Lösungen der Koalition in der euro-päischen Haushalts- und Finanzpolitik sollen die Grund-lagen für Maßnahmen legen, die es erlauben zielorien-tierter zu fördern und konsequenter zu fordern.Bedauerlicherweise sind diese Instrumente damit ver-bunden, dass die Bürgschaftssumme für Deutschland einweiteres Mal erheblich erhöht wird, was zu einer großenBelastung führt und am Ende zum Verlust der deutschenKreditwürdigkeit führen könnte. Der Aufbau Europasauf Schulden ist ein Weg, der die politische Gestaltungs-möglichkeit kommender Generationen erheblich ein-schränkt und deshalb nicht meine Zustimmung findenkann.

In Abwägung der unterschiedlichen Positionen ent-halte ich mich der Stimme.

Dr. Peter Danckert (SPD): Zu meinem Abstim-mungsverhalten zum heutigen Tage erkläre ich Folgen-des: Ich stimme dem Gesetzentwurf zwar zu, möchteaber folgende Bedenken zu Protokoll geben:

Ich bin davon überzeugt, dass die Rettungsmaßnah-men, die mit dem Gesetz zur Änderung des Gesetzes zurÜbernahme von Gewährleistungen im Rahmen einesEuropäischen Stabilitätsmechanismus einhergehen, derrichtige Weg zur Rettung des Euro-Raums sind. Diehaushaltsrechtliche Gesamtverantwortung des Deut-schen Bundestages wird jedoch durch die in § 3 Abs. 3vorgesehene Regelung nicht verfassungsgemäß ausge-staltet. Meine Rechte aus Art. 38 GG, Art. 20 GG sowiedem Demokratieprinzip werden durch die vorgeseheneLösung auf verfassungswidrige Weise unterlaufen. Des-halb werde ich voraussichtlich gegen das Gesetz Organ-klage vor dem Bundesverfassungsgericht erheben.

Die Tatbestandsmerkmale der Vertraulichkeit oderEilbedürftigkeit sind meiner Ansicht nach keine über-zeugenden Argumente, um die vorgesehene Ausgestal-tung des § 3 Abs. 3 zu rechtfertigen.

Erstens. Fälle besonderer Vertraulichkeit:

In den letzte Jahrzehnten gab es meiner Kenntnisnach keinen Fall, in dem ein Abgeordneter die vorgese-hene Vertraulichkeit der zu treffenden Entscheidungen– zum Beispiel Dokumente, die als Geheim klassifiziertsind – gebrochen hat. Daher ist es nicht nachvollziehbar,dass man zwischen denjenigen unterscheidet, denen mandie Geheimhaltung zutraut, und solchen, die die Vertrau-

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lichkeit mutmaßlich brechen. In dieser Handhabung seheich eine Verletzung meiner Rechte, sowohl als Abgeord-neter, als auch als Person.

Zweitens. Fälle besonderer Eilbedürftigkeit:

Bei einer eilbedürftigen Situation, die zum Beispielbei einer Intervention der EFSF am Sekundärmarkt vor-liegt, könnten die Mitglieder des Haushaltsausschussesebenso schnell zusammengerufen werden, wie die Mit-glieder des Kleinstgremiums. Wenn mehrere Mitgliederdes Kleinstgremiums sich zum besagten Zeitpunkt bei-spielsweise auf einer Dienstreise in Australien befinden,dann sind sie gleichermaßen schwer zu erreichen. Ichhoffe inständig, dass die verantwortlichen parlamentari-schen Geschäftsführer nicht vorhaben, eine Telefon-oder Videokonferenz für diese Fälle vorzusehen, und sodie Abstimmung aus der Ferne zuließen. Dies würde inentscheidender Weise die Geheimhaltung gefährden.

Ein solches Verfahren widerspricht darüber hinausden organschaftlichen Verpflichtungen, die der DeutscheBundestag sich selbst gegeben hat. Es ist in keinem Fallzulässig, die Zustimmung, beispielsweise zum Haus-haltsgesetz, per Telefon zu erklären. Es ist stets die An-weisung im Plenum oder im Ausschuss erforderlich.

Reiner Deutschmann (FDP): Ich habe Zweifel, obder zur Abstimmung vorliegende Gesetzentwurf der ein-zig richtige Weg ist, um die Schuldenkrise der Euro-Staaten wirksam zu bekämpfen. Auch wenn ich das Zielgrundsätzlich teile, in Not geratenen Euro-Staaten zuhelfen, so muss es nach meiner Überzeugung möglichsein, diejenigen Staaten in eine geordnete Insolvenz zuüberführen, die ihr Schuldenproblem nicht mehr bewäl-tigen können oder wollen. Problematisch ist aus meinerSicht auch, dass die Risiken, die aus der Schuldenkriseeiniger Euro-Staaten resultieren, nicht vollumfänglicheingeschätzt werden können.

Ich stimme dem Gesetzentwurf dennoch zu, da es der-zeit keine anderen schlüssigen Alternativen zur Rettungder Euro-Krisenstaaten gibt. Mit dem Gesetzentwurf be-weist die Koalition von CDU/CSU und FDP, dass siehandlungsfähig ist und sich ihrer staatspolitischen Ver-antwortung stellt, im Bewusstsein der wirtschaftlichenBedeutung Europas für unser Land sind Union und FDPgewillt, die zur Stabilisierung unseres Finanzsystemsnotwendigen Schritte einzuleiten, auch wenn dies bedeu-tet, Deutschland einer verschärften Bürgschaft für Euro-Krisenstaaten zu unterwerfen.

Meine Zustimmung erteile ich nur, da festgeschriebenist, dass jede finanzielle Zusage auf Grundlage diesesGesetzes von der Zustimmung des Deutschen Bundesta-ges und seiner Gremien abhängig gemacht wird. Damiterfährt das deutsche Parlament eine bis dahin nie dage-wesene Stärkung seiner Bedeutung bei finanzpolitischenEntscheidungen europäischen und weltweiten Ausma-ßes.

Thomas Dörflinger (CDU): Die Erweiterung derEFSF wird nicht die gewünschten Effekte bringen. Nachmeiner Überzeugung würde selbst der auf 780 Milliar-

den Euro erhöhte Garantierahmen nicht ausreichen, fallssich die Krise ausbreitet und Italien oder Spanien er-reicht – zumal die EFSF künftig auch Anleihen ange-schlagener Euro-Länder kaufen soll. Unklarheiten beste-hen weiterhin dadurch, dass die zusätzlich vorgesehenenKompetenzen des Rettungsschirms noch nicht abschlie-ßend geregelt sind. Fraglich ist auch, wie sich die Be-schlüsse des Europäischen Rates vom 21. Juli 2011 aufdie praktische Arbeit des Fonds auswirken, da die Aus-führungsbestimmungen zum EFSF-Rahmenvertrag nochnicht vollständig vorliegen. Warum sollte Deutschlandweitere Garantien geben und Gefahr laufen, selbst Kre-ditwürdigkeit einzubüßen? Eine SchuldentragfähigkeitGriechenlands ist bereits heute nicht mehr gegeben. Mitneuem Geld, neuen Schulden wäre Griechenland nichtgeholfen, das schon in der Vergangenheit die Anforde-rungen der sogenannten Troika nicht erfüllen konnte.

Konditionalität: Das führt mich zu einem zentralenPunkt: Mit der Verschärfung des Stabilitäts- und Wachs-tumspakts wurden Teile der nationalen Budgetkontrollean die EU abgetreten. Bisher sehe ich aber nicht, dass dieneuen Regeln greifen. Wahrscheinlicher ist, dass geradehoch verschuldete Länder wie Griechenland immer wie-der Wege finden werden, um Verschuldungsregeln zuumgehen. Wir geben zwar Geld, unsere Einflussmög-lichkeiten und Durchgriffsrechte auf die zu rettendenLänder sind aber zu gering. Daher halte ich den einge-schlagenen Weg für falsch. Das Signal an die Märktemuss heißen: keine unbegrenzten Hilfen, keine Spekula-tion gegen ohnehin schon angeschlagene Länder, kein„Weiter-so“ um jeden Preis. Die Politik ist zum Spielballder Finanzmärkte geworden, eine Entwicklung, die drin-gend der Umkehrung bedarf.

Leverage-Effekt: Die aktuelle Diskussion um einenachträgliche Ausweitung des Rettungsfonds macht au-ßerdem deutlich, wohin die Reise gehen könnte. So exis-tieren Planspiele, die EFSF mit einem „Hebel“ zu verse-hen, um ihr Ausleihvolumen erheblich zu vergrößern.Ich halte es für durchaus denkbar, dass der Fonds in dieLage versetzt werden soll, selbst Anleihen der Krisen-staaten zu kaufen; diese werden dann bei der EZB als Si-cherheit hinterlegt und der Fonds bekäme dafür von derZentralbank neues Geld für weitere Ankäufe. Das sindStimmen, die bereits selbst aus der Kommission zu hö-ren sind und einer praktisch unbegrenzten Kreditlinie fürden Fonds das Wort reden.

Unabhängig davon, wie wahrscheinlich die Aufhebe-lung des Rettungsschirms ist: Die Märkte eilen der Poli-tik wieder einmal voraus. Der Bundestag stimmt heuteüber die Aufstockung des Rettungsschirms ab, währenddie Märkte längst über den nächsten Schritt spekulierenund damit neue Gefahren aufzeigen.

EZB-Risiken: Der Aufkauf von Staatsanleihen durchdie EZB birgt erhebliche Risiken. Am Beispiel Italienzeigt sich, dass dadurch die Zinsen für Schuldverschrei-bungen sinken, wodurch der Anreiz für weitere Sparan-strengungen sinkt. Ein weiteres Problem sind die soge-nannten Offenmarktgeschäfte. Bereits heute sind Bankenin einigen Ländern allein auf die EZB angewiesen, kön-nen sich nicht mehr im Interbankenmarkt finanzieren.

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Das Resultat ist die Akzeptanz minderwertiger Sicher-heiten durch die EZB und für mich die Frage, wie be-herrschbar die Risiken sind, die die EZB im Rahmen ih-rer geldpolitischen Maßnahmen eingegangen ist.

Bonität Deutschlands: Wir müssen zur Kenntnis neh-men, dass die Preise für die Kreditausfallversicherungendeutscher Staatsanleihen deutlich gestiegen sind. Darinsehe ich zumindest ein Anzeichen, dass sich Deutsch-land mit weiteren Garantieübernahmen überfordernkönnte, der Garantieansatz insgesamt an seine Grenzenstößt. Das Vertrauen in die deutsche Zahlungsfähigkeitist jedoch in der gegenwärtigen Situation von zentralerBedeutung, weil Deutschland einen Großteil der Unter-stützungsleistungen für die Euro-Krisenländer aufbringt.Darauf hat auch jüngst Bundesbankpräsident Weidmannhingewiesen. Die Wahrscheinlichkeit, dass Deutschlandfür die Kreditzusagen auch tatsächlich in Haftung ge-nommen wird, ist zumindest gegeben. Wir dürfen unsereWirtschaftskraft auch nicht überschätzen.

Finalität: Die Erweiterung des deutschen Bürgschafts-rahmens für die EFSF steht in einer Reihe von zahlrei-chen Hilfsmaßnahmen für verschuldete Staaten, dessenEnde nicht absehbar ist. Bislang sind diese Maßnahmenohne nachhaltige Wirkung geblieben, die angekündigtenZiele wurden nicht erreicht, insbesondere wurde dasVertrauen der Kapitalmärkte in Griechenland nicht ge-stärkt. Ich gehe weiterhin davon aus, dass an einer Um-schuldung Griechenlands kein Weg vorbeiführt. DemArgument, mit einer EFSF plus würden Ansteckungsge-fahren vermieden, halte ich entgegen, dass neben Grie-chenland weitere Staaten in Bedrängnis gekommensind – trotz des Rettungsschirms. Lediglich der formaleZahlungsausfall Griechenlands konnte bislang verhin-dert werden, das allerdings um den Preis einer europäi-schen Haftungsgemeinschaft, exorbitanter Garantieleis-tungen und eines Glaubwürdigkeitsverlustes der EZB.

Dagegen wäre der – für mich ohnehin nicht zu ver-meidende – Haircut Griechenlands eine Alternative, dieauf dieses Land beschränkt bliebe. Irland und Portugalhaben nicht die strukturellen Probleme wie Griechenlandund können mit dem bisherigen Rettungsschirm stabili-siert werden. Richtig ist, dass Ansteckungseffekte unver-meidlich sind. Jedoch können die tatsächlichen Kostenfür beide Szenarien nicht berechnet werden, bei einer In-solvenz Griechenlands gäbe es – das ist der großeVorteil – aber immerhin einen Schlusspunkt.

Politisches Signal an die Märkte: Letztlich ist ebensoentscheidend, welches politische Signal an die Märktegesandt wird. Die Installation von EFSF und ESM istdem Grunde nach lediglich reaktiv. Der Gesetzentwurfversucht, künftige Risiken zu minimieren oder be-herrschbar zu machen. Notwendig wäre ein deutlichesproaktives Signal, das einerseits den Willen der Politikkenntlich macht, sowohl durch eine nachhaltige Etatpoli-tik in den EU-Mitgliedstaaten die Ursachen der Krise an-zugehen als auch weitergehende Maßnahmen zur Regu-lierung der Märkte umzusetzen, zu denen eineZulassungsprüfung von Finanzprodukten ebenso gehö-ren muss wie das Verbot von Produkten, die die dienendeFunktion des Bank- und Finanzsektors für die Realwirt-

schaft konterkarieren. Das Verbot von Leerverkäufenwar ein erster Schritt, dem weitere folgen müssten. Pri-mat der Politik heißt folglich: Die Politik regelt denMarkt und nicht umgekehrt!

Werner Dreibus (DIE LINKE): Ich stimme aus fol-genden Gründen gegen diesen Gesetzentwurf der Bun-desregierung:

Erstens. Die Maßnahmen greifen nicht die Krisenur-sachen an. Von der Ausweitung des Euro-Rettungsfondsprofitiert ausschließlich der Finanzmarkt. Banken undSpekulanten werden aus Steuergeldern bedient. Die Ur-sachen der Krise bleiben gleichzeitig unangetastet. DieKrisenländer werden nicht unterstützt, sondern durchfalsches Sparen weiter ausgeblutet. So wird die Krisenicht bewältigt, sondern nur weiter befeuert.

Zweitens. Die Falschen müssen zahlen. Statt ausSteuergeldern die Banken zu bedienen, sollten die Kri-senfolgen primär von denen getragen werden, die zuvorvon dem System profitierten. Ohne eine Börsenumsatz-steuer, eine EU-weite Vermögensabgabe für Superreicheund eine Beteiligung großer privater Gläubiger sind dieBelastungen und Risiken für diese Erweiterung desEuro-Rettungsschirms zutiefst ungerecht verteilt.

Drittens. Die möglicherweise enormen Aufwendun-gen sind demokratisch nicht ausreichend legitimiert.Nach dem vorliegenden Entwurf kann die Bundesregie-rung unter bestimmten Umständen die Parlamentsbetei-ligung praktisch völlig umgehen. Die Unterrichtungs-pflichten sind nicht ausreichend. Vielmehr müssen dieFinanzmärkte streng reguliert werden, die Banken müs-sen unter demokratische Kontrolle gestellt werden. Nurdurch diese Maßnahmen ist sichergestellt, dass die Steu-ergelder im Sinne der Steuerzahler verwendet werden.

Viertens. Der Schutz der großen Mehrheit der Bürge-rinnen und Bürger ist nicht ausreichend. Rentnerinnenund Rentner, Transferleistungsbeziehende und Men-schen mit kleinen oder mittleren Einkommen sind auf ei-nen handlungsfähigen Staat angewiesen. Durch die mög-lichen immensen Ausgaben im Haftungsfall droheneuropaweit ein weiterer drastischer Sozialabbau undSteuererhöhungen für niedrige und mittlere Einkommen.Heute schon verheerend sind die Auswirkungen für dieMenschen in den sogenannten Krisenländern: Massen-entlassungen, Sozialabbau, Einkommensverluste undSteuererhöhungen greifen in Griechenland bereits umsich und verstärken die Krisenfolgen noch.

Alexander Funk (CDU/CSU): Das Gesetz zur Er-weiterung der EFSF setzt den aus meiner Sicht falschenWeg der Schuldenkrisenbewältigung durch Bürgschafts-übernahmen fort. Der weiteren Erhöhung der Risiken fürunseren Haushalt, die sich durch die Anhebung des Ga-rantierahmens auf 779,8 Milliarden Euro ergeben, sowieder Abschwächung der strikten Konditionalität bei derGewährung von Kredittransfers kann ich nicht zustim-men und lehne das vorliegende Gesetz ab.

In dreifacher Weise ist die Intention der Einrichtungeines temporären Rettungsmechanismus vom 7. Mai

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2010 – vor der ich bereits damals gewarnt habe – als ge-scheitert anzusehen:

Mit der Einrichtung der Zweckgesellschaft EFSF nureinige Tage nach der Bewilligung des ersten Griechen-landpaketes in Höhe von 110 Milliarden Euro verbandsich die Hoffnung, dass durch eine Gesamtgarantie von440 Milliarden Euro seitens der Euro-Länder ein Instru-mentarium geschaffen worden sei, dass alleine durchseine Existenz die weitere Spekulation auf Zahlungsaus-fälle überschuldeter Euro-Staaten eindämmen könnteund die notwendige Zeit zu strukturellen Anpassungenund haushälterischen Sparbemühungen schenken würde.Von einer Beruhigung der Finanzmärkte kann indeskeine Rede sein, im Gegenteil: Ein Jahr später stehennicht nur Portugal und Irland vor langjährigen und tiefgreifenden Anpassungsprozessen, deren Ausgang undErfolg angesichts der weltweiten Wirtschaftssituationsowie der makroökonomischen und strukturellen Grund-lagen der Länder selbst höchst fragwürdig ist. Die Aus-weitung des Garantierahmens ist nun auch bereits vorder Zuspitzung der wirtschaftlichen Situation der Ban-ken in Frankreich, der berechtigten Herabstufung derBonität Italiens sowie den Zweifeln an einer mittelfristi-gen Verbesserung der Wirtschaftslage in Spanien zu se-hen.

Auch rächt es sich, dass seit über einem Jahr dieunvermeidbare Insolvenz Griechenlands gegen alle Rat-schläge ignoriert und durch Milliardenbürgschaften ver-schleppt wurde. Das neue Rettungspaket für Griechen-land in Höhe von 109 Milliarden Euro reduziert bereitsdas effektive Ausleihvolumen der EFSF auf circa280 Milliarden Euro. Es ist schon jetzt absehbar, dass jedeweitere und naheliegende Zuspitzung der Schuldenkrise– etwa ihre Ausweitung auf Italien, Spanien oder garFrankreich – weder durch die EFSF-Konstruktion nochüberhaupt durch eine Erhöhung des Garantierahmensdurch Länder mit AAA-Bonität zu beherrschen ist.

Überdies hegte man die Hoffnung, durch Kredittrans-fers in sogenannten Ultima-Ratio-Fällen einerseits Zeitzur Konsolidierung gewinnen zu können, andererseitsaber die notwendige Disziplinierung der Schuldenstaa-ten durch Zinsaufschläge am freien Kapitalmarkt nichtvöllig zu suspendieren. Dies ist offenkundig gescheitert,wie die neuen Instrumentarien der EFSF eindrucksvollbelegen: Jede Kompetenzerweiterung der EFSF in dervorgelegten Fassung ist dazu angetan, die disziplinie-rende Wirkung durch die Kapitalmärkte selbst weiter zuschwächen bzw. restlos auszuhebeln: Niedrigere Zins-sätze und längere Laufzeiten für GRE, POR und IRLentlasten weiter von unvermeidlichen Restrukturierun-gen der Volkswirtschaften bzw. verzögern die griechi-sche Schuldenagonie weiter. Anleihenkäufe durch dieEFSF auf dem Primär- und Sekundärmarkt entkoppelndie Kreditaufnahme der Schuldenländer nahezu beliebigvon den Bewertungen der Kapitalmärkte selbst und la-den dazu ein, die Schuldenspirale weiter zu überdehnen.Die Möglichkeit des Aufkaufs ohne vorherige Integra-tion des entsprechenden Landes in ein Hilfsprogrammführt die angestrebte Konditionalität der Hilfsmaßnah-men ebenso ad absurdum wie die Möglichkeit des prä-ventiven Gebrauchs der Mittel.

Mit diesen Instrumentarien wird nun auch offensicht-lich versucht, den Sündenfall der Degradierung der EZBzu einer Bad Bank vergessen zu machen: Die eigentlichder Geldwertstabilität verpflichtete EZB ist inzwischenmit 143 Milliarden Euro direkt in Staatsanleihen derEuro-Peripherie investiert, wobei pro Woche zwischen10 und 15 Milliarden Euro in Stabilisierungskäufe fürITA- und ESP-Bonds hinzukommen. Selbst wenn dieseökonomisch falsche Maßnahme nun seitens der ESFSfortgeführt wird, ist eine Erschöpfung des Ausleihvolu-mens innerhalb des nächsten halben Jahres absehbar.Auch vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass dereingeschlagene Weg mit hoher Wahrscheinlichkeit ent-weder zu einer Erweiterung des Garantierahmens führenmuss oder zu einer fortgesetzten Umwidmung der EZBzum Finanzierungsinstrument für die Euro-Peripherie.

Die Pervertierung ihrer eigentlichen Aufgabe und dieLeichtigkeit, mit der offensichtlich die stabilitätsorien-tierten Vertreter im EZB-Rat überstimmt werden, ohnedie nötige politische Rückendeckung zu erhalten, hat zueinem irreparablen Verlust des Vertrauens in die Unab-hängigkeit der Notenbank geführt, vor dessen Folgen ichgewarnt habe und weiter warnen werde. Ich lehne es ent-schieden ab, die Refinanzierungsprobleme einzelnerStaaten durch eine Aufhebung der Geldwertstabilität lö-sen zu wollen.

Den Vertretern unseres Landes im EZB-Rat, die sichbis zuletzt gegen die Bad-Bank-Politik gewehrt habenund verständlicherweise ihre persönlichen Konsequen-zen gezogen haben, gilt mein Respekt und mein Dankfür ihre Bereitschaft, zu ihren richtigen Überzeugungenzu stehen.

Auch mit der EFSF-Neufassung wird es nicht gelin-gen, verlorenes Vertrauen in die Schuldentragfähigkeitaller Euro-Staaten zurückzugewinnen. Zu Recht gehenInvestoren nicht davon aus, dass durch eine Mischungaus rezessiven Mitteln – massive Ausgabenkürzungenund Einnahmeerhöhungen – und Kredittransfers auchnur annähernd die zur Schuldenreduktion benötigte wirt-schaftliche Dynamik generierbar sein könnte. Diese Be-wertung teile ich uneingeschränkt.

Dieser Weg erweist sich immer deutlicher als hochriskant und zur Krisenbewältigung ungeeignet. Die vonuns immer wieder angeregten Alternativen, (Teil-)Reka-pitalisierungen von Finanzinstituten, Schuldenschnitte,direkte Verhandlungen zwischen Gläubigern undSchuldner, werden indes weiter ignoriert.

Aus diesen Gründen kann ich mich dem Mehrheitsvo-tum der Fraktion nicht anschließen.

Dr. Thomas Gebhart (CDU/CSU): Ich will deutlichmachen, dass ich hinsichtlich der Entscheidungsfindungin dieser Frage sehr mit mir gerungen habe. Warum?Aus meiner Sicht mangelt es derzeit an Klarheit darüber,in welche Richtung Europa, insbesondere die Euro-Zone, sich weiterentwickeln soll und wird. Wie wird dasEuropa von morgen aussehen? Meine Überzeugung, ins-besondere mit Blick auf die Euro-Zone, lautet: Wir brau-chen einen neuen institutionellen Rahmen. Wir müssen

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die Regelungen zur Währungsunion verändern und inOrdnung bringen. Beispielsweise brauchen wir klareStabilitätsregeln, echte und automatische Sanktionenund spürbare Konsequenzen bei Verstößen gegen dieStabilitätskriterien sowie Schuldenbremsen in den Ver-fassungen der Mitgliedsländer. Es muss klar sein: Wer zuhohe Schulden macht, kommt um Anpassungen nichtherum.

Hingegen entspricht es nicht meiner Vorstellung, dasswir für die Staatsschulden anderer Länder dauerhaft ein-stehen. Deshalb lehne ich entschieden sogenannte Euro-Bonds, das heißt die Vergemeinschaftung der Schuldenim Euro-Raum als Regelfall, ab. Wir würden permanentfür die Schulden, die andere machen, haften, ohne dasswir die Politik, die zu diesen Schulden führt, maßgeblichbeeinflussen können – dies kann auf Dauer nicht gut ge-hen. Die Menschen werden dies, so meine Einschätzung,nicht akzeptieren. Die Zustimmung der Bevölkerungzum europäischen Integrationsprojekt würde weiterschwinden, und Europa könnte am Ende großen Schadennehmen.

Bei der Abstimmung heute geht es um den temporä-ren Euro-Rettungsschirm, der ertüchtigt werden soll. Esist unabdingbar, dass die Mitgliedsländer die Zeit, die siedadurch gewinnen, nutzen, um ihre Haushalte nachhaltigzu konsolidieren. Die Zeit muss zudem genutzt werden,um in dem oben beschriebenen Sinne die Regelungenzur Währungsunion zu verbessern. Es ist zu begrüßen,und es ist notwendig, dass der Deutsche Bundestag künf-tig bei Entscheidungen über die Vergabe von Hilfen imRahmen des Rettungsschirms umfassend beteiligt wird.Hilfsmaßnahmen kann es jeweils nur mit Zustimmungdes Bundestages geben, sodass es das Parlament künftigselbst immer wieder in der Hand haben wird, zu ent-scheiden, ob sich Hilfen im konkreten Fall rechtfertigenlassen oder nicht.

Würden wir den Rettungsschirm nicht ertüchtigen, sodie Warnungen, besteht die Gefahr, dass es zu unkontrol-lierten Kettenreaktionen kommen könnte, mitunter mitder Folge erheblicher wirtschaftlicher und sozialer Ver-werfungen. Dies in Kauf zu nehmen, scheint nur schwerverantwortbar. Der ertüchtigte Rettungsschirm soll künf-tig vorübergehend gerade besser als bisher ermöglichen,im Falle kritischer Situationen einzelner Länder Anste-ckungsgefahren für die restliche Euro-Zone entgegenzu-treten.

Nimmt man all dies zusammen, komme ich in der Ab-wägung zu dem Ergebnis, dem Gesetzentwurf, trotz Be-denken, zuzustimmen. Gleichwohl erwarte ich, und ichhalte es für notwendig, dass die durch die temporärenHilfsmöglichkeiten gewonnene Zeit genutzt wird, umden Weg hin zu einer nachhaltigen Finanzpolitik in derEuro-Zone zu beschreiten und die währungspolitischenRegelungen zur Euro-Zone nachhaltig zu verbessern.

Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE): Erstens. Ich wün-sche nicht, dass Arbeitslose, Rentnerinnen und Rentner,Geringverdienende in Griechenland, möglicherweisespäter auch in Spanien, Portugal, Italien oder in andereneuropäischen Ländern für falsches Regierungshandeln

und Spekulationen zur Kasse gebeten werden. Mir istklar, dass die Millionäre in Griechenland, die keine Steu-ern zahlen, eng verbunden sind mit den Millionären undBankspekulanten in Deutschland. Ich meinerseits bineng verbunden den Menschen in Griechenland, die sichgegen diese Politik wehren.

Zweitens. Ich befürchte, dass mit einer solchen Poli-tik die Europäische Union und damit Europa immermehr in einen schlechten Ruf gerät. Mir ist es unerträg-lich, dass Rechtsextreme und Rechtspopulisten in Eu-ropa an Terrain gewinnen. Ich sage Nein zum Gesetz derBundesregierung, weil ich Ja sage zu Europa, Ja zu ei-nem anderen Europa der sozialen Gerechtigkeit und dessozialen Ausgleichs. Ja zu einer anderen EuropäischenUnion.

Drittens. Ich sage Nein zum Gesetz der Bundesregie-rung, weil die deutsche Politik durch ihren Druck auf dasLohnniveau, durch die Aufweichung sozialer Stabilität,wie es die Hartz-Gesetze deutlich gemacht haben, durcheine fast ausschließlich auf den Export orientierte Wirt-schaftspolitik den Boden für die heutigen Probleme we-sentlich mit geschaffen hat. Heute beweist sich, dass dieHaltung der PDS richtig war, die Einführung des Euroals Gemeinschaftswährung an eine Harmonisierung dereuropäischen Sozial- und Steuerpolitik zu binden.

Nicole Gohlke (DIE LINKE): Heute stimme ich ge-gen die Erweiterung des Euro-Rettungsschirms. Gerettetwerden die Banken, nicht die Menschen. Die Bankenkönnen weiter zocken, den Menschen in Griechenland,Portugal und Irland werden Sozialleistungen und Löhnegekürzt. Die Europäische Kommission erzwingt überden Rettungsschirm auch die Privatisierung öffentlichenEigentums in diesen Ländern. Gegen das Kürzungsdiktatbin ich nicht nur aus Solidarität mit den Menschen inden betroffenen Ländern, die oft ohnehin nur sehr nied-rige Löhne und Sozialleistungen bekommen. Die Kür-zungspolitik verschärft auch die Krise insgesamt. Außer-dem löst sie einen neuen Dumping-Wettbewerb inEuropa aus. Der Sozialabbau in den betroffenen Länderndroht wie ein Bumerang zu uns zurückkehren und auchbei uns Renten, Löhne usw. unter Kürzungsdruck setzen.

Die öffentlichen Schulden sind Ergebnis einer Steuer-senkungspolitik für die Reichen und der Rettungspaketefür die Banken. Öffentlichen Schulden stehen gewaltigeprivate Vermögen gegenüber, die sich in den Händenweniger konzentrieren. Die Schuldenkrise kann letztlichnur durch die Umverteilung von Reichtum gelöst werden.Die aktuelle Krise der Staatsfinanzen kommt nicht ausdem Nichts. Sie ist eine neue Phase der tiefen Weltwirt-schaftskrise, die 2008 offen ausgebrochen ist. Sie istFolge eines Wirtschaftssystems, das darauf basiert, dassdas eingesetzte Kapital sich beständig vermehrt. Serwachsende Kapitalstock stellt immer größere Profitan-sprüche an die Gesellschaft. Die Profitansprüche müssenaus der gesellschaftlichen Wertschöpfung bezahlt wer-den. Deshalb entsteht ein Konflikt zwischen den Profitan-sprüchen einerseits und den Löhnen und der Finanzie-rung öffentlicher Leistungen andererseits. Notwendig isteine Demokratisierung der Wirtschaft, damit nicht mehr

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die Profitmaximierung, sondern das AllgemeinwohlMaßstab wirtschaftlicher Entscheidungen ist.

Josef Göppel (CDU/CSU): Das Gesetz zur Ände-rung des Gesetzes zur Übernahme von Gewährleistun-gen im Rahmen eines Europäischen Stabilisierungsme-chanismus beinhaltet den dritten Rettungsschirm seit2008: Deutschland erhöht seine Garantieverpflichtungvon 123 auf 211 Milliarden Euro, ohne dass damit eineRegulierung spekulativer Finanzgeschäfte verbunden ist.

Das Marktversagen auf dem Finanzsektor ist neben dererhöhten Staatsverschuldung aber eine wesentliche Ursa-che der gegenwärtigen Krise. Der deregulierte Finanzmarktist der politischen Gestaltung entglitten. Täglich wird anden Börsen der Welt das 80-Fache des Produktionswertsaller Güter und Dienstleistungen gehandelt. Solche Sum-men können mit Steuererträgen aus der Realwirtschaftnicht mehr aufgefangen werden. Neue Anleihen für zu-sätzliche Rettungsschirme treiben vielmehr die Schul-denspirale weiter an und bieten Ansatzpunkte für neuespekulative Angriffe.

Deshalb sind weitere Rettungsschirme ohne rechtli-che Regulierung des Finanzsektors nutzlos und nichtverantwortbar. Wir brauchen eine Finanzmarktordnung,die spekulative Überhitzungen eingrenzt, hochriskanteGeschäfte verbietet und Finanzakteure zur persönlichenHaftung heranzieht. Der Finanzsektor muss seine Ret-tungsschirme in Zukunft selbst finanzieren. Die Banken-abgabe in Deutschland ist dafür ein Anfang. Der wirk-samste Schritt zur Stabilisierung des Finanzsektors istinternational die Finanztransaktionsteuer. Sie muss fürdie Euro-Zone vor weiteren Bürgschaften beschlossenwerden, damit Rettungsaktionen nicht immer wiederverpuffen.

Ich bin entschieden für unsere Gemeinschaftswäh-rung und deren Stützung. Das muss aber im Rahmen ei-ner gerechten und nachhaltigen Finanzordnung gesche-hen, die den Grundwerten der Sozialen Marktwirtschaftentspricht. Das Konzept des europäischen Stabilisie-rungsfonds bindet in großem Umfang allgemeine Steuer-mittel, die für andere öffentliche Aufgaben fehlen, undkonzentriert den Ertrag bei anonymen Finanzakteuren.Dieser ordnungspolitischen Fehlsteuerung kann ich nichtzustimmen. Die Politik muss ihre demokratische Gestal-tungshoheit zurückholen, weil Machtlosigkeit gegenüberdem Markt und die Duldung einer faktischen Nebenre-gierung letztlich das Vertrauen in die repräsentative De-mokratie zerstört.

Aus diesen Gründen lehne ich den Gesetzentwurf zurÄnderung des Gesetzes zur Übernahme von Gewährleis-tungen im Rahmen eines Europäischen Stabilisierungs-mechanismus ab.

Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): Für die Ent-wicklung der Bundesrepublik Deutschland in den ver-gangenen 60 Jahren ist die Einbindung in die westlicheWelt und nach dem Zusammenbruch des WarschauerPaktes in ein starkes Europa entscheidend gewesen. Wirhaben wirtschaftliche Prosperität, Wohlstand und auchdie deutsche Einheit erreicht, weil wir uns als verlässli-

cher Partner erwiesen haben. Diesen Weg sollteDeutschland auch in der jetzigen Krisensituation fortset-zen.

Zur Einführung des Euro wurden im Maastricht-Ver-trag Konvergenzkriterien vereinbart wie die Begrenzungder jährlichen Nettoneuverschuldung auf 3 Prozent undein Gesamtschuldenstand von 60 Prozent des Bruttoin-landsprodukts. Diese Kriterien sind nicht von allen Staa-ten eingehalten worden, auch von Deutschland nicht. Inder Folge haben sich verschiedene Länder in einer Höheverschuldet, die jetzt die Stabilität unserer Währung ge-fährdet.

Die jetzige Situation zeigt die Notwendigkeit, dieEinhaltung der Konvergenzkriterien der Länder derEuro-Zone stärker zu überwachen als bisher und gegebe-nenfalls Möglichkeiten zur Verfügung zu haben, die Ein-haltung der Kriterien auch durchzusetzen. Gestern hatdas Europaparlament bei Enthaltung von Grünen undLinken eine Verschärfung des Stabilitätspaktes beschlos-sen.

Deutschlands Volkswirtschaft ist sehr eng mit seinenNachbarn verzahnt. Eine durch die Insolvenz Griechen-lands ausgelöste Bankenkrise würde den deutschen Ex-port und die durch ihn getragenen Arbeitsplätze hart tref-fen. Daraus ergibt sich, dass Deutschland ein starkesEigeninteresse daran hat, eine Insolvenz Griechenlandszu vermeiden. Außerdem ist es wichtig, die derzeitigeVerschuldenskrise auf die tatsächlich notleidenden Staa-ten zu begrenzen. Dies ist nach meiner Einschätzung ge-lungen.

Ich werde dem Rettungsschirm zustimmen. Instru-mente wie Euro-Bonds, die Schuldnern neue Kredite zuniedrigen Zinsen verschaffen, lehne ich ab. Es dürfenverschuldeten Staaten keine Anreize für eine höhere Ver-schuldung gegeben werden. Gemeinsame Staatsanleihensind nur im Rahmen einer gemeinschaftlichen Finanz-und Wirtschaftspolitik denkbar, die es in der EU nichtgibt und auf weite Sicht nicht geben wird. Es muss ge-rade in den südeuropäischen Ländern das Verständnisdafür gestärkt werden, dass jedes Land die Mittel zu er-wirtschaften hat, die es für die Finanzierung des eigenenStaatswesens braucht. Dafür sind dort grundlegende Re-formen notwendig. Dabei sind wir in den letzten Mona-ten vorangekommen. Spanien wird zum Beispiel nachdeutschem Vorbild eine Schuldenbremse in seiner Ver-fassung verankern. Auch Griechenland hat bereits Re-formen auf den Weg gebracht.

Ich werde dem Gesetz auch deswegen zustimmen,weil es in den letzten Monaten gelungen ist, einen star-ken Parlamentsvorbehalt einzuziehen. In den 90er-Jah-ren hat die FDP darauf hingewirkt, dass Auslandsein-sätze der Bundeswehr außerhalb des Bündnisgebietesder Zustimmung des Bundestags bedürfen. Darüber wirdin namentlicher Abstimmung entschieden. Ebenso hatjetzt die FDP-Fraktion darauf hingewirkt und durchge-setzt, dass die Regierung bei allen wesentlichen denBundeshaushalt betreffenden Fragen der Euro-Stabilisie-rung das Parlament vorab beteiligt. Das ist kein formalerAkt. Der Parlamentsvorbehalt bindet die Regierung.

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Das Risiko für die deutsche Volkswirtschaft ist bei ei-ner Verweigerung der Zustimmung nach meiner Ein-schätzung deutlich größer als bei einer Zustimmung. Diegenannten Zahlen sind angsteinflößend, 211 Milliardensind fast die Hälfte des Volumens des Bundeshaushalts.Doch für eine Exportnation wie Deutschland ist die Zah-lungsfähigkeit der Kunden ein hohes Gut. Unsere Bereit-schaft zur Solidarität verbunden mit den Forderungennach Konsolidierung der Haushalte, Reformen der Ver-waltung, Privatisierungen hat in den verschuldeten Län-dern bereits Wirkung gezeigt.

Mir ist das „gemeinsame Haus Europa“ sehr wichtig.Ich habe als Schülerin bereits im ersten Jahr am deutsch-französischen Austauschprogramm teilgenommen unddieses Programm begleitete mich während der Sommer-ferien in allen weiteren Jahren auf dem Gymnasium. Ichfühle mich meiner damaligen französischen Freundinnoch immer verbunden. Mein Vater war Soldat in beidenWeltkriegen. Von ihm habe ich gelernt, dass die deutsch-französische Freundschaft ein sehr hohes Gut ist, dieÜberwindung der sogenannten Erbfeindschaft einegroße politische Leistung und ein Gewinn für die Men-schen.

Bei der Entscheidung zum vorliegenden Gesetzent-wurf sind die eventuellen Auswirkungen auf den Bun-deshaushalt wichtig. Es sind aber mindestens genausowichtig die volkswirtschaftlichen und außenpolitischenFolgen zu bedenken. In diesem Bewusstsein werde ichfür den Gesetzentwurf stimmen.

Heinz-Peter Haustein (FDP): Meine Kritik an derPolitik der Bundesregierung in der Euro-Krise ist ele-mentar. Meine Bedenken sind grundlegender Art unddurch kein einziges der Argumente der Befürworter derdiversen Hilfsprogramme und Rettungsschirme fürschwächelnde Euro-Staaten ausgeräumt.

Einzig die Gefahr, dass bei Fehlen einer eigenenMehrheit der Bundesregierung bei dem Gesetzesvorha-ben die christlich-liberale Koalition zerbrechen und nachNeuwahlen eine neue – potenziell rot-grüne – Bundesre-gierung gebildet werden könnte, die Euro-Bonds denWeg ebnet, lässt mich dem Gesetz zustimmen. DennEuro-Bonds wären ein noch größeres Übel als der erwei-terte EFSF.

Im Einzelnen:

Aus gutem Grund wurde in der Europäischen Unionvertraglich die sogenannte No-Bail-out-Klausel festge-halten, also das Verbot, dass weder die EU als Ganzesnoch einzelne Staaten für die Schulden anderer Staatenaufkommen dürfen.

Hiermit und mit den Stabilitätskriterien sollte gewähr-leistet werden, dass die Mitgliedstaaten sorgfältig haus-halten und die Staatsverschuldung nicht zu einer Staats-überschuldung wird, mithin solide Finanzpolitik denGrundstein legt für ein wirtschaftlich starkes und prospe-rierendes Europa.

Die Bundesrepublik Deutschland hat ihr Wirtschafts-wunder und den daraus resultierenden und bis heute tra-

genden Wohlstand nach der auch wirtschaftlichen„Stunde null“ nach 1945 vor allem den Prinzipien derSozialen Marktwirtschaft zu verdanken. Das wohl wich-tigste dieser Prinzipien ist der Zusammenhang zwischenRendite und Verlustrisiko. Wer das Risiko trägt, fährt zuRecht den Gewinn ein. Und wer den Gewinn erhält, er-hält ihn für ein getragenes Risiko. Diese Gesetzmäßig-keiten haben sich über Jahrzehnte in Deutschland, aberauch anderswo in der Welt mehr als bewährt. Hingegensind alle staatlichen Versuche, davon abzuweichen undmarktwirtschaftliche Prinzipien außer Kraft zu setzen,grandios gescheitert. Gerade für mich als ehemaligenDDR-Bürger ist die Soziale Marktwirtschaft daher nichtverhandelbar.

Diese beiden elementaren Grundsätze, die No-Bail-out-Klausel und der Zusammenhang zwischen Renditeund Verlustrisiko, werden mit den Milliardenhilfen fürGriechenland, Rettungsschirmen und Stabilitätsmecha-nismen ausgehebelt.

Selbstverständlich gibt es eine Solidarität innerhalbder EU. Das erkenne ich nicht nur an, sondern unter-stütze es ausdrücklich. Und selbstverständlich gibt eseine Notwendigkeit zu staatlicher Intervention bei sys-temrelevanten Gefährdungen, also solchen Schwierig-keiten Einzelner, die das ganze System gefährden. Auchdies ist selbstverständlich.

Doch beides, Solidarität und Systemgefährdung, darfnicht dazu führen, dass Grundprinzipien unserer Wirt-schaft und geltender Verträge außer Kraft gesetzt wer-den.

Das ist mit den bereits beschlossenen Maßnahmen derFall und es ist auch bei der Erweiterung des Rettungs-schirmes nun wieder der Fall.

Immer springen die wirtschaftlich starken Staaten fürdie wirtschaftlich schwachen Staaten ein. Das bedeutet,dass, wer solide gewirtschaftet, in Krisenzeiten den Kon-sum gedrosselt und sparsam gehaushaltet hat, bestraftwird und derjenige, der jahre- und teilweise jahrzehnte-lang über die eigenen Verhältnisse gelebt hat, nun inso-fern belohnt wird, als dass andere für die entstandenenSchulden wenigstens indirekt oder teilweise aufkom-men.

Dadurch geht der Leistungsanreiz verloren. Wo aberder Leistungsgedanke untergraben wird, soll Wohlstandauf Kosten der Allgemeinheit möglich sein. Das hat we-der in der DDR noch in irgendeinem anderen Land derWelt jemals funktioniert.

Wer also von marktwirtschaftlichen Grundprinzipenabweicht, muss diese Abweichung sehr gut begründen.Abweichungen können nur in absoluten Notfällen erfol-gen.

Insofern ist auch nicht derjenige unter Legitimations-zwang, der – wie ich – die Hilfsmaßnahmen ablehnt. Ge-nerell müsste die Beweislast bei den Befürwortern derAußerkraftsetzung der Marktwirtschaft liegen. Sie müs-sen alle Gegenargumente entkräften und erklären, wa-rum hier ausnahmsweise anders verfahren werden soll.

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Das können sie nicht. Denn niemand kann erklären, wel-che Risiken noch zu erwarten sind.

Alljährlich wird über den deutschen Länderfinanzaus-gleich diskutiert. Insbesondere den sogenannten Geber-ländern Bayern und Baden-Württemberg ist nicht zu ver-mitteln, warum sie dauerhaft die finanzschwachenLänder unterstützen sollen, wenn diese sich Ausgabenleisten, die im Süden Deutschlands längst eingespartworden sind. Auch dabei wird der Leistungsanreiz unter-miniert und die Soziale Marktwirtschaft ausgehebelt.

Die Aufrechterhaltung dieser Regelung ist nur damitzu erklären, dass es mehr Nehmerländer gibt als Geber-länder. Ein hinreichender Grund für den Quasiexport desdeutschen Länderfinanzausgleichs nach Europa ist esnicht.

In der Sicherheitspolitik gilt aus gutem Grund diePrämisse, dass der Staat nicht erpressbar ist. Mit Terro-risten, gleich wen sie als Geisel genommen haben oderwelches Drohpotenzial sie haben, wird nicht verhandelt.Denn jedes Entgegenkommen des Staates würde in einerArt Lerneffekt Nachahmer auf den Plan rufen. Wenn ein„Geschäftsmodell“ Erfolg verspricht, mangelt es nichtan Nachahmern. So funktionieren auch die Wirtschaftund die Finanzwelt. Wo ein Geschäftsmodell Erfolghatte, sind Nachahmer sofort zur Stelle.

Mit den Hilfsmaßnahmen ist diese Prämisse, dass derStaat nicht erpressbar ist, aufgehoben worden. Die Euro-Staaten sind erpressbar geworden. Weil alles für sys-temrelevant erklärt wird, soll immer und überall gehol-fen werden müssen. Und weil kein Fachmann die nochauf uns zukommenden Risiken benennen kann, drohteine Endlosschleife.

Die Wirtschaft ist imstande, schnell zu reagieren.Wenn sich die Situation ändert, sterben Geschäftsmo-delle in Sekunden, neue werden geboren.

Wo sich zeigt, dass Rendite entsteht, während anderedie Risiken tragen – der utopische Traum jedes Ge-schäftsmannes –, wird mehr und mehr investiert, nichtweniger, solange das Geschäftsmodell trägt. Dieser Me-chanismus wirkt bereits: Während andere unglaublicheZinsen einnehmen, tragen die wirtschaftlich gesundenEuro-Staaten die finanziellen Lasten und halten Grie-chenland künstlich am Leben.

Dieses Wirkprinzip muss zwangsläufig früher oderspäter zum Systemzusammenbruch führen, und zwar un-abhängig davon, wie viele Milliarden vorher gerade mitdem Argument der Systemerhaltung geflossen sind, weilauch die Finanzkraft der wirtschaftlich starken Ländernicht so groß sein kann wie der Renditehunger der Inves-toren.

Es kann kein Weg daran vorbeiführen, dass die insStraucheln geratenen Länder mit aller Kraft ihre Haus-aufgaben machen, ihre Haushalte konsolidieren und not-wendige Strukturreformen einleiten. Das und nur daswird die Märkte nachhaltig beruhigen und verloren ge-gangenes Vertrauen in die betroffenen Länder wiederherstellen.

Jede Stützmaßnahme nimmt Reformdruck von denbetroffenen Ländern. Das ist kontraproduktiv, weil damitder zwangsläufige Zusammenbruch hinausgezögert undder letztlich verursachte Schaden größer und größerwird, gleich Buchverlusten, die man eine Zeit lang igno-rieren, aber früher oder später realisieren muss. DerVolksmund weiß: Wer den Kopf in den Sand steckt, wirdfrüher oder später mit den Zähnen knirschen. Auch dieKanzlerin erklärt mittlerweile, dass wir uns nur immerwieder Zeit erkaufen.

Sind Staaten nicht zu den notwendigen Strukturrefor-men in der Lage, befürworte ich eine geordnete Insol-venz dieser Länder. Eine über Nothilfe hinausgehendeTransferunion kann es nicht geben.

Und dass Reformen schmerzhaft, aber möglich sind,zeigen Länder wie Irland und Portugal, die große Fort-schritte machen und insgesamt auf einem guten Wegsind, wenngleich noch eine große Strecke vor ihnenliegt.

Das alles lässt mich zu dem Schluss kommen, dassgetreu dem Motto „Lieber ein Ende mit Schrecken alsein Schrecken ohne Ende“ der Zeitpunkt überfällig ist,an dem wir die Konsequenzen tragen für das völlig ent-fesselte Schuldenmachen mancher Länder einerseits undfür den Irrsinn, dass man mit Schrottanleihen Geld ver-dienen kann. Und zwar wir alle in den Eurostaaten. DasKasino muss schließen.

Im Übrigen bin ich gewählter Abgeordneter des Deut-schen Bundestages und fühle mich daher zu allererstDeutschland verpflichtet und dann Europa.

Nur ein Szenario ist noch schrecklicher als die Vor-stellung, dass die bisherige Praxis der Finanzhilfen undRettungsschirme beibehalten wird: Die Idee, der Markt-wirtschaft mit Euro-Bonds noch schneller den Garaus zumachen. Sozialdemokraten und Grüne sind sich in demZiel der Einführung von Euro-Bonds einig. Sie wollenalso die gute Kreditwürdigkeit Deutschlands und andererwirtschaftlich und finanziell starker Länder aufgeben,um den wirtschaftlich strauchelnden Ländern mit besse-ren Kreditratings das Schuldenmachen noch zu erleich-tern. Dass damit auf Deutschland auch deutlich höhereZinsen in Milliardenhöhe zukommen würden, istzwangsläufig. Das wäre eine weitere Unterhöhlung desLeistungsgedankens, der kein Anhänger der SozialenMarktwirtschaft zustimmen kann. Und eine rot-grüneRegierung ist ein reales Szenario, wenn man aktuellenUmfragen im Falle von Neuwahlen glauben mag.

Nur diese Vorstellung lässt mich heute dem Gesetz-entwurf zustimmen, obwohl meine tiefste Überzeugungwie auch die etlicher Experten ist, dass es grundlegendfalsch ist und uns die Rechnung für diese Entscheidungin nicht allzu ferner Zukunft präsentiert wird. Leider istes dann nicht mehr nur unsere Rechnung, sondern auchdie unserer Kinder, Enkel und Urenkel.

Ich trage am heutigen Tag in Loyalität zu unseremLand und der christlich-liberalen Bundesregierung die-sen Gesetzentwurf mit, in einer der entscheidendstenFragen der deutschen Politik seit Langem und gewiss aufabsehbare Zeit. Ich trage damit die christlich-liberale

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Bundesregierung mit. Ich tue das in der Überzeugung,dass diese Regierung noch immer die viel bessere Alter-native für unser Land und seine Menschen ist als einerot-grüne „Euro-Bond-Regierung“.

Aber ich tue es auch in der Überzeugung, dass es einFehler ist, der sich rächen wird.

Dr. Matthias Heider (CDU/CSU): Ich stimme demGesetz zur Änderung des Gesetzes zur Übernahme vonGewährleistungen im Rahmen eines europäischen Stabi-lisierungsmechanismus zu.

Die gemeinsame europäische Währung ist ein Mei-lenstein der europäischen Integration. Der ErfolgDeutschlands und seiner Wirtschaft hängt entscheidendvom Euro ab, eine Rückkehr in nationale Währungen istaus heutiger Sicht nicht vorstellbar. Die Stabilisierungdes Euro liegt damit im ureigenen Interesse Deutsch-lands und seiner Europäischen Partner.

Ein umfassendes System der Stabilisierung, beste-hend aus Reduktion der Staatsverschuldung, Koordinie-rung der Wirtschaftspolitiken der EU-Mitgliedstaatenund Stabilisierung der Finanzmärkte, ist meines Erach-tens unabdingbar. Die EFSF und ihr Nachfolger, derESM, als Notfallhilfen dürfen dabei lediglich einen Teilder Gesamtstrategie bilden. Dass der Schutz des Euro-Rettungsschirms dabei nicht „kostenlos“ sein darf,wurde hinreichend erörtert und klargestellt und von mei-ner Seite als selbstverständlich vorausgesetzt.

Dennoch bin ich der Meinung, dass bestehende sowieneu einzuführende finanz- und wirtschaftspolitischeÜberwachungsinstrumente verstärkt in den Fokus desStabilisierungssystems gerückt werden müssen. Hierzuzählen insbesondere das kontinuierliche Monitoring derDefizit- und Verschuldensregeln, die Einführung schnel-ler und umfassender Sanktionen bei Nichteinhaltung derStabilitäts- und Wachstumsregeln, die Etablierung prä-ventiver nationaler Überwachungsmechanismen und dieFörderung nachhaltiger Wirtschaftsstrukturen zur Bele-bung des Wettbewerbs.

Nach meiner festen Überzeugung brauchen wir da-rüber hinaus ein Regelwerk, das vorgibt, wie die euro-päische Währungsgemeinschaft mit Euro-Mitgliedstaa-ten umgeht, die ihren Zahlungsverpflichtungendauerhaft nicht nachkommen können und damit zah-lungsunfähig sind. Daher ist dringend an einem geordne-ten Verfahren zur Wiederherstellung der Schuldentragfä-higkeit von betroffenen Mitgliedstaaten zu arbeiten. Sowie wir Unternehmen und Verbrauchern ein System dergeordneten Insolvenz an die Hand geben, müssen Insti-tutionen, Instrumente und Regeln geschaffen werden,die zahlungsunfähigen Staaten die Chance auf eine echteSanierung ermöglichen. Hierzu müssen Regelwerke ge-schaffen werden, die in verfassungs- und europarechtli-cher Abstimmung in der demokratisch dafür vorgesehe-nen Institution, dem Deutschen Bundestag debattiertwerden müssen.

Die parlamentarische Beteiligung des DeutschenBundestages und seiner Ausschüsse bleibt ein wesentli-ches Element bei der Bekämpfung der Schuldenkrise

und bei der Weiterentwicklung des Europäischen Stabili-tätsmechanismus.

Christian Hirte (CDU/CSU): Dem Gesetz, das eineAusweitung des bisherigen Rettungsschirmes vorsieht,stimme ich zu.

Dem eingeschlagenen Weg der vergangenen Monate,der mit dieser Ausweitung des Rettungsschirmes weiterbeschritten wird, stehe ich mit großer und wachsenderSkepsis gegenüber. Ich halte die abermalige Ertüchti-gung der EFSF für falsch. Immer neue Kredite helfenStaaten wie Griechenland nicht weiter. Statt konkreterHilfe, um die Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern, wer-den lediglich Gläubiger mit hohen Zinsen bedient.

Warum dennoch die Zustimmung? Die deutliche Kri-tik der vergangenen Wochen und Monate und die Ableh-nung einzelner Abgeordneter für Griechenland- und Por-tugal-Hilfen, denen ich mich angeschlossen hatte, hat zuspürbaren Verbesserungen der Bedingungen geführt. Vorallem die Beteiligungsrechte des Bundestages wurdenerheblich gestärkt. Nicht zuletzt das jüngste Urteil desBundesverfassungsgerichtes hat deutlich gemacht, dassvor konkreten Hilfen für einzelne Länder das Parlamentbefragt werden muss. Kein Geld ohne Zustimmung desBundestages. Diese Linie darf nach meiner festen Über-zeugung nie überschritten werden. Der Widerstand auchin den Reihen der Koalition hat dies ermöglicht.

Die aktuelle Diskussion über mögliche nochmaligeAusweitungen der Maßnahmen beunruhigt mich sehr.Die Zusicherung von Kanzlerin Angela Merkel, in ei-nem solchen Fall nichts ohne die Zustimmung des Bun-destages zu tun, ermöglicht für die Zukunft, immer imEinzelfall zu prüfen, was richtige Schritte sein können.Die klaren Zustimmungsrechte des Bundestages sindeine wichtige institutionelle Einschränkung des Ret-tungsschirmes.

Dem vorliegenden Gesetz stimme ich auch und vorallem zu, um die Regierung nicht zu destabilisieren. Dieparlamentarische Mehrheit bei der Abstimmung istvorab eindeutig. Die Opposition stimmt weit überwie-gend zu, stilisiert aber das Ergebnis der Stimmverteilunginnerhalb der Reihen der Koalition zu einer rein politi-schen Frage, zu einer Machtfrage. Sie möchte die Skep-sis gegenüber einer Sachfrage, bei der es um mehrerehundert Milliarden Euro geht, zu einer Personalfragemachen. Diesem Ansinnen der Opposition bin ich nichtbereit nachzugeben.

In der von Angela Merkel geführten Koalition seheich einen Garanten, eine noch größere Haftung Deutsch-lands zu verhindern. Insofern ist mein Ja auch ein Nein.Ein Nein zu den Bestrebungen der Oppositionsparteiennach völliger Vergemeinschaftung aller Schulden undder Einführung von Euro-Bonds. Es ist ein Ja zu euro-päischer Solidarität, von der auch wir profitiert haben,aber ein Nein zur Schuldenunion. Jeder Staat muss zu-nächst seine Krisen selbst bewältigen, seine Schulden-probleme selbst in den Griff bekommen. Die ausgewei-tete EFSF ändert daran nichts, sondern erhält diesenStatus. Es bleibt dadurch zum Beispiel bei jeweils eige-

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nen Zinssätzen der Staaten. Dies halte ich für unver-zichtbar, weil nur so der Druck in den jeweiligen Län-dern zur Konsolidierung und Lösung der eigenenProbleme möglich wird.

Im Hinblick auf künftige Entscheidungen und Ab-stimmungen, auch mit Blick auf den ESM, sind folgendePunkte Maßstab meiner Entscheidungen:

Ich bin für die Erhaltung des Euro. Er ist nicht nureine Errungenschaft eines geeinten Europa, sondern einegroße Hilfe für unsere exportorientierte Wirtschaft.

Stabilität der Währung ist ein Wert an sich. Sie istwohlstandsfördernd für die Bürger in Deutschland undEuropa. Eine zu hohe Staatsverschuldung ist eine Gefahrfür diese Stabilität.

Subsidiarität ist mehr als ein Füllwort für Sonntagsre-den. Europa wird nur gelingen, wenn zunächst jeder inseinem Verantwortungsbereich seine Arbeiten erledigt.Dazu gehört auch, Schulden zu machen und diese zu-rückzuzahlen.

Daher halte ich grundsätzlich eine generelle Schul-denhaftung für Staaten bzw. besonders für deren jewei-lige Gläubiger für falsch.

Eine über den nun festgelegten Rahmen hinausge-hende Verschuldungskompetenz des EFSF ist abzuleh-nen. Dem scheinbaren Vorteil der Hebelwirkung stündedie Austrocknung der regulären Kapitalmärkte für dieEuro-Staaten gegenüber.

Die jetzt erneut „gekaufte“ Zeit muss dringend ge-nutzt werden, klare Haftungsregelungen für die Gläubi-ger zu entwickeln. Der Markt, vor allem aber die Bürger,haben einen Anspruch darauf, zu wissen, woran sie sindund wann Grenzen erreicht sind. Europa droht nicht anmangelnder Solidarität zu scheitern, sondern an den ne-bulösen Unklarheiten, wohin die Kredithilfen führen.Ohne Haftungsausschluss droht ein permanentes Han-geln von Rettungsaktion zu Rettungsaktion. Damitwürde sich dauerhaft jede Regierung und Politik alsGanzes unglaubwürdig machen.

Ulla Jelpke (DIE LINKE): Gemeinsam mit meinerFraktion Die Linke lehne ich den erweiterten Euro-Ret-tungsschirm ab. Anstatt die Konsequenzen aus der ge-scheiterten neoliberalen Politik zu ziehen, wird der Kursfortgesetzt.

Während Banken und Finanzinvestoren geschütztwurden, warfen die Regierungen der Euro-Zone, EU-Kommission, Europäische Zentralbank und IWF denKrisenländern Rettungsringe aus Blei zu. In den Krisen-ländern bezahlen die Werktätigen mit Lohn- und Renten-kürzungen und dem größten Sozialabbau in der europäi-schen Nachkriegsgeschichte für die Spekulationen derPrivatbanken. In Deutschland werden die Steuerzahler inHaftung für die milliardenschweren Garantien genom-men. Diese Politik beschleunigt die Umverteilung vonunten nach oben und setzt so eine zentrale Krisenursachefort.

Die Spardiktate verhindern eine ökonomische Belebungder Krisenländer, es sind keine effektiven Maßnahmen zurÜberwindung der wirtschaftlichen Ungleichgewichte inEuro-Zone und EU vorgesehen. Rechtspopulistische undfaschistische Parteien, die die Ängste und die Wut derMenschen gegen Spardiktate in nationalistische undeuropafeindliche Propaganda kanalisieren, sind in vielenLändern auf dem Vormarsch. Das Argument der Koali-tion – auch von SPD und Grünen –, es gehe mit demRettungsschirm darum, „Europa zu retten“ ist daherschlicht falsch.

Ich habe heute gegen den erweiterten Rettungsschirmgestimmt, weil man die Krise nur lösen kann, wenn mandas Kasino schließt, wenn man die Spekulanten an dieKette legt. Die Staaten müssen sich unabhängig von denKapitalmärkten über eine Bank für öffentliche Anleihenfinanzieren können. Die Finanzmärkte müssen endlichstreng reguliert werden. Die Banken gehören unter öf-fentliche Kontrolle durch Verstaatlichung. Und die Ver-ursacher und Profiteure der Krise müssen zur Kasse ge-beten werden: Durch eine EU-weite Vermögensabgabefür Superreiche, durch eine Finanztransaktionsteuer unddurch eine Beteiligung großer privater Gläubiger.

Katja Kipping (DIE LINKE): Ein geeintes Europa istals Vision nur vorstellbar als ein solidarisches Europa.Das, was in den vergangenen Wochen als Euro-Ret-tungsschirm diskutiert wurde und nun vom Bundestagbeschlossen werden soll, hat mit Solidarität nichts zutun. Mitgliedsländern brutale Sparprogramme als Ge-genleistung für Finanzhilfen abzuverlangen, verschärftderen Krise, anstatt sie zu lindern. Die Folge sind Entlas-sungen, Rentenkürzungen, Kürzungen im Sozialbereichund damit das Bedienen der Abwärtsspirale der Binnen-konjunktur. Reagierte die Bundesregierung mit demKonjunkturpaket und der Abwrackprämie im Jahr 2010selbst noch streng antizyklisch, möchte sie nun anderenLändern das Gegenteil verordnen. Um Hilfe geht es hiernicht – es geht einzig und allein um die Geschäfte deut-scher Banken und der deutschen Wirtschaft.

Die deutsche Politik deckt die Risiken deutscher Ban-ken und deutscher Rüstungskonzerne auf Kosten derSteuerzahlerinnen und Steuerzahler – auf diesen Satz lässtsich das, was als Rettungsschirm wirklich ist, ganz ein-fach reduzieren. Mit keinem Wort erwähnt die Bundesre-gierung die Waffengeschäfte mit Griechenland – Verträge,bei denen es um Milliarden geht –: Panzer, U-Boote,Kampfflugzeuge. Einzig und allein die „gierigen“ Früh-rentnerinnen und Frührentner sowie die kleinen Beamte-ninnen und Beamten sollen schuld sein an der Misere derStaatsfinanzen eines Landes, das pro Kopf, auf die Ein-wohnerzahl gerechnet, die größte Armee Europas hat.Über 50 Milliarden Euro hat sich Griechenland die Mo-dernisierung seiner Armee in den letzten zehn Jahren kos-ten lassen – und Deutschland war und ist dick im Ge-schäft.

Von den Finanzjongleuren und Krisengewinnlern, dieauf die die Pleite ganzer Staaten wetten, ist bei den Be-dingungen für den Rettungsschirm ebenso wenig dieRede. Wer die europäischen Superreichen, deren Vermö-

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gen sich auf etwa 10 Billionen Dollar beläuft, nicht zurKasse bittet, um den Schaden, den sie mit angerichtet ha-ben, zu beheben, vergibt die Chance auf Veränderung.Ich kann im „Euro-Rettungsschirm“, so wie er ist, kei-nen Sinn erkennen, der mehr als der Egoismus dererwäre, die diese Zustände herbeigeführt haben. Deshalbstimme ich dagegen – für ein gerechtes, friedliches undsolidarisches Europa!

Harald Koch (DIE LINKE): Ich habe heute gegenden erweiterten Rettungsschirm gestimmt, weil ich Ja zueinem sozialen und solidarischen Europa sage.

Die Euro-Krise ist nur zu lösen, wenn man dasZockerkasino schließt, wenn man die Spekulanten unddie staatlich gedeckte Finanzmafia an die Kette legt. DieStaaten müssen sich unabhängig von den Kapitalmärk-ten finanzieren können, über eine Bank für öffentlicheAnleihen. Die Finanzmärkte müssen endlich streng re-guliert werden, schädliche Finanzprodukte sind zu ver-bieten, und Banken gehören unter öffentliche Kontrolle.Verursacher und Profiteure der Krise muss man stattdes-sen zur Kasse bitten: durch eine EU-weite Vermögensab-gabe für Reiche und Superreiche, durch eine Finanz-transaktionsteuer und durch eine Beteiligung großerprivater Gläubiger. Den Ländern, die Gelder aus demRettungsfonds erhalten, wird in Wirklichkeit ein Ret-tungsring aus Blei zugeworfen. Die ökonomisch unsin-nigen und sozial ungerechten Kürzungsprogramme trei-ben diese Länder in die Rezession.

Fest steht: Die Krise kann und darf nicht auf dem Rü-cken der Beschäftigten und sozial Benachteiligten Euro-pas gelöst werden.

Manfred Kolbe (CDU/CSU): Ich stimme heute gegendas Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Übernahmevon Gewährleistungen im Rahmen eines europäischenStabilisierungsmechanismus auf Bundestagsdrucksache17/6916, weil die bisherige Rettungsschirmpolitik nichtfunktioniert hat. Im Monatsrhythmus beschließen wirneue Rettungsschirme, garantieren Hunderte von Mil-liarden, und Griechenland geht es dennoch immerschlechter. Tatsächlich finanzieren wir mit den Rettungs-schirmen die hohen Zinsen an Banken und Hedgefonds,nicht aber Griechenland. Für Griechenland brauchen wireine Umschuldung, das heißt, die Gläubigerbanken müs-sen auf mindestens 50 Prozent ihrer Forderungen ver-zichten, damit das Land wieder eine echte Chance hat.

Wir brauchen in Europa eine Politik der finanziellenEigenverantwortung und keine Anleiheankäufe durchdie EZB oder gar Euro-Bonds, für die alle gesamtschuld-nerisch haften. Das einziger wirksame Druckmittel,überschuldete Staaten zur Konsolidierung zu zwingen,sind steigende Marktzinsen, wie bei Berlusconi jüngsterlebt. Eine gesamtschuldnerische Schuldenhaftung gibtes nicht einmal unter den Bundesländern, den Kommu-nen eines Landkreises oder Geschwistern. Nur ein finan-ziell solides Europa kann in der Welt mitreden.

Meiner Meinung nach stärken Neinstimmen aus derCDU die Bundeskanzlerin. Ihre internationale Verhand-lungsposition hat sich, sowohl aufgrund des ihren Spiel-

raum einengenden Urteils des Bundesverfassungsgerich-tes als auch durch den Widerstand im DeutschenBundestag verbessert. Vor Ort ist es wichtig, dass dieBürgerinnen und Bürger sehen, dass die CDU zwar soli-darisch hilft, aber klare Gegenleistungen fordert undeine uferlose Verschuldung nicht zulässt.

Gunther Krichbaum (CDU/CSU): Durch die heu-tige Änderung des StabMechG werden die Beteiligungs-rechte des Deutschen Bundestages bei den Maßnahmenzur Euro-Stabilisierung deutlich ausgeweitet. Dies istuneingeschränkt zu begrüßen. Insbesondere ist hervor-zuheben, dass die Bundesregierung Beschlüssen, durchdie die haushaltspolitische Gesamtverantwortung be-rührt wird, nur nach einem positiven Votum des Deut-schen Bundestages zustimmen darf.

Die Struktur der gefundenen Beteiligung kann aller-dings nicht zufriedenstellen. Zum einen ist es unbefriedi-gend, dass sich das nach § 3 Abs. 3 StabMechG zu bil-dende Gremium zur Beschlussfassung in eilbedürftigenoder vertraulichen Fällen ausschließlich aus Mitgliederndes Haushaltsausschusses zusammensetzt. Hier wäre einbreiter aufgestelltes Gremium wünschenswert gewesen.

Zum anderen hätte eine Aufnahme des bewährten In-struments der Mitberatung durch weitere Ausschüsse desDeutschen Bundestages in § 4 StabMechG die Möglich-keit geboten, die fachliche Expertise des gesamten Hau-ses einzubinden.

Daher darf die jetzt gefundene Regelung kein Präju-diz für die Beteiligungsstruktur des Deutschen Bundes-tages im Zustimmungsgesetz für den dauerhaften Stabi-lisierungsmechanismus ESM sein.

Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP): Die Ausmaßeder Schuldenkrise sind immens. Der Euro-Raum istdurch einige Mitgliedstaaten in eine bedrohliche Schief-lage geraten. Daran hat Deutschland unter der damaligenRegierung aus SPD und Grünen erheblichen Anteil,wenn sie nicht gar eine wesentliche Ursache für die Pro-bleme sind. Es rächt sich bitterböse, dass die RegierungSchröder/Fischer in unverantwortlicher Weise denMaastricht-Vertrag aufweichte und Griechenland denWeg in den Euro frei machte.

Es ist erschütternd, dass erst 2010, ein halbes Jahrnach dem Regierungswechsel, das dramatische Ausmaßin Griechenland bekannt wurde. Die Frage stellt sich,warum frühere Bundesfinanzminister über die Vorgängeund Zustände nicht informiert waren oder – viel wahr-scheinlicher – die Öffentlichkeit bzw. das Parlamentnicht informiert haben. Es ist schwer nachvollziehbar,warum die Bundesfinanzminister Hans Eichel und PeerSteinbrück entweder kein Wissen über die Zahlungs-schwierigkeiten hatten oder vielmehr ihr Wissen der Öf-fentlichkeit vorenthielten.

Nicht nur die Ursachen der jetzigen Krise gehen zueinem gehörigen Teil auf das Konto von SPD und Grü-nen, sondern auch die verschleppte und vernachlässigtePrüfung seit der Griechenland-Aufnahme in den Euro-Raum. Es ist unerhört, dass die Schuld, die die damals

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Verantwortlichen auf sich geladen haben, nunmehr nach-folgende Abgeordnetengenerationen abzutragen haben.Geradezu unappetitlich ist es, wenn die damals Verant-wortlichen heute meinen, oberkluge Hinweise und wohl-feile Kritiken von sich geben zu müssen.

Ich persönlich bin außerordentlich unzufrieden da-rüber, dass wir nicht nur zur Lösung von Problemen bei-tragen müssen, die durch falsches politisches Handeln,das meinen politischen Überzeugungen widerspricht,entstanden sind, sondern dafür auch noch von den Verur-sachern dieser Krise regelrecht beschimpft werden.Diese dramatische und sich stets verschärfende Situationwurde – grob ausgedrückt – durch Ausgabenwollust undunzureichende Einnahmeerhebung politisch Agierenderhervorgerufen.

Die eigene Schuld verdrängen SPD und Grüne undwollen nunmehr mit Maßnahmen der Schuldenkrise be-gegnen, die diese Krise erst verursachten. Wäre es nachRot-Grün gegangen, hätte Deutschland seit 2010 im-mense Programme aufgelegt und Gelder zur Verfügunggestellt. Diese Gelder wären nicht zur Stabilisierung derWährung oder zur Sanierung der Haushalte genutzt wor-den, sondern in erster Linie zur Finanzierung der poli-tisch Regierenden aufgebracht worden. Damit hätte sichdie Schuldenkrise durch diese rot-grünen Vorstellungenvon Anfang an immens vergrößert.

Die schwarz-gelbe Koalition muss nun vor allem Ver-trauen herstellen, das durch die Schulden verloren ging.Dabei gibt es aus meiner Sicht Zweifel, ob dies durch diebisherigen Maßnahmen gelingen kann. Hilfen für andereEuro-Staaten gehören nicht zu den Kernaufgaben imEuro-Raum. Die Risiken gerade für Deutschland undden deutschen Steuerzahler sind erheblich. Eine geord-nete Insolvenz Griechenlands halte ich nach wie vor füreinen Weg, der nicht ausgeschlossen werden darf.

Fraglich ist für mich, ob unter den vorgegebenen Be-dingungen die Höhe des EFSF-Schirms bewusst ausge-reizt wird oder für die EFSF gar die Möglichkeit besteht,sich selbst – entgegen seinem eigentlichen Auftrag undSinn – eigenständig weitere Finanzmittel zu akquirieren.So befürchte ich, dass der Fonds angekaufte Anleihenals Sicherheit zum Beispiel bei der EZB hinterlegt, umsich weitere Mittel zu beschaffen. Dies könnte meinerAuffassung nach zu einer Kreditblase mit erheblichenFolgen führen.

Ich habe Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble inder Fraktionssitzung der FDP am 26. September 2011explizit auf den Umstand der Beleihung von Anleihenaufmerksam gemacht und darauf hingewiesen, dassdiese mögliche zusätzliche, aber sehr riskante Einnah-mequelle weder Sinn der EFSF noch Wille der Gesetz-geber sein kann. Finanzminister Schäuble hat erklärt,dass dieser Fall durch die Guidelines geklärt werde. Au-ßerdem werde es ausdrücklich keinen Hebel oder einensogenannten Leverage geben. Auf diese Aussagen ver-traue ich.

Nach Durchsicht der rar gesäten Vorschläge der Op-position und mit Blick auf die sonstigen dargebotenenVerfahrensvorschläge muss ich als Parlamentarier nach

möglichst bestem Wissen und Gewissen abwägen undentscheiden. Diese Entscheidung fällt ohnehin schwer.

Inzwischen hat sich allerdings eine öffentliche Mei-nung aufgebaut, die durch effekthaschende Oppositions-führer und darauf abzielende Medien derart befeuertwurde, dass die eigentliche Sachfrage zunehmend in denHintergrund rückt und es immer schwerer geworden ist,sachliche Antworten zu geben. Auf der anderen Seitewird vielmehr die Koalition auf den Prüfstand gestellt.Aus meiner Sicht ist es wichtig, dass diese Koalition inder Lage ist, Deutschland zu regieren und eben nicht wieunter Rot-Grün in Sachfragen in inflationärer Weise mitVertrauensfragen zu verbinden.

Insbesondere die Erwartungshaltung und der öffentli-che Druck der Opposition sowie die dies verstärkendeMedien sorgten dafür, dass ein Zerrbild aufgebautwurde: Die EFSF-Entscheidung gilt nunmehr als Quasi-Vertrauensfrage – was an sich unfassbar ist – bzw. alsBewährungsprobe für Schwarz-Gelb. Diese Situationmacht es mir als Parlamentarier unmöglich, ausschließ-lich in der Sache abzustimmen.

All dies muss ich berücksichtigen und in mein Ab-stimmungsverhalten einfließen lassen. Globale Um-stände, öffentliche Haltung, das geschlossene Vorgehender Koalition sowie das in der Sache zu berücksichti-gende Wissen und Gewissen müssen in ein Verhältnisgesetzt werden. In dieser Abwägung habe ich der EFSFmeine Zustimmung erteilt.

Ralph Lenkert (DIE LINKE): Die Ausweitung desEuro-Rettungsschirms treibt die Spaltung Europas vo-ran!

Meine Fraktion, Die Linke, und ich lehnen die Aufsto-ckung und Ausweitung der Europäischen Finanzstabili-sierungsfazilität, EFSF, ab, denn damit wird ein geschei-tertes Krisenmanagement fortgesetzt, das die soziale undwirtschaftliche Spaltung der Euro-Zone und der EU wei-ter vertieft.

Die bisherige Euro-Rettung hat die Ausweitung derKrise nicht verhindert, im Gegenteil: Während Bankenund Finanzinvestoren geschützt und die Ursachen derKrise ausgeblendet wurden, zwingen die „Rettungs-ringe“ von Ländern der Euro-Zone, EU-Kommission,Europäischer Zentralbank und IWF die Krisenländer zuBoden. Die an die Hilfskredite aus dem Rettungsschirmgeknüpften radikalen Kürzungsauflagen würgten dieBinnenkonjunktur der Krisenländer ab, verhinderteneine Erholung der Wirtschaft und verschärften durchwegbrechende Einnahmen die Schuldenkrise. Zu einerBeruhigung der Finanzmärkte reichten die Maßnahmennicht, es wird weiter gegen angeschlagene Euro-Staatenspekuliert. Bereits jetzt gehen Fachleute und Finanz-marktakteure davon aus, dass auch die aufgestockteEFSF nicht ausreichen wird.

Die Linke lehnt den erweiterten Euro-Rettungsschirmab, denn der gescheiterte Kurs wird fortgesetzt. In denKrisenländern bezahlen Arbeitnehmerinnen und Arbeit-nehmer, Rentnerinnen und Rentner, Schülerinnen, Schü-ler, Studentinnen und Studenten mit Lohn- und Renten-

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kürzungen, dem größten Sozialabbau der europäischenNachkriegsgeschichte und dem Zusammenstreichen derBildungsausgaben dafür, dass private Banken weiterspekulieren können. In Deutschland wird die gesamteBevölkerung in Haftung für die milliardenschweren Ga-rantien genommen. Solange die Finanzmärkte nichtstrikt reguliert, die Großbanken vergesellschaftet und dieStaatsfinanzierung nicht von den Kapitalmärkten abge-koppelt werden, ist die Krise nicht unter Kontrolle zubringen.

Die EFSF-Politik ist ungerecht, weil sie die Umver-teilung von unten nach oben beschleunigt und so einezentrale Krisenursache fortschreibt. Sie ist ökonomischgefährlich, weil die Spardiktate eine ökonomische Bele-bung der Krisenländer verhindern und keine effektivenMaßnahmen zur Überwindung der wirtschaftlichen Un-gleichgewichte in Euro-Zone und EU vorgesehen sind.Sie gefährdet zudem zunehmend die europäische Inte-gration: Rechtspopulistische Parteien, die die Ängsteund die Wut der Menschen gegen Spardiktate in europa-feindliche und nationalistische Propaganda kanalisieren,sind in vielen Ländern auf dem Vormarsch. Das Argu-ment von Union, FDP, SPD und Grünen, es gehe mitdem Rettungsschirm darum, Europa zu retten, ist fürmich falsch.

Das europäische Projekt hat nur dann eine Zukunft,wenn es sozial gerecht, wirtschaftlich vernünftig und de-mokratisch gestaltet wird. Da die Euro-Rettung in genaudie entgegengesetzte Richtung weist, kann ich der EFSFnicht zustimmen.

Dr. Carsten Linnemann (CDU/CSU): Der erwei-terte Rettungsschirm EFSF trägt nicht zur Beseitigungder aktuellen Staatsschuldenkrise oder zur Verhinderungkünftiger Schuldenkrisen bei. Durch den Rettungsschirmdrohen die Schulden vielmehr vergemeinschaftet zuwerden. Dann haben wir die Haftungsunion, die wir niehaben wollten. Aus diesem Grunde kann ich dem vorlie-genden Gesetz nicht zustimmen.

Unbestritten ist, dass Deutschland als Exportnationganz besonders vom Euro profitiert. Unbestritten istauch, dass der Euro nur in einer Stabilitätsunion eine er-folgreiche Zukunft haben kann und nicht in einer Schul-denunion. Daher haben bereits die Gründerväter desEuro wichtige Instrumente zur Errichtung einer Stabili-tätskultur geschaffen: die Europäische Zentralbank zurSicherung der Geldwertstabilität, den Stabilitäts- undWachstumspakt zur Sicherung solider Staatshaushaltesowie die sogenannte No-Bail-out-Klausel, die sichernsollte, dass kein Staat für die Schulden eines anderenEU-Mitgliedstaates haften oder aufkommen muss. Ge-gen alle drei Grundsätze ist mittlerweile verstoßen wor-den. Die Folge ist, dass Europa heute in einer tiefen undstrukturellen Staatsschuldenkrise steckt. Die Krisenursa-che ist daher mitnichten das Scheitern der Idee einer Eu-ropäischen Währungsunion, sondern das konsequenteIgnorieren der Regeln.

Angesichts dieses Befundes kann es grundsätzlich nureinen glaubwürdigen Ausweg aus der Staatsschulden-krise geben: Man greift den Kerngedanken des ursprüng-

lichen Regelwerks wieder auf, indem man zukünftigVerstöße gegen die Stabilitätsziele automatisch ahndetund das Prinzip des Haftungsausschlusses konsequentanwendet. Nur mithilfe dieser klaren Perspektive kannman Staaten zu verlässlichen und nachhaltigen Haushal-ten disziplinieren.

Daher unterstütze ich die derzeit zur Verschärfung derStabilitätsverpflichtungen diskutierten Durchgriffs-rechte voll und ganz. Zu diesen gehört beispielsweise,dass Parlamente im Falle von massiven Regelverstößenihre fiskalpolitische Souveränität einbüßen oder sogarganz verlieren. Diese Regelung bedarf freilich vertragli-cher Änderungen. Die Erfahrung zeigt, dass solche ver-traglichen Änderungen nur schwer durchsetzbar sind. Esbedarf besonderer Umstände, die einen Handlungsdruckerzeugen. Die entscheidende Frage ist nun, ob nach Er-weiterung des Rettungsschirms EFSF, der in den ständi-gen Rettungsmechanismus ESM – Europäischer Stabili-tätsmechanismus – übergehen soll, überhaupt nochHandlungsdruck vorhanden ist. Ich meine, nein.

Des Weiteren krankt der Rettungsschirm EFSF daran,dass er kein überzeugendes Anreizsystem zur Schulden-vermeidung bietet. Schlimmer noch: Der Rettungs-schirm EFSF erlaubt es, dass künftig marode Staatsan-leihen angekauft werden können. Der Ankauf vonStaatsanleihen aber kommt einer Zinssubvention gleichund verhindert dadurch, dass der Markt für Staatsanlei-hen die Staaten mit hoher Verschuldung durch eine effi-ziente Preissetzung zügelt. Gerade ein hoher Anleihezinswürde Staaten zu Reaktionen zwingen. Damit ist einzentraler Hebel zur Disziplinierung von Staaten außerKraft gesetzt.

Kurzum: Der erweiterte Rettungsschirm wird wederdas Verschuldungsproblem in Europa noch das Zah-lungsbilanzdefizit der Peripheriestaaten oder deren feh-lende Wettbewerbsfähigkeit lösen. Meine Sorge ist, dassdas Schuldenproblem einzelner Staaten auf ganz Europaübergreifen könnte und damit das Projekt Euro insge-samt gefährdet wird.

Ulla Lötzer (DIE LINKE): Ich stimme gegen den er-weiterten Euro-Rettungsschirm, weil nicht die Krisen-verursacher, die Finanzmarktakteure und Vermögendenfür die Kosten der Krise herangezogen werden, sonderndie Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die Arbeitslo-sen, die Rentnerinnen und Rentner, hier wie auch inGriechenland. Stattdessen wäre eine europaweite Ver-mögensabgabe und eine gerechte Besteuerung von Ver-mögen und Kapitaleinkünften zwingend.

Die Sparauflagen für die südeuropäischen Schuldner-staaten verschärfen die wirtschaftliche Krise in den Län-dern und führen die Staaten tiefer in die Schuldenkrise.Mit den Delegierten des Gewerkschaftstages von Verditrete ich daher für ein sofortiges Ende der ökonomischund sozial schädlichen Sparpolitik in den Schuldnerlän-dern ein.

Die europäischen Regierungen und die EU unterwer-fen alle Länder nach wie vor dem Diktat der Finanz-marktakteure, statt sie endlich zu regulieren. Eine euro-

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päische Finanztransaktionsteuer kann nur der ersteSchritt sein.

Ich stimme gegen den erweiterten Rettungsschirm,weil ich für Europa bin.

Statt Sparprogrammen ist ein europäisches Zukunfts-programm zur Sicherung von Beschäftigung und sozia-ler Gerechtigkeit erforderlich.

Nur mit gleichen und gerechten Bedingungen fürWirtschafts-, Steuer- und Sozialpolitik ist Europa vorden Banken und Hedgefonds noch zu retten.

Dorothee Menzner (DIE LINKE): Ich stimme demGesetz zur Änderung des Gesetzes zur Übernahme vonGewährleistungen im Rahmen eines europäischen Stabi-lisierungsmechanismus, EFSF, aus folgenden Gründennicht zu:

Eine weitere Aufstockung der Mittel des Euro-Ret-tungsschirmes ohne eine wirksame Regulierung der Fi-nanzmärkte, die Heranziehung der Riesenvermögen zurSchuldentilgung sowie eine konstruktive Unterstützungfür die wirtschaftliche Entwicklung in Griechenland undanderen betroffenen Ländern ist ein Doktern am Systemohne Bekämpfung der Ursachen. Es werden keine Kon-sequenzen aus der gescheiterten Politik gezogen.

Die an die Hilfskredite aus dem Rettungsschirm ge-knüpften Auflagen radikaler Kürzungen würgen in denKrisenländern die Binnenkonjunktur weiter ab, verhin-dern eine nachhaltige Entwicklung und Erholung derWirtschaft und verschärfen somit die Schuldenkrise. Inden Krisenländern bezahlen die Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmer, die Rentnerinnen und Rentner, Studentin-nen und Studenten und andere Gruppen der ganz norma-len Bevölkerung mit Lohn- und Rentenkürzungen, Ent-lassungen und dem größten Sozialabbau der europäischenNachkriegsgeschichte, während die Reichen und Super-reichen, die Banken und Profiteure der ökonomischenEntwicklung der letzten Jahre und Jahrzehnte ein weiteresMal ungeschoren davonkommen.

In Deutschland werden im Haftungsfall ebenfalls dieSteuerzahlerinnen und Steuerzahler und nicht die Profi-teure des Kasinos die Zeche für eine Veranstaltung zah-len, an der sie nie teilgenommen haben. Die Risikenwerden mittlerweile selbst von der Deutschen Bank aufüber 400 Milliarden beziffert, die im Haftungsfall überlange Jahre die Bürgerinnen und Bürger immens belas-ten werden. Im Zusammenhang mit Bankenhilfe ohneGegenleistung, Sozialkürzungen und Demokratieabbauist dies für mich nicht zu verantworten.

Die europäische Integration der letzten Jahrzehnte,die Voraussetzung für Frieden unter den Ländern Euro-pas, wirtschaftliche Entwicklung und die Entwicklungsozialstaatlicher Mechanismen in seinen Ländern war,wird mit dieser Art der vermeintlichen Stabilisierungaufs Spiel gesetzt. Europa ist mehr als eine gemeinsameWährung. Gerade in der Krise dürfen soziale Standardsund Sicherheit für alle Bürgerinnen und Bürger Europas,demokratische Mechanismen und Teilhabe aller nichtzur Disposition stehen. Ich verwahre mich gegen alle

Ansätze, die Ängste von Bürgerinnen und Bürgern schü-ren und nationalistisches Denken befördern können. Siestehen einer zukunftsfähigen Entwicklung Europas ent-gegen. Ein Europa der Menschen ist notwendiges Zielund nicht ein Europa, das sich nach den Interessen derKonzerne, Banken und Ratingagenturen entwickelt.

Cornelia Möhring (DIE LINKE): Ich stimme heutegegen die Ausweitung und Aufstockung des Euro-Ret-tungsschirms, weil ich Ja zu einem solidarischen Europasage. Dieser Rettungsschirm, über den wir heute abstim-men, verhindert ein solches Europa. Er rettet weder denEuro noch die EU oder gar die Menschen in Griechen-land – er rettet in Wahrheit nur die Banken und Speku-lanten.

Statt die Gewinner der Krise für die Folgen ihrer ver-antwortungslosen Gier zur Kasse zu bitten, soll die Be-völkerung in Europa zahlen: In der Bundesrepublikkommen die Milliarden Euro für den Rettungsschirm ausSteuergeldern. In Griechenland, Irland und Portugal be-zahlen die Studierenden, Angestellten und Rentnerinnenund Rentner durch Massenentlassungen, Rentenkürzun-gen und andere sozial verheerende und volkswirtschaft-lich völlig unsinnige Kürzungsprogramme.

Zu einer solchen Politik der Entlastung von Bankenund Spekulanten und der Belastung der Bevölkerungsage ich Nein. Ich will, dass die Verursacher und Profi-teure der Krise zur Kasse gebeten werden. Wir braucheneine Finanztransaktionsteuer, eine europaweite Vermö-gensabgabe und eine wirkliche Bankenabgabe.

Statt den Finanzjongleuren weitere Milliarden für ihreSpekulationen in den Rachen zu werfen, sollte die Bun-desrepublik an den Ursachen der Krise ansetzen.

Die Europäische Union kann nur gerettet werden,wenn sie endlich zu einer wirklichen Sozialunion wird,deren Ziel die Verbesserung der Lage der Beschäftigtenund der Armen in allen Ländern der Gemeinschaft ist.

Zusammen mit meiner Fraktion fordere ich deshalb:Weg mit Hartz IV und her mit dem flächendeckendengesetzlichen Mindestlohn. Wir brauchen ein EU-weitesInvestitionsprogramm und eine stärkere, sozial ausge-richtete Politikkoordination, um den sozial-ökologischenUmbau in der EU voranzutreiben.

Ich sage heute Nein zu einem Europa der Banken undMillionäre und Ja zu einem Europa der Millionen.

Niema Movassat (DIE LINKE): Ich stimme aus fol-genden Gründen gegen den Gesetzentwurf zur Erweite-rung der EFSF.

Erstens. Die EFSF ist im Ergebnis eine Unterstützungder Banken, der Finanzinstitute, der Spekulanten, derReichen und der Superreichen. Im Haftungsfall werdendie entstehenden Lasten aber von der großen Mehrheitder Steuerzahlerinnen und Steuerzahler getragen. Zu be-fürchten ist auch eine Kürzung von Renten und anderenSozialleistungen. Die Bundesregierung ist auch nicht be-reit, für die gegenwärtigen Sozialstandards eine Garan-tieerklärung abzugeben.

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Zweitens. Den Menschen in den Ländern, die Mittelvon der EFSF erhalten, wird nicht geholfen: Die diesenLändern aufgegebenen strengen Sparauflagen treffendort vor allem die Geringverdiener, die Arbeitnehmerin-nen und Arbeitnehmer und die Rentnerinnen und Rent-ner. Die Binnennachfrage bricht ein, Wirtschaftswachs-tum und Steuereinnahmen sinken. Die Fähigkeit zurRückzahlung der gewährten Kredite wird immer weitereingeschränkt. Das zeigt die Entwicklung in Griechen-land.

Drittens. Die demokratische Kontrolle des Bundes-haushalts durch das Parlament wird mit dem Änderungs-gesetz ausgehöhlt. Die Unterrichtung des Haushaltsaus-schusses ersetzt die parlamentarische Beteiligung nicht.Mit der EFSF findet eine Unterordnung demokratischerVerfassungsprinzipien unter das Diktat der Finanzmärktestatt.

Es braucht einen völlig anderen politischen Weg zurLösung der Krise: Notwendig ist eine strikte Regulie-rung der Finanzmärkte und eine Vergesellschaftung derprivaten Banken. Die Riesenvermögen in der EU, die inetwa den gesamten Staatsschulden in der EU entspre-chen, müssen für die Schuldentilgung herangezogenwerden. Es braucht eine konstruktive Unterstützung fürdie wirtschaftliche Entwicklung in Griechenland und an-deren betroffenen Ländern. Dazu gehört auch, dassDeutschland durch nachhaltige Lohnerhöhungen, unteranderem durch Einführung eines gesetzlichen, flächen-deckenden Mindestlohns, die eigene Binnennachfragestärkt und so Exportüberschüsse, die Teil der Ursachenfür die Krise in Europa sind, abbaut.

Zuletzt möchte ich sagen, dass der Widerstand dergriechischen Bevölkerung gegen die soziale Barbareiund wirtschaftliche Unvernunft meine Solidarität hat.

Jan Mücke (FDP): Der Haushaltsausschuss hat inseiner Beschlussempfehlung vom 22. September 2011– Drucksache 17/7067 – den Mitgliedern des DeutschenBundestages empfohlen, den Antrag der FraktionenCDU/CSU und FDP „Entwurf eines Gesetzes zur Ände-rung des Gesetzes zur Übernahme von Gewährleistun-gen im Rahmen eines europäischen Stabilisierungsme-chanismus“ – Drucksache 17/6916 – in geänderterFassung anzunehmen. Ich folge dieser Empfehlung.

Meine Zustimmung zur vorgenannten Beschlussemp-fehlung verknüpfe ich mit folgender persönlicher Erklä-rung:

Die Ertüchtigung und Flexibilisierung der Europäi-schen Finanzstabilisierungsfazilität – EFSF – ist zwarnotwendig, um die konkrete Gefahr einer ungeordnetenInsolvenz Griechenlands und die möglichen Zuspitzun-gen von Zahlungsschwierigkeiten auch anderer Krisen-länder ohne weitere Anleihekäufe durch die EuropäischeZentralbank – EZB – zu gewährleisten. Diese Befugnis-erweiterung reicht aber nicht aus, um die Krise dauerhafteinzudämmen.

Die Unabhängigkeit der EZB ist gegeben. Dennochkam es – und kommt es noch immer – zu Anleihekäufendurch die EZB, die dadurch bereits beträchtliche Risiken

in ihre Bücher genommen hat. Es ist sehr zweifelhaft, obdie EZB dafür die notwendige Legitimation besitzt, daletztlich die einzelnen Nationalstaaten entsprechend ih-rer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit dafür haften. DieGefahr besteht, dass die EZB auch nach Ertüchtigungder EFSF an ihrer Politik festhält und dass sich dieserordnungspolitische Sündenfall insbesondere auf KostenDeutschlands perpetuiert. Daher ist es zwingend not-wendig, der EZB die Grundlage für weitere Anleihe-käufe zu entziehen, ohne ihre Unabhängigkeit anzutas-ten. Dies sollte durch zweierlei Maßnahmen geschehen:

Die Zielformulierung der Zentralbankpolitik musssich ausschließlich auf die Gewährleistung der Preissta-bilität reduzieren. Die Erfolgsgeschichte der DeutschenBundesbank lässt sich insbesondere darauf zurückfüh-ren.

Die Stimmrechte im EZB-Zentralbankrat sind nachKapitalanteilen zu gewichten. Andernfalls besteht weiter-hin die Gefahr, dass die Länder, die insbesondere für risi-koreiche Anleihen haften, von kleineren Ländern über-stimmt werden und weiterhin Risiken auf Deutschlandund andere kapitalstarke Staaten abgewälzt werden.

Beides macht eine Änderung der Satzung der EZBdringend erforderlich.

Zudem sind mögliche Regeln einer geordneten Insol-venz eines Staates auszuloten. Diese müssen einen auto-matischen Schuldenschnitt unter Beteiligung privaterGläubiger beinhalten, sobald ein Staat über eine be-stimmte Zeit hinaus nicht in der Lage ist, seine Schuldenzu bedienen.

Den derzeitigen Gefahren für die Realwirtschaft, diemit möglichen Insolvenzen von Banken einhergehen,müssen wir entschieden entgegentreten. Kurzfristigsollte das durch höhere Eigenkapitalquoten geschehen.Mittelfristig ist es notwendig, sogenannte systemrele-vante Banken in kleinere Institute zu zerschlagen, sodassdiese einzeln insolvent gehen können, ohne die gesamteRealwirtschaft mitzureißen.

Diese Forderungen stellen nichts anderes als eineRückkehr zu grundlegenden Prinzipien der Begründerder Sozialen Marktwirtschaft dar. Insbesondere das Pri-mat der Währungspolitik wurde missachtet und das Prin-zip der Haftung grob verletzt. Unter der Voraussetzung,dass die Wiederherstellung dieser Prinzipien eisern ver-folgt wird, stimme ich für den Gesetzentwurf. Ich bin zu-versichtlich, dass dieser Weg von der Koalition weiterverfolgt wird.

Burkhardt Müller-Sönksen (FDP): Die Lösungender Koalition in der europäischen Haushalts- und Fi-nanzpolitik sollen die derzeitigen Turbulenzen an denFinanzmärkten eindämmen und neues Vertrauen etablie-ren. Nicht alle der bisherigen und geplanten Maßnahmenfinden meine Zustimmung.

In verschiedenen Punkten bleiben bei mir auch wei-terhin Zweifel. Einer geordneten Insolvenz zum Beispielfür Griechenland hätte ich dem anstrebten Verfahren denVorzug gegeben und vertrete die Auffassung, dass diese

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auch weiterhin als mögliches Instrument in Betracht ge-zogen werden sollte. Im Grundsatz lehne ich jedoch Hil-fen für andere Euro-Staaten nicht ab, wenn diese unterden passenden Rahmenbedingungen gewährt werden.

Ich kann jedoch zum jetzigen Zeitpunkt nicht erken-nen, welche Risiken von anderen Staaten des Euro-Raums noch zu erwarten sind. Diese Risiken konntenbisher nicht benannt und meine Zweifel daher nicht voll-ständig ausgeräumt werden.

Ich begrüße ausdrücklich, dass nach Angaben desBundesministers der Finanzen die Erhöhung der Aus-leihkapazitäten der EFSF für Deutschland auf 211 Mil-liarden Euro beschränkt ist. Die Befassung des Bundes-tages bzw. in bestimmten Fällen des Haushaltsaus-schusses im Falle jedweder Änderung oder Erweiterungder EFSF ist für mich Grundlage meiner Zustimmung;dieses gilt insbesondere auch für den Ausschluss der so-genannten Hebelwirkung.

Auch das Bewusstsein, dass es, falls heute keineMehrheit aus der Koalition zustande kommt, zu nochstärkeren Unsicherheiten für die Märkte kommen wird,ist ausschlaggebend für mein Abstimmungsverhalten.Die Kapitalmärkte würden entsprechend negativ reagie-ren und die Bemühungen zur Stabilisierung somit kon-terkarieren. Auch mit Blick auf die europäischen Nach-barn und die Partner in der Welt ist es für Deutschlandmit dem Ziel eines stabilen Euro wichtig, ein Zeichen füreine geschlossene und entschlossene Koalition zu set-zen.

Das habe ich heute ebenfalls bei meinem Abstim-mungsverhalten zu berücksichtigen.

Aufgrund dieser Abwägung stelle ich meine persönli-chen Bedenken und Zweifel zu den im Gesetzesvorha-ben getroffenen Regelungen zurück und stimme den Än-derungen an dem Gesetz zum europäischen Stabi-lisierungsmechanismus zu.

Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): Jede Krise markierteinen Wendepunkt. Insofern kann man auch der Euro-Schulden-Krise etwas Positives abgewinnen: Ein Weiter-So kann es politisch nicht geben. Der vermeintlich einfa-che Weg, Politik zu machen, indem man Schulden an-häuft und Probleme fremdfinanziert und zinslastig vorsich her schiebt, endet in einer Sackgasse.

Ich bin stolz darauf, dass die CSU das längst erkanntund Bayern als erstes Bundesland Haushalte ohne Neu-verschuldung aufgestellt hat.

Ich bin stolz darauf, dass wir im Grundgesetz eineSchuldenbremse verankert haben. Das war richtungs-weisend – nicht nur für den Bund, sondern für Europa.

Seither sind die Finanzkrisen allerdings dazu angetan,uns von dem Weg abzubringen. Auch die „impliziten“Schulden, beispielsweise die Pensionslasten, machenmir Sorgen.

Der heutige Beschluss mag im engsten Sinne parla-mentarischer Gepflogenheiten keine Gewissensentschei-dung sein. Es ist aber eine Entscheidung, die mich

schwer belastet – angesichts der finanziellen Dimensio-nen und der vielen ungeklärten Fragen. Die wiederumwurden von der Wissenschaft nur vieldeutig und wider-sprüchlich beantwortet. Das Orakel von Delphi wärehier hilfreicher gewesen.

Medien und Opposition haben ihren zweifelhaftenBeitrag dazu geleistet, die kritische Sachfrage zu einerMachtfrage hochzustilisieren. Die Frage, ob die Koali-tion eine eigene Mehrheit hat, ist eben minder komplexals die vielfältigen Sachfragen, die mit der europäischenSchuldenkrise verbunden sind.

Die Verunsicherung der Bürger durch eine mitunterunverantwortliche Berichterstattung mancher Medien istAusdruck dafür, dass die sogenannte Vierte Gewalt sichihrer Verantwortung für die Demokratie in unserem Staatoft nicht bewusst ist, und das nicht einmal mit Blick aufdas Eigeninteresse der Pressefreiheit.

Diese konstruierte Machtfrage muss man heute klarbeantworten. Die rot-grün-dunkelrote Opposition bieteteine Alternative, die ich für katastrophal halte: Die Ver-gemeinschaftung aller europäischen Schulden überEuro-Bonds, die Schuldnerstaaten geradezu animiert,zulasten unserer Bonität und mit entsprechend niedrigenZinsen weiter Schulden zu machen. Das ist, als wolleman einen Alkoholiker mit Freibier zur Abstinenz brin-gen.

Die EFSF wird heute eine breite Mehrheit bekom-men. Eine Gegenstimme ändert daran nicht nur nichts,sie würde dagegen den Eindruck erwecken, dass wir ineiner so schwierigen Situation keinen Fonds bräuchten,um eine neuerliche Finanzkrise zu verhindern. Eine Sa-nierung Griechenlands halte ich persönlich für unwahr-scheinlich. Die notwendigen Einsparungen im öffentli-chen Bereich und der unabdingbare Reallohnverzichtsind meines Erachtens nicht durchsetzbar. Damit brau-chen wir die EFSF als Brandmauer, um bei einer Insol-venz Griechenlands einen Flächenbrand zu vermeiden.Ich habe aber trotz dieser Einsicht während der Debatteinnerhalb meiner Fraktion mit Nein gestimmt. Es gehörtzu meinen politischen Erfahrungen der letzten neunJahre, dass ohne diesen Druck gerade in der Europapoli-tik demokratieferne Lösungen gesucht werden. Wer dasanzweifelt, der möge den Antrag zum Parlamentsbeteili-gungsgesetz zum Lissabon-Vertrag der Union aus Oppo-sitionszeiten mit dem vergleichen, was dann später inder Regierungsphase beschlossen wurde. Das Ergebnisist mindestens so beschämend wie die Regelungen zurSubsidiarität im Lissabon-Vertrag selbst. Oder die Tatsa-che, dass wir mittlerweile das Bundesverfassungsgerichtbrauchen, um das durchzusetzen, was eigentlich Ehren-sache für das Parlament sein müsste: parlamentarischeMitsprache. Richter zu fragen, wie weit man sich ent-rechten lassen darf: Zeichnet das selbstbewusste, auf-rechte Volksvertreter aus?

Die, die uns einreden wollen, Europa gehe nur mitDemokratieverzicht, verraten die europäische Idee.Ohne die Rückbindung europäischer Entscheidungen annationale Parlamente und damit an das Volk wird die ge-niale europäische Idee scheitern. Es ist dann schon derGipfel der Ironie, wenn dieselben ihre Kritiker als Euro-

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pagegner diffamieren. Und es schadet der Sache, wennsie in einer kritischen (Krisen-)Phase der EU versuchen,ihre Fantasien von den „Vereinigten Schuldenstaatenvon Europa“ zu realisieren.

Die CSU hat das Europa der Regionen in der Bayeri-schen Verfassung verankert. Das bleibt unsere Richt-schnur.

Für geradezu schändlich halte ich es, wenn bei Dis-kussionen um Ausgestaltung und Vorgehen in einerKrise nicht auf Argumente eingegangen wird, sondernmit viel Pathos über Krieg und Frieden philosophiertwird. Diese Ablenkungsmanöver sind durchschaubarund Teil des Problems.

Wir waren noch immer in der Lage, ökonomischeKriterien richtig zu beschreiben: bei der Euro-Einfüh-rung beispielweise das Schuldenübernahmeverbot undden Stabilitäts- und Wachstumspakt. Wider besserenWissens müssen diese Ansprüche aber dann offenbar im-mer wieder angeblich höherrangigeren politischen Erwä-gungen weichen.

Die Aufnahme Griechenlands in den Euro-Raum istein klassisches Beispiel dafür. Man kann sagen: DieGriechen haben ihre Zahlen geschönt. Aber die Gegen-seite, allen voran die Regierung Schröder, hat die fal-schen Zahlen doch glauben wollen. Jedenfalls kann manden Bundestagsprotokollen von damals entnehmen, dassCSU-Kollegen auf die Manipulation hingewiesen undvon „einem schweren Fehler“ gesprochen haben. VonEuropapathos befeuert, wollte man Griechenland imEuro haben. Die Griechen hätten übrigens wegen ihrerProduktivitätsdefizite, die sie nur durch die Abwertungder Drachme hätten ausgleichen können, gut daran ge-tan, dem Euro-Raum nicht beizutreten.

Rot-Grün hat im Nachgang auch noch den Stabilitäts-und Wachstumspakt aufgeweicht – auch das wider bes-seres Wissen. Ein wenig mehr Demut in der Debattehätte ich mir auch von dieser Seite gewünscht.

Jetzt geben wir die No-Bail-out-Regel auf, wonacheine gegenseitige Schuldenübernahme wohlweislichnicht infrage kommt. Das beschwert mich besonders.Wir müssen zu einem Weg zurückfinden, der die diszi-plinierenden Kräfte des Marktes sicherstellt. HöhereZinsen müssen Schuldner zum Sparen zwingen. DieGriechen haben den Realzinsvorteil nicht für Investitio-nen, sondern für Konsum genutzt.

Mein Anliegen ist es, das, was zu Zeiten Theo Wai-gels richtig vereinbart wurde, zu verteidigen, insbeson-dere dem Stabilitäts- und Wachstumspakt Geltung zuverschaffen.

Ich werde weiter eine Insolvenzordnung für Staateneinfordern. Die haushalterischen Eingriffsmöglichkeitender EU gehören in diesen Kontext. Die EU darf nur inFunktion eines „Insolvenzverwalters“ in nationale Haus-halte eingreifen. Alle anderen Maßnahmen zur wirt-schafts- und finanzpolitischen Koordination bedürfen ei-ner demokratischen Rückbindung an die nationalenParlamente. Sie müssen wir stärken, um das Befremdenüber einsame Brüsseler Entscheidungen zu beseitigen.

Ehe wir den ESM dauerhaft installieren, müssen dieWirkmechanismen der EFSF analysiert werden. Hiergeht Gründlichkeit vor Schnelligkeit.

Mit der heutigen Debatte ist jedenfalls sicher keinSchlusspunkt gesetzt.

Jens Petermann (DIE LINKE): Ich stimme gemein-sam mit meiner Fraktion gegen den erweiterten Euro-Rettungsschirm, weil er in eklatanter Weise demokrati-sche Prinzipien in ganz Europa verletzt.

Ich bedaure es, dass CDU/CSU, FDP, Grüne und SPDnicht nur diesem neuen Rettungspaket für Banken undSpekulanten zustimmen, sondern auch den Einschrän-kungen der demokratischen Abgeordnetenrechte und derRechte des Bundestags im Hinblick auf die Kontrolledes Euro-Rettungsfonds. Ich halte es in diesem Zusam-menhang für einer Demokratie nicht würdig, dass alleanderen Fraktionen gegen die Vorschläge der Linken ge-stimmt haben, wenigstens den Bundestag über die Ver-gabe der zusätzlichen Milliarden abstimmen zu lassen.

Ich stimme gegen den erweiterten Euro-Rettungs-schirm, weil damit die Demokratie den sogenannten Fi-nanzmärkten geopfert wird.

Ich stimme gegen den erweiterten Euro-Rettungs-schirm, weil unüberschaubare finanzielle Risiken auf dieBevölkerung zukommen. Mittlerweile qualifiziert selbstdie Deutsche Bank die Risiken aus den Bürgschaften desEuro-Rettungsschirms für die Steuerzahler auf über400 Milliarden Euro. Es ist grob fahrlässig, diesem Bün-del aus Demokratiebabbau, Sozialkürzungen und Ban-kenhilfe ohne Gegenleistung mit unabsehbaren finan-ziellen Risiken die Zustimmung zu erteilen.

Ich stimme gegen den erweiterten Rettungsschirm,weil die Euro-Krise nur durch Schließung des Spekula-tionskasinos gelöst werden kann. Den Spekulanten mussder Boden entzogen werden. Die Staaten müssen sichunabhängig von den Kapitalmärkten finanzieren können,über eine Bank für öffentliche Anleihen. Die Finanz-märkte müssen endlich streng reguliert werden. Und dieVerursacher und Profiteure der Krise müssen zur Kassegebeten werden: Dies kann man durch eine EU-weiteVermögensabgabe für Superreiche, durch eine Finanz-transaktionsteuer und durch eine Beteiligung großer pri-vater Gläubiger realisieren.

Mein Nein zum erweiterten Euro-Rettungsschirm istein Ja zu Europa, ein Ja zur Demokratie und ein Ja zumPrimat der Politik über die Finanzmärkte.

Richard Pitterle (DIE LINKE): Bei der Abstimmungüber die Aufstockung und Ausweitung des Euro-Ret-tungsschirms, EFSF, im Deutschen Bundestag habe ichmit Nein gestimmt.

Auch ich bin der Überzeugung, dass Maßnahmen er-forderlich sind, um die Staatsfinanzierung von den pri-vaten Finanzmärkten abzukoppeln, um zu verhindern,dass einzelne Staaten der Spekulation der Finanzmafiaausgesetzt werden.

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Die Einführung des Euro hatte die PDS im Bundestagzu Recht kritisiert, weil diese nicht mit einer Wirt-schafts- und Sozialunion verbunden war. Dennoch ist dieErhaltung des Euro ein richtiges Ziel, weil der Euro, vondem insbesondere die deutsche Wirtschaft profitiert hat,inzwischen mehr als ein ökonomisches Projekt ist. Wennder Euro scheitert, besteht die große Gefahr, dass auchder europäische Gedanke und das Projekt der Europäi-schen Union massiv beschädigt werden und dies mit ei-ner Renationalisierung der Politik einher geht. Wir brau-chen zur Lösung der gewaltigen Probleme aber nichtweniger, sondern mehr europäische Integration. Wirbrauchen und wollen als Linke auch gegenseitige Solida-rität und Hilfe in Europa. Darin unterscheiden wir unsvon den Gegnern des Euro-Rettungsschirms, deren Mo-tivation darin liegt, den anderen in Schwierigkeiten gera-tenen Staaten die Solidarität ausdrücklich zu verweigern.

Die Politik der Bundesregierung ist darauf gerichtet,den Europäischen Rettungsschirm nicht als Hilfe für dieMenschen auszugestalten, sondern im Ergebnis zur Ret-tung von Banken und Versicherungen. Die Bedingungen,die an die Inanspruchnahme der Mittel aus dem Ret-tungsschirm geknüpft werden, sind nicht akzeptabel.Senkung der Löhne, Renten, Entlassungen, Erhöhungder Verbrauchsteuern, kurz massiver Sozialabbau fürbreite Bevölkerungskreise, sind Gift für das wirtschaftli-che Wachstum der betreffenden Staaten und machen dieRückzahlung von Krediten objektiv unmöglich. DieBanken und Gläubiger sind durch die Bürgschaft desRettungsschirms, für die die Steuerzahlerinnen und Steu-erzahler haften, gegen Forderungsausfall gesichert. Diewirklich Vermögenden in den betreffenden Ländern,ebenso wenig wie in Deutschland, werden hingegennicht zur Kasse gebeten. Eine Finanztransaktionsteuer,wird halbherzig angekündigt, aber bisher immer nochnicht eingeführt. Mit dieser würden die Spekulanten, diedie Finanzkrise verursacht haben, endlich zur Kasse ge-beten.

Hinzu kommt, dass ohne eine tiefgreifende und nichtnur kosmetische Regulierung der Finanzmärkte die Ur-sachen, die zur der Notwendigkeit des Rettungsschirmsgeführt haben, weiter fortwirken und der Rettungsschirmin Kürze von der Dimension her nicht ausreichen wird.

Dieser ungerechten Politik, die die Mehrheit der Be-völkerung belastet und die Finanzmafia ungeschorenlässt, kann ich nicht zustimmen, sondern kann nur mitNein stimmen.

Yvonne Ploetz (DIE LINKE): Gerade als Anhänge-rin der europäischen Idee kann es für mich heute nur einklares Nein geben. Die von der Bundesregierung ge-plante Erweiterung des Euro-Rettungsschirms, der soge-nannten EFSF, geht an den anstehenden Aufgabenschlicht vorbei. Ohne eine Lösung der gegenwärtigenLohnkrise wird es auch keine Lösung der Euro-Krise ge-ben. Denn die Kanzlerin sieht nur die Oberfläche, abernicht die tieferliegenden Ursachen der Krise. Dieschwarz-gelbe Regierung setzt bei ihrer Euro-Politikabermals auf das falsche Pferd – wie so häufig in denletzten Wochen und Monaten.

Die Krise der Euro-Zone ist letztlich eine globale Ver-teilungskrise. Jetzt rächt sich die Umverteilungspolitikvon unten nach oben, die in den letzten Jahren alle neoli-beralen Parteien in Deutschland mitgetragen haben –von Schwarz, Gelb über Rot und Grün. Die Lohnein-kommen stagnieren seit geraumer Zeit weltweit, inDeutschland sind die Realeinkommen der Mehrheit derMenschen sogar gefallen. Nur die Vermögen einiger we-niger sind stark angewachsen, die breite Mehrheit hatdeutlich verloren. Die Menschen reagieren darauf in dereinzig für sie möglichen Art und Weise, nämlich indemsie ihre Nachfrage nach Konsumgütern einschränken.Deshalb stockt die Konjunktur, deshalb stockt die Bin-nennachfrage, deshalb spekulieren die großen Kapitalienin einem unverhältnismäßigen Umfang, da Realinvesti-tionen aus ihrer systemimmanenten Sicht sich nichtmehr für sie lohnen.

Ohne eine demokratische Kontrolle des Banken- undFinanzsektors, ohne einen enormen Anwuchs der Löhneder „normalen Menschen“, ohne ein Ende des Lohndum-pings und ohne eine Besteuerung der Vermögenden wirddiese Krise nicht gelöst werden können. Das Missver-hältnis von Finanz- und Realwirtschaft kann nur gelöstwerden, wenn die Massenkaufkraft und die Massenein-kommen wieder steigen. Aber die Regierung zeigt sichkonsequent orientierungslos. Derzeit ist es, als würdenPolitiker und Politikerinnen der Regierung „Steuerbord“oder „Backbord“ rufen, ohne zu merken, dass sie eigent-lich in einem Zug sitzen.

Ingrid Remmers (DIE LINKE): Ich stimme gegendieses Gesetz, weil die Bedingungen für Länder, dieKredite im Rahmen der EFSF in Anspruch nehmen müs-sen, nicht akzeptabel sind und die „Rettung“ von einzel-nen europäischen Ländern nichts als eine weitere Ban-kenrettung mit Steuergeldern ist.

Die Schuldenkrise ist vor allem eine Folge der Ban-kenkrise, in deren Rahmen die Verluste von privatenBanken auf die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler ab-gewälzt wurden – Verluste von jenen privaten Banken,die mit Wucherzinsen für neue Staatsanleihen denRettungsschirm erst notwendig machen. Statt dieFinanzmärkte endlich strikt zu regulieren, Banken zuvergesellschaften und die Staatsfinanzierung von denKapitalmärkten abzukoppeln, würgen radikale Kür-zungsauflagen die Binnenkonjunktur der Krisenländerab.

Die Ungleichgewichte im Euro-Raum sind auch Er-gebnis der überdimensionierten Exportorientierung derdeutschen Wirtschaft bei gleichzeitig stagnierenden Re-allöhnen und dauerhaft hohen Exportüberschüssen. Sieführen automatisch zu Defiziten und damit zur weiterenVerschuldung anderer Euro-Länder. Das beste Mittel da-gegen ist die Stärkung der Kaufkraft durch Mindest-löhne, die der hohen Produktivität in Deutschland ange-messen sind.

Die von der Bundesregierung geforderten Zumutun-gen für die griechischen, irischen oder portugiesischenArbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind nicht akzep-tabel. Lohnkürzungen, radikale Verkleinerung des öf-

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fentlichen Dienstes und Privatisierungen von öffentli-chen Gütern führen zu mehr Arbeitslosigkeit, wenigerNachfrage nach Gütern und Dienstleistungen und damitin die Rezession. Die unsägliche Neiddebatte vor allemgegenüber Griechenland ist ein Schlag ins Gesicht allderer, die vor, in und nach der Krise unter der hohen Ar-beitslosigkeit und den niedrigen Löhnen in vielen Län-dern Europas leiden.

Europa ist kein armer Kontinent – bei strikter Regu-lierung der Finanzmärkte, einer konsequenten Verfol-gung von Steuerhinterziehung, echter Umverteilungdurch wesentlich höhere Besteuerungen großer Vermö-gen und Einkommen und den Verzicht auf kostspieligeRüstungsprojekte wären die Staatshaushalte relativ ein-fach zu sanieren. Dafür steht die Linke.

Swen Schulz (Spandau) (SPD): Ich stimme demGesetzentwurf zu, möchte aber auf erhebliche Bedenkenhinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit der vorgesehenenParlamentsbeteiligung im Rahmen des europäischen Sta-bilisierungsmechanismus hinweisen.

Verfassungsrechtliche Bedenken bestehen meines Er-achtens insbesondere in folgenden Punkten:

Ich halte die Übertragung der Entscheidungsbefugnisdes Plenums auf einzelne Mitglieder des Haushaltsaus-schusses – gemäß § 3 Abs. 3 StabMechGÄndGE – füräußerst problematisch. Die Budgethoheit liegt beimBundestag als Ganzem. Eine Delegation dieser Befugnisauf den Haushaltsausschuss und noch weiter auf einigewenige – deren Status bislang nicht geklärt ist – verhin-dert die im Grundgesetz – Art. 38 Abs. 1 Satz 2 – garan-tierte Beteiligung aller Abgeordneten am parlamentari-schen Willensbildungsprozess.

Daneben sieht das StabMechGÄndGE für bestimmteFälle regelmäßig eine – von der Bundesregierung defi-nierte – besondere Eilbedürftigkeit und Vertraulichkeitvor, sodass automatisch statt dem Plenum nur einige we-nige Abgeordnete an Entscheidungen, die zum Teil Ga-rantien in großem Umfang betreffen, beteiligt werden.Eine Eilbedürftigkeit oder Vertraulichkeit im Hinblickauf Entscheidungen über vorsorgliche Maßnahmen oderfür Kredite zur Rekapitalisierung von Finanzinstituten,wie sie das Gesetz vorsieht, halte ich für nicht zwingendgegeben.

Darüber hinaus ist die Pflicht der Bundesregierungzur umfassenden und frühestmöglichen Unterrichtungdes Bundestages und des Bundesrates im Grundgesetzgarantiert – Art. 23 Abs. 2 Satz 2 GG. Im StabMech-GÄndGE – § 5 Abs. 7 – wird jedoch von „Unterrich-tungsrechten“ gesprochen und somit impliziert, dass esin der Hand der Bundesregierung liegt, zu entscheiden,ob und wann sie das Parlament unterrichtet. Diese Be-schränkung der Unterrichtung auf einzelne Abgeordnetehalte ich für verfassungswidrig.

Trotz der verfassungsrechtlichen Bedenken erscheintmir die Zustimmung zum Gesetzentwurf zwingend, dadurch die Anpassung der Gewährleistungsermächtigungdie auch weiterhin erforderlichen Notmaßnahmen zumErhalt der Zahlungsfähigkeit einzelner Euro-Mitglied-

staaten, durch die die Finanzstabilität in der Währungs-union insgesamt sichergestellt werden, ermöglicht wer-den.

Betonen möchte ich jedoch, dass – wie im Entschlie-ßungsantrag meiner Fraktion ausgeführt (Drucksache17/7175) – ich die von der Regierungskoalition vorge-legten Maßnahmen zur Bewältigung der derzeitigenKrise zwar als erforderlich, aber nicht für hinreichenderachte. Insbesondere sind weitere Maßnahmen zur Re-gulierung des Finanzsektors, die Einführung einer Fi-nanztransaktionsteuer sowie die Schaffung von wirksa-men Wachstumsimpulsen nötig.

Ich verbinde meine Zustimmung mit der Erwartung,dass bei der vorgesehenen Einrichtung des dauerhaftenStabilitätsmechanismus ESM die Frage der Parlaments-beteiligung verfassungskonform gelöst wird und dieweiteren erforderlichen Schritte zur Krisenbewältigunggegangen werden.

Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU): Ich stimme demGesetz zur Änderung des Gesetzes zur Übernahme vonGewährleistungen im Rahmen eines europäischen Stabi-lisierungsmechanismus trotz massiver sachlicher Beden-ken zu.

Ausschlaggebend für mein Stimmverhalten sind dieverantwortungslosen Alternativen der Opposition, wel-che die Aufgabe der deutschen Haushaltsverantwortungbedeuten würden. Zwischen dem falschen Weg, den PeerSteinbrück in seiner heutigen Rede dargestellt hat, unddes aus meiner Sicht noch unzureichend ausgestaltetenEFSF und einem noch unklaren ESM ist die Zustim-mung zur Ertüchtigung des EFSF der verantwortungs-vollere Beitrag.

Ein stabiles Europa fußt auf einem stabilen Euro.Seine Stabilität liegt deshalb im tiefsten deutschen Inte-resse. Die bisherigen Versuche, den Euro dauerhaft zustabilisieren, sind gescheitert. Der Stabilitäts- undWachstumspakt hat nicht dazu geführt, Verstöße gegenStabilitätskriterien wirkungsvoll zu sanktionieren. Auchdie im Mai 2010 vom Bundestag beschlossenen Hilfenfür Griechenland führten nicht etwa zu einer Stabilisie-rung der Situation. Entgegen der formulierten Erwartun-gen ist es Griechenland bis heute nicht gelungen, an denKapitalmarkt zurückzukehren. Griechenland wird esauch durch die Maßnahmen, die wir einfordern, in ab-sehbarer Zeit nicht schaffen, an die Kapitalmärkte zu-rückzukehren. Griechenland wird nach meiner Überzeu-gung nicht um eine Insolvenz herumkommen, und wirmüssen Griechenland hierbei helfen und die notwenigenMechanismen zur Verfügung stellen.

Auch die derzeitige Konstruktion des Euro-Stabilisie-rungsfonds EFSF kann nach meiner Überzeugung aufDauer nicht zu der notwendigen Stabilisierung führen.Er löst weder das Verschuldungsproblem, noch wird einüberzeugendes Anreizsystem zur Schuldenvermeidungin den Euro-Staaten geschaffen. Im Ergebnis ermöglichtder EFSF neue Kreditzahlungen. Wenn das Problem inder zu hohen Verschuldung einiger Staaten der Euro-Zone besteht, vergrößern wir das Problem durch weitere

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Garantien nur. Dieses Vorgehen verhindert das notwen-dige Umdenken in der gesamten Euro-Zone. Der Kapi-talmarkt wird sich nicht disziplinieren, wenn er weiß,dass jedes Land stets gerettet wird. Ein Rettungsschirmdarf daher nur zwei Auswege kennen: erfolgreiche Sa-nierung oder Insolvenz. Die Insolvenz Griechenlands istfaktisch sogar schon im Gange.

Sollte für eine erfolgreiche Sanierung Griechenlandsein Schuldenschnitt unvermeidlich sein, muss ein Ret-tungsschirm die Kapitalisierung der Banken sicherstel-len, um Ansteckungsgefahren zu minimieren. Um dieseKapitalisierung zu gewährleisten, ist allerdings heuteschon absehbar, dass der Umfang des EFSF zu klein ist.Für meine heutige Abstimmung ist aber maßgeblich,dass wir besser einen Rettungsschirm haben, der440 Milliarden Euro aktivieren kann, als gar keinen Ret-tungsschirm; denn nach meiner Meinung wird die grie-chische Umschuldung sehr zeitnah kommen.

Mit meiner Zustimmung zur Ertüchtigung des EFSFmöchte ich den Weg eröffnen, dass wir zügig über dierichtige Konstruktion des ESM nachdenken. Nur durchein geschlossenes Auftreten des Deutschen Bundestageshaben wir die nötige Durchsetzungskraft, in Europa fürunsere Position der Stabilität zu werben. Aus diesemGrund stimme ich der Ertüchtigung des EFSF trotz deraufgeführten Bedenken und großer Sorge um Europa zu.

Raju Sharma (DIE LINKE): Ich habe dem Euro-Ret-tungsschirm EFSF heute meine Zustimmung verweigert,denn er stellt keine sinnvolle Lösung zur dauerhaftenBeseitigung der Euro-Krise dar. Stattdessen ist der Euro-Schutzschirm eine Maßnahme, die dem privaten Ban-kensektor einseitig Vorteile zulasten aller Bürgerinnenund Bürger zukommen lässt.

Deutsche Banken gehören zu den größten Gläubigernder Mitgliedstaaten der Union, bei denen Zahlungs-schwierigkeiten bestehen oder erwartet werden. Im FalleGriechenlands sind es 23 Milliarden Euro, die deutscheBanken an Forderungen in den Büchern stehen haben.Im Falle Portugals sind es 34 Milliarden Euro. Nachdemdiese Banken jahrzehntelang gute Gewinne mit Staatsan-leihen gemacht haben, sollen nun – geht es nach derBundesregierung – die Bürgerinnen und Bürger für dasKreditrisiko der Banken haften. Dabei haben die Bankenihre Praxis weder nach dem Platzen der Dotcom-Blasevor zehn Jahren noch nach der Erfahrung Finanzkrisedes Jahres 2009 geändert. Sie zocken an den Börsen undbelohnen kurzfristige Profite mit hohen Boni. Den Steu-erzahlerinnen und Steuerzahlern darf diese Haftungnicht aufgebürdet werden.

Die Bundesregierung setzte unabhängig davon, ob sievon Union, FDP, SPD oder Grünen gebildet wurde, da-rauf, Märkte radikal zu deregulieren und nahm die Risi-ken billigend in Kauf. Während die Gewinne in privaterHand blieben, mussten und müssen Verluste von der All-gemeinheit getragen werden. Wir müssen dieses Schemaendlich durchbrechen und für eine Stärkung der Europäi-schen Idee streiten, die ein gemeinsames Europa nichtals Spielplatz ohne Regeln für die Finanzwirtschaftsieht, sondern vielmehr auf eine gemeinsame Wirt-

schafts- und Sozialpolitik setzt, die diesen Namen ver-dient und den Ursachen der Krise grundlegend entgegen-wirkt. Die Vorschläge der Bundesregierung sind dazugänzlich ungeeignet.

Thomas Silberhorn (CDU/CSU): Der Euro ist un-sere gemeinsame Währung. Seine Stabilität zu sichern,liegt im deutschen und europäischen Interesse. Geradeunser Land als Exportnation profitiert von einem stabi-len Euro. Die Europäische Union gewinnt durch die Ge-meinschaftswährung an internationalem Gewicht. Diegegenwärtige Schuldenkrise einzelner Euro-Staatenmuss daher so bekämpft werden, dass die EuropäischeWirtschafts- und Währungsunion als Ganzes gestärkt da-raus hervorgehen kann.

Vor diesem Hintergrund ist es nicht gegen die euro-päische Integration gerichtet, wenn ich der Aufstockungund Erweiterung der Europäischen Finanzstabilisie-rungsfazilität nicht zustimmen kann. Im Gegenteil: EineGefährdung des Integrationsprojekts ist dann zu befürch-ten, wenn die Bemühungen zur Stabilisierung des Euronicht den erhofften Erfolg zeitigen, weil dadurch dasVertrauen in die Staaten der Euro-Zone geschwächtwürde. Schon heute ist absehbar, dass die EuropäischeFinanzstabilisierungsfazilität auch nach der Änderungdes Rahmenvertrags nicht ausreichend wirksam seinkann, um die Euro-Zone zu stabilisieren. Es muss daheralles daran gesetzt werden, dauerhaft tragfähige Lösun-gen für die europäische Staatsschuldenkrise zu entwi-ckeln.

Mit der Errichtung der Wirtschafts- und Währungs-union wurden die Grundlagen für die Geldwertstabilitätdes Euro gelegt: der Stabilitäts- und Wachstumspakt, dieUnabhängigkeit der Europäischen Zentralbank und dasVerbot der Schuldenübernahme. Doch wie vielfache,stets sanktionslose Verstöße gegen den Stabilitäts- undWachstumspakt zeigen, haben die Euro-Staaten die vor-handenen Instrumente zur Koordinierung der Wirtschafts-und Finanzpolitik – unter deutscher Mitwirkung – ausge-höhlt. Im Zuge der Schuldenkrise hat die EuropäischeZentralbank durch den Ankauf von Staatsanleihen aufdem Sekundärmarkt ihre geldpolitischen Kompetenzenweit überdehnt und den Weg zur Vergemeinschaftungnationaler Schulden beschritten. Mit der Übernahme vonGewährleistungen für verschuldete Staaten haben dieEuro-Mitglieder die Sozialisierung privater Verluste inKauf genommen und das Verbot der Schuldenübernahmede facto ausgehebelt.

Dennoch wende ich mich nicht generell gegen Finanz-hilfen. Dem ersten Hilfsprogramm für Griechenland habeich ebenso zugestimmt wie der Errichtung der Europäi-schen Finanzstabilisierungsfazilität als befristetem Ret-tungsschirm. In Notfällen können Finanzhilfen durchausdazu beitragen, die Stabilität der Euro-Zone als Ganzes zuwahren, sofern sie als letztes Mittel – Ultima Ratio – unterstrikten Auflagen und zeitlich befristet gewährt werden.Der dadurch erkaufte Zeitgewinn muss jedoch genutztwerden – können –, um die Ursachen der Schuldenkrisezu beheben, also um die Staatsverschuldung abzubauen

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und die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft wiederher-zustellen.

Die Solidarität mit unseren europäischen Partnernstelle ich daher nicht infrage. Doch Hilfe darf nicht gren-zenlos gewährt werden. Sie muss zum Ziel haben, dassein verschuldeter Mitgliedstaat der Euro-Zone zu einereigenverantwortlichen Finanz- und Wirtschaftspolitikzurückfindet. Handeln und Haften müssen wieder zu-sammengeführt werden. Werden Finanzhilfen unter Kon-ditionen vergeben, dann darf es nicht folgenlos bleiben,wenn vereinbarte Sanierungsziele nicht erreicht werden.Hier darf die Grenze von temporären Liquiditätshilfen zudauerhaften Transferleistungen nicht überschritten wer-den. Andernfalls würde ein europäischer Finanzaus-gleich geschaffen, der keinerlei Anreiz zur Lösung derStaatsschuldenkrise böte. Stattdessen würde die Ver-schuldung noch vergrößert und auf andere Euro-Staatensowie nachfolgende Generationen abgewälzt.

Der Konstruktionsfehler der Europäischen Finanzsta-bilisierungsfazilität liegt darin, dass dieser Rettungs-schirm einseitig auf die Gewährung von Finanzhilfenausgerichtet ist. Solange aber die politische Zielsetzungaufrechterhalten bleibt, den Zahlungsausfall eines Euro-Mitglieds unter allen Umständen zu vermeiden, wird In-vestoren die Möglichkeit eröffnet, weiter gegen einzelneStaaten der Euro-Zone zu wetten, weil das Risiko sol-cher Wetten die Steuerzahler tragen. Der Rettungsschirmsetzt damit eine Ursache für spekulative Attacken gegenEuro-Staaten.

Das Kalkül solcher Investoren muss gezielt durch-kreuzt werden, damit die Staaten nicht zum Spielball derFinanzmärkte werden. Andernfalls droht der Dominoef-fekt, dass immer mehr Mitglieder der Euro-Zone unterden Rettungsschirm flüchten müssen – und wegen derniedrigeren Kreditzinsen auch flüchten wollen. Im Ge-genzug setzen die Geberländer – und in letzter Konse-quenz die Europäische Finanzstabilisierungsfazilitätselbst – ihre eigene Bonität aufs Spiel. Der politischePreis dieses „Euro-Rettungswesens“ wird sehr hoch sein:Die Empfängerländer werden auf Jahre hinaus ihre poli-tische Handlungsfreiheit weitgehend verlieren. Den Ge-berländern droht die finanzielle Überforderung.

Die Staaten der Europäischen Wirtschafts- und Wäh-rungsunion müssen ihre Gestaltungshoheit wahrnehmenund ihre Handlungsfähigkeit wiedergewinnen. Das erfor-dert zum Einen eine Regulierung der Finanzmärkte, diederen dienende Funktion für die volkswirtschaftlicheWertschöpfung zum Tragen bringt. Zum anderen müssenLeistungsbilanzdefizite innerhalb der Euro-Zone redu-ziert werden, indem die nationalen Haushalte entschuldetund wettbewerbsfähige Wirtschafts- und Verwaltungs-strukturen geschaffen werden.

Ziel muss es sein, unter den Euro-Staaten eine gemein-same Stabilitätskultur zu entwickeln, die im Vertrag vonMaastricht angelegt ist, zu der bislang aber der politischeWille gefehlt hat. Dazu gehört die Reform des Stabilitäts-und Wachstumspakts mit früheren und schärferen Sank-tionen bei Regelverstößen, deren Ahndung allerdingspolitischem Ermessen entzogen werden muss. Des Wei-teren ist die Unabhängigkeit der Europäischen Zentral-

bank wiederherzustellen, indem der Ankauf von Staats-anleihen beendet wird. Schließlich ist das Verbot derSchuldenübernahme aufrechtzuerhalten, indem eine Re-strukturierung überschuldeter Staaten ermöglicht wird.

Ein Sanierungsverfahren für überschuldete Staaten istunverzichtbar, um die Gewährung von Finanzhilfen zubegrenzen und eine Überforderung der Geberländer zuvermeiden. Gerade wer vor den Ansteckungsgefahren ei-nes unkontrollierten Zahlungsausfalls warnt, muss einVerfahren kontrollierter Sanierung schaffen, das rechtzei-tig vor einem Zahlungsausfall eingeleitet werden kann.Ein solches Sanierungsverfahren muss einen Schulden-schnitt einschließlich der zwingenden Haftung aller Gläu-biger für die von ihnen bewusst eingegangenen Risiken,die Rekapitalisierung von Banken und ein Programm fürden Wiederaufbau beinhalten. Die Feststellung mangeln-der Schuldentragfähigkeit ist ohne politisches Ermessenausschließlich anhand objektiv nachprüfbarer Kriterienzu treffen. Schließlich muss im Rahmen dieses Sanie-rungsverfahrens – gewissermaßen als letzter denkbarerSchritt zur Wiederherstellung der Wettbewerbsfähigkeit –die Mitgliedschaft des überschuldeten Staates in derEuro-Zone zeitweise ausgesetzt werden können, um die-sem eine Abwertung zu ermöglichen.

Ich bin mir darüber im Klaren, dass eine solche Vorge-hensweise nicht nur die sofortige Realisierung von Ver-lusten mit sich bringt, sondern zusätzlich den Einsatz er-heblicher finanzieller Mittel erfordert. Doch nachdem eseine günstige Lösung ohnehin nicht gibt, ist die schiereGröße der Garantiesumme und des Ausleihvolumens desRettungsschirms sowie des deutschen Haftungsanteilszwar von hoher Bedeutung, aber nicht entscheidend.Vielmehr kommt es maßgeblich darauf an, dass die Be-mühungen zur Stabilisierung des Euro – wenn sie dennschon enorme Anstrengungen erfordern – tatsächlichgreifen und nicht erneut von der Wirklichkeit überholtwerden.

Eine nachhaltige Lösung der europäischen Staats-schuldenkrise erfordert Solidarität unter allen Mitglied-staaten der Europäischen Union, namentlich unter denMitgliedern der Europäischen Wirtschafts- und Wäh-rungsunion. Notmaßnahmen dürfen jedoch nicht die Ret-ter selbst in Not bringen, sondern müssen Hilfe zurSelbsthilfe bleiben. Die verschuldeten Staaten müssenmit vereinten Kräften in die Lage versetzt werden, zu ei-genverantwortlichem Handeln zurückzukehren. Die vor-geschlagene Erweiterung und Aufstockung der Europäi-schen Finanzstabilisierungsfazilität geht darüber weithinaus, weil sie keine wirksame Begrenzung von Finanz-hilfen ermöglicht, sondern Anreize zur Sozialisierungprivater Verluste und zur Vergemeinschaftung nationalerSchulden setzt. Dies kann ich nicht mitverantworten. Diewirtschafts- und finanzpolitische Handlungsfähigkeit derverschuldeten Staaten muss wiederhergestellt werden,wenn die Stabilität des Euro dauerhaft erhalten bleibensoll.

Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN): Dem Gesetz, mit dem für Notmaßnahmen zu-gunsten eines Mitgliedstaates des Euro-Währungs-

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gebiets Gewährleistungen bis zur Höhe von insgesamt211 Milliarden Euro übernommen werden können,stimme ich nicht zu. Ich stimme mit Nein.

Auch ich will der griechischen Bevölkerung helfen,aus der Krise zu kommen. Auch ich bin deshalb grund-sätzlich für die Verstärkung des Rettungsschirms, EFSF,durch weitere Milliarden. Lieber wäre mir ein drasti-scher Schuldenschnitt oder eine geregelte Insolvenz, dieso gesteuert werden könnte, dass der sozial und einkom-mensmäßig schwächere Teil der Bevölkerung Griechen-lands nicht die Hauptlast trägt. Aber dafür fehlen nochdie Regeln im EU-Währungsraum. Eine solche Rege-lung für eine Staatsinsolvenz muss dringend geschaffenwerden. Aber solange es sie nicht gibt, bleibt nur dieHoffnung auf die Wirksamkeit des Rettungsschirmes,wenn auch die Hoffnung sehr trügerisch ist und mit wei-teren finanziellen Nachschüssen in Milliardenhöhe ge-rechnet werden muss.

Der jetzt eingeschlagene Weg birgt allerdings Risikenfür das europäische Währungssystem, die schon jetztkaum noch zu verantworten sind.

Der wesentliche Grund für meine Nichtzustimmungist die mangelhafte parlamentarische Kontrolle, die dasGesetz vorsieht.

Zwar sieht es vor, dass die Bundesregierung einemEU-Beschluss, der die „haushaltspolitische Gesamtver-antwortung des Bundestages“ berührt, nur zustimmendarf, wenn der Bundestag vorher zustimmt. Und diesehaushaltspolitische Gesamtverantwortung sei berührt beiAbschluss einer Vereinbarung über eine Notmaßnahme,wesentlicher Änderung einer solchen, Änderungen desEFSF-Rahmenvertrages und bei der Überführung vonTeilen daraus in den dauerhaften Europäischen Stabili-tätsmechanismus – ESM.

Aber bei besonderer Eilbedürftigkeit oder Vertrau-lichkeit sollen dem Gesetz zufolge die Rechte des ge-samten Bundestages von nur wenigen Abgeordnetenwahrgenommen werden dürfen – höchstens neun. DieMitglieder dieses Geheimgremiums werden über die er-haltenen Informationen niemandem berichten dürfen,nicht einmal ihrem Fraktionsvorsitzenden.

Ich befürchte, dies wird nicht Ausnahme, sondern dieRegel werden. Dann bleibt im Regelfall der Bundestagaußen vor. Denn eilbedürftig sind Notmaßnahmen stets;jedenfalls wird die Bundesregierung sich darauf berufen.Und Vertraulichkeit macht diese Bundesregierung eben-falls sehr häufig geltend; damit habe ich bereits reichlichschlechte Erfahrungen gemacht.

Mit vielen parlamentarischen Anfragen in den ver-gangenen Jahren wollte ich zum Beispiel erfahren, zuwelchen Bedingungen Kredite, Bürgschaften oder Ga-rantien in Milliardenhöhe für notleidende Banken gege-ben wurden und wie hohe Vergütungen sowie Boni de-ren Manager erhielten. Daraufhin berief sich dieBundesregierung dann regelmäßig auf eben solche Ver-traulichkeit wegen Geschäfts- bzw. Betriebsgeheimnis-sen der Banken und verweigerte die Antwort.

Ich fürchte, ebenso wird die Bundesregierung auch inZukunft begründen, dass Maßnahmen zur Euro-Rettung„vertraulich“ seien, sodass der Bundestag nicht beteiligtwerden könne.

Nach dem Gesetz soll allein die Bundesregierung die„Eilbedürftigkeit“ oder „Vertraulichkeit“ festlegen. DasGeheimgremium kann zwar widersprechen, aber nur mitMehrheit, also nur wenn die Abgeordneten mitmachen,welche die Regierung tragen.

Wenn es um vorsorgliche Notmaßnahmen geht oderum Kredite zur Rekapitalisierung von Banken oder An-kauf von Staatsanleihen, sind diese regelmäßig eilbe-dürftig oder vertraulich. Ausgenommen sind nur Ände-rungen des Rahmenvertrages, Überführung in ESM oderder erstmalige Antrag eines Mitgliedstaates. Wenn es umweniger wichtige Entscheidungen geht, muss der Haus-haltsausschuss zustimmen. Aber auch dies kann ersetztwerden durch Zustimmung des Geheimgremiums, wenndie Bundesregierung Eilbedürftigkeit oder Vertraulich-keit reklamiert.

Damit wird das Haushaltsrecht des Parlaments weit-gehend abgeschafft und auf ein Rumpfparlament über-tragen : und zwar für Beträge in jeder Höhe, selbst wenndiese größer sind als der gesamte Bundeshaushalt einesJahres.

Das will ich mir als Bundestagsabgeordneter nicht ge-fallen lassen.

Schlimmer noch, außer meinem Entscheidungsrechtsoll selbst mein Recht auf Information und Unterrich-tung darüber, was mit dem Geld der Steuerzahler ge-schieht, beschränkt werden können: in Fällen behaupte-ter besonderer Vertraulichkeit, solange die Gründe dafürangeblich fortbestehen. Das kann Jahre dauern.

So etwas geht überhaupt nicht. Wie soll ich dannmein Kontrollrecht wahrnehmen? Es ist doch das Geldder Bürgerinnen und Bürger, um das ich mich sorgensoll. Das ist eine meiner wichtigsten Aufgaben als Abge-ordneter. Wie soll das gehen und wie soll ich diese Auf-gabe wahrnehmen können, wenn ich nichts erfahre?

Es gäbe doch durchaus die Möglichkeit, alle Abge-ordneten vertraulich wenigstens zu unterrichten.

Ich will nicht, dass ich und 98 Prozent der Abgeord-neten unwissend gehalten werden können und außen vorbleiben, wenn für den Gesamtstaat sowie alle Bürgerin-nen und Bürger existenzielle Entscheidungen getroffenwerden. Die Finanzmärkte sind nicht das Maß allerDinge. Nach ihnen darf sich nicht richten, was die Ver-treter des ganzen Volkes wissen und entscheiden dürfen.

Dagegen stimme ich.

Sabine Stüber (DIE LINKE): Ich stimme dem Ge-setz zur Änderung des Gesetzes zur Übernahme von Ge-währleistungen im Rahmen eines europäischen Stabili-sierungsmechanismus aus zwei Gründen nicht zu:

Erstens. Die Aufstockung der Mittel des Stabilisie-rungsfonds ist im Ergebnis eine Unterstützung der Ban-ken, der Finanzinstitute und der Reichen. Im Haftungs-

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fall werden die entstehenden Lasten aber von der großenMehrheit der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler zu tra-gen sein. Es ist dann auch eine Kürzung von Renten undanderen Sozialleistungen zu befürchten. Die Bundesre-gierung ist jedenfalls nicht bereit, für die gegenwärtigenSozialstandards eine Garantieerklärung abzugeben. Des-halb lehne ich das Gesetz ab.

Den Menschen in den Ländern, die Gelder aus demeuropäischen Rettungsfonds erhalten, wird nicht wirk-lich geholfen: Die strengen Sparauflagen, mit denen die„Hilfe“ für diese Länder verbunden ist, treffen dort vorallem die Geringverdienenden, die Rentnerinnen undRentner. Deshalb wird die Binnennachfrage zurückge-hen. Wirtschaftswachstum und Steuereinnahmen sinken.Damit wird die Fähigkeit zur Rückzahlung der gewähr-ten Kredite immer weiter eingeschränkt. Das zeigt dieEntwicklung in Griechenland jetzt schon. Auch deshalbstimme ich dem Gesetz nicht zu.

Wir wollen stattdessen die Regulierung der Finanz-märkte, die Beteiligung der Reichen mit riesigem Ver-mögen an der Schuldentilgung und eine konstruktiveUnterstützung für die wirtschaftliche Entwicklung inGriechenland und anderen betroffenen Ländern.

Zweitens. Ich lehne das Gesetz auch deshalb ab, weiles die demokratisch-parlamentarische Kontrolle desBundeshaushalts untergräbt. Im Rahmen des Euro-Kri-senfonds, EFSF, werden Entscheidungen getroffen, dieAuswirkungen für spätere Generationen haben. Die de-mokratische Kontrolle kann nur funktionieren, wennUnterrichtungen und Entscheidungen durch den zustän-digen Fachausschuss, den Haushaltsausschusses, vorbe-reitet werden. Es ist auch nicht mit demokratischenGrundsätzen vereinbar wenn wichtige parlamentarischeEntscheidungen an ein kleines Sondergremium delegiertwerden. Mit dem Gesetz beugt sich der Bundestag demDiktat der Finanzmärkte.

Auch deshalb sage ich Nein zu diesem Gesetz.

Alexander Süßmair (DIE LINKE): Ich lehne dieAufstockung und Ausweitung der Europäischen Finanz-stabilisierungsfazilität, EFSF, ab, denn damit wird einmarktradikales und gescheitertes Krisenmanagementfortgesetzt, das die soziale und wirtschaftliche Spaltungder Euro-Zone und der EU weiter vertieft.

Die an die „Hilfskredite“ aus dem Rettungsschirm ge-knüpften radikalen Kürzungsauflagen würgten die Bin-nenkonjunktur der Krisenländer ab, verhinderten einenachhaltige Erholung der Wirtschaft und verschärftendie Schuldenkrise. Die Finanzmärkte wurden dadurchnicht „beruhigt“; es wird weiter gegen Krisenstaatenspekuliert. Bereits jetzt gehen Expertinnen und Expertensowie Finanzmarktakteure davon aus, dass auch die auf-gestockte EFSF nicht ausreichen wird!

Ich lehne den erweiterten Euro-Rettungsschirm ab,denn anstatt die Konsequenzen aus der gescheitertenmarktradikalen Politik zu ziehen, wird der Kurs fortge-setzt. In den Krisenländern bezahlen Arbeitnehmerinnenund Arbeitnehmer, Rentnerinnen und Rentner, Schüle-rinnen und Schüler, Studenteninnen und Studenten, Er-

werbslose und sozial Benachteiligte mit dem größten So-zialabbau der europäischen Nachkriegsgeschichte dafür,dass private Banken weiter spekulieren können. Damitwird die Agenda 2010 mit ihrem Sozialkahlschlag,Lohndumping und ihrer kurzsichtigen Fixierung auf denExport, nach Deutschland nun in Europa installiert.

In Deutschland werden die Steuerzahlerinnen undSteuerzahler für die milliardenschweren Garantien inHaftung genommen. Solange die Finanzmärkte nichtstrikt reguliert, Banken nicht vergesellschaftet und dieStaatsfinanzierung nicht von den Kapitalmärkten abge-koppelt wird, ist die Krise nicht unter Kontrolle zu brin-gen.

Diese Politik ist ungerecht, weil sie die Umverteilungvon unten nach oben beschleunigt und so eine zentraleKrisenursache fortschreibt. Sie ist ökonomisch gefähr-lich, weil die Spardiktate eine ökonomische Belebungder Krisenländer verhindern und keine effektiven Maß-nahmen zur Überwindung der wirtschaftlichen Un-gleichgewichte in der Euro-Zone und der EU vorgesehensind.

Sie gefährdet zunehmend die europäische Integration:Rechtspopulistische Parteien, die die Ängste und dieWut der Menschen gegen Spardiktate in europafeindli-che und nationalistische Propaganda kanalisieren, sindin vielen Ländern auf dem Vormarsch. Das gemeinsameProjekt eines vereinten und friedlichen Europas befindetsich durch diese Politik des grenzenlosen Kapitalismusin höchster Gefahr. Die Parlamente werden entmachtetund eine europäische „Wirtschaftsdiktatur“ errichtet.

Die EU wurde von Anfang an nur im Interesse derWirtschaft und Vermögenden gestaltet und nicht als einEuropa für alle Menschen. Meine Solidarität gilt denMenschen und nicht Banken oder Kapitalanlegern. Daseuropäische Projekt hat nur dann eine Zukunft, wenn essozial, solidarisch, friedlich und demokratisch gestaltetwird. Dafür trete ich als demokratischer Sozialist ein. Dadie „Euro-Rettung“ in genau die entgegengesetzte Rich-tung weist, kann Ich als Pro-Europäer nicht zustimmen.

Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): Ich lehne dasGesetz zur Änderung des Gesetzes zur Übernahme vonGewährleistungen im Rahmen eines europäischen Stabi-lisierungsmechanismus aus folgenden Gründen ab:

Als Abgeordnete der Linken bin ich proeuropäisch,denn ich will eine soziale und solidarische europäischeGemeinschaft. Doch diesem Ziel wird der erweiterteRettungsschirm nicht gerecht. Der Rettungsschirm lässtinsbesondere die Bevölkerung von Europa im Regen ste-hen, denn sie soll für die Krise zahlen, nicht deren Verur-sacher und Profiteure. Damit vertieft er die soziale undwirtschaftliche Spaltung in der europäischen Gemein-schaft, statt sie sozial, ökologisch und wirtschaftlich zueinen.

Die Ursachen der Krisen, vor allem die hochspekula-tiven, entfesselten Finanzmärkte werden mit ihm nichtbeseitigt, sondern fortgeschrieben. Um Profite von Ban-ken, Versicherungen und Spekulationsgewinne zu si-chern, werden weiter Milliarden Steuergelder verbrannt.

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In den Krisenländern müssen dafür die Arbeiterinnenund Arbeiter, Angestellte, Rentnerinnen und RentnerLohn- und Rentenkürzungen und den größten Sozialab-bau der europäischen Nachkriegsgeschichte hinnehmen.Auch in Deutschland haften die Steuerzahlerinnen undSteuerzahler für die milliardenschweren Garantien.

Die Alternativen zu diesem schwarz-gelben Rettungs-schirm liegen längst auf dem Tisch. Die Ursachen derKrise müssen bekämpft werden – und zwar europaweit.Ohne wirksame Regulierung des Finanzmarktes wird esnicht gehen. Schädliche Finanzinstrumente wie Leerver-käufe und hochspekulative Strukturen wie Hedgefondsoder Schattenbanken gehören verboten. Zur Sicherungeiner finanzunabhängigen Staatsfinanzierung sollte eineeuropäische Bank für öffentliche Anleihen errichtet wer-den.

Das europäische Projekt hat nur eine Zukunft, wennes demokratisch, sozial gerecht und wirtschaftlich ge-recht gestaltet wird. Dazu braucht es dringend ein euro-päisches Konjunkturprogramm und eine koordinierteWirtschafts- und Sozialpolitik innerhalb der EU. Der er-weitere Euro-Rettungsschirm zielt in die entgegenge-setzte Richtung und gefährdet so das Projekt Europa. Einso untaugliches Gesetz muss ich ablehnen.

Alexander Ulrich (DIE LINKE): Ja zu Europa heißtfür mich ganz klar: Nein zur Ausweitung und Aufsto-ckung des Rettungsschirms. Daher habe ich heute gegendie Erweiterung des Euro-Rettungsschirms gestimmt.

Der Rettungsschirm rettet nicht den Euro, er rettetnicht die EU – er rettet Banken und Spekulanten.

Bezahlen müssen hierfür die Beschäftigten: die Be-schäftigten hier, die einen Großteil der Steuergelder zah-len, und die Beschäftigten in Griechenland, Irland undPortugal, die unter sozial verheerenden und ökonomischvöllig unsinnigen Kürzungsprogrammen leiden, diedurch den Rettungsschirm diktiert werden.

Steuergelder für Bankprofite – nicht mit uns!

Ich habe gegen den ausgeweiteten Euro-Rettungs-schirm gestimmt, weil ich glaube, dass die EU nur aufanderen Wegen aus der Krise herauskommt: Die Verur-sacher und Profiteure der Krise müssen zur Kasse gebe-ten werden, die Spekulanten müssen an die Kette gelegtwerden und die Banken unter öffentliche Kontrolle. Wirbrauchen eine Finanztransaktionsteuer, eine europaweiteVermögensabgabe und eine wirkliche Bankenabgabe.

Die EU kann nur gerettet werden, wenn sie zu einemProjekt für sozialen Frieden wird. Dazu muss die Lageder Beschäftigten und der sozial Schwachen in der ge-samten EU verbessert werden. Damit müssen wir inDeutschland anfangen: Weg mit Hartz IV, her mit demgesetzlichen Mindestlohn! Auf diese Weise bauen wirdie hohen Exportüberschüsse ab und setzen so an denUrsachen der Krise an. Ein EU-weites Investitionspro-gramm und eine stärkere, sozial ausgerichtete Politik-koordination sollen den sozial-ökologischen Umbau inder EU vorantreiben.

Europa muss sozial sein, oder es wird nicht sein.

Arnold Vaatz (CDU/CSU): Der Haushaltsausschusshat in seiner Beschlussempfehlung vom 22. September2011 – Drucksache 17/7067 – den Mitgliedern des Deut-schen Bundestages empfohlen, den Antrag der Fraktio-nen CDU/CSU und FDP „Entwurf eines Gesetzes zurÄnderung des Gesetzes zur Übernahme von Gewährleis-tungen im Rahmen eines europäischen Stabilisierungs-mechanismus“ – Drucksache 17/6916 – in geänderterFassung anzunehmen. Ich folge dieser Empfehlung.

Meine Zustimmung zur vorgenannten Beschlussemp-fehlung verknüpfe ich mit folgender persönlicher Erklä-rung:

Die Ertüchtigung und Flexibilisierung der Europäi-schen Finanzstabilisierungsfazilität – EFSF – ist zwarnotwendig, um die konkrete Gefahr einer ungeordnetenInsolvenz Griechenlands und die möglichen Zuspitzun-gen von Zahlungsschwierigkeiten auch anderer Krisen-länder ohne weitere Anleihekäufe durch die EuropäischeZentralbank – EZB – zu gewährleisten. Diese Befugnis-erweiterung reicht aber nicht aus, um die Krise dauerhafteinzudämmen.

Die Unabhängigkeit der EZB ist gegeben. Dennochkam es – und kommt es noch immer – zu Anleihekäufendurch die EZB, die dadurch bereits beträchtliche Risikenin ihre Bücher genommen hat. Es ist sehr zweifelhaft, obdie EZB dafür die notwendige Legitimation besitzt, daletztlich die einzelnen Nationalstaaten entsprechend ih-rer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit dafür haften. DieGefahr besteht, dass die EZB auch nach Ertüchtigungder EFSF an ihrer Politik festhält und dass sich dieserordnungspolitische Sündenfall insbesondere auf KostenDeutschlands perpetuiert. Daher ist es zwingend not-wendig, der EZB die Grundlage für weitere Anleihe-käufe zu entziehen, ohne ihre Unabhängigkeit anzutas-ten. Dies sollte durch zweierlei Maßnahmen geschehen:

Die Zielformulierung der Zentralbankpolitik musssich ausschließlich auf die Gewährleistung der Preissta-bilität reduzieren. Die Erfolgsgeschichte der DeutschenBundesbank lässt sich insbesondere darauf zurückfüh-ren.

Die Stimmrechte im EZB-Zentralbankrat sind nachKapitalanteilen zu gewichten. Andernfalls besteht wei-terhin die Gefahr, dass die Länder, die insbesondere fürrisikoreiche Anleihen haften, von kleineren Ländernüberstimmt werden und weiterhin Risiken auf Deutsch-land und andere kapitalstarke Staaten abgewälzt werden.

Beides macht eine Änderung der Satzung der EZBdringend erforderlich.

Zudem sind mögliche Regeln einer geordneten Insol-venz eines Staates auszuloten. Diese müssen einen auto-matischen Schuldenschnitt unter Beteiligung privaterGläubiger beinhalten, sobald ein Staat über eine be-stimmte Zeit hinaus nicht in der Lage ist, seine Schuldenzu bedienen.

Den derzeitigen Gefahren für die Realwirtschaft, diemit möglichen Insolvenzen von Banken einhergehen,müssen wir entschieden entgegentreten. Kurzfristigsollte das durch höhere Eigenkapitalquoten geschehen.

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Mittelfristig ist es notwendig, sogenannte systemrele-vante Banken in kleinere Institute zu zerschlagen, sodassdiese einzeln insolvent gehen können, ohne die gesamteRealwirtschaft mitzureißen.

Diese Forderungen stellen nichts anderes als eineRückkehr zu grundlegenden Prinzipien der Begründerder Sozialen Marktwirtschaft dar. Insbesondere das Pri-mat der Währungspolitik wurde missachtet und das Prin-zip der Haftung grob verletzt. Unter der Voraussetzung,dass die Wiederherstellung dieser Prinzipien eisern ver-folgt wird, stimme ich für den Gesetzentwurf. Ich bin zu-versichtlich, dass dieser Weg von der Koalition weiterverfolgt wird.

Johanna Voß (DIE LINKE): Meine Fraktion, DieLinke, und ich lehnen die Aufstockung und Ausweitungder Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität, EFSF,ab, denn damit wird ein marktradikales und gescheitertesKrisenmanagement fortgesetzt, das die soziale und wirt-schaftliche Spaltung der Euro-Zone und der EU weitervertieft.

Ich wende mich entschieden gegen diese Politik dessozialen Kahlschlags, die mithilfe des Rettungsschirmsdiktiert wird. Die Länder, die sich unter den Rettungs-schirm begeben, werden zu Kürzungen gezwungen, dieauf demokratischem Wege niemals durchsetzbar wären.Während sich alle Welt zum Richter über Griechenlandaufschwingt und Frau Merkel nicht müde wird zu beto-nen, die Griechen müssten sich noch mehr anstrengen,wird völlig übersehen, was der griechischen Bevölke-rung alles abverlangt wird. Als Gegenleistung für die Fi-nanzhilfen aus der EU mussten sie unter anderem dieMehrwertsteuer von 19 auf 23 Prozent erhöhen, die Ren-ten kürzen, das Rentenalter erhöhen, die Preise für denöffentlichen Nahverkehr um 30 Prozent erhöhen, die öf-fentlichen Investitionen um 1,2 Milliarden Euro kürzen,die Mindestlöhne senken und den Kündigungsschutz lo-ckern. Für Portugal und Irland sieht es ähnlich aus.

Ich lehne das Gesetz ab, denn der Rettungsfonds istvon den Banken diktiert und nützt nur ihnen, nicht Eu-ropa, nicht Griechenland. Schon die bisherige Euro-Ret-tung hat die Ausweitung der Krise nicht verhindert, imGegenteil: Die Banken und Finanzinvestoren wurden ge-schützt. Doch den Krisenländern warfen die Regierun-gen der Euro-Zone, die EU-Kommission, die Europäi-sche Zentralbank und der IWF Rettungsringe aus Bleizu: Die an die Hilfskredite aus dem Rettungsschirm ge-knüpften radikalen Kürzungsauflagen würgten die Bin-nenkonjunktur der Krisenländer ab, verhinderten einenachhaltige Erholung der Wirtschaft und verschärftendie Schuldenkrise. Die Ursachen der Krise wurden voll-ständig ausgeblendet. Die Finanzmärkte wurden durchdie „Rettungsmaßnahmen“ nicht beruhigt; es wird weitergegen Krisenstaaten spekuliert. Bereits jetzt gehen Ex-pertinnen und Experten und sowie Finanzmarktakteuredavon aus, dass auch die aufgestockte EFSF nicht aus-reichen wird.

Die Linke lehnt den erweiterten Euro-Rettungsschirmab, denn der neoliberale Kurs wird beibehalten, anstattKonsequenzen aus der gescheiterten Politik zu ziehen. In

den Krisenländern bezahlen Beschäftigte, Rentnerinnenund Rentner sowie andere Bevölkerungsgruppen mitLohn- und Rentenkürzungen und dem größten Sozialab-bau der europäischen Nachkriegsgeschichte dafür, dassprivate Banken weiter spekulieren. In Deutschland wer-den die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler in Haftungfür die milliardenschweren Garantien genommen.

Diese Politik ist ungerecht, weil sie die Umverteilungvon unten nach oben beschleunigt und so eine zentraleKrisenursache fortschreibt. Sie ist ökonomisch gefähr-lich, weil die Spardiktate eine ökonomische Belebungder Krisenländer verhindern und keine effektiven Maß-nahmen zur Überwindung der wirtschaftlichen Un-gleichgewichte in Euro-Zone und EU vorgesehen sind.Sie gefährdet zunehmend die europäische Integration:Rechtspopulistische Parteien, die die Ängste und dieWut der Menschen gegen Spardiktate in europafeindli-che und nationalistische Propaganda kanalisieren, sindin vielen Ländern auf dem Vormarsch. Das Argumentder Koalition – auch von SPD und Grünen –, es gehe mitdem Rettungsschirm darum, „Europa zu retten“, ist da-her schlicht falsch.

Solange die Finanzmärkte nicht strikt reguliert, Ban-ken nicht vergesellschaftet und die Staatsfinanzierungnicht von den Kapitalmärkten abgekoppelt werden, istdie Krise nicht unter Kontrolle zu bringen.

Statt einer weiteren „Rettung“ müssen die öffentli-chen Haushalte aus der Abhängigkeit von den Kapital-märkten befreit werden. Dazu müssen die Staaten dieMöglichkeit bekommen, über eine europäische Bank füröffentliche Anleihen zinsgünstige Kredite bei der EZBaufzunehmen. Gleichzeitig ist der Schuldenstand durcheine Beteiligung der Banken und privaten Gläubiger so-wie durch eine europaweite Vermögensabgabe für Mil-lionäre drastisch zu senken. Nur so können die Profi-teure und Verursacher der Krise angemessen zur Kassegebeten werden.

Das europäische Projekt hat nur dann eine Zukunft,wenn es sozial gerecht, wirtschaftlich vernünftig und de-mokratisch gestaltet wird. Da die „Euro-Rettung“ in ge-nau die entgegengesetzte Richtung weist, kann ich demGesetz zur Änderung des Gesetzes zur Übernahme vonGewährleistungen im Rahmen eines europäischen Stabi-lisierungsmechanismus nicht zustimmen.

Marco Wanderwitz (CDU/CSU): Ein starker ge-meinsamer Wirtschaftsraum und eine starke gemein-same Währung der Europäer liegen in unserem nationa-len Interesse. Gerade unser Land als „kleine“ großeExportnation profitiert davon besonders. Europa darfnicht scheitern, wollen wir in der globalisierten Welt des21. Jahrhunderts, wo China, Indien, die rohstoffreichenLänder Afrikas, Lateinamerikas und Russland aufstre-ben, bestehen.

Die aktuelle Staatsschuldenkrise Europas gefährdetdas. Sie kam schleichend, aber nicht unvermittelt. AuchDeutschland ist nicht nur mittelbar betroffen; über allestaatlichen Ebenen in unserem Land waren ausgegli-chene Haushalte jahrzehntelang Mangelware. Die damit

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verbundene Lastenverschiebung in die Zukunft ist eineschwere Bürde für die jüngeren und künftige Generatio-nen. Auch die Möglichkeit zu gestaltender Politik sinktmit jedem weiteren Euro Staatsschulden.

Wir Deutschen erkannten erfreulicherweise früher alsviele andere, dass ein „Weiter-so!“ in den Abgrund führt.Die neu im Grundgesetz festgeschriebene Schulden-bremse war die große Leistung der unionsgeführten Ko-alition der Jahre 2005 bis 2009.

Die christlich-liberale Koalition erfüllt die Schulden-bremse nun mit Leben. Wir sind auf solidem Weg, habendie Chance, bereits vor 2016 die schwarze Null im Bun-deshaushalt zu erreichen. Leider sind aber auch inDeutschland noch nicht alle Bundesländer auf so soli-dem Pfad wie beispielsweise der Freistaat Sachsen seitJahren und wir nun im Bund. Der Weg ist steinig, Besitz-stände stehen infrage – aber wenn etwas ohne sinnvolleAlternative ist, dann das. Und es ist auch unser Erwar-tungsmaßstab an unsere europäischen Partner. Die Alter-native heißt aufwachsende Inflation, Staatspleite, Wäh-rungsschnitt.

Schon einmal gab es eine deutsche Bundesregierung,die Stabilität für Europa suchte. Das Europabild vonHelmut Kohl und Theo Waigel war eines der Stabilität.Der Europäische Stabilitäts- und Wachstumspakt und dieEuro-Kriterien waren die Pfeiler einer Euro-Zone derStabilität. Das war damals genauso wenig Selbstzweck,wie heute. Ohne Stabilität kein dauerhaftes Prosperieren.

Der Fehler von damals war, nicht schärfere Instru-mente der Stabilitätskultur zu schaffen. Der ehemaligeChefvolkswirt der Bundesbank und später der EZB,Issing, sagt zu Recht, dass das Mehrheitsprinzip dazuführe, dass Sünder über Sünder richten sollen, was nichtfunktioniere.

Die ersten Jahre gingen gleichwohl in die richtigeRichtung. Die niedergelegten Grundsätze wurden beach-tet. Der erste Sündenfall war der Griechenland-Beitritt.Griechenland war zu keinem Zeitpunkt beitrittsreif, allewussten es. Darüber hinaus waren die schon schlechtenBilanzen noch „geschönt“. CDU und CSU haben damalsgewarnt. Die damalige rot-grüne Regierung Schröder hatuns das jetzige Elend rund um Griechenland damals be-schert. Und es kam noch schlimmer. Danach begannDeutschland unter Kanzler Schröder, die Schuldenma-cherei zur politischen Handlungsmaxime zu machen.Wir wurden vom Vorbild zum schlechten Beispiel, wa-ren die ersten, die das 3-Prozent-Neuverschuldungskrite-rium nicht einhielten. Und wir fanden Nachahmer. Daswar leicht, da die deutsche Regierung zunächst in Eu-ropa die richtigen Grundsätze ihrer Vorgänger zugrunderichten musste, um Schulden machen zu können. Wiedergegen den Widerstand von CDU und CSU, die vergeb-lich kämpften.

Die damals gelegte Saat ging in den Jahren auf. Durchdie weltweite Finanzkrise drehte sich die Spirale dannschneller. Die Konjunkturspritzen waren in ganz Europaschuldenfinanziert. Das Ergebnis sehen wir nun – wirstehen vor einem Scherbenhaufen und tiefer in den Krei-

debüchern der Kreditgeber. Ohne Verschuldung gäbe eskeine Möglichkeit zur Spekulation.

Wir „kaufen“ nun bisher immerzu neue Zeit, nutzensie aber nicht ausreichend. Die Gefahr, dass künftige Ge-nerationen später dafür viel Geld zahlen müssen, istnicht unerheblich. Unsere Interessen als Zahlerland müs-sen wir stärker betonen, und, wenn das nicht möglich ist,auch die Konsequenzen zu ziehen bereit sein. Auchdiese würden aber sehr schmerzhaft sein. Die uneinheit-liche Sicht der Wirtschaftswissenschaft, insbesonderewas „Endszenarien“ betrifft, macht die Entscheidungsehr schwierig. „Pest oder Cholera“, „Skylla oder Cha-rybdis“ – leider sind die Szenarien genau so.

Der anstehende ESM-Vertrag, der eine Überarbeitungder Europäischen Verträge darstellt, wird entscheidend.Die Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts mitfrüheren und schärferen Sanktionen bei Regelverstößen,deren Ahndung politischem Ermessen entzogen, auto-matisiert werden muss, ist die Lösung. Für Griechenlandwird das alles nichts mehr helfen; hier brauchen wir eineSonderbehandlung.

Auch die Unabhängigkeit der Europäischen Zentral-bank muss dringend wiederhergestellt werden, indembaldigst der Ankauf von Staatsanleihen beendet wird.

Die Skepsis aufseiten der deutschen Regierungsfrak-tionen in den letzten Monaten, die auch mich betrifft, hatbereits zu spürbaren Verbesserungen geführt. Wir strei-ten dabei nicht mit unserer Regierung, sondern mit ihrgemeinsam in Europa. Die Beteiligungsrechte des Bun-destages werden nun erheblich gestärkt, sind einzigartigin Europa. Keine neuen Länderprogramme mehr ohnevorherige Zustimmung des Bundestages. Kein „konkre-tes“ Geld mehr ohne vorherige Zustimmung des Bundes-tages. Dies wird aber gerade erst wirksam mit dem heuti-gen Gesetz.

Die von SPD und Grünen neben dem Weg in die of-fene Transferunion geforderten Euro-Bonds, die Verge-meinschaftung von fremden Schulden zu unseren Las-ten, wären ein katastrophales Instrument für unser Land.Sie kosteten uns Jahr für Jahr Milliarden und hätten kei-nen Nutzen. Im Gegenteil reizten sie geradezu dazu,weiter unsolide zu haushalten. Sie wären für Deutsch-land die schlechteste aller denkbaren Optionen.

Dem heutigen Gesetz stimme ich zu, um die Regie-rung nicht zu destabilisieren, und weil endlich Verbesse-rungen erreicht wurden. Die rot-grüne Oppositionstimmt zu, hebt aber medial das Ergebnis in den Reihender Koalition zu einer rein politischen Machtfrage. Siewill das Ringen in unserer Fraktion um eine Sachfragegroßer Tragweite zu einer Personalfrage machen. Das istin höchstem Maße unverantwortlich. Diese Koalitionund insbesondere Angela Merkel als Bundeskanzlerinsind Garanten für die bestmögliche Wahrnehmung unse-rer Interessen in Europa unter diesen schwierigen Bedin-gungen.

Harald Weinberg (DIE LINKE): Ich stimme gegendie Aufstockung des Euro-Rettungsschirms, EFSF, weilich weiß, dass es auf die Krise nur eine linke Antwort

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geben kann. Die Euro-Stabilisierung darf nicht auf Kos-ten von Löhnen, Renten und Sozialleistungen gehen. DieAufstockung der Mittel des Stabilisierungsfonds ist imErgebnis eine Unterstützung der Banken, der Finanzinsti-tute, der Reichen und der Superreichen.

Den Menschen in den Ländern, die Mittel vom EFSFerhalten, wird nicht wirklich geholfen: Die diesen Län-dern aufgegebenen strengen Auflagen treffen dort vor al-lem die Geringverdiener, die Rentnerinnen und Rentner.Die Binnennachfrage bricht ein. Wirtschaftswachstumund Steuereinnahmen sinken. Die Fähigkeit zur Rück-zahlung der gewährten Kredite wird immer weiter einge-schränkt. Das zeigt die Entwicklung in Griechenland.Auch deshalb sage ich. Nein zu dem Gesetz.

Ich stimme gegen den erweiterten Euro-Rettungs-schirm, denn ein Ja zu diesem erneuten Geschenk an dieBanken und Spekulanten würde ein Nein zu Europa be-deuten. Es ist mehr als bedenklich, dass hier im Bundes-tag alle Fraktionen bis auf Die Linke eine Politik gegendie große Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland undin Europa machen. Die Entscheidung von CDU/CSU,FDP, Grünen und SPD hilft weder Griechenland, nochrettet sie den Euro. Im Gegenteil: Diese Entscheidung istdas Todesurteil für die griechische Ökonomie. Und so-lange man sich nicht entschließen kann, die Verursacherund Profiteure der Krise zur Kasse zu bitten, wird auchder Euro weiter gefährdet bleiben.

Auch die große Mehrheit der Beschäftigten und Ge-werkschaftsmitglieder lehnt diese erneute Sozialisierungder Verluste der Banken und Spekulanten ab. Ich be-grüße in diesem Sinne auch die Erklärung zur Euro-Krise des letzten Verdi-Bundeskongresses, bei dem auchich gewesen bin, in der zu Recht kritisiert wird „dass Ar-beitnehmerinnen und Arbeitnehmer, Rentnerinnen undRentner sowie Arbeitslose die Zeche der großen Finanz-markt- und Wirtschaftskrise zahlen“. Banken, die es wiedie Deutsche Bank lediglich gut verstehen, Gewinne zuprivatisieren, aber dann der Öffentlichkeit ihre Unter-nehmensrisiken überhelfen wollen, sollten vergesell-schaftet werden. Auch hier heißt es ganz richtig in derVerdi-Erklärung: „Wir kritisieren, dass Rettungshilfenfür Banken, Investmentfonds und Versicherungen nichtnach dem Prinzip ,Leistung nur für Gegenleistung‘ orga-nisiert wurden.“

Anlage 3

Erklärung nach § 31 GO

der Abgeordneten Dr. Axel Troost undDr. Barbara Höll (DIE LINKE): zur namentli-chen Abstimmung über den Entwurf eines Ge-setzes zur Änderung des Gesetzes zur Über-nahme von Gewährleistungen im Rahmen eineseuropäischen Stabilisierungsmechanismus (Ta-gesordnungspunkt 3 a)

Wir stimmen gegen den Euro-Rettungsschirm.

Das Stolpern von Rettungspaket zu Rettungspaket isthochgefährlich, weil es die Akzeptanz für ein solidari-

sches Europa untergräbt und die Krise verschärft. Auchdieses Rettungspaket wird die Krise nicht lösen, sondernverlängern. Bereits jetzt ist ersichtlich, dass die Mittelder EFSF nicht ausreichen werden und das nächste Ret-tungspaket benötigt wird.

Die Griechenland aufgezwungene Schocktherapie hatdie Finanzsituation des Landes wesentlich verbessert.Sie bedeutet für die Masse der Bevölkerung jedoch eineKatastrophe. Die strukturellen Probleme des Landeskönnen nicht in kürzester Zeit behoben werden. Diedrastischen Kürzungen haben die griechische Wirtschaftstranguliert und das Land in eine Rezession gestürzt.Das neue Rettungspaket stellt zwar eine Verbesserunggegenüber bisherigen Maßnahmen dar, weil es auf einelängere Frist angelegt ist und auf Strafzinsen verzichtet.Durch das späte Handeln, die fehlende Entschlossenheitund die unzureichenden Maßnahmen konnte die Kriseaber endgültig auf Spanien und Italien übergreifen.

Durch Euro-Anleihen hätte die Spekulation gegeneinzelne Staaten der Währungsunion wirkungsvoll un-terbunden werden können. Staaten würden nicht längerzum Spielball von Spekulanten und Ratingagenturen.Sie hätten auch eine Umschuldung mit einer substanziel-len und nicht bloß symbolischen Beteiligung der priva-ten Gläubiger ermöglicht, welche die drückende griechi-sche Schuldenlast gemindert und Risiken von denSteuerzahlern abgewendet hätte.

Wir möchten auch ausdrücklich festhalten: Die Euro-Krise kann nicht ausschließlich auf Versäumnisse einzel-ner Staaten zurückgeführt werden. Die Währungsunionist in der jetzigen Form eine Fehlkonstruktion, bei derKrisen wie die jetzige vorprogrammiert sind.

Eine wesentliche Ursache für die Krise ist die völligunzureichende makroökonomische Koordinierung. DieEuro-Mitgliedstaaten haben sich nicht über wesentlicheEckpunkte eines gemeinsamen Währungsraums wieLohnentwicklung, Wirtschaftssteuerung und eine Politikdes sozialen Fortschritts verständigt. Stattdessen habensie mit der Währungs- und Freihandelsunion eine Staa-tenkonkurrenz festgeschrieben, von der vor allem daswirtschaftlich übermächtige Deutschland profitiert. Im-mer mehr Mitgliedstaaten können dem Unterbietungs-wettlauf um die niedrigsten Sozial-, Lohn- und Steuer-kosten nichts mehr entgegensetzen, seit Wechselkurseals Ausgleichsmechanismus wegfallen.

Eine Folge sind die gewaltigen außenwirtschaftlichenUngleichgewichte. Die Leistungsbilanzdefizite vonStaaten wie Griechenland sind nur die Kehrseite der ge-waltigen Überschüsse von Staaten wie Deutschland. Siekonnten nur aufgebaut werden, weil Regierungen wiedie deutsche sich keinen Deut um eine koordinierte Lohn-entwicklung geschert haben. Stattdessen wurden durchLohndumping Vorteile zu Lasten anderer Staaten undder Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer verschafft.Um die Verwerfungen abzubauen, bedarf es zwingendAnpassungsmaßnahmen auch in Deutschland, etwadurch höhere Löhne und öffentliche Investitionen.

Die Politik der Staatenkonkurrenz führt dazu, dassseit Jahren die Wohlstandszugewinne nur noch bei Rei-

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chen und Unternehmen ankommen. Diese entziehen sichzunehmend der Besteuerung, mit entsprechenden Haus-haltsproblemen. Der Masse der Menschen in Europageht es zusehends schlechter. Aus Gründen der sozialenGerechtigkeit, aber auch der Stabilität bedarf es einerUmverteilung von oben nach unten – etwa in Form einerFinanztransaktionsteuer, Steuern auf hohe Vermögenund ein entschlossenes Vorgehen gegen Steueroasen unddie Finanzvehikel der Reichen und Mächtigen.

Viele Probleme können nur noch international gelöstwerden. Europa spielt dabei eine wichtige Rolle. Die Ge-staltung der Europäischen Union als Elitenprojekt warvon Anfang an mit Demokratiedefiziten verbunden. Diesgilt auch für dieses Rettungspaket, das nicht das Euro-päische Parlament, sondern die Regierungschefs der EUzusammen mit Josef Ackermann und einem französi-schen Spitzenbanker ausgehandelt haben. Werden dieDefizite der Währungsunion und das Demokratiedefizitnicht behoben, droht das gemeinsame Projekt gegen dieWand zu fahren.

Anlage 4

Erklärung nach § 31 GO

der Abgeordneten Dr. h. c. Jürgen Koppelin,Dr. Lutz Knopek und Joachim Günther (Plauen)(alle FDP) zur namentlichen Abstimmung überden Entwurf eines Gesetzes zur Änderung desGesetzes zur Übernahme von Gewährleistungenim Rahmen eines europäischen Stabilisierungs-mechanismus (Tagesordnungspunkt 3 a)

Die Lösungen der Koalition in der europäischenHaushalts- und Finanzpolitik sollen die derzeitigen Tur-bulenzen an den Finanzmärkten eindämmen und neuesVertrauen etablieren. Nicht alle bisherigen oder geplan-ten Maßnahmen finden unsere Zustimmung.

Es bleiben bei uns erhebliche Zweifel. Einer geordne-ten Insolvenz zum Beispiel für Griechenland hätten wirden Vorzug gegeben. Wir sind nicht grundsätzlich gegenHilfen für andere Euro-Staaten. Wir können jedoch nichterkennen, welche Risiken von anderen Staaten des Euro-Raums noch zu erwarten sind. Diese Risiken konntenbisher nicht benannt und Zweifel nicht ausgeräumt wer-den.

Die Schaffung eines kleinen Gremiums, das anstelledes Haushaltsausschusses entscheiden kann, lehnen wirab, zumal dieses Gremium der Vertraulichkeit unterliegt.Es steht zu befürchten, dass damit die Beteiligung desDeutschen Bundestages ausgehebelt wird.

Leider sind auch von der Opposition keine Konzepteund Alternativen zu den Vorschlägen der Regierung ge-kommen, die wir für diskussionswürdig hätten haltenkönnen.

Eine freie Abstimmung wäre eine gute Stunde für denDeutschen Bundestag gewesen.

Aufgrund des durch die Opposition entworfenen Sze-narios eines Endes der Koalition besteht nun die Not-wendigkeit, die Kanzlermehrheit für das Gesetz zu si-

chern. Die Aussage der Vorsitzenden von Bündnis 90/Die Grünen, Renate Künast, dass die heutige Abstim-mung über den erweiterten Euro-Rettungsschirm EFSFim Bundestag als Bewährungsprobe für die schwarz-gelbe Koalition zu sehen sei, macht es uns unmöglich,nur in der Sache abzustimmen.

Uns ist auch klar, dass es, falls heute keine Mehrheitaus der Koalition zustande kommt, zu noch stärkerenUnsicherheiten für die Märkte kommen wird. Die Kapi-talmärkte werden entsprechend reagieren. Auch mitBlick auf die europäischen Nachbarn und die Partner inder Welt ist es für Deutschland mit dem Ziel eines stabi-len Euro wichtig, ein Zeichen für eine geschlossene undentschlossene Koalition zu setzen.

Das haben wir heute ebenfalls bei unserem Abstim-mungsverhalten zu berücksichtigen.

Aufgrund dieser Abwägung stellen wir unsere per-sönlichen Bedenken und Zweifel zu den im Gesetzesvor-haben getroffenen Regelungen zurück und stimmen denÄnderungen an dem Gesetz zum europäischen Stabili-sierungsmechanismus zu.

Anlage 5

Zu Protokoll gegebene Reden

Erklärung nach § 31 GO der AbgeordnetenWerner Schieder (Weiden), Klaus Barthel,Dr. Bärbel Kofler, Daniela Kolbe (Leipzig),Hilde Mattheis, René Röspel und Rüdiger Veit(alle SPD) zur namentlichen Abstimmung überden Entwurf eines Gesetzes zur Änderung desGesetzes zur Übernahme von Gewährleistungenim Rahmen eines europäischen Stabilisierungs-mechanismus (Tagesordnungspunkt 3 a)

Bei der namentlichen Abstimmung über die Erweite-rung der EFSF haben wir mit Ja gestimmt. Das bedeutetaber keineswegs, dass wir ansonsten die falsche Antikri-senpolitik der Bundesregierung unterstützen.

Erstens. Wir haben zugestimmt, weil wir es grund-sätzlich für richtig halten, mit einem handlungsfähigenRettungsschirm die Attacken von spekulierenden Fi-nanzmärkten gegen einzelne Länder abzuwehren und sodie Refinanzierung von Krisenstaaten zu vernünftigenZinsen sicherzustellen. Notwendig ist eine glaubwürdigeGarantie der gesamten Euro-Zone. Deshalb bedarf es ei-ner Institution, die als Vermittlungsstelle zwischen dieStaaten, deren Refinanzierung sichergestellt werdenmuss, und die aggressiven Finanzmärkte, denen die ein-zelnen Länder mangels eigener Währung und Zentral-bank schutzlos ausgeliefert sind, gestellt wird.

Zweitens. Vor diesem Hintergrund ist allerdings auchder erweiterte EFSF unzureichend. Erstens, weil erneutoffen bleibt, ob und in welchem Umfang einzelnen Län-dern tatsächlich geholfen wird, wenn sie in Refinanzie-rungsschwierigkeiten kommen. Zweitens ist das be-grenzte Ausleihvolumen nicht ausreichend, wenn zumBeispiel auch Länder wie Italien und Spanien in solche

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Schwierigkeiten – ausgelöst durch Wetten im Finanz-marktkasino – geraten.

Drittens. Vielmehr ist es notwendig, den EFSF zu ei-ner „Bank für Staatsanleihen“ weiterzuentwickeln– Euro-Bonds –, die eine verlässliche und glaubwürdigeGarantie für die gesamte Euro-Zone darstellt. DieseBank muss sich bei der EZB refinanzieren können. Ihreffektives Ausleihvolumen ist nicht begrenzt. Zudementsteht dadurch ein hochliquider Markt für Staatsanlei-hen in Euro, der für Anleger attraktiv ist.

Viertens. Die Bundesregierung muss ihre einseitigeFixierung auf die Staatsverschuldung als angeblicheFolge nachlässiger Haushaltspolitik aufgeben. Der An-stieg der Staatsverschuldung seit 2007/2008 ist eindeutigeine Folge der Finanzkrise und damit das Resultat unre-gulierter Finanzmärkte. Vor der Finanzkrise hatten alleLänder nachweisbar Konsolidierungserfolge erzielt. DasHochschnellen der Staatsschulden seit Ausbruch derKrise hätte weder durch Schuldenbremsen noch durcheinen verschärften Stabilitätspakt verhindert werdenkönnen.

Fünftens. Neben der Besicherung der Euro-Zone sinddie Ungleichgewichte in Wettbewerbsfähigkeit undLeistungsbilanzen in den Fokus zu nehmen, die den ent-scheidenden realwirtschaftlichen Hintergrund für dieKrise der Euro-Zone bilden. Hier braucht vor allen Din-gen Deutschland als mit Abstand größtes Überschuss-land einen Kurswechsel hin zu einer dauerhaften Aus-weitung der Binnennachfrage und einer expansiverenLohnpolitik. Dem verwehrt sich dogmatisch die Bundes-regierung und steuert so die gesamte Euro-Zone in eineanhaltende Phase der Stagnation. Mehr noch: Das Risikodes Auseinanderbrechens der Währungsunion bleibt ge-rade deswegen virulent mit der wahrscheinlichen Folge,dass ein Teil der Rettungskredite nicht zurückgezahltwird und die Steuerzahler belastet werden. Für diesedenkbare Entwicklung übernehmen wir mit unserer Zu-stimmung zum Rettungsschirm keine Verantwortung –sie liegt einzig bei der Bundesregierung.

Sechstens. Die Bundesregierung hat mit ihrer fatalenAntikrisenpolitik den ökonomischen Niedergang Grie-chenlands beschleunigt. Ungeachtet der hausgemachtenProbleme und Versäumnisse in Griechenland hat die vonder Bundesregierung durchgesetzte Politik der radikalenSpardiktate und drastischer Lohn- und Ausgabenkürzun-gen Griechenland endgültig in eine schwere Rezessionmit verheerenden wirtschaftlichen und sozialen Auswir-kungen getrieben. Die Bundesregierung trägt dadurch– aber auch, weil sie alle bisherigen Stabilisierungsmaß-nahmen bis zum heute vorliegenden erweiterten EFSFimmer erst monatelang abgelehnt hat – eine wesentlicheMitverantwortung für die Eskalation der Euro-Krise unddie Gefahr der Ansteckung weiterer Euro-Länder.

Siebentens. Wir stellen fest, dass die gegenwärtigeKrise nicht verursacht worden ist von Rentnern, Arbeit-nehmern und der jüngeren Generation, sondern von un-regulierten und maßlosen Finanzspekulanten, die ausrücksichtloser Gier handeln. Wir treten daher weiterhinfür eine strenge Regulierung und Redimensionierung derFinanzmärkte ein.

Anlage 6

Erklärung nach § 31 GO

Des Abgeordneten Volker Beck (Köln) (BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN) zur Abstimmung überden Entwurf eines Gesetzes zur Änderung desGrundgesetzes und zur Reformierung desWahlrechts (Tagesordnungspunkt 5)

Namens und im Auftrag meiner Fraktion Bündnis 90/Die Grünen erkläre ich zur Abstimmung über den vonder Fraktion Die Linke eingebrachten Entwurf einesGesetzes zur Änderung des Grundgesetzes und zurReformierung des Wahlrechts – Drucksachen 17/5896,17/7069 – Folgendes:

Meine Fraktion wird sich der Stimme bei der geteiltenAbstimmung über den oben genannten Gesetzentwurfenthalten, soweit sie die in Art. 2 Nrn. 1, 3 bis 7, 13, 16bis 18 und Art. 10 enthaltenen Vorschriften betrifft. Diedarin befindlichen Regelungen zur Beseitigung des so-genannten negativen Stimmgewichts finden zwar die un-eingeschränkte Zustimmung meiner Fraktion. Denn mitihnen wird das Urteil des Bundesverfassungsgerichtsvom 3. Juli 2008 in adäquater Weise umgesetzt. Eine Zu-stimmung zu den genannten Vorschriften des Gesetzent-wurfs ist meiner Fraktion dennoch nicht möglich, da sel-bige inzident auch die Streichung der 5-Prozent-Hürdeim geltenden Wahlrecht regeln. Letzteres lehnt meineFraktion ab.

Anlage 7

Zu Protokoll gegebene Reden

zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zurVerbesserung der Feststellung und Anerken-nung im Ausland erworbener Berufsqualifika-tionen (Tagesordnungspunkt 7)

Marcus Weinberg (Hamburg) (CDU/CSU): LassenSie mich am Anfang meiner Rede noch einmal die we-sentlichen Ziele des Gesetzes formulieren.

Erstens. Wir schaffen über das Anerkennungsgesetzendlich eine verbindliche Möglichkeit, die Lebensleis-tung von Menschen anzuerkennen, die im Ausland ihrenBerufsabschluss oder ihre Berufsqualifikation erworbenhaben. Dieses ist integrationspolitisch für die betroffe-nen Menschen ein lang erwarteter wichtiger Schritt.

Zweitens. Gerade vor dem Hintergrund des aufkom-menden Fachkräftemangels können wir durch das Hebendieser Potenziale eine Entlastung auf dem Arbeitsmarktherbeiführen. Ich erinnere an dieser Stelle noch einmalan die durch den Mikrozensus 2008 festgestellte Anzahlvon bis zu 300 000 Migrantinnen und Migranten, die imAusland eine Ausbildung oder Qualifikation abgeschlos-sen haben und jetzt möglicherweise diese auch inDeutschland anerkennen lassen können.

Drittens. Wir können auch für potenzielle Zuwandererein verbindliches Verfahren schaffen, welches ihnen

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hilft, bereits vor der Zuwanderung ein Anerkennungs-verfahren zu durchlaufen.

Und letztendlich viertens sei neben der Vereinheitli-chung des Verfahrens das Ziel der Entkoppelung der Be-wertung und Anerkennung von der Frage der Staatsbür-gerschaft genannt. Denn bisher existierte lediglich einRechtsanspruch für EU-Bürger und Spätaussiedler aufein Anerkennungsverfahren, während für alle anderenStaatsangehörigkeitsgruppen keine einheitlichen Rechts-grundlagen bestanden.

Nachdem wir bereits in der Großen Koalition im Rah-men der Qualifizierungsinitiative das Ziel zwischenBund und Ländern definiert hatten, dass im Ausland er-worbene Abschlüsse zügig auf Anerkennung geprüftwerden sollen und gegebenenfalls Teilanerkennungenausgesprochen werden sollen, setzen wir hier die Verein-barung aus dem Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSUund FDP um. Dass dieses Verfahren durchaus längereZeit in Anspruch genommen hat, ist sicherlich auch derTatsache geschuldet, dass nicht nur ein Berufsqualifika-tionsfeststellungsgesetz erstellt wurde, sondern zudemweitere 60 Berufsgesetze und Verordnungen geändertwerden mussten. Dieses musste nicht zuletzt in derBund-Länder-Arbeitsgruppe „Anerkennungsverfahren“vorgeklärt werden. Ich erwähne das deshalb, weil derVorwurf, dass dieses Gesetz an den Interessen der Län-der vorbeigehe, aus diesem Grund nicht haltbar ist. Eswar das Bestreben der Bundesregierung, auch aufgrundder Komplexität der gesamten Thematik, den Prozessder Gesetzeserstellung eng mit den Bundesländern abzu-stimmen. Vor diesem Hintergrund erscheint es erstaun-lich, dass einige Ministerpräsidenten sich jetzt überra-schend kritisch über die Inhalte und handwerklicheUmsetzung des Themas äußern.

Wir als Regierungskoalition sind mit den eingebrach-ten Änderungen seitens der Fraktionen, aber auch derLänder, zufrieden. Wichtig war für uns als CDU/CSU,dass die Psychotherapeuten, entgegen der ursprüngli-chen Absicht der Bundesregierung, mit in das Gesetzaufgenommen wurden. Sie werden insoweit gegenüberden Ärzten nicht mehr benachteiligt werden. Auch dasswir uns bei den Ärzten aus Drittstaaten auf eine abge-stufte Kenntnisprüfung geeinigt haben, die nicht mehrdie volle staatliche Examensprüfung darstellt, lag im In-teresse unserer Fraktion. Für die Gesundheitsfachberufegilt in Zukunft, dass für Anpassungsqualifizierungen, so-fern diese vom Bewerber anstatt einer Prüfung gewähltwerden, der Anpassungslehrgang lediglich mit einer Er-folgskontrolle abgeschlossen werden muss.

Viele weitere darüber hinausgehende Veränderungs-wünsche und Punkte wurden von der Bundesregierungübernommen. Die Wünsche der Opposition allerdingssind in weiten Teilen sowohl bei der Frage der Finanzie-rung als auch der Umsetzung nicht nur problematisch,sondern auch unrealistisch. Dem Wunsch der SPD ent-sprechend einen konkreten Beratungsanspruch im Ge-setz zu verankern, würde dazu führen, dass wir eineÜberfrachtung mit unverhältnismäßig hohen Kosten undAufwand bekommen hätten. Die Bundesregierung er-weitert das Angebot der Beratung deutlich in den nächs-

ten Jahren. Wir selbst als Koalitionsfraktionen habendurch einen Haushaltsantrag bereits im letzten Jahr dieMittel für das Beratungs- und Informationsangebot imRahmen des Anerkennungsverfahrens um 2 MillionenEuro erhöht.

Auch die Forderung nach einem Rechtsanspruch aufdie passende Nachqualifizierung ist abzulehnen. DerStaat müsste ansonsten ein entsprechendes Angebot be-reithalten, welches aufgrund der Breite der Nachfrageextrem aufwändig und teuer geworden wäre. Im Übrigenwürde das zu einer Inländer-Diskriminierung führen. DieOpposition müsste wissen, dass wir eine ganze Palettevon Angeboten für Qualifizierungsmaßnahmen bereitsüber die bestehenden Angebote abdecken.

Auch die Forderung nach einer zentralen Agentur fürQualitätssicherung würde überflüssige und zusätzlicheStrukturen schaffen, die bereits heute regional angebotenwerden. Wir wollen und müssen die Verwaltungskostengering halten und setzen daher auf die Eigenkoordina-tion der Fachbereiche, wie zum Beispiel DIHK oderZdH.

Am Ende des langen Prozesses kann der DeutscheBundestag konstatieren, dass wir mit dem Berufsqualifi-kationsfeststellungsgesetz ein verbindliches Verfahrenauf den Weg bringen, welches hoffentlich vielen der fast3 Millionen Menschen, die im Ausland eine Qualifika-tion, einen Beruf oder ein Studium absolviert haben,dazu verhelfen wird, möglichst zügig in diesem Berufdann auch tatsächlich zu arbeiten. Dieses Gesetz und diegeänderten Berufsgesetze und Verordnungen sind danntatsächlich ein Meilenstein im Hinblick auf die arbeits-marktpolitische Integration. Wir werden in den nächstenMonaten und Jahren den Prozess der Umsetzung auchals Parlament begleiten und gegebenenfalls bei feststell-baren Problemen auch nachjustieren.

Swen Schulz (Spandau) (SPD): Alle Fraktionensind sich im Bundestag einig: Eine Verbesserung im Be-reich der Anerkennung von Abschlüssen aus dem Aus-land ist dringend nötig. Die Zustände heute sindschlecht: Die Leute müssen sich durch einen Behörden-dschungel durchkämpfen, die Rechtspositionen sind teil-weise schwach und unklar, es herrscht ungleiche Be-handlung der Anerkennung Suchenden je nach Beruf,Nationalität sowie Herkunft der Abschlüsse. Und nichtzuletzt ist die Praxis in den einzelnen Bundesländernsehr uneinheitlich. Mit einem Wort: Es herrscht Anerken-nungschaos. Und das ist nicht akzeptabel, weil die Men-schen ihre Fähigkeiten hier nicht einbringen können – dasverhindert Integration und das ist vor dem Hintergrunddes viel beklagten Fachkräftemangels eine riesigeDummheit. Bis zu 500 000 hier lebenden Menschenwird die Anerkennung verweigert. Ihnen wollen wirRespekt entgegenbringen und eine Anerkennungskulturetablieren.

In der letzten Legislaturperiode hatten wir bereits ei-nen Anlauf für ein Anerkennungsgesetz gemacht. Vorzwei Jahren haben wir dann einen Antrag eingebracht.Erst danach zog die Bundesregierung mit Eckpunktennach. Und dann: Dann gab es ein langes, langes Warten

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auf einen Gesetzentwurf. Gut Ding will Weile haben,heißt es, doch das vorliegende Ergebnis ist enttäuschend.Man hat den Eindruck: Je länger die Regierungskoalitionüber das Thema nachgedacht hat, desto leichtgewichti-ger wurde das Gesetz.

Aber zuerst das Positive: Es wird der richtige Weg be-schritten, dieses Gesetz bringt Verbesserungen gegen-über der aktuellen Situation, weil ein Rechtsanspruchauf ein Anerkennungsverfahren definiert wird. Aber dasist fast schon alles – CDU/CSU und FDP haben sich aufden kleinsten gemeinsamen Nenner geeinigt. Dabei wa-ren sie schon viel weiter, etwa in ihren Eckpunkten vorzwei Jahren oder im letzten Jahr mit dem Antrag der Ko-alition zum Thema.

Doch wer wirklich Erfolg haben will, der stellt nichtnur ein Verfahren, sondern auch Beratung, Unterstüt-zung und Förderung sicher. Der baut Brücken, die bis insErwerbsleben reichen.

Wir haben darum eine Reihe von Verbesserungen be-antragt. Wir wollen einen Rechtsanspruch auf umfas-sende Beratung. Der fehlt im Gesetzentwurf. Es reichtnicht aus, ein Internetangebot zu machen, eine Telefon-hotline zu schalten und ein Beratungsnetzwerk zu för-dern – alle diese Maßnahmen können auch mit demnächsten Haushalt wieder einkassiert werden.

Wir wollen die Gebühren bundesweit einheitlich re-geln und darüber hinaus sicherstellen, dass die Gebührenaufgrund ihrer Höhe nicht zur sozialen Hürde werden.Es können schnell mehrere Tausend Euro auflaufen –viele würden sich das nicht leisten können.

Wir wollen die Fristen klar und einheitlich regeln,nämlich drei Monate für alle, mit der Möglichkeit einerausnahmsweisen Verlängerung um einen Monat. Die imGesetzentwurf vorgesehene Ungleichbehandlung unddie unbestimmte Öffnung der Frist sind nicht tragbar.

Wir wollen ein modernes Kompetenzfeststellungsver-fahren, damit nicht nur nach Papierlage, sondern nachFähigkeiten entschieden wird.

Wir wollen für diejenigen, die keine volle Anerken-nung erhalten konnten, einen Rechtsanspruch auf soge-nannte Anpassungsmaßnahmen, also etwa Lehrgänge,schaffen. Dazu sind Prüfungsvorbereitungsmaßnahmenund berufsspezifische Sprachkurse nötig, damit dieMenschen auch wirklich eine Arbeit finden können. Da-für müssen auch Förderungen für diejenigen zur Verfü-gung gestellt werden, die sozial schwach sind und sichAnpassungsmaßnahmen sonst nicht leisten könnten –das könnte etwa über ein Einstiegs-BAföG oder denAusbau bestehender Förderinstrumente geschehen.

Wir wollen die Bündelung, Vereinheitlichung undQualitätssicherung der Verfahren. Es darf nicht vomWohnort abhängen, ob jemand eine Anerkennung erhältoder nicht. Darum müssen wir etwa eine zentrale Agen-tur für Anerkennungsstandards einrichten.

Die ausgestellten Bescheide müssen einheitlich, klarund transparent sein, damit die Arbeitgeber damit auchetwas anfangen können.

Und die Berufe müssen stärker als im Gesetzentwurfgleichbehandelt werden. Es werden teilweise sehr deut-lich von den Grundsätzen des Gesetzentwurfs abwei-chende Regelungen für die einzelnen reglementiertenBerufe und auch nach Herkunft der Abschlüsse gefun-den – das ist jedenfalls in diesem Umfang nicht akzepta-bel.

Viele dieser Forderungen finden sich in den eigenenPapieren der Regierungskoalition wieder. Doch unsereAnträge wurden allesamt abgelehnt – CDU/CSU undFDP haben sich damit selbst widersprochen, sie habendie eigenen Forderungen abgelehnt!

Ihre Argumentation muss man sich mal auf der Zungezergehen lassen. Zu den Ausgleichsmaßnahmen teiltStaatssekretär Braun etwa mit, dass davon auszugehensei, dass der Weiterbildungsmarkt entsprechende Ange-bote machen werde. Na großartig. Das macht er viel-leicht, vielleicht auch nicht – die Bundesregierung küm-mert sich nicht darum.

Vor allem stellt sich dann auch die Frage, ob sich dieLeute, die ja erst in den Beruf wollen, solche Angeboteprivat finanzieren können. Was sagt der Staatssekretärdazu? Kein Problem, sagt er, es gebe ja die Instrumenteder Arbeitsförderung. Was er dabei mal eben vergisst zusagen, ist, dass die Förderung von eben dieser Koalitionzusammengestrichen wird: von 2011 bis 2015 26,5 Mil-liarden Euro weniger, dazu 12 Milliarden Kürzungen desBundes beim Zuschuss! Und dann habe ich gestern inder Fragestunde den Staatssekretär gefragt, wie es dennmit geplanten Mehrausgaben im Bereich der Agentur fürArbeit aussieht. Die Antwort kurz gefasst lautet: Null!

Dann kommt die Koalition immer mit dem ArgumentInländerdiskriminierung. Man dürfe für die Antragstellernach diesem Gesetz keine Bevorzugung beschließen.Dazu ist zu sagen: Erstens haben es immer noch vor al-lem Migranten schwerer auf dem Arbeitsmarkt. Undzweitens ist doch das Hauptproblem die Kürzungspolitikdieser Koalition. Die Schlussfolgerung kann doch nichtlauten, nichts mehr zu machen, sondern es müssen gene-relle Verbesserungen her, etwa im Rahmen eines Er-wachsenenbildungsfördergesetzes.

Ich betone für die SPD-Fraktion nochmal: Dieses Ge-setz ist ein Fortschritt, doch es wird so nicht zu dem er-hofften echten Fortschritt führen. Wir wollen nicht, dassnur geguckt wird, ob jemand passt oder nicht – und imZweifelsfall gibt es ja genug Antragsteller aus dem Aus-land. Sondern wir wollen die Menschen, die hier leben,die mittun wollen, unterstützen, ihnen eine Chance ge-ben.

Die Koalition warnt vor einem Vermittlungsverfah-ren, das durch den Bundesrat beschlossen werdenkönnte. Dieses Gesetz müsse jetzt endlich schnell inKraft treten, man habe schon lange genug gewartet.Doch es war diese Koalition, die für die lange Wartezeitverantwortlich ist. Da kann man nicht den anderen Be-teiligten sagen: „Jetzt macht mal schneller“. Vor allemaber ist es die schwachbrüstige Ausgestaltung des Geset-zes, die das Risiko erzeugt, dass der Bundesrat den Ver-mittlungsausschuss anruft. Der böte jedenfalls die

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Chance auf Verbesserungen, zu denen die Koalition trotzSachverständigenanhörung und trotz unserer Anträgenicht willens oder in der Lage war.

Aydan Özoğuz (SPD): Immerhin zeigt die Debatteeins ganz deutlich: Alle Fraktionen sind sich darin einig,dass die verbesserte Anerkennung ausländischer Berufs-qualifikationen dringend notwendig ist. Das ist ja schonMai eine wichtige Voraussetzung, um in einem Themaweiterzukommen, dessen Titel so klingt, als wolle mannur gegenüber Zuwanderern freundlich sein. Zur Wahr-heit gehört natürlich dazu, dass wir unserer Gesellschaftund unserem Land keinen Gefallen damit tun, wenn wirAusbildungen von Menschen schlicht nicht wahrnehmenwollen und diese sogar mit akademischen Abschlüssenals „ungelernt“ in unseren Statistiken und auf denArbeitsämtern führen. Der Rechtsanspruch auf ein Prüf-verfahren ist auch ein Stück Willkommenskultur fürBürgerinnen und Bürger mit ausländischer Berufsquali-fikation. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokra-ten wollen denen, die sich für Deutschland entschiedenhaben, zeigen: Wir brauchen dich mit all deinen Qualifi-kationen und Kompetenzen.

Leider bleibt der Gesetzentwurf in vielen Passagenhinter den Erwartungen zurück. Zu wenig serviceorien-tiert ist das Anerkennungsverfahren und zu zaghaft istder Gesetzentwurf bei der Finanzierung und Organisa-tion der Nachqualifizierungen. Dies hat übrigens auchder Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Inte-gration und Migration angemerkt. Im Bundesrat werdenwir uns für wesentliche Verbesserungen, die wir auch inunserem Entschließungsantrag formuliert haben, einset-zen.

Dass im Gesetz ein Rechtsanspruch auf Beratungfehlt, ist ein wirkliches Manko. Viele Anspruchsberech-tigte werden das ihnen zustehende Verfahren nichtdurchlaufen, sollten sie überhaupt von ihrem Recht aufdas Anerkennungsverfahren erfahren haben. Es fehltauch eine umfassende Betreuung von Beginn der An-tragstellung bis zum Ergebnis des gesamten Verfahrens.Das ist sehr bedauerlich, denn mit einer guten Beratungsteht und fällt vieles, wie wir aus anderen Bereichen wis-sen, sei es im Gesundheitssystem, in der Arbeitsvermitt-lung oder eben bei der Anerkennung der ausländischenBerufsqualifikation.

Wir alle kennen Beispiele aus unseren Wahlkreisenfür fehlende Anerkennungen von Abschlüssen: Verzwei-felte Bürgerinnen und Bürger mit ausländischer Berufs-qualifikation wenden sich an uns. Und wir sehen, wiekompliziert sich scheinbar einfache Sachverhalte dar-stellen, zum Beispiel bei der Bund-Länder-Koordina-tion, wo es gemeinsam noch einiges zu klären gibt. Micherreichte kürzlich das Schreiben einer russischstämmi-gen Bürgerin, die seit 20 Jahren als Lehrerin in Russlanddie Fächer Deutsch, Latein, Englisch und Französischunterrichtet hatte. Ihr Abschluss, aber auch ihre Berufs-erfahrung, wurden nach ihrem Umzug nach Nord-deutschland nicht anerkannt; sie bekam lediglich denHinweis, ein Studium auf Lehramt ab dem 1. Semesteran der Universität aufzunehmen – nach 20 Jahren Be-

rufserfahrung! Die Konsequenz für die Russin: Sie plantmit ihrem deutschen Ehemann die Auswanderung nachNorwegen. Genau das ist das Problem: HochqualifizierteMenschen mit Zuwanderungsgeschichte, die unser Landso dringend braucht, wenden sich enttäuscht ab undwandern aus.

Wir wissen doch ganz genau, dass nur bei einem klei-nen Teil der Antragstellerinnen und Antragsteller dievollständige Gleichwertigkeit festgestellt werden wird.Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf ist den Betroffe-nen dann aber wenig geholfen: Die Finanzierung derNachqualifikationen ist ungeklärt, ebenso fehlen Förder-maßnahmen während der Qualifizierungsphase. Wir hät-ten ein ambitionierteres Gesetz gebraucht. Leider habenSie die vielen Verbesserungsvorschläge der Opposition,des Bundesrates und der Sachverständigenanhörung imBildungsausschuss vom 6. Juli freundlich ignoriert. Wie-der einmal hat die Koalitionen eigentlich gutes integra-tionspolitisches Vorhaben selbst ausgebremst.

Heiner Kamp (FDP): Der heutige Tag verdeutlicht,wie eng Deutschland mit Europa und der restlichen Weltverwoben ist. Politik lässt sich nicht länger auf den Nati-onalstaat begrenzen – wir sind gezwungen, unserenBlick über die Grenzen, ja sogar über die Schlagbäumedes Schengener Raums zu richten.

Wir haben heute Vormittag die Weichen in Richtungeiner Stabilitätsunion für Europa gestellt. Damit habenwir der europäischen Idee ein ökonomisches Fundamentgeschaffen und die Basis für unseren gemeinsamen Wirt-schaftsraum zementiert. Zugleich haben wir dafür ge-sorgt, dass die parlamentarische Demokratie gestärktwurde. Es geht kein Weg mehr am Deutschen Bundestagvorbei. Die Mitspracherechte sind nunmehr so stark wiein keinem anderen Mitgliedstaat der Euro-Länder.

Nun folgt das sogenannte Anerkennungsgesetz, me-dial vielleicht mit ein bisschen weniger Beachtung ge-segnet, doch nicht mit minderer Wirkung für die Zu-kunftsfähigkeit unseres Landes. Das von der schwarz-gelben Bundesregierung eingebrachte Gesetz zur Ver-besserung der Feststellung und Anerkennung im Aus-land erworbener Berufsqualifikationen ist ein bedeuten-der Meilenstein auf dem Weg hin zu einem modernen,offenen, leistungsstarken Land.

Mit dem Anerkennungsgesetz verwirklichen wir das,was wir im Koalitionsvertrag vereinbart haben. Bereitsin der vergangenen Wahlperiode hatte die FDP gefor-dert, dass es mit den Berufsschranken und Zugangssper-ren für qualifizierte Ausländer ein Ende haben müsse.Jeder kennt die Berichte von Ärzten oder Anwälten, dienicht praktizieren dürfen. Mit dem Anerkennungsgesetzwollen wir nun einen Schlussstrich unter dieses leidigeKapitel setzen. Wir sorgen dafür, dass die Zahl derjeni-gen, die an der „gläsernen Trennscheibe“ deutscher Be-hörden scheitern, deutlich reduziert wird und unser Landendlich von den bis dato vergeudeten Fähigkeiten undKompetenzen dieser Menschen profitieren kann. Wir be-hindern Menschen nicht mehr dabei, sich selber helfenzu können – damit wird eine langjährige Forderung derLiberalen endlich Gesetzeswirklichkeit.

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Vorherige Regierungen wollten das Problem nicht an-fassen, sind vor der Aufgabe zurückgeschreckt. Ein zuheißes Eisen für Rot-Grün! Schwarz-Rot hat zumindestüber die Anerkennung von Bildungsabschlüssen nachge-dacht. Insoweit kann ich die Kritik der Genossen nichtnachvollziehen. Versucht da jemand verzweifelt, Haarein die Suppe zu streuen, die er selbst nicht hat kochenkönnen?

Union und FDP haben das Thema gemeinsam undkonstruktiv angepackt. Wir haben uns die nötige Zeit ge-nommen und ein Gesetzespaket geschnürt, das sichwirklich sehen lassen kann. Das vorliegende Artikelge-setz ist ein echter Meilenstein. Mit dem Berufsqualifika-tionsfeststellungsgesetz als neuem Bundesgesetz sowieden zahlreichen Anpassungen in den Berufsgesetzen undVerordnungen legen wir als Bund vor. Nun sind die Län-der am Zug, in ihrem Zuständigkeitsbereich entspre-chend nachzuziehen.

Drei Punkte sind mir in unserem neuen Anerken-nungsgesetz ganz besonders wichtig.

Erstens schaffen wir mit dem neuen Gesetz die Vo-raussetzung dafür, den Schatz der in unserem Land nochschlummernden Qualifikationspotenziale zu heben. Wirheißen qualifizierte Migranten in Deutschland willkom-men. Wir etablieren eine echte Anerkennungskultur. Wirzeigen unsere Anerkennung für Bildungsleistungen imAusland. Viele Zugewanderte, die bereits bei uns leben,haben aus ihrer Heimat Qualifikationen mitgebracht.Bislang konnten sie diese in Deutschland nicht voll ein-setzen. Oder sie mussten sie unter Wert verkaufen. Daswird sich nun ändern.

Zweitens öffnen wir das Tor für qualifizierte Zuwan-derung nach Deutschland. Wer aus dem Ausland inDeutschland eine Arbeit anstrebt, kann bereits von sei-ner Heimat aus überprüfen, ob sein Abschluss hier aner-kannt wird. Als Nächstes sollten wir nun ein Punktesys-tem für eine gesteuerte Zuwanderung auf den Wegbringen. Das Anerkennungsgesetz ist dafür ein geeigne-tes Instrument.

Drittens ist das Anerkennungsgesetz ein wichtigerBeitrag zur Integration. Wir senden ein Zeichen desWillkommens, zeigen unseren Respekt für im Auslanderworbene Qualifikationen und geben die Chance, vor-handene Fähigkeiten zu entfalten. So können künftigauch Ärzte aus Drittstaaten approbiert werden. Wirschauen nur noch auf den Abschluss, nicht auf die Her-kunft. Herzlich willkommen!

Die Wachstumsfahrt der deutschen Wirtschaft ist bei-spiellos. Deutschland erfährt weithin Respekt und Aner-kennung dafür, wie wir aus der Krise herausgekommensind. Unsere Wirtschaftspolitik hat die Weichen richtiggestellt. Auch wenn sich der heiße Konjunkturkessel nunlangsam wieder auf normale Betriebstemperatur herun-terregelt, sind die Aussichten doch im Vergleich blen-dend. Damit sich unsere deutsche Wachstumsfahrt so dy-namisch fortsetzen kann, sind qualifizierte Fachkräfteganz entscheidend. Und hier haben wir bereits heuteEngpässe. In den Pflege- und Medizinberufen sowie imMINT-Bereich sind schon jetzt Fachkräfte knapp. De-

mografie und Wachstum werden dafür sorgen, dass sichdieser Trend verschärft. Einige Branchen suchen hände-ringend nach Fachkräften und werden nicht fündig, weilder Binnenmarkt praktisch leergefegt ist.

Wir müssen attraktiver werden für qualifizierte Zu-wanderung. Gemeinsam mit der Ausschöpfung der nochim Land brachliegenden Potenziale können wir demFachkräftemangel begegnen. Gemeinsam können wirdiesem Engpass unserer deutschen Wachstumsfahrt ent-gegenwirken. Wir müssen die Lokomotive in Europableiben. Das Anerkennungsgesetz ist hierfür ein wichti-ger Beitrag.

Nun gilt es, das Anerkennungsgesetz gut durch dasweitere parlamentarische Verfahren zu bringen. In derStellungnahme des Bundesrates wurden einige Verbesse-rungsvorschläge unterbreitet, von denen viele übernom-men werden konnten. Manche haben sich auch als nichterforderlich herausgestellt. Was zählt, ist: Das Ergebnisstimmt. Das haben auch die Anhörung des Ausschussessowie die Beratungen gezeigt.

Wer jetzt einen Verzögerungs- oder Blockadekurs imBundesrat fährt, lastet dies nicht nur den unmittelbar be-troffenen Personen an. Auch diejenigen, die händerin-gend auf den Einsatz dieser Fachkräfte warten, werdendarunter leiden. Das sind nicht nur Fabriken und Hand-werksbetriebe. Das sind auch Seniorenheime und Kran-kenhäuser. Das sind Arztpraxen, Sozialstationen undHospize.

Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition,helfen Sie mit, dass wir etwas für eine echte Willkom-menskultur, eine gesteuerte Zuwanderung und die Be-kämpfung des Fachkräftemangels tun. Sprechen Sie mitIhren Länderkollegen, und tragen Sie dazu bei, dass dasAnerkennungsgesetz die letzten parlamentarischen Hür-den nehmen kann.

„Wer etwas gelten will, muss andere gelten lassen.“Dieses Goethe-Wort trifft, was wir mit dem Anerken-nungsgesetz vorhaben.

Sevim Dağdelen (DIE LINKE): Ob sich nun nachJahren für die in Deutschland lebende Ärztin aus Russ-land, die putzen gehen muss, die kamerunische Akade-mikerin, die trotz Promotion als Küchenhilfe arbeitet,oder den deutschen oder iranischen Ingenieur, der Taxifahren muss, etwas ändern wird, bleibt abzuwarten. Siehaben jetzt zwar einen formalen Rechtsanspruch auf einAnerkennungsverfahren für ihre im Ausland erworbenenQualifikationen. Doch vielen wird dieser nicht viel brin-gen. Dafür hat die Bundesregierung mit ihrem inhaltlichund handwerklich unzureichenden Gesetzentwurf ge-sorgt.

Die Bundesregierung hat die Anerkennung vomGeldbeutel und sozialen Status der Betroffenen abhängiggemacht. Viele Antragsteller müssen mit hohen Kosten– es stehen Kosten von bis zu 5 000 Euro im Raum – fürein Anerkennungsverfahren rechnen – und das bei Men-schen, denen man jahrelange Dequalifizierung, Diskri-minierung und Ablehnung zugemutet hat. Das ist nichthinnehmbar.

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Erst schiebt die rot-grüne, dann die Große Koalitionund jetzt die schwarz-gelbe Koalition diese Menschen inden Niedriglohnsektor ab. Nun sollen die Betroffenendafür auch noch derartige Beträge zahlen. Das ist zy-nisch.

Zynisch ist es auch, wenn die Bundesregierung diesenGesetzentwurf als großen Wurf feiert. Das ist er keines-falls. Auf die großspurigen Ankündigungen der Bundes-regierung folgt mal wieder die triste Realität ihrer Des-integrationspolitik.

Erinnern wir uns: Bereits 2007 legte Die Linke einenAntrag vor (Drucksache 16/7109). Wir machten Vor-schläge zur erleichterten Anerkennung von im Auslanderworbenen Qualifikationen. Darüber hinaus fordertenwir gezielte Angebote zur Ergänzungsqualifizierung undeine Beratungsstruktur. So sollte eine vollständige Aner-kennung ermöglicht werden.

Zwei Jahre dauerte es, bis die Bundesregierung über-haupt auf das Problem einging. Im Dezember 2009 legtesie ihre Eckpunkte vor. Erst im März 2011 folgte dannihr Referentenentwurf bzw. im Juni ihr Gesetzentwurf.Wofür dabei vier Jahre gebraucht wurden, bleibt aller-dings vollkommen unklar.

Waren schon die Eckpunkte eine Enttäuschung, istder Gesetzentwurf für die Betroffenen eine Zumutung.Die Bundesregierung kann erneut nicht einmal ihrem ei-genen Anspruch gerecht werden. Und der war ja ohnehinnoch nie besonders hoch. Mehr Transparenz und Verein-fachung sollte das Gesetz bringen. Doch das Gegenteilist und bleibt der Fall: Die Kammern sollen die Anerken-nungsverfahren durchführen. Damit ist unverändert eineVielzahl von Anlaufstellen in 16 verschiedenen Bundes-ländern für die verschiedenen Berufsgruppen zuständig.Sie haben die Gelegenheit verstreichen lassen, eine ein-heitliche Bewertungsstelle zu schaffen. Es ist eine Zu-mutung für die Betroffenen, dass die Bewertung ihrerQualifikationen dem Zufall des Wohnortes überlassenwird. Da reicht es auch nicht, wenn einzelne Kammerneine zentral zuständige Kammer benennen wollen. Wieund ob ihre angekündigte Datenbank hier Abhilfe schaf-fen soll, steht ja auch noch in den Sternen. Ich hoffe fürdie Betroffenen, dass es besser läuft als mit dem dialog-orientierten Zulassungsverfahren für Studierende. Diewarten nämlich schon seit Jahren. Die Linke prophezeitihnen: Es wird zwischen den Bundesländern auch wei-terhin ungleiche Bewertungsergebnisse gleicher Qualifi-kationen geben. Und genau das sollte ursprünglich end-lich der Geschichte angehören. Das ist wirklichbeschämend, dass sie nach so langer Zeit eine so man-gelhafte Regelung hier vorlegen.

Im Widerspruch zu den Eckpunkten wollen Sie einenAnspruch auf Beratung gesetzlich nicht verankern. IhrGesetz soll kostenneutral bleiben. Sie verweisen auf be-stehende Beratungsangebote. Dabei ist doch klar, wo ge-spart wird, wenn es finanziell eng wird.

Es ist doch völlig absurd, dass das Anerkennungsge-setz ohne den Einsatz zusätzlicher Mittel wirksam wer-den soll. Denn es müssen ja erst die notwendige Infra-struktur sowie ein Angebot an Ergänzungs- und

Anpassungsqualifizierungen über das schon existierendehinaus geschaffen werden. Auch hier fehlt aus unsererSicht eine gesetzliche Verankerung, die nicht nur für diereglementierten Berufe gilt. Die Linke fordert deshalb,100 Millionen Euro zusätzlich für die Anpassungs- undErgänzungsqualifikationen zur Verfügung zu stellen.Denn bereits jetzt ist absehbar, dass die aktuellen Mittelden Bedarf nicht decken können.

Es wird deutlich, dass Integration für die Bundes-regierung und die Regierungsfraktionen lediglich eineFloskel ist. Denn wenn es darum geht, die Rahmenbe-dingungen für die soziale Integration zu schaffen, versa-gen Sie – und das wissentlich. Lassen Sie endlich denvorwurfsvollen Ton gegen Migrantinnen und Migranten,sie würden sich nicht integrieren lassen! Schüren Sienicht weitere rechtspopulistische Vorurteile! VerhindernSie nicht die Integration, sondern ermöglichen Sie dieseendlich, indem Sie unserem Antrag zustimmen!

Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Diebessere Anerkennung ausländischer Berufsausbildun-gen und -abschlüsse in Deutschland ist seit langem über-fällig. Es ist nicht hinnehmbar, dass Hunderttausendeweit unterhalb ihres Qualifikationsniveaus beschäftigtoder sogar arbeitslos sind wegen einer schlechten Aner-kennungspraxis. Das ist eine Missachtung der individu-ellen Leistung. Es ist aber auch aus gesellschaftlichenund wirtschaftlichen Gründen zutiefst irrational.

Der Gesetzentwurf der Bundesregierung ist zweifel-los ein erheblicher Fortschritt gegenüber dem bisherigenStatus quo. Dass dieser Entwurf nun mit erheblicher Ver-zögerung vorgelegt wird, sagt nicht nur etwas über dieKomplexität der Materie, sondern belegt auch, wie starknach wie vor die Widerstände verschiedener Interessen-gruppen gegen eine angemessene Modernisierung aufdiesem Gebiet sind. Das spiegelt sich leider auch im vor-liegenden Gesetzentwurf wider, der deshalb leider teil-weise hinter den Notwendigkeiten zurückbleibt.

Positiv ist, dass im allgemeinen Teil des Gesetzes derZugang zum Anerkennungsverfahren nicht mehr von derStaatsangehörigkeit abhängig sein soll. Positiv ist auch,dass sich die Anpassungsmaßnahmen und Kenntnisprü-fungen auf die festgestellten Defizite gegenüber demdeutschen Referenzberuf beziehen sollen und nicht einedeutsche Gesamtprüfung verlangt wird. Negativ ist aber,dass in den dann anschließenden Fachgesetzen von Re-geln und Prinzipien des allgemeinen Anerkennungsge-setzes ohne erkennbaren Grund abgewichen wird. Hierhaben sich offenkundig starke Lobbygruppen durchge-setzt.

Dies ist auch deshalb bedauerlich, weil zu befürchtenist, dass dies erst recht geschehen wird, wenn die Bun-desländer Regelungen für die Berufe treffen müssen, fürdie sie zuständig sind, und dann Landespolitiker zuhaufmit Horrorszenarien konfrontiert werden, als würdendemnächst Klempner zur Patientenbehandlung einge-setzt und Analphabeten zur Brückenkonstruktion. Er-kennbar geht es bei diesen Diskussionen meist wenigerum Verbraucherschutz, sondern mehr um die Abwehr

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von Konkurrenz. Da ist von Bildungs- und Integrations-politikerinnen und -politikern Standhaftigkeit gefragt.

Damit komme ich zu einem weiteren Schwachpunktim Gesetz: Gerade weil zu befürchten ist, dass nichtüberall die Anerkennungsverfahren im Sinne einer bes-seren Integration durchgeführt werden, sondern sichzum Teil auch Exklusionsstrategien durchsetzen könn-ten, wäre eine zentrale Stelle für die Sicherung undWeiterentwicklung einheitlicher Qualitäts- und Verfah-rensstandards, für das Wissensmanagement und die Ent-wicklung von Fortbildungsstrategien wichtig gewesen.Eine Hotline und eine statistische Datenbank kann diesnicht ersetzen. Hier wurde eine entscheidende Weichen-stellung für einheitliche faire Verfahren versäumt.

Versäumt wurde leider auch, einen Rechtsanspruchauf dezentrale Begleitung und Beratung im Verfahren imGesetz zu verankern. Davon werden für viele die Er-folgsaussichten aber abhängig sein. Ohne Rechts-anspruch droht hier eine begleitende Beratung nach Kas-senlage, und die sieht bekanntlich vielerorts mau aus.

Das ganze Gesetz läuft aber ins Leere und verfehltseinen Zweck, wenn es nicht ein ausreichendes Angebotan Anpassungsqualifizierungen und für berufsspezifi-sches Deutsch gibt. Hier scheint mir eine Bund-Länder-Kontroverse auf dem Rücken der Betroffenen geradezuvorprogrammiert.

Die Diskussion über das Anerkennungsgesetz undüber eine mögliche Diskriminierung von Inländern indiesem Zusammenhang hat auch eines deutlich gemacht:Deutschland ist bei der beruflichen Weiterbildung fürErwachsene noch Entwicklungsland. Ich wünsche mir,dass vom Anerkennungsgesetz ein Impuls dafür ausgeht,dass die Bundesregierung auf dem Feld der Erwachse-nenbildungsförderung insgesamt endlich einmal Fahrtaufnimmt.

Dr. Annette Schavan, Bundesministerin für Bildungund Forschung: Zu Beginn zwei Fakten: In Deutschlandhat jeder Fünfte Wurzeln im Ausland. Etwa zwei Drittelvon ihnen sind zugewandert. Darunter sind viele, die inihrer Heimat eine Berufsausbildung oder ein Studiumabsolviert haben. Viele von ihnen können aber nicht inihrem Beruf arbeiten, weil die Anerkennung fehlt.

Zweiter Punkt: der demografische Wandel. Deutsch-landweit fehlen Pflegerinnen und Pfleger. Auf dem Landgibt es vielerorts zu wenige Ärzte. Und auch im MINT-Bereich suchen Unternehmen nach qualifizierten Fach-kräften.

Das Anerkennungsgesetz, über das wir heute ent-scheiden, leistet einen richtungsweisenden Beitrag dazu,gut qualifizierte Zuwanderer besser in den Arbeitsmarktund die Gesellschaft zu integrieren und den Fachkräfte-bedarf in Deutschland zu decken. Keine Bundesregie-rung zuvor hat sich dieser komplexen Herausforderunggestellt: Das Gesetz umfasst mehr als 60 Berufsregelun-gen auf Bundesebene.

Etwa 285 000 Menschen sind in unserem Land unter-halb ihrer Qualifikation beschäftigt oder arbeitslos, weil

ihre Abschlüsse nicht anerkannt werden. Es ist Zeit, die-sen Menschen Respekt für ihre Lebensleistung zu zollenund ihnen zu zeigen, dass ihre Qualifikationen und ihreBerufserfahrung in Deutschland gebraucht und wertge-schätzt werden.

Das Anerkennungsgesetz ist ein wichtiges und über-fälliges Signal für Integration. Wir schaffen damit einengesetzlichen Anspruch auf Prüfung der Gleichwertigkeitausländischer Berufsausbildungen. Ausschlaggebendwird nur mehr die Qualität des Abschlusses und nicht dieHerkunft der Antragsteller sein. Spätaussiedler habenkünftig ein Wahlrecht zwischen dem bisherigen und demneuen Verfahren.

Mit dem Anerkennungsgesetz legen wir erstmals bun-deseinheitliche Kriterien und weitgehend einheitlicheVerfahren für die Gleichwertigkeitsprüfung fest. Eineeinmal festgestellte Gleichwertigkeit gilt für ganzDeutschland und kann nicht von einem Land anerkanntund vom anderen abgelehnt werden.

Bei den Ausbildungsberufen ist selbst ein ablehnen-der Bescheid für Betriebe und Antragsteller von Nutzen:Denn zum einen werden damit die vorhandenen Qualifi-kationen dokumentiert, zum anderen wird erklärt, wonoch Weiterqualifizierungsbedarf besteht.

Wer jetzt aber daherkommt und einen allgemeinenAnspruch auf Nachqualifizierung fordert, schießt weitüber das Ziel hinaus. Das wäre ein klarer Fall von Inlän-derdiskriminierung. Klar ist, dass Nachqualifizierungennotwendig sind. Die gibt es aber auch heute schon. Siestehen zur Verfügung, insbesondere über die Förderungder Arbeitsverwaltung und die Instrumente der indivi-duellen Bildungsfinanzierung.

An die Adresse einiger Länder sage ich: Mich ver-wundert an so mancher Stelle die Kritik, die jetzt lautwird. In einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe haben wirkonkrete Vorschläge zur Vereinheitlichung der Verwal-tungspraxis erarbeitet. Diese Vorschläge werden von denMinisterpräsidenten im Oktober erneut beraten. Ich gehedavon aus, dass sich die Ministerpräsidenten an ihre Be-schlüsse vom Dezember 2010 erinnern, in denen sie eineschnelle und unbürokratische Neuregelung auch in denLändern angemahnt haben. Jetzt sind die Länder amZug. Das Bundesgesetz liegt vor!

Das Anerkennungsverfahren haben wir bewusst beiden Stellen angesiedelt, wo schon Sachverstand und Er-fahrung vorliegen. Neu ist, dass die Aufgaben auf ge-meinsame Stellen übertragen und gebündelt werden kön-nen. Die Industrie- und Handelskammern beispielsweisebereiten schon den Aufbau einer zentralen Anerken-nungsstelle in Nürnberg vor.

Mitentscheidend für den Erfolg des Anerkennungsge-setzes ist ein gut ausgebautes Beratungssystem. In dennächsten drei Jahren investiert der Bund dafür rund75 Millionen Euro. Wir verzahnen arbeitsmarktbezogeneUnterstützungsleistungen in regionalen Netzwerken. Wirrichten eine Telefonhotline, ein Informationsportal undbundesweit ein flächendeckendes Netz von Anlaufstel-len zur Erstinformation ein. Ein Großteil dieser Erstan-laufstellen arbeitet bereits sehr erfolgreich – es kann also

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keine Rede davon sein, dass der Bund keine Beratunganbietet.

Im Interesse der Menschen mit ausländischen Qualifi-kationen bitte ich Sie um Unterstützung für dieses Ge-setz.

Das Anerkennungsgesetz gibt uns die Möglichkeit,angesichts des demografischen Wandels Potenziale zunutzen, die derzeit zum Schlummern verdammt sind. Wirbrauchen dieses Gesetz. Es ist Teil einer Integrationskul-tur, Teil einer Willkommenskultur. Wer jetzt das Gesetzverzögert, schadet vor allem den Betroffenen, die auf dasGesetz warten!

Anlage 8

Zu Protokoll gegebene Reden

zur Beratung des Antrags: Weitere Daten-schutzskandale vermeiden – Gesetzentwurfzum effektiven Schutz von Beschäftigtendatenvorlegen (Tagesordnungspunkt 10)

Michael Frieser (CDU/CSU): Was soll man groß zudem Antrag der SPD sagen? Denn eigentlich ist er völligindiskutabel und erscheint mir als fraktioneller Schnell-schuss. Er bietet mir deshalb in erster Linie als Bericht-erstatter der CDU/CSU-Fraktion eine gute Gelegenheit,mich hier einmal grundsätzlich zum Thema Beschäftig-tendatenschutz zu äußern, bevor wir in den nächsten Wo-chen das Gesetzesvorhaben der Bundesregierung erfolg-reich beenden werden.

Auffällig ist: Sie stehen mit Ihrem heutigen Antrag inWiderspruch zu Ihren bisherigen Zielen und Vorschlägenim Bereich des Arbeitnehmerdatenschutzes. Und Sie fal-len mit Ihren Forderungen weit hinter Ihre bisherigenGrundsätze zurück. Dies fällt auf, wenn man einmal denVorschlag Ihres ehemaligen Bundesarbeitsministers OlafScholz danebenlegt; den Vorschlag haben Sie ja vornicht langer Zeit hier in den Bundestag eingebracht. Sosollte man davon ausgehen, dass er noch für Sie Gültig-keit hat. Warum Sie davon jetzt abweichen, müssen Sieuns hier erklären.

Ich darf Sie erinnern, dass Olaf Scholz mit seinemEntwurf die bestehenden Vorschriften und Gerichtsur-teile zum Beschäftigtendatenschutz vereinheitlichenwollte. Dies gesetzlich zu regeln, hat er allerdings nichthinbekommen.

Es ist die christlich-liberale Bundesregierung unterBundeskanzlerin Merkel, die den ersten Gesetzentwurffür ein solches Gesetz dem Bundestag vorlegt. Und die-ser Entwurf verfolgt genau zwei Grundsätze: Es wird einAnsatz verfolgt, der zwischen den berechtigten Interes-sen von Arbeitnehmern und Arbeitgebern ausgleicht, dersich weitgehend an der vorhandenen Rechtsprechungorientiert.

Denn es gibt zwar bereits heute zu vielen Fragen desBeschäftigtendatenschutzes eine einzelfallbezogeneRechtsprechung der Arbeitsgerichte. Diese ist allerdingsoft uneinheitlich. Obergerichtliche Urteile sind selten.

Der Gesetzentwurf kann daher mit seinen Regelungen zugrößerer Rechtssicherheit im Beschäftigungsverhältnisbeitragen, für beide Seiten; dies scheinen die Vertreterauf den Oppositionsbänken immer zu vergessen.

Die Bundesregierung geht in ihrem Entwurf zumWohle der Beschäftigten in einigen Bereichen weit überdie gegenwärtige Rechtsprechung hinaus. Hierzu gehörteindeutig das Verbot der Überwachung von Mitarbeiterndurch versteckte Kameras. Daran werden wir nicht rüt-teln. Denn diese sogenannte verdeckte Videoüberwa-chung wird nicht zuletzt aufgrund der vergangenenDatenschutzskandale im Gesetzentwurf ausdrücklichverboten. Es ist meines Erachtens ein für den Schutz derlegitimen Interessen der Beschäftigten zentraler Punktund stellt eine deutliche Verbesserung der gegenwärtigenRechtslage dar.

Ich will hier noch einmal betonen: Die Bundesregie-rung geht mit ihrem Gesetzentwurf einen bemerkens-werten Schritt: Die Bundesregierung unterbreitete mitihrem Entwurf dem Bundestag einen Vorschlag für einegesetzliche Regelung einer Materie, nach welcher vieleDatenschutzexperten mit wachsender Vehemenz seit den1990er-Jahren gerufen haben.

Der Grund für das bisherige Zögern der Bundesregie-rungen liegt auf der Hand: Der Datenschutz im Beschäf-tigungsverhältnis steht in einem starken Interessenge-gensatz von Arbeitgebern einerseits und Arbeitnehmernandererseits. Die Arbeitnehmer sollen sicher vor Bespit-zelungen sein. Gleichzeitig müssen aber den Arbeitge-bern verlässliche Instrumente für den Kampf gegen Kor-ruption an die Hand gegeben werden. Selbstverständlichgeht es bei der Frage nach Datenschutz in Unternehmenauch um den Umgang mit einer wachsender Korrup-tionsanfälligkeit, um den Umgang mit Geheimnisverratund um die Bekämpfung von Straftaten.

Ich erinnere mich an unsere Debatte im Februar, als ichIhnen, Herr Kollege Reichenbach, den Begriff „Compli-ance“ erklären musste. Als kleine Erinnerung: Unter demBegriff „Compliance“ versteht man das Durchsetzen unddas Einhalten von Rechtsvorschriften. Ein Unternehmenkann sich beispielsweise dem Deutschen Corporate Go-vernance Kodex unterwerfen. Grundsätzlich geht es umdie legalen Grundlagen. Das kann ich nicht ins Beliebendes Unternehmers, des Arbeitgebers oder der Betriebs-verfassung stellen. Vielmehr geht es darum, dass sichdas Unternehmen verpflichtet, alles zu tun, damit dieseGrundregeln wirklich eingehalten werden.

Daher ist das Ziel des Gesetzes, einen interessenaus-gleichenden Ansatz zu verfolgen. Genau diesen Grund-satz aber haben Sie vergessen.

Sie sollten sich vor einer Grabenkampfrhetorik hüten:Es ist schlichtweg falsch, die Erhebung der Daten desArbeitnehmers durch einen Arbeitgeber reflexhaft als ei-nen unzulässigen Eingriff, als etwas Anrüchiges und Un-erlaubtes zu verurteilen. Es ist in einem Bundesgesetznun einmal nicht ausreichend, alles pauschal zu verbie-ten. Und es reicht auch die pauschale Forderung nach ei-ner Verhinderung von vorangegangenen Datenschutz-skandalen nicht, denn dies würde nichts anderes sein als

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die Forderung: Lasst uns endlich verbieten, was schon il-legal ist.

Ich helfe Ihnen hier nicht, ein falsches Bild zu malen.Es gibt neben den Daten, die für einen ordnungsgemä-ßen Betrieb eines Unternehmens erforderlich sind, auchviele Daten, die zugunsten der Arbeitnehmer vom Ar-beitgeber erfragt werden: Hierzu gehören nicht nur dieKontonummer, bei der monatlich das Gehalt eingeht,sondern auch Unternehmens- und Kapitalbeteiligungen,Bonus- und Rabattprogramme, gesundheitliche Vorsor-geprogramme und betriebliche Versicherungen.

Bereits in der vorliegenden Fassung der Regierungstellt der Gesetzentwurf eine Verbesserung und Auswei-tung des Schutzes der Arbeitnehmerdaten dar. DasGesetz wird ganz unmittelbar mehr als 40 Millionen Ar-beitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland be-treffen. Sie alle werden in diesem nachlesen können,welche personenbezogenen Daten der Arbeitgeber erhe-ben, speichern und verarbeiten darf.

Um die Einheitlichkeit des Datenschutzrechts zu ge-währleisten, haben wir uns darauf geeinigt, den Beschäf-tigtendatenschutz im Bundesdatenschutzgesetz, BDSG,aufzunehmen. Es wäre nicht sinnvoll, den Datenschutzim Betrieb über mehrere Gesetze zu verstreuen. Dies hatpraktische Vorteile für die Anwendung des Gesetzesdurch die betrieblichen Datenschutzbeauftragten und fürdie Angestellten in den Betrieben und Unternehmen.Diese Entscheidung wurde auch von den Sachverständi-gen in der Anhörung ausdrücklich begrüßt.

In den bisherigen Beratungen wurde deutlich, dass andem derzeitigen Entwurf an der einen oder anderenStelle noch technische Änderungen vorzunehmen sind.Dies ist begründet mit der Tatsache, dass wir eine Reihevon konzeptionellen Richtlinien und Betriebsvereinba-rungen, aber vor allem eine umfassende Rechtsprechungvorfinden. Das macht es sehr schwierig, eine gelebtePraxis ausfindig zu machen. Ich selber kann mit Blickauf meine Tätigkeit in der freien Wirtschaft sagen: Es istwichtig und notwendig, sich sehr tief einzuarbeiten, umzu wissen, wie der Datenschutz in den Unternehmenpraktisch umgesetzt werden kann. Es geht natürlich umdie Frage, inwieweit verschiedene Sphären gegeneinan-der abgewogen werden können.

Auf der einen Seite haben wir die Personalität desMitarbeiters, des Arbeitnehmers. Er unterliegt der infor-mationellen Selbstbestimmung und muss in seinem Be-reich geschützt werden. Auf der anderen Seite haben wirdas Rechtssubjekt des Mitarbeiters, der seinen Arbeits-vertrag erfüllen muss. Der Mitarbeiter hinterlässt zu je-der Zeit Daten, die zweierlei Zwecken dienen: erstensder Selbstdefinition als Person, zweitens der Erbringungder Arbeit und der Umsetzung des Arbeitsauftrages. Esist deshalb entscheidend, dass wir an dieser Stelle dieUnternehmen stärken und gleichzeitig die Mitarbeiterschützen; hier liegt die Herausforderung bei diesem Ge-setzentwurf.

Aus meiner Sicht gehört hierzu das zu strikte Verbotabweichender betrieblicher und individueller Vereinba-rungen. Hier gilt es, eine Regelung zu finden, die dem

Gedanken der Privatautonomie ausreichend Rechnungträgt, ohne den Schutz des Arbeitnehmers zu vernachläs-sigen. Unsere Aufgabe ist es daher, Fälle zu identifizie-ren, in denen wir solche Abweichungen zulassen wollen,und solche, bei denen es der Schutz des Arbeitnehmersverbietet. Die Regelung wird es jedoch nicht zulassen,das Schutzniveau des Beschäftigtendatenschutzgesetzeszu unterschreiten.

Erforderlich sind in meinen Augen darüber hinausRegelungen über eine (auch) private Nutzung von Tele-kommunikationsmitteln des Arbeitgebers. Es geht da-rum, wie Mitarbeiter am Arbeitsplatz mit ihren Datenumgehen. Dürfen sie privat telefonieren? Dürfen sie pri-vat ins Internet? Dürfen sie private E-Mails verwenden?Auch hier kann es Fälle geben, in denen der Arbeitgeberunter engen Voraussetzungen Einblick in bestimmte Da-ten des Arbeitnehmers nehmen können muss. Die Alter-native wäre, die private Nutzung des Internets und Tele-fons am Arbeitsplatz vollständig zu untersagen – einelebensfremde Vorstellung.

Zudem werden wir eine Regelung schaffen, die denDatenaustausch innerhalb eines Konzerns erleichtert.

Diese Überlegungen werden Gegenstand eines parla-mentarischen Änderungsantrages sein. Ich bin aber über-zeugt, dass dieses Gesetz beiden Seiten – sowohl demArbeitnehmer wie auch dem Arbeitgeber – Vorteile brin-gen wird.

Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): In IhremAntrag erheben Sie neben der Forderung nach einerVielzahl von kleinteiligen Regelungen für einen zukünf-tigen Beschäftigtendatenschutz auch die grundsätzlicheForderung, den Beschäftigtendatenschutz in einem ei-genständigen Gesetz zu regeln. Dies ist jedoch nicht nurantiquiert, sondern geht auch völlig an der Sache vorbei.Ihr Antrag belegt bereits die Verknüpfungen und Verbin-dungen zum allgemeinen Datenschutzrecht. Sie nehmenschließlich fortwährend auf die allgemeinen Grundprin-zipien des geltenden Datenschutzrechts Bezug. Dies istauch nicht weiter verwunderlich. Schließlich gelten derGrundsatz der Datenvermeidung und der Datensparsam-keit, der Zweckbindung aber auch die Möglichkeit derEinwilligung in die Erhebung und Verarbeitung vonDaten auch im Verhältnis von Arbeitgeber und Arbeit-nehmer. Es ist daher wesentlich effizienter, den Beschäf-tigtendatenschutz in das bestehende Bundesdatenschutz-gesetz einzufügen und ihn so unmittelbar mit den bereitsvorhandenen Normen zu verbinden.

Zugegeben, im Verhältnis Arbeitgeber zum Arbeit-nehmer kann es auch Konstellationen geben, in denenvon den vorgenannten Prinzipien abgewichen werdenmuss. Nur kann dies mit Sicherheit nicht in dem Umfangerfolgen, den Sie in Ihrem Antrag darstellen. Dennschließlich gilt auch für den Beschäftigtendatenschutzder Grundsatz, dass ein Interessenausgleich zwischenden widerstreitenden Grundrechten der Beteiligten ge-funden werden muss.

Ich möchte an dieser Stelle daher auch noch einmaldeutlich daran erinnern, dass nicht nur Arbeitnehmer

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Grundrechte haben, auf die sie sich berufen können, son-dern selbstverständlich auch die Arbeitgeber bzw. Unter-nehmen. Es muss daher auch in Zukunft die Möglichkeitfür die Unternehmen bestehen, Qualitätskontrollendurchzuführen und Fehlverhalten aufzudecken, um sowirksam ihr eigenes und das Eigentum der Mitarbeiterschützen zu können. In Ihrem Antrag vermisse ich je-doch diese Gedanken völlig. Einseitig fordern Sie nebenerheblichen Einschränkungen beim automatisierten Da-tenabgleich auch ein generelles Verbot der Videoüber-wachung von Beschäftigten zur Qualitätskontrolle. IstIhnen bewusst, dass Sie damit in erheblichem Maße denWirtschaftsstandort Deutschland belasten würden?Schließlich genießt Deutschland in der Welt gerade auf-grund seiner Präzision und hohen Qualität bei Warenund Dienstleistungen einen exzellenten Ruf. „Made inGermany“ ist ein echtes Qualitätsmerkmal, welchesauch zukünftig Bestand haben muss. Dies setzt aberselbstverständlich auch Qualitätskontrollen und gegebe-nenfalls auch Videoüberwachung voraus.

Zudem führen Sie mit Ihrem Antrag die mittlerweilein Deutschland etablierte Corporate-Governance-Rege-lung völlig ad absurdum. Unternehmensinterne Regelnhaben seit den 90er-Jahren immer mehr an Bedeutunggewonnen. Sie sorgen vor Ort für Transparenz und einenangemessenen Interessenausgleich. Oftmals vermittelnsie den Arbeitnehmern sogar noch ein höheres Schutzni-veau als das geltende Recht. Folgt man jedoch IhremAntrag, kann die Einhaltung dieser unternehmensinter-nen Regelungen zukünftig überhaupt nicht mehr über-prüft werden. Schließlich ist eine Datenerhebung zurAufklärung von Verstößen nicht mehr erlaubt. Darüberhinaus sollen nach Ihrem Antrag Beschäftigte zukünftigdatenschutzrechtliche Missstände gar nicht erst ihremArbeitgeber mehr melden, wozu sie übrigens zivilrecht-lich verpflichtet sind, sondern direkt den Aufsichtsbe-hörden.

Würden wir alle diese Vorschläge umsetzen, würdenwir im Gegenzug nicht einen effektiven Schutz von Be-schäftigtendaten erhalten, sondern nur ein schlechtes Be-triebsklima in den deutschen Unternehmen. Die christ-lich-liberale Koalition verfolgt deswegen auch einanderes Ziel: Sie will die bisher in vielen einzelgerichtli-chen Entscheidungen der Arbeits-, Verwaltungs- und So-zialgerichtsbarkeit getroffenen grundlegenden Aussa-gen zum Beschäftigtendatenschutz kodifizieren und sofür mehr Rechtssicherheit und Transparenz für alle Be-teiligten sorgen. Die Dauer des Gesetzgebungsverfah-rens zeigt, dass es sich dabei nicht nur um eine rechtlichschwierige Materie handelt, sondern auch, dass wir esuns bei der Abwägung der verschiedenen Interessennicht so einfach wie die Opposition machen. Uns ist dasSpannungsfeld, in dem sich der Beschäftigtendaten-schutz bewegt, sehr wohl bewusst.

Wir wollen die berechtigen wirtschaftlichen Interes-sen der Unternehmen auf der einen und das Interesse desArbeitnehmers an der Einhaltung seines Rechts auf in-formationelle Selbstbestimmung auf der anderen Seitezu einem schonenden Ausgleich führen und keineSchieflagen produzieren. Wir halten daher Erleichterun-gen für die Weitergabe von bereits erhobenen Daten in-

nerhalb eines Konzerns für überlegenswert. Schließlichmacht es mehr Sinn einen rechtlichen Rahmen für einesolche erleichterte Weitergabe zu schaffen, als die Datenerneut bei den Betroffenen zu erheben.

Wir überlassen Verwendungs- und Verwertungsge-bote den zuständigen Gerichten. Schließlich haben Ver-wendungs- und Verwertungsgebote im deutschen Rechteinen prozessualen Charakter und sind immer auch aufden vorliegenden Einzelfall zu beziehen. Eine gesetzli-che Regelung wird daher immer unvollständig sein. Wirlassen selbstverständlich Fragen zu der Ausübung einesEhrenamtes zu. Schließlich setzen wir uns für die Förde-rung des Ehrenamtes ein. Ehrenamtlichkeit mobilisiertKompetenz und Einsatz für vielfältige soziale und kultu-relle Zwecke, die professionell so zielgenau gar nichtverfügbar gemacht werden könnten.

Viele Betriebe unterstützen daher zu Recht ehrenamt-liches Engagement mit Flexibilität bei den Arbeitszeitenvon Mitarbeitern oder Auszubildenden. Ausbildungs-erfolg und berufliche Leistungsfähigkeit profitieren vonden Fähigkeiten und Fertigkeiten, die in ehrenamtlichenAufgaben erworben werden. Es ist daher völlig absurd,einem Bewerber die Gelegenheit zu nehmen, darzustel-len, wie und mit welchem Einsatz er sich für unsere Ge-sellschaft einsetzt.

Ich denke, es ist deutlich geworden, dass sich diechristlich-liberale Koalition bereits beim Grundverständ-nis eines effektiven Beschäftigtendatenschutzes von derOpposition unterscheidet. Auch wenn die Ergänzung desvorgelegten Gesetzentwurfs der Bundesregierung nochein wenig Zeit in Anspruch nehmen wird, wird sie imErgebnis zu einem ausgewogenen und schonenden Aus-gleich der Interessen führen. Dies wird dann auch zumehr Rechtssicherheit bei allen Beteiligten führen.

Josip Juratovic (SPD): Wir sprechen hier nicht zumersten Mal über den Arbeitnehmerdatenschutz. Einer-seits freue ich mich darüber, dass dieses Thema mehrAufmerksamkeit bekommt. Andererseits ist es aber einArmutszeugnis, dass es die Bundesregierung trotzhöchster Dringlichkeit immer noch nicht geschafft hat,dazu ein wirksames Gesetz auf den Weg zu bringen. WirSozialdemokraten hatten schon in der großen Koalitionein solches Gesetz eingefordert. Jedoch kam immer derdamalige Innenminister Schäuble dazwischen. Es istschön, dass die Regierung nun lernfähig ist und die Be-deutung des Themas erkennt. Schließlich geht es hier umdas Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung,das in einigen Betrieben – ich nenne nur Telekom undLidl – mit Füßen getreten wird.

Wir alle wissen, dass sich die Arbeitswelt entschiedenverändert hat. Als ich am Fließband stand, waren allemeine Daten auf einer Karteikarte vermerkt. Wenn meinArbeitgeber kontrollieren wollte, wofür ich meine Ar-beitszeit nutze, konnte er erst nach Ankündigung undZustimmung des Betriebsrates vorbeikommen und mirzuschauen. Das war sehr transparent. Heute aber gibt esUnternehmen, die wie Kraken Daten sammeln zu allenLebenslagen, sei es zur Arbeit, zu Krankheiten oder zumFamilienstand. Und damit geschieht viel Missbrauch.

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Oft wird dieser Datenmissbrauch als Kavaliersdeliktabgetan. Aber ein solcher Missbrauch verletzt nicht nurdie Persönlichkeitsrechte der Arbeitnehmer. Ein solcherMissbrauch gefährdet auch die Leistungsfähigkeit derBetriebe; denn in einem Betrieb, in dem die Mitarbeiterausgespäht werden, hat keiner mehr Lust, sich für dasUnternehmen einzusetzen. Wir brauchen also klare Ver-hältnisse im Bereich des Arbeitnehmerdatenschutzes,damit der Betriebsfrieden erhalten bleibt und der Betriebmit einem guten Arbeitsklima wirtschaftlich erfolgreichist.

Wir Sozialdemokraten fordern seit langem, dass diesin einem eigenständigen Gesetz geregelt werden soll.Leider will die Bundesregierung den Arbeitnehmerda-tenschutz jedoch verwurschteln im Bundesdatenschutz-gesetz. Wenn das so kommt, brauchen Arbeitnehmer undArbeitgeber unnötigen zusätzlichen Rechtsbeistand, umzu wissen, was jetzt Sache ist. Das Ziel des Arbeitneh-merdatenschutzes muss aber sein, den Menschen Rechtund Sicherheit zu geben, anstatt die Juristen zu beschäf-tigen.

In unserem Antrag fordern wir daher detailliert, wassich am Gesetzentwurf der Bundesregierung ändernmuss. Derzeit ist dies nämlich eher der Entwurf einesArbeitnehmerüberwachungsgesetzes. Lassen Sie michnur auf wenige Beispiele eingehen: Erstens muss im Ge-setzentwurf geregelt sein, dass Ortungssysteme nur danneingesetzt werden dürfen, wenn sie der Sicherheit desBeschäftigten dienen, also nicht zur Überwachung, wosich der Mitarbeiter gerade befindet.

Zweitens dürfen Daten in einem Konzern nicht ein-fach an alle Konzernteile weitergegeben werden.

Drittens muss die Videokontrolle stark eingeschränktwerden. In Räumen, die auch privat genutzt werden, wiePausen- und Umkleideräumen, darf keine Kamera mit-laufen.

Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP, glau-ben Sie mir, es lohnt sich, die Forderungen aus unseremAntrag in den Gesetzentwurf der Bundesregierung ein-zubauen; denn nur dann haben wir einen wirksamen Ar-beitnehmerdatenschutz, der den Arbeitnehmern und denArbeitgebern Nutzen bringt.

Gerold Reichenbach (SPD): Stellen Sie sich bittefolgendes Szenario vor: Ein Beschäftigter in einem Un-ternehmen soll vertrauliche Informationen an die Me-dien gegeben haben. Die Konzernspitze will wissen,wer. Sie weist die Überwachung der Telefonverbin-dungsdaten von Mitarbeitern, Aufsichtsräten und Arbeit-nehmervertretern an. Daten werden automatisiert abge-glichen. Mitarbeiter werden videoüberwacht. Vorgängewie diese haben in den letzten Jahren immer wieder zuSkandalen geführt. Sie haben deutlich gemacht, dassbeim Arbeitnehmerdatenschutz in unserem Land einigesim Argen liegt. Wir brauchen dringend zusätzliche Re-gelungen zum Schutze der Arbeitnehmer.

Wir haben dazu einen Gesetzentwurf eingebracht. Siewollten dem nicht folgen, und die Regierung hat eineneigenen vorgelegt. Dabei haben Sie schon bei der Vor-

lage im Parlament angekündigt, dass der Gesetzesvor-schlag so nicht bleiben kann, sondern geändert werdenmuss. Und jetzt ist ein Jahr verstrichen, ohne dass etwaspassiert ist.

Die Experten haben bei der Anhörung im Innenaus-schuss des Deutschen Bundestages im Mai 2011 den Ge-setzentwurf überwiegend kritisiert. Er ist völlig ungeeig-net, die Persönlichkeitsrechte der Beschäftigten zuschützen. Aber statt aus diesem Verriss der Sachverstän-digen Konsequenzen zu ziehen, haben Sie in einem Eck-punktepapier weitere Verschlechterungen angedroht.

Der Gesetzentwurf erlaubt den automatisierten Da-tenabgleich und die Ausspähung ohne Kenntnis des Be-schäftigten bereits dann, wenn nur der Verdacht auf eineschwerwiegende Pflichtverletzung besteht. Private Tele-fongespräche und E-Mails sollen ausgewertet werdenkönnen. Der Arbeitgeber darf sogar über einen bestimm-ten Zeitraum seinen Beschäftigten durch einen Detektivbeobachten lassen, wenn der Verdacht auf eine schwer-wiegende Pflichtverletzung besteht, die einen wichtigenKündigungsgrund darstellen würde.

Sie erlauben die ununterbrochene Videoüberwa-chung der Beschäftigten, wenn der Arbeitgeber sie fürdie Qualitätskontrolle erforderlich hält. Sie legalisierenÜberwachungsmaßnahmen von Arbeitgebern, die einenschweren Eingriff in die Persönlichkeitsrechte der Be-schäftigten darstellen.

Die Würde des Arbeitnehmers am Arbeitsplätz wirdfür Sie zum Abwägungsgegenstand gegenüber Betriebs-und Arbeitgeberinteressen. Ein Szenario wie am Anfangdargestellt, wäre kein Skandal mehr. Es wäre legal.

Sie wollen jetzt auch noch, dass der ohnehin schwa-che Schutz des Gesetzes durch die Einwilligung des Ar-beitnehmers und durch Betriebsvereinbarungen ausgehe-belt werden kann. Wir fordern die Bundesregierungdeshalb auf, die Konsequenzen aus der Anhörung zu zie-hen.

Die Würde des Menschen hört nicht am Werkstor auf.Wir wollen sie auch am Werkstor schützen. Darum for-dern wir ein Gesetz, das den Arbeitnehmer bereits beider Bewerbung schützt. Informationen im Netz und beiDritten sollen nur eingeholt werden dürfen, wenn derBewerber sie auch als Referenz angegeben hat.

Seien wir doch einmal ehrlich: Wenn ein Arbeitgeberbei einem Bewerber anruft und sagt, wir möchten Siegerne zum Bewerbungsgespräch einladen, aber gebenSie uns doch bitte vorher Ihre „freiwillige“ Einwilli-gung, dass wir sämtliche Daten über sie erheben dürfen– wer würde denn Nein sagen, wenn er Arbeit sucht?

Wir fordern ein Gesetz, das die anonyme Datenerhe-bung bzw. den Datenabgleich nur zur Aufklärung vonStraftaten und nur anlassbezogen zulässt, etwa bei Un-treue oder Bestechlichkeit. Ein Gesetz, das arbeitsrecht-lich untersagte Fragen, etwa nach Schwangerschaft,nicht offen lässt. Wir wollen auch keine Betriebsverein-barungen zuungunsten der Beschäftigten oder die nach-trägliche Einführung eines Konzernprivilegs.

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Ziehen sie den Gesetzentwurf zurück, er macht denSkandal legal.

Lassen Sie uns die Regierung auffordern, ein Gesetzvorzulegen, das die Arbeitnehmer wirklich vor Daten-missbrauch und exzessiver Überwachung schützt. DieEckpunkte dazu haben wir in unserem Antrag beschrie-ben. Stimmen Sie ihm zu.

Gisela Piltz (FDP): Grundsätzlich finde ich es ja im-mer erfreulich, wenn man sich an die eigenen guten Vor-sätze von einst erinnert; denn auch Sie, werte Kollegin-nen und Kollegen von der SPD, hatten einmal denwenigstens gut gemeinten Vorsatz, den Datenschutz amArbeitsplatz reformieren zu wollen.

In der Zeit von 1998 bis 2009 blieb es dann auch beidiesem Vorsatz, und der Arbeitnehmerdatenschutz gerietbei Ihnen in Vergessenheit. Über ein Jahrzehnt haben Siees nicht auf die Reihe bekommen, Ihrer Ankündigungs-politik auch Taten folgen zu lassen. Jetzt kommen Siemit Anträgen und werfen sich quasi hinter den fahrendenZug. Im Gegensatz zu Ihnen halten wir unsere Verspre-chen und räumen endlich auf mit Ihren Versäumnissender zurückliegenden elf Jahre, in denen Sie immerhinden zuständigen Minister gestellt haben.

Dass es diese schwarz-gelbe Bundesregierung ist, dieden lang angemahnten Reformbedarf beim Beschäftig-tendatenschutz endlich anpackt, muss Ihnen nicht gefal-len. Hätten Sie allerdings ein echtes Interesse an einempraxisgerechten Beschäftigtendatenschutz, der die Be-lange aller Beteiligten angemessen berücksichtigt, wür-den Sie endlich anfangen, sich konstruktiv in die Diskus-sion einzubringen, anstatt hier eine Nebelkerze nach deranderen zu zünden.

Besonders interessant wird es allerdings, wenn manIhren Gesetzentwurf aus dem Jahr 2009 mit dem jetzigenAntrag vergleicht. Erstes Bespiel: Datenerhebung im Be-werbungsverhältnis. Was in Ihrem Gesetzentwurf nochausdrücklich für zulässig erachtet wurde, soll durch Ih-ren Antrag nun generell – das heißt ohne Ausnahme –verboten sein.

Zweites Beispiel: Gesundheitsuntersuchungen im lau-fenden Beschäftigungsverhältnis; im Gesetzentwurf er-laubt, im Antrag nunmehr grundsätzlich verboten.

Drittes Beispiel: internationaler Transfer von Beschäf-tigtendaten. Was im heute vorgelegten Antrag rundwegabgelehnt wird, sollte über den Gesetzentwurf noch ohnegroße Hürden – anders formuliert: unter Absenkung desgeltenden Schutzniveaus – legitimiert werden.

Diese Aufzählung ließe sich weiter fortführen. Sogeht man nicht mit diesem sensiblen Thema um undauch nicht mit den Betroffenen. Das ist nicht verlässlich.Sämtliche Forderungen, die Sie eigens aufgestellt hattenund von denen Sie jetzt nichts mehr wissen wollen, fin-den sich nahezu eins zu eins im Gesetzentwurf der Bun-desregierung. Was Sie heute hier tun, ist nichts anderesals ein oppositionelles Spielchen. Werte Kolleginnenund Kollegen von der SPD, nur damit Sie mich nichtfalsch verstehen: Ihr Gesetzentwurf vom November

2009 war beileibe nicht der große Wurf. Im Vergleich zudem, was Sie heute hier abliefern, muss allerdings sogardieser missglückte Entwurf als Sternstunde Ihrer Fach-politiker eingestuft werden.

Die Berichterstatter der Koalitionsfraktionen hattenbereits im Rahmen der ersten Lesung zum Gesetzent-wurf der Bundesregierung deutlich gemacht, dass auchdieses Gesetz den Deutschen Bundestag nicht so verlas-sen würde, wie es hineingekommen ist. Dieser Maßgabeentsprechend haben wir bereits im Vorfeld der öffentli-chen Anhörung im Mai dieses Jahres Vorschläge ge-macht, wie der Gesetzentwurf im Detail verbessert wer-den könnte. Vorschläge, die im Übrigen von zahlreichenSachverständigen der öffentlichen Anhörung ausdrück-lich begrüßt wurden.

Hierzu zählt unter anderem, dass die Zulässigkeit vonGesundheitsuntersuchungen im Beschäftigungsverhält-nis an engere Voraussetzungen geknüpft werden muss.Hierzu zählt auch, dass es dem Arbeitnehmer weiterhinmöglich sein muss, selbstbestimmt in für ihn vorteilhafteDatenerhebungen und -verarbeitungen einzuwilligen.Hierzu zählt schließlich auch, dass es den Betriebspar-teien weiterhin möglich sein soll, im Bedarfsfall auch da-tenschutzrechtlich relevante Sachverhalte eigenverant-wortlich zu regeln. Ich sage bewusst „weiterhin“. Sie tunja gerade so, als würden wir mit dieser Regelung eineneue Rechtslage einführen. Dass es seit dem Urteil desBundesarbeitsgerichts im Jahr 1986 allerdings nunmehrein Vierteljahrhundert lang anerkannt ist, datenschutz-rechtliche Belange auch und gerade durch die Betriebs-parteien selbstständig regeln zu lassen, verschweigen Siedabei nur allzu gern.

Sie müssen mir schon einmal erklären, meine Damenund Herren von der SPD, warum Sie auf der einen Seiteregelmäßig die Rechte der Betriebsräte nie hoch genugansetzen können, bei Fragen des betrieblichen Daten-schutzes der Betriebsrat jedoch schön seinen Mund zuhalten hat. Im Gegensatz zu Ihnen sprechen wir den Be-triebsräten die Kompetenz im Bereich des Datenschutzesnicht ab. Ihre Bevormundungspolitik wird in diesemHause keine Chance haben.

Das parlamentarische Verfahren zum Gesetzentwurfder Bundesregierung ist nahezu abgeschlossen. Ich binzuversichtlich, dass wir das Gesetz noch in diesem Jahrverabschieden werden. Der heute vorgelegte Antragwird sich damit in Kürze schlicht durch Zeitablauf erle-digen.

Petra Pau (DIE LINKE): Es ist höchste Zeit!

Erstens. Wir reden wieder einmal über Datenschutzfür Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Die erste For-derung nach einem expliziten Gesetz stammt übrigensaus dem Jahr 1984. Ein entsprechendes Gesetz aber gibtes immer noch nicht. Keine Partei, die seither regierte,hat sich besonders hervorgetan: nicht die CDU/CSU,nicht die SPD, nicht die FDP, nicht Bündnis 90/Die Grü-nen.

Zweitens. Erst die gravierenden Datenschutzpannenund Überwachungsskandale der zurückliegenden Jahre

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– bei Lidl, bei der Telekom, bei der Bahn AG usw. –scheinen ein Umdenken bewirkt zu haben. Im Frühjahrdieses Jahres hat die aktuelle Bundesregierung endlicheinen Gesetzentwurf vorgelegt. Er wird zu Recht kriti-siert, auch von der Fraktion Die Linke.

Drittens. Ich stelle deshalb noch einmal grundsätzlichklar: Datenschutz bedeutet nicht, rechtlich zu regeln, wiemöglichst viele Daten legal erfasst werden dürfen. Da-tenschutz bedeutet im Gegenteil, von definierten Aus-nahmen abgesehen, das Erfassen, Speichern, Verknüpfenund Weitergeben persönlicher Daten zu unterbinden. Da-ran gemessen ist der Regierungsentwurf ein Rückschritt.

Viertens. Offene Videoüberwachung von Arbeitneh-merinnen und Arbeitnehmern könnte per Gesetz alltäg-lich werden. Heimliche Videoüberwachungen würdenerleichtert. Auf das und mehr haben die Sachverständi-gen nahezu unisono hingewiesen. Nach Vorstellungender CDU/CSU und der selbsternannten Bürgerrechtspar-tei FDP verkäme die Arbeitswelt endgültig zur Casting-show. Das darf nicht sein.

Fünftens. Nun hat die SPD einen eigenen Antrag vor-gelegt, nach der Linken und nach den Grünen. Ichwünschte, dass die Oppositionsfraktionen endlich ge-meinsam auf hohe Datenschutzstandards für Arbeitneh-merinnen und Arbeitnehmer drängten, und dies mit denberechtigten Forderungen der Gewerkschaften bündelt.Es ist spät, sehr spät oder, positiv formuliert:

Sechstens. Es ist höchste Zeit, zu handeln.

Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN): „Ein moderner Datenschutz ist gerade in der heu-tigen Informationsgesellschaft von besonderer Bedeu-tung. Wir wollen ein hohes Datenschutzniveau …Hierzu werden wir das Bundesdatenschutzgesetz unterBerücksichtigung der europäischen Rechtsentwicklunglesbarer und verständlicher sowie zukunftsfest und tech-nikneutral ausgestalten.“ Klingt gut. Könnte von unssein. Oder gar vom Kollegen Wiefelspütz. Aber ich zi-tiere Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von Union undFDP. So steht es nämlich in Ihrem Koalitionsvertrag fürdie 17. Legislaturperiode mit dem Titel „Wachstum. Bil-dung. Zusammenhalt.“. In diesem Koalitionsvertragsteht auch, dass der Arbeitnehmerdatenschutz in einemeigenen Kapitel des Bundesdatenschutzgesetzes ausge-staltet werden wird. Über zwei Jahre später ist das alles –nichts. Es ist nicht das Papier wert, auf dem es steht.

Sie haben großspurig angekündigt und dann nicht ge-liefert, wie in so vielen Bereichen, eben auch im Daten-schutz. Wir hatten hier vor mehreren Monaten eine ersteLesung Ihres Gesetzes mit dünnen Eckpunkten, bei derdie Kollegin Piltz gleich eine ellenlange Liste an Ände-rungen am eigenen Gesetzentwurf anmeldete. Und seit-her: Still ruht der See.

Einige Herausforderungen im Bereich des Daten-schutzes haben sie, liebe Kolleginnen und Kollegen vonCDU/CSU und FDP, ja im Koalitionsvertrag erkannt –immerhin. Dennoch haben sie bis heute nichts auf denWeg gebracht. Es gibt keine Stiftung Datenschutz, keinerote Linie und eben auch keine Reform des Bundesda-

tenschutzgesetzes. Wie es Ihnen hier schon vielfach undzu Recht attestiert wurde: Von einem zeitgemäßen Ar-beitnehmerdatenschutzgesetz ist bislang keine Spur.Auch im sonstigen Datenschutz ist diese Bundesregie-rung weiterhin blank.

Das stößt nicht nur bei immer mehr Bürgerinnen undBürgern auf Unsicherheit und Unverständnis. Inzwi-schen beklagen auch große Teile der Wirtschaft die Un-fähigkeit dieser Regierung, Ihrer Verpflichtung als Ge-setzgeber gerecht zu werden, und das völlig zu Recht.Denn Unternehmen und junge Firmen müssen wissen, inwelchem Rechtsrahmen sie sich bewegen. Die Entwick-lung, Ausbreitung und Qualität der IT-Technologie unddes Internets in den letzten Jahrzehnten ist eine Revolu-tion. Aber aufgrund Ihrer Arbeitsverweigerung hantierenwir noch immer mit einem Gesetz aus einer Zeit, als ein-fache Rechner noch riesig und sehr, sehr langsam waren.Mit den Formulierungen im Koalitionsvertrag zum Inter-net und zur Digitalisierung wollten Sie sich ein progres-sives Image geben. Was sie liefern ist analog und 1.0.

Zum Arbeitnehmerdatenschutz: Wir wünschen unsauch weiterhin eine eigenständige gesetzliche Regelung.Sie wollen die Normen in ein Gesetz packen, dem sieselbst im Koalitionsvertrag größte Unverständlichkeitbescheinigen. So oder so, ein Beschäftigtendatenschutz-gesetz ist dringend erforderlich. Das bestätigen alle un-abhängigen Fachleute, das war das Fazit des Skandal-jahrs 2008 – Skandale bei der Telekom, bei Lidl,Daimler usw. –, und das ist Ergebnis der Anhörung. Siehat klar ergeben: Eine Beschäftigtendatenschutzregelungschafft Klarheit in einem Umfeld, in dem Vertrauen dieentscheidende Grundlage ist, auch im Hinblick auf dieunübersichtliche Rechtsprechung. Wir brauchen drin-gend effektive Schutzmaßnahmen hinsichtlich ausufern-der Datenerhebungen bei Bewerbern sowie ausufernderDatenverarbeitungen zu Zwecken der Verhaltenskon-trolle in den Betrieben. Zudem brauchen wir ein verbes-sertes internes Kontrollsystem.

Zum Antrag der SPD: Der Antrag der SPD holt nunlediglich nach, was die SPD in ihrem eigenen Gesetzent-wurf verschlafen hat. Dieser Entwurf kam noch aus demArbeitsministerium des ehemaligen Kollegen Scholz.Heute ist offensichtlich, dass der Entwurf seinerzeit of-fensichtlich nicht ansatzweise die Priorität bekam, dieangemessen gewesen wäre. Heute stellt sich die Frage,was nun eigentlich vonseiten der SPD gilt: Der Entwurfdes Kollegen Scholz oder der vorliegende Antragskata-log?

Immerhin deckt sich der Antrag zu 75 Prozent mitdem Gesetzentwurf, den meine Fraktion und ich an die-ser Stelle vor einigen Monaten vorgelegt haben. Zumin-dest die 75 Prozent sind gut. Richtig finden wir zum Bei-spiel die Klarstellung, dass die Beschäftigten das Rechthaben, sich bei Rechtsverstößen direkt an Datenschutz-beauftragte wenden zu können. Dissens haben wir aberzum Beispiel bei der strikten Ablehnung des Konzern-privilegs. Zugegeben, es ist kompliziert, aber das schlichteVerbot hilft niemanden. Wer die Praxis kennt, der weiß,dass es sich um ein berechtigtes Anliegen der Arbeitge-

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ber handelt, das eben beschäftigtenfreundlich ausgestal-tet werden muss.

Also, wie so oft bei der SPD: Licht und Schatten.Trotzdem geht der vorliegende Antrag in die richtigeRichtung. Man kann in der Tat nur hoffen, dass auch dieBundesregierung sich nun endlich besinnt und dasThema endlich ernsthaft angeht.

Anlage 9

Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung:

– Bericht des Parlamentarischen Beirats fürnachhaltige Entwicklung zum Indikatoren-bericht 2010 des Statistischen Bundesamtesund Erwartungen an den Fortschrittsbericht2012 zur nationalen Nachhaltigkeitsstrategieder Bundesregierung

– Antrag: VN-Konferenz Rio+20 – Nachhal-tigkeit global umsetzen

(Tagesordnungspunkt 11 und Zusatztagesord-nungspunkt 4)

Marcus Weinberg (Hamburg)(CDU/CSU): Mit derheutigen Debatte behandeln wir zwei für die Nachhaltig-keit wichtige Aspekte. Mit unseren auf dem Indikatoren-bericht 2010 basierenden Erwartungen an den Fort-schrittsbericht 2012 greifen wir nochmals aktiv in dielaufende Konsultationsphase der Bundesregierung zurWeiterentwicklung der nationalen Nachhaltigkeitsstrate-gie ein. Mit dem Antrag „Rio+20: Nachhaltigkeit globalumsetzen“ greifen wir einen zweiten wichtigen Meilen-stein der Nachhaltigkeitsagenda auf: die UN-KonferenzRio+20 im Sommer des nächsten Jahres.

Lassen Sie mich zunächst auf den Indikatorenberichtund unsere Erwartungen an den Fortschrittsbericht 2012zur Weiterentwicklung der nationalen Nachhaltigkeits-strategie eingehen. Der Indikatorenbericht 2010 zumStand der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie zeigt, dasswir hinsichtlich der gesteckten Ziele insgesamt auf ei-nem guten Weg sind.

Mir geht es in der heutigen Debatte aber nicht so sehrdarum, einen Blick zurückzuwerfen und das Erreichte zubewerten. Mir geht es vielmehr darum, ausgehend voneinigen Ergebnissen des Indikatorenberichts 2010 einenBlick nach vorne zu werfen auf den Fortschrittsbericht2012 der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie. WelcheErwartungen an die Fortschreibung der nationalen Nach-haltigkeitsstrategie haben wir?

Bei der Fortschreibung der nationalen Nachhaltig-keitsstrategie ist es aus unserer Sicht wichtig, das Spek-trum der Schwerpunktthemen um einen weiteren, ge-wichtigen Aspekt zu erweitern. Vor dem Hintergrund,dass die Energiefrage durch die aktuellen Ereignisse undEntscheidungen immer stärker an Gewicht gewinnt,sollte Energie als drittes Schwerpunktthema in den Fort-schrittsbericht 2012 aufgenommen werden. Die bislangim Entwurf enthaltenen Ausführungen werden aus unse-

rer Sicht der größer gewordenen Bedeutung des Themasnicht gerecht. Hier ist eine Aufwertung zum Schwer-punktthema des Fortschrittsberichtes 2012 absolut ge-rechtfertigt und geboten.

Hinsichtlich der Indikatoren lässt sich deutlich fest-stellen: Diese sind nicht in Stein gemeißelt. Es ist zu be-grüßen, dass die Bundesregierung derzeit prüft, inwie-weit Indikatoren angepasst werden können. Dabei ist esrichtig, dass eine gewisse Kontinuität gewahrt werdensollte, um auch über längere Zeiträume vergleichbareDaten vorliegen zu haben. Richtig ist auch, dass nur sol-che Indikatoren aufgenommen werden sollten, wenn siemit einem gewichtigen Ziel verbunden sind. Allerdingssollten wir bei Indikatoren, die sich in den zurückliegen-den Jahren als ungeeignet erwiesen haben, auch dieKraft aufbringen, diese dann entsprechend zu ändern.Der Parlamentarische Beirat für nachhaltige Entwick-lung hat in seinen Stellungnahmen mehrfach den Fingerin offene Wunden gelegt und aufgezeigt, an welchenStellen er Nachbesserungsbedarf sieht.

Bei den Studienanfängerzahlen liegt Deutschland un-ter dem OECD-Schnitt und zum Teil sehr deutlich unterdem Durchschnitt einzelner Länder. Dies wird dadurchbeeinflusst, dass die Berufsausbildung in Deutschlandweitgehend im dualen System erfolgt, während in ande-ren Staaten solche Ausbildungen überwiegend an denHochschulen erfolgen. Hier wird deutlich: Die Tückeliegt im Detail. Um verlässliche Vergleichszahlen zu er-halten, müssten zunächst die bestehenden Unterschiedeherausgerechnet werden. Insgesamt sollte es jedochnicht um die reine Erfüllung von Akademikerquoten ge-hen, sondern um die Qualifizierung der Menschen. Unterdiesem Aspekt ist Deutschland mit den beiden – berufli-chen und akademischen – gleichwertigen Bildungswe-gen Ländern mit hohem Akademikeranteil eher überle-gen.

Insofern regt der Parlamentarische Beirat für nachhal-tige Entwicklung an, statt ausschließlich die Studienan-fängerquote auszuweisen, auch die Ausbildungszahlenin die Darstellung des Indikators einzubeziehen.

Zum Indikator 15 – Kriminalität – haben wir uns sei-tens des Parlamentarischen Beirats für nachhaltige Ent-wicklung schon oft geäußert. Es ist fast schon so wie mitCato und Carthago, nur dass wir nicht jede Rede mit un-serer Forderung nach Änderung des Indikators Krimina-lität abschließen.

Nach wie vor wird unsererseits der Tatbestand Ein-bruchsdiebstahl als nicht signifikant genug gesehen, umfür den Bereich Kriminalität einen aussagekräftigen In-dikator abzubilden. Im Entwurf zum Fortschrittsbericht2012 sind weitere Kennzahlen aufgeführt, die wesentlichaussagekräftiger wären. Hierzu gehört unter anderemauch die Aufklärungsquote. Aus Sicht des Parlamentari-schen Beirats für nachhaltige Entwicklung kann der In-dikator 15 in der bestehenden Form nicht bestehen blei-ben. Alternativ bieten sich, wie vom PBNE in seinerStellungnahme zum Indikatorenbericht 2010 zuletzt ge-fordert, Delikte gegen Leib und Leben sowie die Aufklä-rungsquote an. Sollte eine Änderung des Indikators abso-

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lut unverhandelbar sein, empfehle ich – frei nach Cato –,den Indikator ganz zu streichen.

Ein aus Sicht nachhaltiger Entwicklung fast hoff-nungsloser Fall ist der Indikator Flächeninanspruch-nahme. Der Anstieg der Siedlungs- und Verkehrsflächeliegt weit über dem in der Nachhaltigkeitsstrategie ange-peilten Ziel von 30 Hektar pro Tag. Das hat viele und vorallem vielschichtige Gründe.

Allerdings sollte auch einmal darüber nachgedachtwerden, inwieweit die Definition der „verbrauchten Flä-che“ tatsächlich zielführend ist. Bislang zählt die ge-samte Siedlungs- und Verkehrsfläche, also alles, wasnicht mehr land- und forstwirtschaftlich genutzt werdenkann, zum Flächenverbrauch. Damit fallen auch Grünan-lagen, Friedhöfe und Erholungsgebiete in die Kategorie„verbrauchte Fläche“. Dadurch wird es erheblich er-schwert, nicht mehr benötigte Gebäude zu „renaturie-ren“, also abzureißen und durch Grünland zu ersetzen,um den Flächenverbrauch zu reduzieren. Denn sofern re-naturierte Flächen nicht uneingeschränkt der Land- oderFortstwirtschaft zur Verfügung stehen, weil sie zum Bei-spiel als Park oder Gartenkolonie ausgewiesen sind, ver-brauchen Sie weiterhin Fläche. Unter diesen Definitions-voraussetzungen dürfte es schwierig werden, denFlächenverbrauch signifikant zu reduzieren und die Ziel-vorgabe zu erreichen.

Auch wenn bereits recht viele Indikatoren vorhandensind und Forderungen nach Ergänzungen eher kritischgesehen werden, sollte aus unserer Sicht geprüft werden,inwieweit ein Indikator „nachhaltiger Konsum“ aufge-nommen werden kann. Das Indikatorensystem ist nichtstatisch, sodass eine Ergänzung durchaus möglich ist.Nachhaltiger Konsum ist ein wichtiges Themenfeldnachhaltiger Entwicklung. Dieses sollte auch mit einempassenden Indikator abgebildet werden.

Meine Damen und Herren, ich freue mich, dass wirdie Debatte zum Indikatorenbericht 2010 und zu unserenErwartungen an den Fortschrittsbericht 2012 heute füh-ren können. Morgen, also am 30. September, endet dasKonsultationsverfahren, das die Bundesregierung zumEntwurf des Fortschrittsberichtes 2012 durchführt. Da-mit haben wir heute noch einmal die Gelegenheit, nebenden bereits abgegebenen Stellungnahmen aktiv in dasDiskussionsgeschehen einzugreifen. Noch mehr freueich mich natürlich, wenn die Bundesregierung unsereAnregungen vor allem hinsichtlich der Weiterentwick-lung der Indikatoren und zur Aufnahme eines weiterenSchwerpunktthemas aufgreift.

Ziel unseres Antrags „Rio+20: Nachhaltigkeit globalumsetzen“ ist es, dass mit der Konferenz der VereintenNationen „Rio+20“ im Juni des nächsten Jahres Nach-haltigkeit und damit die Leitlinien nachhaltiger Entwick-lung global stärker umgesetzt werden.

Ich freue mich, dass es uns in einem großen Kraftaktgelungen ist, diesen interfraktionellen Antrag zu erarbei-ten und in den Deutschen Bundestag einzubringen. Da-mit nutzen wir unsere Chance als Parlament, unserePositionen der Bundesregierung bei ihren Vorbereitungs-

gesprächen mit auf den Weg zu geben und damit uns indie laufenden Vorbereitungsverhandlungen zur Rio-Konferenz 2012 mit einzubringen.

Ein Themenschwerpunkt der Konferenz Rio+20 wirddie Frage des Nachhaltigkeitsmanagements auf interna-tionaler Ebene sein. Wie ist die Nachhaltigkeitsstrategieinternational 20 Jahre nach der Konferenz von Rio 1992verankert? Bei dieser Frage kommt man auch bei wohl-wollender Betrachtung zu dem Ergebnis: eher schlecht.– Es besteht ein Umsetzungs- und Koordinationsdefizit.Die UN-Kommission für nachhaltige Entwicklung istzudem ineffizient und nur wenig umsetzungsorientiert,und auf Ebene der UN-Mitgliedstaaten gibt es noch vieleweiße Flecken ohne nationale Nachhaltigkeitsstrategien.

Ziel unseres Antrages ist es, das Nachhaltigkeitsma-nagement im UN-Verbund zu stärken. Die Konferenzvon Rio im Sommer 2012 ist eine große Chance, dasNachhaltigkeitsmanagement weltweit zu verbessern. DieStärkung kann auf drei Wegen erfolgen: entweder durcheine Verbesserung der bestehenden CSD-Struktur oderdie Verankerung des Themas bei ECOSOC oder in ei-nem eigenen UN-Nachhaltigkeitsrat. Hier können wiruns zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht auf eine Variantefestlegen. Aber bei drei zur Verfügung stehenden Alter-nativen sollte es aus meiner Sicht möglich sein, einePosition zu finden, die dem nicht nur von uns angestreb-ten Ziel sehr nahekommt.

Aber nicht nur die Vereinten Nationen sind gefordert,Nachhaltigkeit stärker zu berücksichtigen und das Nach-haltigkeitsmanagement zu verbessern. Bei der Konfe-renz von Rio 1992 haben sich die Vertragsstaaten ver-pflichtet, nationale Nachhaltigkeitsstrategien zu ent-wickeln. Dem sind längst nicht alle nachgekommen, so-dass aus unserer Sicht die Konferenz Rio+20 auch ge-nutzt werden sollte, alle Industriestaaten – nochmals –darauf zu verpflichten, eigene nationale Nachhaltigkeits-strategien mit aussagekräftigen Indikatoren zu entwi-ckeln, sofern sie hier noch nicht tätig geworden sind.Gleichzeitig sollte bei den Entwicklungs- und Schwel-lenländern dafür geworben werden, stärker auf nachhal-tiges Wirtschaften zu setzen. Hier muss stärker auf dieChancen nachhaltiger Entwicklung hingewiesen undAngst bei der Ausgestaltung von „Green economyRoadmaps“ genommen werden.

Die heutige Debatte zeigt, wie nah nachhaltige Ent-wicklung auf nationaler und internationaler Ebene bei-einander liegt. Wenn wir uns den Stand der Nachhaltig-keitsstrategie in Deutschland vor Augen führen, sehenwir, dass wir auf einem guten Weg sind, Nachhaltigkeitimmer stärker im politischen und gesellschaftlichen All-tag zu verankern. Diesen Weg sollten wir auch interna-tional beschreiten und immer wieder verstärkt für dieLeitlinien nachhaltiger Entwicklung werben. Dann kannauch von der VN-Konferenz Rio+20 im Juni 2012 eindeutliches Signal für eine Stärkung des Nachhaltigkeits-managements ausgehen. Ich freue mich, wenn wir wei-terhin gemeinsam sowohl national als auch internationalden Aspekt nachhaltiger Entwicklung weiter voranbrin-gen.

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Dr. Matthias Miersch (SPD): Fast 20 Jahre ist esnun her – mit dem Erdgipfel in Rio de Janeiro im Jahr1992 wollte die internationale Staatengemeinschaft demThema Nachhaltigkeit ein Gesicht geben. Heute stellenwir fest, dass der Begriff der Nachhaltigkeit häufig miss-braucht und immer wieder in inhaltsleeren Floskeln ver-wendet wird. Nachhaltigkeit ist zur Beliebigkeit ver-kommen. Dabei ist gerade die heutige Zeit großflächigerKrisen eine Zäsur für unsere Lebensart des ungehemm-ten Wachstums und Raubbaus an den Ressourcen desPlaneten: Hungerkatastrophen, Dürreperioden, Finanz-desaster, nukleare Unfälle – ein Umsteuern ist dringendgeboten, heute noch deutlich mehr als vor 20 Jahren.

Bereits im 18. Jahrhundert setzte sich die Einsichtdurch, dass nur ein nachhaltiges Wirtschaften Zukunfts-fähigkeit bringt. Im Bereich der Forstwirtschaft entstanddie Formel, wonach nur so viele Bäume gefällt werdendürften, wie neue gepflanzt werden. Eine einleuchtendeFormel. Wie würde die Welt aussehen, wenn seit dieserZeit entsprechende Grundsätze in den unterschiedlichs-ten Politikfeldern berücksichtigt worden wären? Wirhätten keine Finanzkrise, kein rasantes Artensterben,keinen verantwortungslosen Umgang mit natürlichenRessourcen und keine Armut. Es wäre Rücksicht ge-nommen worden – auch auf die Interessen künftiger Ge-nerationen. Es wäre ein Schritt in Richtung eine genera-tionenübergreifenden Verantwortung gewesen. Heutemerken wir, dass wir schon jetzt mit den Versäumnissender vergangenen Jahre umgehen müssen. Und schonheute ist dies eine große Herausforderung.

Es gibt also zahlreiche Gründe, den Weltgipfel imkommenden Jahr auch durch das nationale Parlament zubegleiten und vor allem die notwendigen Schlüsse ausder Konferenz zu ziehen. Ich bin deshalb froh, dass esuns im Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Ent-wicklung gelungen ist, einen interfraktionellen Antragzur Konferenz der Vereinten Nationen in Rio im kom-menden Jahr auf den Weg zu bringen. Darin betonen wirdie Dringlichkeit einer tiefgreifenden Veränderung desglobalen Wirtschaftens. Wir sprechen die großen He-rausforderungen der Bekämpfung des Klimawandels,dem Schutz der Ökosysteme oder die Vermeidung vonHungerskatastrophen an. Die Menschheit steht vor enor-men ökologischen, ökonomischen und sozialen Heraus-forderungen. Noch nie war es wichtiger, sich an den Zie-len einer nachhaltigen Entwicklung zu orientieren.

Bei der Konferenz in Rio wird es vor allem um zweiHauptbereiche gehen. Es wird darum gehen, das Themader nachhaltigen Entwicklung institutionell so zu veran-kern, dass es sein Nischendasein verliert und in denMainstream der politischen Arbeit der Vereinten Natio-nen Einzug hält. Hier sind Veränderungen in der Organi-sation dringend angezeigt, um Effizienz und Effektivitätzu erreichen. Ohne Details zu nennen kann man schonheute prognostizieren, dass es des besonderen Einsatzesder Bundesregierung bedürfen wird, um in dieser Fragesubstanzielle Fortschritte in Rio erreichen zu können.Hoffen wir gemeinsam, dass wir hier nicht verzagen! Esgeht aber auch um die Sicherstellung des interdisziplinä-ren Ansatzes, der stets mit dem Ziel der nachhaltigenEntwicklung verbunden ist. So müssen zum Beispiel die

Themenbereiche Klimapolitik und Schutz der Biodiver-sität viel stärker miteinander vernetzt werden. Nach die-sem Muster müssen wir versuchen, auf institutionellerEbene eine Verzahnung zu erreichen, die von allen Be-teiligten verlangt, Nachhaltigkeit immer mitzudenken.

Der zweite Schwerpunktbereich in Rio wird dasThema umweltverträgliche Wirtschaft im Kontext vonnachhaltiger Entwicklung und Armutsbekämpfung sein.Wir müssen endlich die natürlichen Grenzen unseresPlaneten respektieren. Glauben wir Prognosen, nach de-nen in einigen Jahren bereits 9 Milliarden Menschen aufdieser Erde leben werden, kommen wir nicht umhin,Wachstum und Wohlstand komplett neu zu denken. Esgeht dabei auch nicht mehr um die Frage des Ob, son-dern nur noch um die Frage des Wann. Wann lernen wir,einen nachhaltigen Umgang mit unserer Umwelt zu pfle-gen, und schaffen wir diesen Paradigmenwechsel, bevores endgültig zu spät ist? Wir können als Menschen vieleDinge organisieren, regeln und entwickeln. Die Erdekönnen wir nicht aus den Angeln heben, das müssen wirendlich begreifen. Und in diesem Zusammenhang istklar, dass es gerade die Industrieländer – gerade die ersteWelt ist –, die hier mit guten Beispielen vorangehenmuss. Die Entwicklungs- und Schwellenländer betrach-ten unser Verhalten sehr aufmerksam. Sie haben erkannt,dass es vor allem wir sind, die bislang ihr Wirtschaftenin vielen Bereichen nicht nachhaltig ausgerichtet haben.Gerade wir sind es deshalb, die Dinge verändern müs-sen, bevor wir es anderen Ländern vorschreiben.

Wir haben es auf Konferenzen wie in Kopenhagen er-lebt, dass Dynamiken entstehen und die Dinge fürchter-lich schieflaufen können. Wir haben gesehen, wie sehrschnell viel Vertrauen verspielt werden kann, wenn Zusa-gen nicht eingehalten werden. Wenn wir den Prozess desUmdenkens aber nicht global organisieren können, weiluns unsere Partner die Hand nicht reichen wollen, werdenunsere eigenen Anstrengungen noch so groß sein können,sie werden nicht genügen. Deshalb ist internationale Ver-trauensbildung der Schlüssel. Nur so werden wir künftigin den wichtigen Feldern der Ressourceneffizienz, derumweltverträglichen emissionsarmen Wirtschaft oderÜberwindung des Wirtschaftens mit endlichen Energie-trägern vorankommen. Das sind die Themen, die in Rioeine große Rolle spielen müssen und die wir in unseremAntrag gemeinsam aufgreifen.

Wir beraten heute gleichzeitig auch den Fortschritts-bericht, mit dem die deutsche Nachhaltigkeitsstrategiebegleitet wird. Ich halte es an dieser Stelle für einenglücklichen Zufall, diese beiden Themen in einer Redeverknüpfen zu können, denn die VerantwortungDeutschlands ist, wie ich bereits erwähnte, eine ganz be-sondere. Ohne unser volles Engagement hier in Deutsch-land werden wir unsere Vorreiterrolle einbüßen und denglobal ohnehin schwierigen Prozess weiter verlangsa-men. Die Klimaverhandlungen in Kopenhagen und dieim Nachgang nicht eingehaltenen Zusagen über die Fi-nanzierung des internationalen Klimaschutzes sind unsein warnendes Beispiel.

Der Fortschrittsbericht soll die Entwicklung hin zu ei-ner nachhaltigen Verantwortung der Politik begleiten.

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Natürlich begrüßen wir dieses Ziel. Allerdings zeigenuns die Berichte der letzten Jahre, beispielsweise der In-dikatorenbericht des Jahres 2010, dass wir diese Ent-wicklung bisher kaum vollzogen haben. Die Politik istdringend gefordert, die bisherigen Defizite schnell anzu-gehen: Wir verfehlen regelmäßig die selbst auferlegtenZiele im Artenschutz, wir versiegeln unsere Umgebungmit Beton und wir leben immer mehr auf Kosten derkommenden Generationen, in dem wir gigantischeSchuldenberge auftürmen. Uns mag all dies aus demMoment heraus notwendig erscheinen, lange werden wiruns dieser Illusion aber nicht mehr hingeben können.Der Fortschrittsbericht 2012 spricht gerade die eben ge-nannten Handlungsfelder leider nur oberflächlich an. Ichbetone es deshalb noch einmal: Wir stehen unter interna-tionaler Beobachtung, unsere Glaubwürdigkeit ist einPfand in internationalen Verhandlungen im Rahmen ei-ner globalen Umstrukturierung unserer Wirtschafts-weise. Machen wir nicht zunächst unsere eigenen Haus-aufgaben richtig, verlieren wir dieses Pfand. Es sollteuns also ein doppeltes Anliegen sein, nicht nur wohlklin-gende Berichte zu verfassen, sondern unser Handeln anTatsachen zu messen.

Der Fortschrittsbericht schlägt in Bezug auf die UN-Konferenz in Rio vor, den Schwung der Konferenz fürdie Weiterentwicklung der deutschen Nachhaltigkeits-strategie im nächsten Jahr zu nutzen. Ich wünsche mir,dass die Bundesregierung dieses Vorgabe ernst nimmt.Wir werden dafür sorgen, dass dieser Regierung beimSchwungholen für Nachhaltigkeit nicht die Puste aus-geht.

Michael Kauch (FDP): Politik für Nachhaltigkeit istPolitik für kommende Generationen. Mit der nationalenNachhaltigkeitsstrategie hat Deutschland einen Politik-ansatz, mit dem über Wahlperioden und Fraktionsgren-zen hinweg Ziele gesteckt werden. Diese Ziele – und dasist bedeutsam – werden regelmäßig durch Indikatorenüberprüft: Sind wir auf dem richtigen Weg, oder mussnachgesteuert werden?

Der Parlamentarische Beirat für nachhaltige Entwick-lung hat in seiner Stellungnahme zum Indikatorenbericht2010 verschiedene Vorschläge gemacht, wie die Nach-haltigkeitsindikatoren weiterentwickelt werden können.Weiterhin hat er allgemeine Erwartungen an den Fort-schrittsbericht 2012 formuliert. Der Entwurf des Fort-schrittsberichts 2012 liegt nun vor, und ich freue mich,dass die Bundesregierung wieder in einem öffentlichenKonsultationsverfahren allen interessierten Bürgerinnenund Bürgern, Verbänden und Institutionen die Möglich-keit gibt, ihre Anregungen einzubringen.

Dass bei Änderungen im Indikatorensatz behutsamvorgegangen werden muss, ist klar. Gerade wenn längereZeiträume betrachtet werden sollen, ist eine gewisseKontinuität geboten. Wenn sich allerdings bestimmte In-dikatoren als offensichtlich ungenügend erweisen, sollteauch der Mut aufgebracht werden, diese zu ändern. Ichfreue mich deshalb, dass die Bundesregierung signali-siert hat, den seit Jahren vom Parlamentarischen Beiratfür nachhaltige Entwicklung kritisierten Indikator zur

Kriminalität zu ersetzen und sich nicht ausschließlichauf die zwar leicht erhebbaren, aber allein wenig aussa-gekräftigen Wohnungseinbruchsdiebstähle zu beschrän-ken.

Neben der Diskussion um die Messung nachhaltigerEntwicklung auf Bundesebene müssen wir in einem fö-deralen Staat auch ein Augenmerk auf die vertikale Inte-gration bei der Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele le-gen. Bislang verfügen die Bundesländer teilweise übereigene Nachhaltigkeitsstrategien, aber von unterschiedli-cher Qualität und politischer Gewichtung. Eine bessereVernetzung der Bundes- mit den Länderstrategien istwichtig, um die Nachhaltigkeitsziele konsequent zu ver-folgen. Parallel zur Anbindung der Nachhaltigkeitsstra-tegie im Bundeskanzleramt sollten die Nachhaltigkeits-strategien der Länder im unmittelbaren Umfeld derRegierungschefs angesiedelt werden. Zudem wäre eineeigenständige und themenübergreifende Querschnittsar-beitsgruppe in der Ministerpräsidentenkonferenz wün-schenswert. Dies würde dem Thema auf Länderebeneeine größere Bedeutung beimessen und der Querschnitts-aufgabe gerecht werden.

Wir debattieren heute neben der Unterrichtung desBeirats den interfraktionellen Antrag zur UN-Konferenzin Rio de Janeiro im nächsten Jahr, auf der es zweiSchwerpunkte gibt: die Reform der Umwelt- und Nach-haltigkeitsinstitutionen bei den Vereinten Nationensowie die Frage, wie man eine Weiterentwicklung dernationalen Volkswirtschaften hin zu nachhaltigen Wirt-schaftsmodellen voranbringen kann. In Deutschland sindwir hier auf einem guten Weg. Wir haben erkannt, dasseine umweltverträgliche Wirtschaft in keinem Wider-spruch zu Wachstum steht, sondern ganz im Gegenteilzum Wachstumsmotor werden kann. Diese Entwicklungsollte auch in Entwicklungs- und Schwellenländern an-gestoßen werden, allerdings ohne dabei neue Formendes Protektionismus zu etablieren.

Bei der UN-Institutionenreform stehen wir vor derHerausforderung, die stark fragmentierten Umwelt-Go-vernance-Strukturen effizienter und effektiver zu gestal-ten. Der Vorschlag der Aufwertung des United NationsEnvironment Programmes, UNEP, zu einer United Na-tions Environment Organization, UNEO, scheint hier derVielversprechendste zu sein. Bei der Nachhaltigkeitsgo-vernance gilt es, eine Alternative zu der weitgehend er-gebnislos arbeitenden Commission on Sustainable Deve-lopment, CSD, zu finden. Hier stehen verschiedeneVorschläge im Raum. Die Bundesregierung sollte sichim Verhandlungsprozess in Rio dafür einsetzen, dass ineiner neuen Governance-Struktur die Bereiche Wirt-schaft, Umwelt und Soziales besser vernetzt werden undeine wirkungsvolle Koordination der entsprechendenArbeitseinheiten der Vereinten Nationen stattfindet.

Ralph Lenkert (DIE LINKE): Nachhaltigkeit in Zei-ten der Kapitalkrise und enthemmter Finanzmärke, dasist nicht mehr als die Quadratur des Kreises. Die Bun-desregierung hat sich das Gleichgewicht von Mensch,Natur und Wirtschaft als Leitprinzip des politischenHandelns auf die Fahne geschrieben. Nachhaltigkeit soll

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– ich zitiere aus der Nachhaltigkeitsstrategie der Bundes-regierung – „die Erreichung von Generationengerechtig-keit, sozialem Zusammenhalt, Lebensqualität und Wahr-nehmung internationaler Verantwortung zum Zielhaben“.

Leider lassen sich diese ehrenwerten Ziele nur schwernachprüfen. Da kann auch der Parlamentarische Beiratfür nachhaltige Entwicklung wenig tun. Denn seineMessinstrumente sind stumpf. Bestes Beispiel ist der In-dikator „wirtschaftlicher Wohlstand“. Das weltweiteFinanzvolumen ist in den letzten 25 Jahren um über1 000 Prozent auf 140 Billionen US-Dollar gestiegen.Ein verschwindend geringer Teil der Weltbevölkerung,Manager und Vermögensverwalter, bewegen so viel Ka-pital wie nie in der Geschichte. Und die Kassen klingeln.In den letzen 20 Jahren ist der weltweite Handel mitFinanzderivaten um sage und schreibe 3 800 Prozent ge-wachsen – seit Beginn der Messung um jährlich einFünftel. Der Derivatenmarkt kommt heute auf über610 Billionen Euro, also eine 61 mit – lassen Sie michrechnen – 13 Nullen.

Das Problem: Die Geldwirtschaft hat die weltweiteRealwirtschaft im Verhältnis 17 : 1 längst abgehängt.Spekulation, Wettgeschäfte und Managergehälter gehen– auch hierzulande – noch zu oft vor Arbeit, Vertrauenund Arbeitsplätze. Taucht diese absurde Realität im Indi-katorenbericht auf? Fehlanzeige!

Das Bundeskanzleramt gibt die Nachhaltigkeitsindi-katoren vor. Das Parlament muss damit zurechtkommen.Zur Messung wirtschaftlichen Wohlstandes dient alleindas Bruttoinlandsprodukt. So zeigt der Indikatorenbe-richt 2010 denn auch – alle Jahre wieder – heiter Son-nenschein. Bei nachweislich steigender Armut von Kin-dern, Arbeitslosen, Niedriglohnjobbern und Rentnernwird ohne Scham vermeldet, das BIP pro Einwohner seizwischen 1991 und 2009 preisbereinigt um 20 Prozentgestiegen! Was für ein Hohn! Fragen wir doch einmaldie Menschen auf der Straße, was von den 20 Prozent inihrem Geldbeutel angekommen ist! Wenn sich die Le-benswirklichkeit von Millionen von Bürgerinnen undBürgern mangels ehrlicher Indikatoren nicht im Fort-schrittsbericht 2012 der Bundesregierung widerspiegelt,dann frage ich mich: Was für ein Fortschritt messen wireigentlich?!

In Deutschland klafft die Schere zwischen Arm undReich immer weiter auseinander. Im Sinne des erklärtenNachhaltigkeitsziels Sozialen-Zusammenhalt-Stärkenmuss endlich ein Maß gefunden werden, das diese ge-fährliche – ganz und gar nicht nachhaltige Entwicklung –wirklichkeitsgetreu abbildet.

Warum machen wir es nicht wie die Vereinten Natio-nen? In ihrem jährlichen Weltbericht zur menschlichenEntwicklung wird soziale Ungleichheit nach Einkom-men und Geschlecht schon seit Jahren thematisiert. Dieentsprechenden Indikatoren sind da, sie müssen nur an-gewendet werden.

Aber der Bundesregierung fehlt der Wille fürs genaueHinschauen. Kein Wunder! Das Deutsche Institut fürWirtschaftsforschung rechnet vor: Seit den 1990er-Jah-

ren gehen die niedrigsten Einkommen und höchsten Ein-kommen auseinander. Die Mittelschicht schrumpft. Von2002 bis 2005 schrumpfte das Durchschnittseinkommender Bürger um fast 5 Prozent. Bei den reichsten 10 Pro-zent aber stiegen die Einkünfte um 6 Prozentpunkte. Beiden Superreichen um 17 Prozent, die 650 reichstenDeutschen verbuchten 35 Prozent mehr, die 65 Reichs-ten sogar 53 Prozent mehr! Der Zusammenhang zwi-schen mehr Finanzwirtschaft, weniger Realwirtschaftund mehr sozialer Ungleichheit, die in Deutschland dashöchste Niveau seit der Erhebung der Ungleichheits-Da-ten erreicht hat, liegt doch auf der Hand.

Die Linke sagt darum: Soziale Ungleichheit darf keinTabu mehr sein: Oder wollen sie Londoner Verhältnisse?Wir fordern darum einen Ungleichheitsindikator. Die Fi-nanzwirtschaft hat bereits einmal die Realwirtschaft andie Wand gefahren und die Gefahr besteht erneut. Nach-haltigkeit darf nicht zur hohlen Propagandaparole ver-kommen. Sie von der schwarz-gelben Regierung erin-nern uns Linke doch immer mal gerne an die DDR. Ichsage Ihnen: Lernen Sie von diesen Erfahrungen. Auchdie DDR vermeldete nachhaltige Planerfüllung, bis zu-letzt. Das Ende ist ja hinlänglich bekannt.

Also lassen Sie uns gemeinsam ehrliche Nachhaltig-keitskriterien finden und nutzen! Die Linke wird mit Ih-nen allen Lösungen suchen.

Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Heute Morgen haben wir uns hier in diesem Hause er-neut mit der Stabilisierung des europäischen Finanz-marktes beschäftigen müssen – leider.

Deutschland hat seinen Anteil am Gewährleistungs-rahmen deutlich auf 211 Milliarden Euro erhöht. Dassind zwei Drittel des Volumens eines jährlichen Bundes-haushalts. Ist das nachhaltig oder nicht? Darüber wirdheftig gestritten. Wirklich wissen werden wir das erst,wenn alles wieder im Lot ist.

Die Finanzkrise macht deutlich, dass wir um einenachhaltige Wirtschaftsweise nun wirklich nicht mehrherumkommen. Wenn Schulden nicht ausreichend realeWerte gegenüberstehen, klappt das Kartenhaus aus Spe-kulationen zusammen.

Aber es gibt durchaus Wege aus diesem Dickicht he-raus: Ein wesentlicher Baustein ist, dass der Nachhaltig-keit der Staatsfinanzen ausreichend Rechnung getragenwird. Davon sind wir bei der Nachhaltigkeitsstrategieder Bundesregierung und deren Fortschreibung, über diewir heute reden, noch weit entfernt. Darüber sind wir unsim Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Entwick-lung übrigens über alle hier im Bundestag vertretenenFraktionen einig.

Jetzt zur Nachhaltigkeit unseres Naturkapitals; dennwir reden heute auch über den interfraktionellen Antragzur Konferenz für Umwelt und Entwicklung nächstesJahr in Rio de Janeiro. Noch mitten in der Phase des ge-waltigen Wirtschaftswachstums nach den Weltkriegen,1972, wurden wir auf die Grenzen des Wachstums – solautete der Titel des Buches – aufmerksam gemacht.Manch einer erinnert sich noch an die autofreien Sonn-tage 1973 zu Zeiten der ersten Ölkrise. Das Phänomender Verschwendung von Gütern, die nichts kosten, ist

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schon lange in der Volkswirtschaftslehre bekannt. Siewerden externe Effekte genannt. Treibhausgase, Meeres-verschmutzung, die Zerschneidung von Landschaftenund Lebensräumen und der damit einhergehende Verlustan Artenvielfalt zählen zum Beispiel dazu. Aber auchdie Endlichkeit von Ressourcen bildet sich nicht wirk-lich im Marktpreis ab. Würden wir die Tiefseebohrungenverbieten, würde der Preis pro Barrel Öl in die Höheschnellen, weit mehr als die Grünen dies jemals vorge-schlagen haben.

Wir verhalten uns bislang so, als hätte die Erde keineGrenzen. Heute wissen wir alle, das wir uns hier geirrthaben. Vorgestern, am 27. September, fand der EarthOvershoot Day statt. Von Feiern können wir da wirklichnicht reden. Schließlich leben wir zulasten unserer nach-folgenden Generationen.

Aber immer noch zögern wir, die notwendigen Maß-nahmen zu treffen. Woran liegt das? Gäbe es eine demo-kratisch legitimierte globale Regierung, eine Global Go-vernance, die Standards setzen würde, so würden sie füralle gelten. Wir haben sie nicht. Aber ohne kompetenteZuständigkeit auf globaler Ebene kommen wir nichtweiter.

Wir sollten sie schaffen, zumindest im Umweltbe-reich, möglichst aber auch im Nachhaltigkeitsbereich,also auch in den Bereichen Ökonomie und Soziales. Dasist eine gemeinsam getragene Forderung im interfraktio-nellen Antrag, die wir der Bundesregierung mit auf denWeg geben zur Weiterentwicklung des Rio-Prozesses –für die Verhandlungen jetzt im Oktober auf europäischerEbene und für die im Juni nächsten Jahres auf Ebene derVereinten Nationen.

Zudem benötigen wir einen regulatorischen Rahmenfür die Wirtschaftsakteure. Freiwillige Selbstverpflich-tungen helfen nur, solange Gewinn gemacht wird. Wirbrauchen mehr Verbindlichkeit.

Was ist zu tun? Wir müssen auf der einen Seite um-weltschädliche Subventionen abbauen, auf der anderenSeite dafür sorgen, dass Zukunftstechnologien auf demMarkt eine Chance bekommen. Dazu brauchen wir einpolitisches Instrumentarium, mit dem in die richtigeRichtung gesteuert wird. Die Endlichkeit von fossilenRessourcen, aber auch der Grad an Emissionen bei Ab-bau, Transport, Verarbeitung und auch der Wiederver-wertung müssen darin zum Ausdruck kommen. Preisemüssen also die wahren Kosten widerspiegeln. Erst soschaffen wir die Basis für Effizienz und für echte zu-kunftsfähige Alternativen.

Nehmen wir jetzt unsere Verantwortung wahr, han-deln wir und geben wir den weniger entwickelten Län-dern ein gutes Beispiel. Sonst setzen wir alles aufs Spiel,auch hier bei uns.

Anlage 10

Zu Protokoll gegebene Reden

zur Beratung des Antrags: EU-Weißbuch Ver-kehr – Neuausrichtung der integrierten Ver-kehrspolitik in Deutschland und in der Europäi-schen Union nutzen (Tagesordnungspunkt 12)

Veronika Bellmann (CDU/CSU): Am 28. März die-ses Jahres hat die Europäische Kommission ihr Weiß-buch „Fahrplan zu einem einheitlichen europäischenVerkehrsraum – Hin zu einem wettbewerbsorientiertenund ressourcenschonenden Verkehrssystem“ vorgelegt.Hintergrund dieses Weißbuches ist, die verschiedenenHerausforderungen der Zukunft, wie zum Beispiel dieNachhaltigkeit und Sicherheit im Verkehr, aber auch dieWeiterentwicklung des Binnenmarktes strategisch zu-sammenzufassen und einen Ausblick bis 2050 zu geben.

Dabei legt die Europäische Kommission den Schwer-punkt eindeutig auf die Nachhaltigkeit im Verkehr undden Abbau der Abhängigkeit vom Rohstoff Öl. DasWeißbuch ergänzt damit die zur Umsetzung der europäi-schen Leitinitiative „Europa 2020“ notwendigen Initia-tiven im Energie- und Klimabereich.

Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, dasWeißbuch ist notwendig. Europa braucht eine einheitli-che und umfassende Strategie zur Sicherung einer nach-haltigen Mobilität. Auch hier gilt wieder eine Verknüp-fung von Ökologie und Ökonomie mit Augenmaß.

Die individuellen und wirtschaftlichen Anforderun-gen an Mobilität bezüglich Wirtschaftswachstum undnachhaltigen Strukturen abzubilden ist eine Herausfor-derung für uns alle; denn Europa braucht gerade für ei-nen so herausragenden Bereich wie die Verkehrspolitikein strategisches Konzept. Für uns alle persönlich stelltdie Mobilität ein großes Stück Lebensqualität dar. Aberdie Mobilitätsbranche, gerade im Industrieland Deutsch-land, ist auch eine innovative und leistungsstarkeökonomische Größe, die einen hohen Anteil am wirt-schaftlichen Wachstum und an der Schaffung von Ar-beitsplätzen in unserem Land hat.

Vor diesem Hintergrund ist es umso wichtiger, das diezukünftige Verkehrsstrategie der Europäischen Uniondrei wesentliche Dinge vereint: Wir müssen unsere Mo-bilität erstens umwelt- und klimagerecht ausgestalten.Wir müssen zweitens darauf achten, dass die Mobilitätder Zukunft den Bedürfnissen der Bürgerinnen und Bür-ger entspricht. Wir müssen drittens darauf achten, dassdie Mobilität der Zukunft den wirtschaftlichen Wachs-tums- und Entwicklungszielen in Europa sinnvoll undnachhaltig gerecht wird.

Nur wenn wir diese drei Grundelemente im Weißbuchvereinen, erreichen wir den Schutz unserer Natur, dieZufriedenheit der Bürgerinnen und Bürger sowie eine in-novations- und wachstumsstarke Mobilitätsbranche.

Vor diesem Hintergrund darf ich Ihren Blick auf dieListe der 40 Initiativen, die dem Weißbuch anhängen,richten. Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang aufeinige Punkte eingehen.

Als wichtigste Forderung, auch im Sinne der europäi-schen Integration, ist die Vollendung eines einheitlicheneuropäischen Verkehrsraums. Mit der Vollendung deseinheitlichen europäischen Eisenbahnmarktes, demTranseuropäischen Kernnetz oder dem Single EuropeanSky liegen gute Vorschläge auf dem Tisch, die die fairenWettbewerbsbedingungen und die Marktöffnungspro-

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zesse vorantreiben sowie die Zulassungsverfahren har-monisieren.

Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Förderung vonInnovation und Nachhaltigkeit. Die Entwicklung undEinführung alternativer Antriebe mindert die Abhängig-keit vom Rohstoff Öl und trägt zur Minderung des CO2-Ausstoßes maßgeblich bei. Auch die Entwicklung undder verkehrsträgerübergreifende Einsatz von Informa-tions- und Kommunikationsmitteln mit dem Ziel einerverbesserten Verkehrssteuerung und -optimierung wirddazu beitragen.

Lassen Sie mich als dritten und letzten Punkt dieFinanzierbarkeit einer modernen Infrastruktur anführen.Wir müssen das Transeuropäische Kernnetz als ein euro-päisches Mobilitätsnetz ausbauen. Hierbei ist eineSchwerpunktsetzung nach dem Kosten-Nutzen-Prinzipnotwendig, die einen europäischen Mehrwert bringt.Aufgrund der knappen finanziellen Möglichkeiten in-folge der Finanz- und Wirtschaftskrise und der darausresultierenden Konsolidierung in vielen europäischenLändern muss das Augenmerk auf der Auflösung vonEngpässen sowie dem Ausbau vorhandener Kapazitätengerichtet sein. Hierbei gilt es aber, das Subsidiaritäts-prinzip zu wahren. Auch in Zukunft muss die Infrastruk-turplanung in der Hoheit der Mitgliedstaaten bleiben.

Nur durch die weitere Förderung der Komodalität istes möglich, die Verkehrsträger in sogenannten multimo-dalen Personen- und Güterverkehrskorridoren so zu ver-binden, dass die angepeilten Klimaschutzziele erreichtwerden und auch eine Akzeptanz bei der Bevölkerungerreicht wird.

Zudem muss die Infrastruktur bezahlbar sein, auch fürdie Nutzer. Vor diesem Hintergrund erscheint es mirsinnvoll zu prüfen, wie neue Finanzierungsmodelle diebestehenden sinnvoll ergänzen. So muss die Internalisie-rung der externen Kosten alle Verkehrsträger gleicher-maßen betreffen. Auch der Vorschlag der EuropäischenKommission zur Einführung sogenannter Projektanlei-hen oder ÖPP-Modelle ist zu prüfen. Wichtig erscheintes mir allerdings, dass durch solche Modelle keineSchattenhaushalte aufgebaut werden. Insofern erscheintmir bei den Projektanleihen eine Absicherung über dieEuropäische Investitionsbank als sinnvoll.

Leider finden sich die von mir angesprochenen Punkte– es gibt noch eine ganze Reihe weiterer Ansätze – nurunzureichend in der Programmatik des Weißbuchs. Ausdiesem Grund werden wir demnächst einen Koalitions-antrag vorlegen, mit dem wir aufzeigen werden, mit wel-chen Justierungen das Weißbuch zu einem Erfolgsbuchin Europa wird.

Meine sehr verehrten Damen und Herren der SPD. Ih-ren heutigen Antrag werden wir ablehnen. Wir lehnenihn aus zwei Gründen ab. Erstens wollen Sie, dass derBundestag beschließt, dass die unstrittigen Ziele desWeißbuchs durch noch mehr Regulierung erreicht wer-den. Zweitens fehlt nach unserer Auffassung in IhremAntrag das klare Bekenntnis zu einem detaillierten Ge-samtfahrplan, den der derzeitige Entwurf des Weißbuchsnicht hergibt. Einzig die Erreichung der Klimaschutz-

ziele ist hier berücksichtigt und auf die verschiedenenVerkehrsträger umgelegt.

Alles in allem ist Ihr Antrag eine Aufzählung von All-gemeinplätzen, eine Art Wünsch-dir-was-Katalog. Da,wo Sie ins Detail gehen, muss man sich schon fragen, obdas denn tatsächlich europäisch geregelt werden muss,so zum Beispiel die Behandlung von Kundenbeschwer-den im ÖPNV oder die Verpflichtung der Fahrradmit-nahme im Schienenverkehr. Dies wird meiner Ansichtnach dem Ziel einer nachhaltigen, dem Bedürfnis derBürger angemessenen und ökonomisch sinnvollen Mo-bilität und der nachhaltigen Entwicklung der europäi-schen Verkehrswirtschaft nicht gerecht.

Deshalb wäre es falsch, würde ich Sie für Ihren An-trag loben. Daran dürfte Ihnen auch gar nicht gelegensein; denn wer mit falschem Lob motiviert, wird die fal-schen Motive wecken.

Karl Holmeier (CDU/CSU): Das Weißbuch Verkehr,das die EU-Kommission den Mitgliedstaaten vorgestellthat, kann in seiner Bedeutung gar nicht hoch genug ein-geschätzt werden. Es soll uns eine strategische Richtungfür die europäische Verkehrspolitik bis zum Jahr 2050vorgeben. Es ist daher außerordentlich wichtig, dass sichder Deutsche Bundestag intensiv mit diesem sowohlzeitlich als auch inhaltlich weitreichenden Thema be-fasst.

Ich freue mich daher auch, dass die Kollegen von derSPD dieses wichtige Thema aufgegriffen haben. Aller-dings hätten sie sich vielleicht besser etwas mehr Zeitmit ihrem Antrag lassen sollen. Schnelligkeit ist bei die-sem Thema keineswegs der richtige Weg. Der Antragder SPD enthält durchaus wichtige und aus meiner Sichtauch richtige Aspekte. Er lässt mich aber an einigenStellen auch einfach nur den Kopf schütteln. So gibt esnicht nur Widersprüche, sondern es fehlen auch wichtigeAspekte, die letztlich für uns alle weitreichende Konse-quenzen haben.

Der Vorschlag der EU-Kommission, die Treibhaus-gasemissionen im Verkehrsbereich bis 2050 um 60 Pro-zent zu reduzieren, ist meiner Ansicht nach schon mehrals nur ambitioniert. Man sollte diesen Wert daher allen-falls als Orientierungsrahmen sehen und die Realitätnicht aus den Augen verlieren. Hier noch draufzusattelnund eine noch ambitioniertere Ausgestaltung der CO2-Reduzierung zu fordern, ist schlichtweg unseriös. Offen-bar hat die SPD-Fraktion nichts aus der gescheitertenLissabon-Strategie gelernt.

Auf der anderen Seite fordern die Oppositionskolle-gen – übrigens sehr richtig –, dass Mobilität für die Bür-gerinnen und Bürger auch bezahlbar bleibt. Diese Aus-sage teile ich uneingeschränkt. Ich frage mich nur, wieSie das mit Ihren utopischen Klimaforderungen in Ein-klang bringen wollen. Wie wollen Sie diesen Zielkon-flikt auflösen? Vielleicht muss man in der Oppositionkeine Antwort darauf haben, verantwortungsvolle Poli-tik sieht allerdings meiner Ansicht nach anders aus.

Den Vorschlag der Kommission, bis 2050 im Stadt-verkehr auf solche Pkw zu verzichten, die mit konven-

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tionellem Kraftstoff betrieben werden, nimmt der SPD-Antrag nur zur Kenntnis, ohne inhaltlich dazu Stellungzu beziehen. Hier muss man doch ganz klar sagen: Einevollständige und undifferenzierte Verbannung von Ver-brennungsmotoren darf es nicht geben! Es kann dochnicht zielführend sein, bestimmte Technologien vonvornherein auszuschließen, ohne zu wissen, welche tech-nologischen Möglichkeiten es dazu in 40 Jahren gibt.Die CSU/CSU-Fraktion bekennt sich hier eindeutig zurTechnologieoffenheit und wird das auch ausdrücklichgegenüber der EU-Kommission klarmachen.

Unsere Position ist es, zu sagen, wir wollen Mobilitätermöglichen und sie nicht einschränken. Dieser Ansatzfindet sich genauso im Vorschlag der EU-Kommissionwieder und auch der SPD-Antrag begrüßt diesen Ansatz.Wer allerdings ernsthaft gewillt ist, Mobilität nicht ein-zuschränken, sondern zu ermöglichen, darf auch nichtvon vornherein einen bestimmten Verkehrsträger aus-schließen. Er darf auch nicht einen bestimmten Ver-kehrsträger bevorzugen. Jeder Verkehrsträger hat seineStärken und Vorteile. Daher muss auch jeder Verkehrs-träger entsprechend dieser Stärken eingesetzt werden,um das Verkehrsaufkommen optimal bewältigen undbestmögliche Mobilität gewährleisten zu können. Einedirigistische und pauschale Verlagerungspolitik wirddem nicht gerecht.

Unser Ziel ist es daher, die einzelnen Verkehrsträgerrichtig und intelligent miteinander zu verknüpfen. Verla-gerung sollte es nur dort geben, wo es auch sinnvoll ist.Alles andere ist kontraproduktiv, schränkt Mobilität einund verringert die Akzeptanz der Nutzer.

Meine Ausführungen zeigen, welche Dimension dasWeißbuch Verkehr hat und wie wichtig eine ernsthafteAuseinandersetzung mit dem Thema ist. Die SPD-Frak-tion lässt diese Ernsthaftigkeit leider vermissen. Ichkann daher nur dringend dazu raten, den hier zur Debattestehenden Antrag abzulehnen.

Michael Groß (SPD): Europa muss zu einem Ver-kehrsraum zusammenwachsen, um Mobilität klimascho-nend, sicher, bezahlbar, mit hoher Qualität und sozialenStandards sicherstellen zu können. Europa muss auf derStraße, Schiene, Wasserstraße und im Luftverkehr zu-sammenwachsen. Dafür brauchen wir gemeinsameZiele, ein abgestimmtes Mobilitätsverständnis, kompa-tible Konzepte und gemeinsame Strategien.

Zehn Ziele und 40 Initiativen für einen einheitlicheneuropäischen Verkehrsraum, weg von der Ölabhängig-keit, hin zu 60 Prozent Emissionseinsparung und um-weltverträglicheren Verkehren bei mindestens gleichblei-bender Wirtschaftskraft und wachsenden Verkehren – diekürzeste Umschreibung des Europäischen Weißbuchesund des damit verbundenen umfassenden Prozesses imeuropäischen Verkehr.

Der Grund des umfassenden neuen „Fahrplans zu ei-nem einheitlichen europäischen Verkehrsraum – hin zueinem wettbewerbsorientierten und ressourcenschonen-den Verkehrssystem“ liegt auf der Hand. Die Analysezur Halbzeitbilanz zum Weißbuch Verkehr der EU legt

offen, dass die Treibhausgasemissionen im Verkehr trotztechnischer Weiterentwicklungen, erhöhter Verkehrssi-cherheit, Verkehrslenkung, verbesserter Kraftstoffe undalternativer Antriebe stetig steigt. Ein Grund sind dieenormen Verkehrszuwächse, die global agierender Wirt-schaft und global agierendem Handel geschuldet sind.Um die ambitionierten Klimaschutzziele der 20-20-20-Strategie der Mitgliedstaaten zu erreichen, sind eingrundlegender Strukturwandel und ein generelles Um-denken nötig.

Die Idee der verkehrsträgerübergreifenden Mobili-tätsplanung und die Entwicklung eines hocheffizientenund dabei benutzerfreundlichen Kernnetzes ist sehr zubegrüßen. Die Bundesregierung sollte die Chance mitdem neuen Bundesverkehrswegeplan nach 2015 nutzen,um sich aktiv in die europäischen Strategien und Mobili-tätskonzepte mit ihren Vorstellungen und Anforderungenvon einem bundesweiten Verkehrsnetz im europäischenKontext einzubringen. Mit einer alleinigen Fortschrei-bung des bestehenden Bundesverkehrswegeplanes wirdes nicht getan sein. Hier sind klare Prioritätensetzungenauf Grundlage einer bundesweiten verkehrsträgerüber-greifenden Netzstrategie erforderlich.

Die Schaffung eines einheitlichen Luft-, Schifffahrts-und Eisenbahnverkehrsraumes, die Möglichkeit der fle-xibleren Nutzung, aber auch die Vereinfachung des In-formationszugangs und Ticketerwerbs ist überaus posi-tiv, und zwar nicht nur für den einzelnen Verbraucher,sondern gerade auch für die Wirtschaftsunternehmen deseuropäischen und internationalen Marktes.

Mit der Anpassung der Systeme, beispielsweise zwi-schen west-, mittel- und osteuropäischer Verkehrsinfra-struktur, liegt noch viel Arbeit vor uns. Ich habe gelernt,dass die Deutsche Bahn im bisherigen System zum Bei-spiel nicht mit genügend IC-Zug-Anhängern nach Schip-hol fahren kann, da unterschiedliche technische Voraus-setzungen, Bahnhofslängen und AusstiegsmöglichkeitenHindernisse darstellen. Wir unterliegen in den einzelnenMitgliedstaaten unabgestimmten Planungskonzeptenund sogar unterschiedlichen Spurbreiten. Der Hand-lungs- und Abstimmungsbedarf liegt hier klar auf derHand. Aber gerade auch bei der Einführung neuer undregenerativer Antriebsformen, den damit verbundenenzukünftigen Tank- und Ladestationen wird eine europa-weite Harmonisierung und Abstimmung notwendig sein,damit mein alternativ betriebenes Mobil nicht nur inRecklinghausen starten, sondern auch in Brüssel nachla-den kann.

Hier kann ich nur an die Bundesregierung appellieren,den Zug im wahrsten Sinne des Wortes nicht abfahren zulassen, den die EU-Kommission hier in Gang setzt. DiePersonen- und Güterverkehre des europäischen Raumessollen verstärkt auf die klimafreundlichere Schiene ge-bracht werden. Strecken ab 300 Kilometer sollen zu-künftig über die Verkehrsträger Schiene und Wasser-straße abgewickelt werden. Hierfür müssen wir unsereSchiene ertüchtigen, und europäische Verbindungslinienwie beispielsweise die Betuwe-Linie zügig voranbrin-gen. Die TEN-V-Projekte sind Teil des bestehendenBundesverkehrswegeplanes. Die Hauptlast der Finanzie-

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rung von TEN-V 2007 bis 2013 liegt bei den jeweiligenMitgliedstaaten. Wir haben unsere Projekte noch langenicht abgearbeitet.

Dies gilt ebenso für die Wasserstraßen und ihreSchleusensysteme. Ob die derzeitige Reform der Was-ser- und Schifffahrtsverwaltungen zu einem integrierteneuropäischen Wasserstraßenkonzept beitragen kann,wage ich zu bezweifeln.

Wir müssen von Haustür zu Haustür denken und Mo-bilität anbieten. In Ballungsräumen wie dem Ruhrgebietfehlen bedarfsgerechte öffentliche Nahverkehrsange-bote. Lange Anreisen, häufige Umstiege mit langenWartezeiten lassen die Bürger den Pkw bevorzugen. Hiersind wir meilenweit entfernt von den CO2-freien inner-städtischen Verkehren in Ballungszentren bis 2050. Pro-jekte wie der RRX in NRW müssen jetzt umgesetzt wer-den, wenn wir die ambitionierten Ziele erreichen wollen.

Die Straßen füllen sich. Laut Pressemeldungen derletzten Tage stieg allein die Zahl der Neuzulassungen fürNutzfahrzeuge um 15,7 Prozent in der EuropäischenUnion. Deutschland wird davon als Transitland unmittel-bar betroffen sein. Der Verkehrsetat ist gnadenlos unter-finanziert. Bereits aus dem letzten Investitionsrahmen-plan wurden 213 Maßnahmen nicht abgearbeitet. Alleinfür den Bereich der Straße wird der Erhaltungsbedarf nurzu etwa zwei Drittel finanziert, Aus- und Neubau nur zurHälfte. Mit circa 130 Euro pro Einwohner Investitionenin das Straßennetz liegt Deutschland auf den hinterstenPlätzen im europäischen Vergleich – Tendenz sinkend.

Der Bundesverkehrsminister selbst fordert 14 Milliar-den vom Finanzminister, um die nötigen Verkehrspro-jekte aus dem Bundesverkehrswegeplan umzusetzen.Bereits jetzt kann sich der Verkehrsminister nach eige-nen Aussagen durch die Mittelbindung der laufendenVorhaben in den nächsten Jahren grundsätzlich keineNeubeginne erlauben. Mit dem Ruf nach mehr Finanz-mitteln schiebt der Verkehrsminister die Verantwortungan den Finanzminister ab oder ruft nach der Pkw-Maut.Ich persönlich halte sie, aber auch viele Fachleute haltensie aktuell für den falschen Weg. Die Pkw-Maut stellteine zusätzliche Belastung der Autofahrer dar, ohne demEinzelnen dabei alternative Verkehrslösungen anzubie-ten. Gerade in den ländlichen Räumen der EuropäischenUnion sind viele Menschen auf das Auto angewiesen.Außerdem bieten die zurzeit angedachten und favorisier-ten Modelle zu einer Pkw-Maut keine Steuerungs-möglichkeit. Die Vignette löst weder Probleme derVerkehrslenkung noch trägt sie zur Verbesserung desKlimaschutzes bei.

Der Bundesregierung fehlen bisher klare Mobilitäts-konzepte. Das fängt, wie von der EU-Kommission ge-fordert, mit der Priorisierung eines Kernnetzes, und zwarauch eines bundesweiten Kernnetzes im Rahmen einesMobilitätskonzeptes an.

Aber auch die EU-Kommission bleibt die Antwortzur Finanzierungsfrage des Strukturwandels in weitenTeilen schuldig. Für den Ausbau der Infrastruktur wer-den bis 2030 allein 1,5 Billionen Euro veranschlagt. DerMittelbedarf bei der Umsetzung der Ziele des EU-Weiß-

buches für Verkehr wird bis auf 90 Milliarden Euro proJahr geschätzt. Nach dem Weißbuch soll dies durch denEU-Haushalt, die nationalen Haushalte und den Nutzerfinanziert werden. Hier ist die Bundesregierung aufge-fordert, bei der EU-Kommission nachzuhaken. Die Klä-rung der Finanzierung wird eine der zentralen Fragen fürdas Gelingen des Strukturwandels sein.

Die von der Kommission angestrebte verpflichtendePrüfung der Finanzierung über sogenannte Public-Pri-vate-Partnerships, PPP, für jedes Vorhaben muss schonim Sinne der Bürokratievermeidung abgelehnt werden.Eine Finanzierung über PPP muss unter den Vorbehaltder Vorteilhaftigkeit für die öffentliche Hand – also dieBürger und Bürgerinnen – gestellt werden. Notwendigist eine wissenschaftlich fundierte Auswertung aller bis-herigen PPP-Projekte.

Die SPD-Bundestagsfraktion begrüßt ausdrücklich,dass die EU-Kommission mit ihren Vorschlägen auf denDreiklang von nachhaltiger, sozialer und wirtschaftlicherVerkehrspolitik in einem grundlegenden Strukturwandelsetzt. Die im Weißbuch vorgeschlagenen Sozialdialogereichen jedoch nicht aus, um die Fragen und die Durch-setzung der Mitbestimmung, der Mindestlöhne usw. zulösen. Wir müssen soziale Standards auf hohem Niveaueuropaweit sichern.

Keine Frage, Europa braucht wirtschaftliches Wachs-tum, nachhaltiges Wachstum, um Arbeitsplätze zu si-chern und zu schaffen. Nachhaltigkeit bedeutet das Zu-sammenspiel von Umwelt und Klimaschutz, sozialenStandards, sozialer Absicherung sowie wirtschaftlichemErfolg und Vernunft. Die zentrale Frage wird zu klärensein: Welches Wachstum wollen wir vor diesem Hinter-grund akzeptieren? Muss demnächst etwas über den See-weg nach Wilhelmshaven oder Rotterdam transportiertund dort gelöscht werden, um in Italien dem Kunden an-geboten zu werden? Eine Tütensuppe, so wurde mir er-klärt, enthält 70 Inhaltsstoffe, reist mehr als einmal umden Globus und kostet den Verbraucher 80 Cent.

Für die Umsetzung eines funktionierenden europäi-schen Verkehrsnetzes ist eine europaweite Abstimmungmit nationaler und europäischer Prioritätensetzung not-wendig. Hierfür sind zielorientierte Qualitätskriterien alsEntscheidungskriterien zu definieren, die nicht in ersterLinie Reisezeitverkürzungen und Hochgeschwindigkeits-korridore priorisieren, sondern Zuverlässigkeit, Planbar-keit, kurze Fahrplantakte, Vermeidung von Staus undÜberlastung, und dabei Sicherheit, Bezahlbarkeit, Zu-gänglichkeit, Barrierefreiheit und Mindestservicestan-dards in den Vordergrund stellen.

Europa wächst zusammen und wir müssen intelligentund finanzierbar mithilfe von Infrastruktur eine Mobili-tät der Zukunft schaffen.

Oliver Luksic (FDP): Wenn wir heute über dasWeißbuch Verkehr der Europäischen Kommission disku-tieren, dann diskutieren wir meiner Ansicht nach über ei-nen der fast wichtigsten Bereiche des vereinten Europas.Denn Mobilität macht im Alltag für den Bürger die Vor-

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teile eines freien Europas deutlich und ganz praktisch– und regelrecht im Wortsinne – erfahrbar.

Wir begrüßen es daher, dass die Kommission im Märznach langen Debatten im Vorfeld endlich ihr Weißbuchzu ihren Vorstellungen zur Zukunft der Mobilität in Eu-ropa veröffentlicht hat. Ebenso empfinde ich es also sehrpositiv, dass gleich vier Bundestagsfraktionen Anträgezum Weißbuch vorgelegt haben bzw. bald vorlegen wer-den.

Deutschland hat gerade als Transitland eine wichtigeFunktion innerhalb des europäischen Verkehrssystems;daher sollten wir uns auch intensiv an den Debatten inBrüssel beteiligen – und das so frühzeitig wie möglich.

Daher freue ich mich auch besonders über positiveAspekte, die sich im Weißbuch finden: etwa den Aspekt,dass Verkehrskommissar Kallas betont hat, dass die Aus-sage „Die Einschränkung von Mobilität ist keine Op-tion.“ für ihn den Kernsatz im Weißbuch darstellt. Dasunterstützen wir ausdrücklich. Ebenso zu begrüßen istdas klare Bekenntnis, dass sich neue Verkehrskonzeptedem Bürger nicht aufzwingen lassen. Ganz richtig! Nurdie Akzeptanz durch den Bürger und die Wirtschaft kanngewährleisten, dass Mobilitätskonzepte in der Praxiswirken.

Wir müssen wegkommen von ideologisch motivierterVerkehrspolitik, die die Bürgerinnen und Bürger umer-ziehen will. Lassen Sie uns die ewigen Eingriffe derPolitik in Richtung dieses oder jenen Verkehrsträgers be-enden und die Bürger und die Wirtschaft entscheiden,wie sie sich bewegen und wie sie ihre Waren von A nachB transportieren möchten!

Auch dass das Weißbuch sich über alternative Finan-zierungskonzepte wie ÖPP und Projektanleihen Gedan-ken macht, halte ich angesichts der Finanzierungs-schwierigkeiten der öffentlichen Hand für dringendgeboten. Denn ohne eine verlässliche Finanzierungs-grundlage können wir uns hier die schönsten Wunsch-zettelprojekte ausdenken – aber auf die Umsetzung indie Praxis kommt es an.

Aber ich will auch nicht verhehlen, dass wir bei vie-len Punkten des Weißbuches Bauchschmerzen haben.Denn der zentrale Satz, dass die Einschränkung von Mo-bilität keine Option ist, zieht sich nicht so als roter Fadendurch das Weißbuch, wie wir uns das wünschen würden.Dafür finden wir zu viel Dirigismus im Weißbuch, etwadas vielzitierte Ziel, dass bis 2050 konventionell betrie-bene Fahrzeuge aus den Innenstädten verschwinden sol-len.

Ganz grundsätzlich wird Verkehr zu negativ und vorallem als CO2-Emittent betrachtet. Dabei hatte Kommis-sar Kallas in seiner Anhörung noch betont, dass Verkehrnicht nur CO2-Reduzierung ist.

Dafür widmet sich das Weißbuch zu wenig den zahl-reichen anderen Herausforderungen des Verkehrsbe-reichs wie dem massiven Anstieg der Verkehrsströme inden kommenden Jahren und seiner Bewältigung und denSchwierigkeiten der Speditions- und Logistikbranche

Auch fällt das Bekenntnis zur Komodalität unsererAnsicht nach nicht klar genug aus. Der Begriff wirdzwar verwendet, allerdings lassen doch einige Vor-schläge der Kommission, etwa die quantitativen Verla-gerungsziele, eher an Modalshift als an eine faire Komo-dalität denken.

Für uns ist klar: Wir werden in allen verkehrspoliti-schen Diskussionen der nächsten Jahre streng auf dieEinhaltung des Subsidiaritätsprinzips achten. Das giltetwa ganz konkret für das Thema Verkehrsrecht. Ob inStädten Tempo 30 herrschen sollte oder nicht, wird ambesten vor Ort und nicht in Brüssel entschieden.

Einige Sätze zum SPD-Antrag: Der Antrag hat unse-rer Ansicht nach richtige Ansätze, er versucht allerdingseinen Spagat, der nicht gelingt.

Positiv zu erwähnen sind die Bekenntnisse zur Stär-kung der Wettbewerbsfähigkeit der Verkehrswirtschaftund zur Achtung des Subsidiaritätsprinzips. Bei demZiel einer bezahlbaren Mobilität für alle sind wir unsebenfalls selbstverständlich einig.

Dass Sie sich allerdings gegen innovative Finanzie-rungsinstrumente wie ÖPP und Projektbonds ausspre-chen, halte ich angesichts der Finanzierungsschwierig-keiten im Infrastrukturbereich für völlig unangebracht.Wieso Mindestlöhne die Lösung für die Probleme imVerkehrssektor sein sollen, erschließt sich mir auchnicht.

Für fatal halte ich, dass Sie sich in Ihrem Antrag wei-terhin gegen Trennung von Netz und Betrieb im Schie-nenverkehr aussprechen, ausgerechnet in einem Antragzur europäischen Verkehrspolitik, wo doch auch imWeißbuch die strukturelle Trennung zwischen Infra-strukturbetreiber und Dienstleister empfohlen wird undderzeit schon ein Vertragsverletzungsverfahren gegendie Bundesrepublik läuft.

Lassen Sie uns also in der Debatte über den Antragder Koalitionsfraktionen zum Weißbuch Verkehr nocheinmal intensiv über die zustimmungs-, aber auch überdie kritikwürdigen Punkte sprechen! Ihr Antrag enthälteinige richtige Ansätze, aber auch vieles, dem wir nichtzustimmen können.

Sabine Leidig (DIE LINKE): Verkürzte Analyse,ambitionierte Ziele, unzureichende Maßnahmen und imgrundlegenden Widerspruch zur Fixierung auf Wachs-tum und Wettbewerb in Europa – so könnte man dasWeißbuch Verkehr der EU-Kommission zusammenfas-sen.

Zur Analyse: Die weltweite Ölförderung geht zurück.Die Konflikte darum nehmen zu. Der Ölpreis wird stei-gen. Die Treibhausgasemissionen müssen drastisch re-duziert werden, um die Klimaschutzziele zu erreichen.Beides weiß mittlerweile jedes Kind; in Sonntagsredenist es immer wieder Thema. Aber im Verkehrssektor hates seit 1990 einen erheblichen Anstieg der CO2-Emissio-nen gegeben, und zwar um über 30 Prozent. Schaut mansich aber die Verkehrsplanung der Bundesregierung an,

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dann sieht es so aus, als wäre ein Weiter-so möglich. DieEU-Kommission dagegen formuliert hehre Ziele.

Bis 2050 soll der der CO2-Ausstoß im Verkehr umrund 70 Prozent reduziert werden. Selbst dieses Ziel istnicht ausreichend, weil dann allein der Verkehrssektornoch mehr CO2 emittieren würde als die angestrebte Ge-samtemission. Dass die SPD eine Überprüfung und ge-gebenenfalls Absenkung dieses Ziels fordert, ist einschwaches Bild. Aber richtig ist: Selbst dieses Ziel istambitioniert und erfordert – wie es die Kommissionschreibt – einen grundlegenden Strukturwandel im Ver-kehrssektor. Die Analyse des Weißbuchs geht jedochnicht in die Tiefe: Während Zahlen das angeblich weiter-hin notwendige Wachstum belegen sollen, fehlen wich-tige Fakten zu den Umwelt- und Sozialauswirkungen.Ohne eingehende Analyse der bestehenden Infrastruktur,der Auswirkungen des gegenwärtigen Verkehrs und derherrschenden verkehrspolitischen Ansätze kann aberkeine Zukunftsstrategie erarbeitet werden.

So sind dann auch die vorgeschlagenen Maßnahmenunzureichend. Dies kommt schon im Zwischenziel zumAusdruck: Reduktion bis 2030 – also etwa zur Halbzeitbis 2050 – um lediglich 20 Prozent gegenüber 2008. Da-mit lägen die Emissionen dann immer noch über demNiveau von 1990. Natürlich, ein grundlegender Struktur-wandel braucht Zeit, gerade wenn man die Bürgerinnenund Bürger mitnehmen will. Aber dieses Zwischenzielist vor allem der Strategie geschuldet, auf noch zu entwi-ckelnde Technologien zu setzen. Das ist aber sehr ge-fährlich. Gefährlich ist zudem, die Notwendigkeit einerVerkehrsreduktion auszublenden. Bei gleichzeitiger Fi-xierung auf Wachstum und Wettbewerb als Ziele an sichlassen sich die Probleme nicht lösen. Leider bleibt auchder Antrag der SPD dieser Ideologie verhaftet.

Verkehrsvermeidung muss nicht weniger Mobilitätfür die Menschen bedeuten. Im Gegenteil: Es kann mitmehr Lebensqualität verbunden sein. Dieses setzt abereine andere Intelligenz voraus, als sie im Weißbuch, be-zogen auf intelligente Verkehrsmanagementtechnolo-gien, anvisiert ist. Wir müssen die Gesamtwirtschaft,Stadtplanung und die Bedürfnisse der Menschen zusam-mendenken. Welche Transporte sind notwendig? WelcheOrte wollen die Menschen erreichen? Wie können dieLebens- und Arbeitsbedingungen der Menschen verbes-sert werden? Das sind die ersten Fragen, die zu stellensind. Wenn Verkehrspolitik sich nur der Aufgabe stellt,Verkehrsströme besser zu lenken und Fahrzeuge effi-zienter zu machen, wird ein grundlegender Strukturwan-del nicht gelingen.

Trotz dieser strukturellen Unzulänglichkeit enthältdas Weißbuch positive Ansätze. Einige sind längst über-fällig, die unabhängig vom europäischen Harmonisie-rungsprozess von der Bundesregierung schnellstens um-gesetzt werden sollten. Dazu zählt: Lückenschluss undAusbau vor Neubau. In diese Richtung hat sich ja nunauch Herr Ramsauer geäußert – es müssen aber noch Ta-ten folgen. Internalisierung der externen Kosten: Hiergeht es um die Berücksichtigung der gesellschaftlichenKosten von Investitionen, von Lärm und Abgasen sowievon Stau und Unfällen bei der Ausgestaltung der Steuern

und Abgaben. Die Sonderstellung von Firmenwagen so-wie die Freistellung des See- und Luftverkehrs vonMehrwert- und Energiesteuern ist hier eine der eklatan-testen Schieflagen. Bei der Verkehrssicherheit die Orien-tierung an der „Vision Zero“ – keine Todesfälle im Ver-kehr. Die soziale Dimension des Verkehrssektors stärkenund die Arbeitsbedingungen attraktiver gestalten.

Wenn dann aber die verpflichtende Ausschreibung füralle öffentlichen Dienstleistungen und die Abschaffungder Lotsenpflicht gefordert wird, kommt wieder die neo-liberale Ideologie zum Ausdruck. Mehr Sicherheit, bes-sere Arbeitsbedingungen und ein höherer ökologischerStandard sind damit nicht zu erreichen.

Zu Recht mahnt die SPD die stiefmütterliche Behand-lung des nicht motorisierten Verkehrs an. Fuß- und Rad-verkehr müssen zusammen mit dem ÖPNV in Zukunftden Hauptteil des städtischen Verkehrs ausmachen.

Fazit: Wir müssen so schnell wie möglich weg vomÖl und runter mit den Treibhausgasemissionen. Dafürbrauchen wir eine andere Infrastruktur, für die wir heuteden Grundstein legen müssen. Den notwendigen grund-legenden Strukturwandel können wir daher nicht weiterin die Zukunft verschieben. Und: Wir müssen das reineVerkehrsmanagement verlassen und zuerst die grundle-genden Fragen stellen: Welche Transporte sind notwen-dig? Welche Mobilitätsbedürfnisse haben die Men-schen? In diesem Sinne ist das Weißbuch völlig unzu-reichend – und leider auch der Antrag der SPD.

Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Das im März dieses Jahres von der EU-Kommission vor-gelegte Weißbuch Verkehr ist grundsätzlich zu begrüßen.Es wurde Zeit, dass öffentlich anerkannt wird, wie nötigwir eine Trendwende in der Verkehrspolitik brauchen,um insbesondere die enorme Ölabhängigkeit dieses Sek-tors zu verringern und natürlich unsere Klimaschutzzielezu realisieren. Dafür braucht es klare CO2-Minderungs-ziele, ein Bündel an konkreten Maßnahmen und natür-lich einen realistischen festgeschriebenen Zeitplan.

Was die Ziele betrifft, hat die Kommission mit demWeißbuch bewiesen, dass sie grundsätzlich weiter denkt,als es hier die Bundesregierung tut. So wird im Weiß-buch – anders als in der Koalitionsvereinbarung vonSchwarz-Gelb – ein konkretes CO2-Reduktionsziel fürden Verkehrssektor genannt. Bis 2050 soll eine Minde-rung um 60 Prozent gegenüber 1990 erreicht werden.Das Streben nach einem umweltfreundlicheren EU-Ver-kehrssektor wird damit festgeschrieben.

Nun sollte sich endlich auch die Bundesregierung öf-fentlich zu dieser Notwendigkeit einer neuen Verkehrs-politik bekennen und den Worten dann auch Taten fol-gen lassen. Bisher haben wir hiervon leider nichtsgesehen. Oder möchte uns hier jemand weismachen,dass das Werben für eine drastische Mittelerhöhung zumStraßenneubau – womöglich finanziert über eine Pkw-Maut – und weiterhin eine Priorisierung des Autover-kehrs nach innovativen, nachhaltigen, umweltschonen-den Mobilitätskonzepten klingt? Wohl kaum!

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Auch was die Maßnahmen betrifft, wird in dem Weiß-buch zumindest ein künftiger Rahmen abgesteckt, hinterdem die Bundesregierung derzeit deutlich hinterher-hinkt. Wir freuen uns deshalb umso mehr, dass auf euro-päischer Ebene deutlich gemacht wird, wie zentral dieVerlagerung des Straßenverkehrs auf die Schiene ist,dass alle externen Kosten im Verkehrsbereich internali-siert werden müssen und dass dazu beispielsweise dieLkw-Maut sukzessive auf alle Straßen und alle Fahr-zeuge ab 3,5 Tonnen ausgeweitet werden muss. Auchdas Ziel von emissionsfreien Städten sowie der Aufhe-bung von Wettbewerbsverzerrungen durch die ungleicheBesteuerung von Verkehrsmitteln wird in dem Weißbuchgenannt und ist selbstverständlich als Aufforderung andie nationalen Regierungen zu verstehen. Ich fordere dieBundesregierung daher auf, diesen europäischen Vorga-ben zu folgen und die nötigen Weichen für eine Trend-wende in der Verkehrspolitik zu stellen.

Jetzt wäre die Zeit, endlich das seit Januar letzten Jah-res angekündigte Energie- und Klimakonzept für denBereich Verkehr vorzulegen. Jetzt sollte eine Strategievorgelegt werden, mit der die Ölabhängigkeit entschie-den reduziert werden kann, und jetzt sollte ein Aktions-plan erarbeitet werden, der die langfristige Finanzierungdes öffentlichen Personennahverkehrs sichert. Auchsollte man nicht nur auf Effizienzsteigerungen durchtechnische Innovationen hoffen, sondern sich auchtrauen, über sinnvolle Verkehrsvermeidung nachzuden-ken. All das lässt schon viel zu lange auf sich warten.

Was den Zeitplan des EU-Weißbuchs Verkehr betrifft,muss allerdings festgestellt werden, dass man sich trotzaller großen Worte und ambitionierteren Ziele noch ein-mal zurücklehnt und die Herausforderung auf morgenund übermorgen verschiebt. So begnügt sich die Kom-mission bis 2030 mit klitzekleinen Schritten von jährlich1 Prozent, um bis dahin gegenüber 2008 lediglich20 Prozent Treibhausgasemissionen einzusparen. Nachdiesem Plan lägen wir in gut 18 Jahren immer noch8 Prozent über dem Niveau von 1990. Es kann aber dochnicht sein, dass wir uns jetzt noch Bequemlichkeit erlau-ben, während dann künftige Generationen Wunder zuvollbringen haben. Denn ab 2030 sollen plötzlich Rie-senschritte folgen, um bis 2050 eine Minderung um min-destens 60 Prozent gegenüber 1990 zu erreichen. Selbstwenn dies gelänge, wären die Anstrengungen nicht mitdem selbstgesteckten EU-Ziel einer gesamtwirtschaftli-chen Minderung um 80 bis 95 Prozent bis 2050 verein-bar.

Angesichts dieses Missverhältnisses fordere ich dieBundesregierung auf, sich für schrittweise Minderungs-ziele von 25 Prozent bis 2020, 40 Prozent bis 2030,55 Prozent bis 2040 und letztlich 70 Prozent bis 2050einzusetzen. Nur mit solchen festen überprüfbaren Weg-marken kann der langfristige Kurs hin zu einer nachhal-tigen, ressourcenschonenden und effizienten Verkehrs-politik auch gehalten und verwirklicht werden. Wer ander Machbarkeit dieser Ziele zweifelt und lieber einWeiter-so propagiert, um das Problem in die Zukunft zuverschieben, der sollte sich überlegen, ob er diese He-rausforderung nicht besser anderen überlässt.

Anlage 11

Zu Protokoll gegebene Reden

zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes überden Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsver-fahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfah-ren (Tagesordnungspunkt 13)

Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU/CSU): Mitdem Rechtsschutz für Betroffene von überlangen Ge-richtsverfahren schließen wir eine Rechtsschutzlücke,die bereits seit Langem besteht und seit einigen JahrenGegenstand der EGMR-Rechtsprechung ist. Auch wäh-rend des Gesetzgebungsverfahrens, das wir heute voran-bringen wollen, wurde und wird Deutschland vom Euro-päischen Gerichtshof für Menschenrechte wegen deshier mangelnden Rechtsschutzes verurteilt:

So hat der EGMR erst im vergangenen Mai in der Sa-che „Kuppinger gegen Deutschland“ die überlange Ver-fahrensdauer in einem Familiengerichtsverfahren gerügt.Angesichts der Beschleunigungsmaxime des § 155 desGesetzes über das Verfahren in Familiensachen und inden Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit,FamFG, ist dieser Sachverhalt tatsächlich erschreckend:Zu Beginn des Umgangsverfahrens vor dem Amtsge-richt Frankfurt Main im Mai 2005 war das betroffeneKind eineinhalb Jahre alt. Das Verfahren war im Oktober2010, als das Kind bereits im schulfähigen Alter war,noch nicht abgeschlossen.

Als Familienrichterin weiß ich aus eigener beruflicherErfahrung, welche Bedeutung der zeitliche Aspekt ge-rade in Verfahren hat, in denen der Umgang mit dem ei-genen Kind Streitgegenstand ist. Hier sollte es in den In-stanzen eher um Monate als um Jahre gehen, steht dochdas persönliche Näheverhältnis in der Eltern-Kind-Be-ziehung zur Disposition. Angesichts solcher Sachver-halte tritt die Rechtsschutzlücke ganz offen zu Tage.Selbst die klare Beschleunigungsregelung des FamFGvermochte hier nicht, effektiven Rechtsschutz herbeizu-führen.

Am vergangenen Donnerstag wurde Deutschland inzwei weiteren Verfahren (Köster./.Deutschland undOtto./.Deutschland) wegen Verfahrensdauern, die ihrengerichtlichen Ausgangspunkt beide bereits 1989 hatten,verurteilt. Auch für den heutigen Tag und für Mitte Ok-tober sind weitere Entscheidungen des EGMR angekün-digt, die sich mit unangemessenen Verfahrenslängen inder Bundesrepublik beschäftigen. Dementsprechend binich froh, dass wir dem zum 1. Januar 2012 ein Ende set-zen werden.

Mit dem hier abschließend beratenen Gesetz fügenwir einen weiteren Baustein ins Gesamtgebilde des deut-schen Staatshaftungsrechts. Dabei ist das Gesetz keinSchritt hin zu einer einheitlichen Kodifizierung diesesRechtsgebiets. Wir verbessern lediglich punktuell denRechtsschutz gegenüber staatlichem Handeln oder ebenNichthandeln. Eine umfassende Reform und damit eineSystematisierung der Vielzahl staatshaftungsrechtlicherAnspruchsgrundlagen steht auch nach Verabschiedungdes Gesetzes weiter auf unserer Agenda.

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Klar ist mit der Schaffung eines Rechtsmittels beiÜberlänge eines gerichtlichen Verfahrens, dass künftigauch in Deutschland jedermann, der sich einer nichtmehr hinnehmbaren Verfahrenslänge ausgesetzt sieht,über Rechtsschutzmöglichkeiten verfügt.

Ich nutze diese Debatte aber auch gerne, um vorabnochmals festzustellen: Die deutsche Justiz arbeitet ins-gesamt schnell und auf hohem Qualitätsniveau. Eineknappe Personalausstattung, die in gewissem Maße zueiner längeren Verfahrensdauer beiträgt, hat die Justiznicht zu verantworten. Vielmehr hat sie die große Auf-gabe, im Rahmen der Haushaltsmittel ein bürgernahesund effektives Rechtsschutzsystem zu gewährleisten.Für den Betrag, der hier insgesamt zur Verfügung steht,zeichnet die Politik auf verschiedenen Ebenen verant-wortlich, die hier eine Abwägung gegenüber anderenwichtigen politischen Zielsetzungen zu treffen hat, bei-spielsweise der Finanzierung von Bildung, Sozialleis-tungen oder Infrastruktur.

Deshalb kann es kein Anliegen sein, hier über die An-gemessenheit hinaus besonders hohe Entschädigungs-bzw. gar vollumfängliche Schadenersatzansprüche zuschaffen. Bei der konkreten Bemessung der Entschädi-gungshöhe geraten wir in den Beratungen regelmäßig ineinen Überbietungswettbewerb. Deshalb war der Antragder Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grü-nen betreffend eine Entschädigung für Nichtvermögens-nachteile in Höhe von 1 000 Euro pro Monat der Verzö-gerung nicht zielführend. Das Geld würde an andererStelle fehlen. Jedem muss doch in Zeiten der Schulden-bremse und des Abbaus der Staatsverschuldung klarsein, dass hohe Forderungen in einem Bereich zu Kür-zungen in anderen Bereichen führen. Außerdem würdeeine monatliche Bemessung den Eindruck erwecken,dass sich die unangemessene Dauer eines Gerichtsver-fahrens in Monaten bemessen würde. Es geht hierbeiaber immer um Zeitspannen, die in Jahren zu bemessensind.

Ich denke, wir haben im parlamentarischen Verfahreneinige wesentliche Verbesserungen zum Regierungsent-wurf vorgenommen:

So passen wir die Rechtsfolgenseite des Entschädi-gungsanspruchs nach § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG an dieRechtsprechung des EGMR an, indem wir einen An-spruch auf angemessene Entschädigung vorsehen. Damitgehen wir bewusst von schadenersatzrechtlichen Erwä-gungen im Regierungsentwurf ab, die nicht zuletzt An-sprüche hinsichtlich entgangenen Gewinns umfasst hät-ten. Hiermit wären wir einerseits als Gesetzgeber weitüber die Straßburger Vorgaben hinausgegangen. Ande-rerseits hielte ich es nicht für vertretbar, die Landeshaus-halte mit der Regelung eines staatshaftungsrechtlichenTeilbereichs einem solch erheblichen zusätzlichen Kos-tenrisiko auszusetzen.

Ferner befinden wir uns bei den nun normierten An-sprüchen im Bereich der verschuldensunabhängigenHaftung. Hier sehe ich für Ansprüche nach den§§ 249 ff. BGB keinen Raum. Im deutschen Staatshaf-tungsrecht hat sich ein ausgewogenes Verhältnis vonVerschulden/Verschuldensunabhängigkeit einerseits und

dem Anspruchsumfang andererseits ausgeprägt. Mit derangemessenen Entschädigung bei Nachteilen wegenüberlanger Gerichtsverfahren entsprechen wir nun dieserSystematik.

Ferner sieht § 198 Abs. 3 und 4 GVG die Möglichkeitder Entschädigung immaterieller Nachteile „auf andereWeise“ vor, welche beispielsweise in der gerichtlichenFeststellung einer unangemessenen Verfahrensdauer lie-gen kann. An dieser Stelle wird deutlich, dass wir unssystematisch richtigerweise nicht im Bereich des Scha-denersatzrechts, sondern vielmehr im Entschädigungs-recht befinden.

Mit der Vermutungsregelung hinsichtlich des Vorlie-gens eines immateriellen Nachteils bei bloßem Vorliegeneiner Verfahrensüberlänge tragen wir den Beweis- undDarlegungsschwierigkeiten der Betroffenen in diesemBereich Rechnung. Materielle Nachteile hingegen sindmit den allgemeinen Regeln, beispielsweise des An-scheinsbeweises oder der Berücksichtigung typischerKausalverläufe, angemessen geregelt. Um hier aberletzte Sicherheit zu bekommen, werden wir die Erfah-rungen bei der Geltendmachung materieller Nachteileevaluieren.

Ich muss zugeben, dass ich mir noch einige weitereVerbesserungen gewünscht hätte. So weiß ich um eini-gen Unmut aus den Regionen, die in einem OLG-Bezirkliegen, welcher nicht den Sitz der Landesregierung um-fasst. Wie nun die Richterkollegen beispielsweise imOLG-Bezirk Karlsruhe der Beurteilung ihrer Verfahrens-längen durch das OLG Stuttgart gegenüberstehen, ver-mag ich nicht abschließend zu beurteilen. Hier hätte ich,hätte die Union keinen Anlass gesehen, auf der Ebenedes Entschädigungsverfahrens den OLG-Bezirk zu ver-lassen. Wir werden beobachten, ob das Gesetz auch indiesem Punkt den eingespielten Abläufen in den Landes-justizverwaltungen nicht entgegensteht.

Auch wäre es meines Erachtens hilfreich gewesen,mit dem Tatbestandsmerkmal „überlange Dauer“ in§ 198 Abs. 1 Satz 1 GVG einen sprachlich deutlicherenBezug zur EGMR-Rechtsprechung im Gesetz zu veran-kern. Es sollte nicht das Signal an die Rechtsanwenderausgesendet werden, dass bereits vergleichsweise ge-ringe Verzögerungen zur sogenannten Rüge berechtigen.Dennoch besteht die Hoffnung, dass die Praxis aus derGesetzesbegründung und nicht zuletzt aus den Plenar-protokollen entnimmt, dass die nun normierte „Unange-messenheit“ der Verfahrensdauer allein auf die „Ausrei-ßer“ bezogen ist, die der EGMR in seiner Recht-sprechung zum Gegenstand macht. Die Verfahrenslän-gen liegen hier bei mehreren Jahren, die in den Instanzennicht selten in den zweistelligen Bereich gehen, wie„Sürmeli gegen Deutschland“ aus 2006 mit Verfahrens-beginn 1982 oder die beiden eingangs genannten Fälle,die ihren Ausgang beide im Jahr 1989 hatten.

Aus all diesen Erwägungen werden wir schließlichevaluieren. Wir wollen genau beobachten, welche Erfah-rungen die Rechtsuchenden und die Justizverwaltungenmit den Neuregelungen machen. Auch wenn ich fest da-von ausgehe, dass der Entschädigungsanspruch für erlit-tene materielle Nachteile von den deutschen Gerichten

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nicht unterhalb des Maßstabs der bisherigen EGMR-Rechtsprechung angesetzt werden wird, wollen wir prü-fen, ob den Belangen der Betroffenen mit den jeweilsausgeurteilten Entschädigungshöhen hinreichend Rech-nung getragen wird. Gleiches gilt für die Anforderungenan den Nachweis eines kausalen Vermögensnachteils.

Die parlamentarischen Beratungen können sicherlichnicht alle Unwägbarkeiten in Bezug auf die künftigeHandhabung des neuen Rechtsmittels auflösen. Wennbeispielsweise befürchtet wird, dass künftig ein rügebe-fangenes Verfahren vorrangig gegenüber anderen Streit-sachen behandelt wird, oder wenn die Sorge vor einerSchwemme von unangemessenen Verzögerungsrügengeäußert wird, so liegt es an den Gerichten selbst, diesauszuräumen. Ich bin zuversichtlich, dass der Rechts-staat auch an dieser Stelle in der Lage ist, Rechtsverlet-zungen präventiv zu verhindern oder eben angemessenzu entschädigen.

Um jedoch zum Kontext, in dem dieses Gesetz steht,zurückzukehren: Gerade vor dem Hintergrund einerkünftigen umfassenden Reform des Staatshaftungsrechtsist es aus meiner Sicht richtig, die Erfahrungen mit ei-nem neuen Rechtsmittel detailliert zu erfassen und in all-gemeine staatshaftungsrechtliche Beratungen einfließenzu lassen. Nicht umsonst haben wir uns im Koalitions-vertrag darauf verständigt, das Staatshaftungsrecht zukodifizieren und einheitlich auszugestalten. Angesichtseines solch umfassenden Projekts, für das es in den ver-gangenen Jahrzehnten schon mehrere gescheiterte An-läufe für ein Staatshaftungsgesetz gab, ist es wichtig,auch einzelne Rechtsmittel wie das gegen Verfahrens-überlängen so auszuformen, dass sie ihrerseits der bishe-rigen Systematik entsprechen. Mit dem nun gestaltetenRechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren behaltenwir die bisherige historisch entwickelte staatshaftungs-rechtliche Systematik bei.

Das deutsche Staatshaftungsrecht ist mit seiner Viel-zahl von Normen und Anspruchsgrundlagen bisher nichttransparent geregelt. Wenn es uns gelingt, die Regelun-gen in einem einheitlichen Gesetz zusammenzuführen,könnten wir eine nun mehrere Jahrzehnte diskutierteoffene Wunde der Rechtspolitik schließen. Dabei geht esgar nicht so sehr um Veränderungen der Haftungsmaß-stäbe und die Ausweitung des Entschädigungsumfangs,sondern um eine Systematisierung der Anspruchsgrund-lagen. Ich bin zuversichtlich, dass wir nach der Schlie-ßung von wichtigen Baustellen wie dem Rechtsschutzbei überlangen Gerichtsverfahren in absehbarer Zeitauch ein transparent und schlüssig gestaltetes Staatshaf-tungsrecht auf den Weg bringen werden.

Dr. Edgar Franke (SPD): Wir beraten heute in zwei-ter und dritter Lesung den Gesetzentwurf der Bundesre-gierung über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichts-verfahren und, was nicht vergessen werden darf, beistrafrechtlichen Ermittlungsverfahren.

Worum geht es bei diesem Gesetzentwurf? Es gehtdarum, das Gesetzgebungsverfahren abzuschließen undeine Rechtsschutzlücke im deutschen Recht zu schlie-ßen. Kurz: Es geht darum, dass die Verzögerungsrüge

und unter Umständen die daraus folgenden Entschädi-gungszahlungen im Detail gesetzlich geregelt werden.Ich bin überzeugt, dass wir mit der in den Beratungengefundenen Regelung dazu beitragen, dass das Vertrauenin die Arbeit der Gerichte und Staatsanwaltschaften,letztlich in den deutschen Rechtsstaat, gestärkt wird.

Die Normen sind verfassungsrechtlich notwendig.Denn Art. 19 Abs. 4 GG, Art. 20 Abs. 3 GG sowie dieEuropäische Menschenrechtskonvention in Art. 6 Abs. 1fordern einen Anspruch auf effektiven Rechtsschutz inangemessener Zeit. Die Regelungen sind aus der gericht-lichen Praxis heraus auch tatsächlich geboten. Sie wer-den eine Verkürzung der Dauer des Verfahrens bewir-ken.

Tatsächlich wird das Gesetz zu einer Bewusstseinsbil-dung und -schärfung auch mit Blick auf die Geschäfts-verteilung der Gerichte führen. In Zukunft wird zumBeispiel ein Gerichtspräsidium Maßnahmen wie Umver-teilungen innerhalb eines Gerichtes eher vornehmen, umGerichtsverfahren gerade schneller zu erledigen und sichdamit nicht dem Vorwurf eines überlangen Verfahrensauszusetzen. Auch wird es präventiv dazu führen, dassjeder Richter sich bemühen wird, zumindest vermeid-bare Verfahrensverlängerungen, die in seinem Verant-wortungsbereich liegen, zu verhindern. Der Präsidentdes Finanzgerichts in Baden-Württemberg, Dr. Hans-Peter Korte, hat es im Rahmen der öffentlichen Anhö-rung zu dem Gesetzentwurf am 23. März 2011 auf denPunkt gebracht: Er hat ausgeführt, dass „ein zeitgerech-ter Abschluss eines Verfahrens auch ein hohes Qualitäts-merkmal“ ist. „Qualität der Justiz ist nicht nur, geschlif-fene Urteile zu schreiben, sondern auch in angemessenerZeit ein Verfahren zum Abschluss zu bringen.“ Sicher-lich ist es so, dass man Richter nicht dem Vorwurf aus-setzen sollte, lieber schnell anstatt richtig im Verfahrenzu entscheiden. Aber die Befürchtungen, die auch immerwieder vom Richterbund geäußert werden, die richterli-che Unabhängigkeit werde dadurch beeinträchtigt, dassdurch das Instrument der Verzögerungsrüge unzulässigerDruck auf diese ausgeübt werde, halte ich für abwegig.Auch ist die Befürchtung, dass mit dem Inkrafttreten desGesetzes eine Flut von Verzögerungsrügen quer über dieeinzelnen Gerichte hereinbrechen könnte, sicherlichübertrieben.

Zusammenfassend möchte ich feststellen, dass dervorliegende Gesetzentwurf aus meiner Sicht sachgerechterscheint. Wir als SPD Bundestagsfraktion begrüßen zu-dem ausdrücklich das Ziel des Gesetzentwurfs, durcheine Konzentration der Verfahrens bei einem Gerichteine möglichst einheitliche Rechtsprechung in einemLand zu erreichen. Der pauschale Entschädigungs-anspruch für immaterielle Schäden in Höhe von1 200 Euro für jedes Jahr der Verzögerung ist zwar ehergering als zu hoch einzuschätzen. Aber durch die in demEntschließungsantrag der Koalitionsfraktionen einge-führte Evaluierung des Gesetzes nach zwei Jahren kanndiese Höhe im Rahmen der Evaluierung nochmal über-prüft werden.

Aus Sicht der SPD wird dieses Gesetz generalpräven-tiv Druck auf die Gerichte insgesamt ausüben, die Ver-

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fahrensdauer von Gerichtsverfahren insgesamt zu ver-kürzen. Dabei darf natürlich nicht außer Acht gelassenwerden, dass in der Fachgerichtsbarkeit – zum Beispielbei den Sozialgerichten – eine ordentliche Personal- undFinanzausstattung vonnöten ist.

Gleichwohl ist dieses Gesetz aus Sicht der SPD-Bun-destagsfraktion das Ergebnis einer sach- und fachgerech-ten Abwägung der berechtigten Interessen der Gerichteund ihrer Richter auf der einen, aber auch der rechtsu-chenden Bürger – und deren Anspruch auf schnelle Ent-scheidung – auf der anderen Seite.

Christian Ahrendt (FDP): Die FDP-Bundestags-fraktion begrüßt ausdrücklich, dass wir den Betroffenenüberlanger Gerichtsverfahren nun ein wirksames Mittelin die Hand geben, um sich gegen unangemessen langeProzesse zur Wehr zu setzen. Es ist untragbar, wenn dieübermäßige Verfahrensdauer zu einer persönlichen undfinanziellen Belastung der Betroffenen führt.

Jeder soll Anspruch auf gerichtlichen Rechtsschutz inangemessener Zeit haben. Gerichtsverfahren dauerntrotzdem vereinzelt zu lang, auch wenn Deutschland beider Prozessdauer im internationalen Vergleich gut da-steht.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte,EGMR, hat in der Vergangenheit von Deutschland bes-sere Rechtsbehelfe bei überlangen Verfahren verlangt.Bei vier von fünf Verurteilungen Deutschlands durchden EGMR ging es um überlange Prozesse. Aber auchdas Bundesverfassungsgericht und die Landesverfas-sungsgerichte haben mehrfach den Stellenwert des An-spruchs auf angemessene Verfahrensdauer bekräftigt.

Zu lange gab es bei überlangen Gerichtsverfahren imdeutschen Recht keine speziellen Rechtsschutzmöglich-keiten. Dem wird nun ein Riegel vorgeschoben. Mit die-sem Gesetz schaffen wir nun die notwendigen Voraus-setzungen für mehr Rechtsschutz bei überlangenGerichtsprozessen und schließen damit die Rechts-schutzlücke, die sowohl nach den Anforderungen desGrundgesetzes als auch nach denen der EuropäischenMenschenrechtskonvention besteht.

Betroffene müssen zunächst im Ausgangsverfahrenauf die Verzögerung hinweisen. Dies gibt den Richternerst einmal die Möglichkeit, bei berechtigter Kritik Ab-hilfe zu schaffen. Auch soll eine Verzögerungsrüge erstnach einer Wartefrist von sechs Monaten wiederholtwerden können, damit Gerichte nicht durch mehrfacheRügen unnötig belastet werden und ein Richter ausrei-chend Zeit hat, wirksam zu reagieren und somit das Ver-fahren zu fördern. Aus dem gleichen Grund kann im An-schluss an eine Verzögerungsrüge auch frühestens nachsechs Monaten Klage beim Entschädigungsgericht ein-gelegt werden. Die ausschließliche Zuständigkeit für dieEntschädigungsklagen gegen ein Land liegt bei demOberlandesgericht, in dessen Bezirk die Regierung desbeklagten Landes ihren Sitz hat, für Klagen gegen denBund beim Bundesgerichtshof.

Bei einer Verletzung des Rechts auf angemesseneVerfahrensdauer sind dem Betroffenen die daraus resul-

tierenden Nachteile zu ersetzen. Der Ersatz umfasst diemateriellen Nachteile und, soweit nicht nach den Einzel-fallumständen Wiedergutmachung auf andere Weise aus-reichend ist, auch die immateriellen Nachteile. DieserAnsatz bietet damit nicht nur einen effektiven Rechts-schutz, sondern vermeidet auf der anderen Seite unnö-tige Mehrbelastungen für die Justiz.

Die Betroffenen konnten bisher nur versuchen, sichmit einer Dienstaufsichtsbeschwerde gegen den Richteroder äußerstenfalls mit einer Verfassungsbeschwerde zuwehren. Für den Ausgleich von Nachteilen gab es nurden allgemeinen Amtshaftungsanspruch, der oft nichtweiterhalf, da er nur für schuldhafte Verzögerungen gilt,um die es in vielen Fällen aber nicht geht. Außerdemdeckt die Amtshaftung keine immateriellen Nachteileab, wie etwa seelische oder gesundheitliche Belastungendurch überlange Gerichtsverfahren.

Der Entwurf setzt auf Prävention vor überlangen Pro-zessen und auf Kompensation der daraus resultierendenFolgen. Aufgrund der Unterschiede bei der zeitlichenBehandlung von Rechtssachen ist von den Justizverwal-tungen und den für die Haushalte der Länder verantwort-lichen Stellen zu erwarten, dass der im Gesetzentwurfvorgesehene Anspruch auf Entschädigung zum Anlassgenommen werde, die Ressourcen der Justiz zu verbes-sern. Durch den Druck, der durch die Entschädigungsvo-raussetzungen ausgeübt wird, wird man zudem dem Be-schleunigungsgebot angemessen gerecht und fördertkonkludent das Verfahren.

Jens Petermann (DIE LINKE): Was lange währt,sollte besonders gut werden. So hatte ich meinen Beitragin der ersten Beratung dieses Gesetzentwurfes im Januarbegonnen. Doch weder eine öffentliche Anhörung, nochÄnderungs- und Entschließungsanträge der Regierungs-koalition konnten diesem Gesetzentwurf die nötige fach-liche und praktische Brillanz verleihen. Auch meineFraktion hat durch die Einbringung eines Änderungsan-trages in den Rechtsausschuss versucht, sich konstruktivzu beteiligen. Leider wurde unser Antrag abgelehnt, undleider nehmen Sie unsere Argumente immer erst dannernst, wenn sie diese ein paar Jahre später vom Bundes-verfassungsgericht oder vom Europäischen Gerichtshoffür Menschenrechte hören.

Mit Ihrem Entwurf sind Sie wieder einmal im Verzug,ein fast schon gewohntes Phänomen. Der EuropäischeGerichtshof für Menschenrechte hatte die Bundesrepu-blik Deutschland am 2. September 2010 verpflichtet,binnen eines Jahres einen wirksamen innerstaatlichenRechtsbehelf oder eine Kombination solcher Rechtsbe-helfe einzuführen. Jede Anwaltskanzlei, die so nachläs-sig gesetzte Fristen missachtet, hätte schon längst Insol-venz anmelden müssen. Anscheinend ist es sinnvoll,einen Rechtsbehelf gegen überlange Gesetzgebungsver-fahren oder eine Untätigkeitsrüge gegen die Bundesre-gierung einzuführen.

Der EGMR stellt in seiner Entscheidung fest, dass essich bei den überlangen Gerichtsverfahren in Deutsch-land um ein strukturelles Problem handelt. Das in demRegierungsentwurf vorgesehene Rechtsmittel ist allen-

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falls die zweitbeste Lösung für dieses Problem. Als sol-ches sieht nämlich der EGMR ein vorbeugendes Rechts-mittel an.

Grundsätzlich ist es die Aufgabe des Staates, ausrei-chende personelle und sachliche Ressourcen zu Verfü-gung zu stellen, damit es nicht erst zu überlangen Ver-fahren kommt. Durch das nun vorgeschlageneEntschädigungsverfahren werden unnötig Kapazitätenbei den Instanzgerichten durch Erhebung der Verzöge-rungsrüge sowie bei den Oberlandesgerichten durch dieEntscheidung über den Entschädigungsantrag gebunden.Dafür bleiben andere Verfahren, insbesondere Hauptsa-cheverfahren, liegen. Die von der Koalition angedachteBeschleunigungswirkung wird ins Gegenteil verkehrt.Anscheinend gehen sie davon aus, dass die Richterinnenund Richter im Moment noch über ausreichend freie Ar-beitszeit verfügen, um sich mit den Gründen der Verzö-gerung zu beschäftigen. Dem ist aber nicht so, und dassage ich Ihnen aus 20-jähriger Erfahrung als Arbeits-und Sozialrichter. Es besteht die Gefahr, dass die betrof-fenen Richterinnen und Richter sowie Staatsanwältinnenund Staatsanwälte das jeweilige Verfahren nach Eingangeiner Verzögerungsrüge auf Kosten anderer – ebenfallswichtiger und dringlicher Verfahren – vorziehen. Ichhabe einen anderen Lösungsvorschlag: Sorgen Sie füreine ausreichende sachliche und personelle Ausstattungder Gerichte und Staatsanwaltschaften, geben Sie derJustiz mehr Autonomie, dann bekommen wir die Pro-bleme mit überlangen Gerichtsverfahren in den Griff.

Die Gründe für überlange Verfahrensdauern solltennicht immer bei den Gerichten gesucht werden. Sowurde zum Beispiel durch Ihre verfassungswidrigeHartz-IV-Gesetzgebung eine Prozessflut an den Sozial-gerichten provoziert. 41 Gesetzesnovellen in sechs Jah-ren haben zum Teil zu chaotischen Zuständen in der So-zialgerichtsbarkeit geführt. Da muss sich niemand mehrwundern, wenn aufgrund der Vielzahl von sozialrechtli-chen Verfahren beispielsweise ein rentenrechtliches Ver-fahren mit einem Antrag im Jahre 2000 beginnt, über dieInstanzen acht Jahre bis zu einer Entscheidung benötigtund im Jahre 2010 mit einer Rüge des Europäischen Ge-richtshofs für Menschenrechte wegen überlanger Verfah-rensdauer abgeschlossen wird. Wo wir gerade beimSGB II sind: Was bleibt eigentlich einem Hartz-IV-Emp-fänger, wenn er eine Entschädigung für ein mehrereJahre dauerndes Verfahren zugesprochen bekommt?Wahrscheinlich nichts; denn diese wird wohl auf seineRegelleistungen angerechnet.

Die gesetzliche Festlegung eines bestimmten Geldbe-trages, der Nicht-Vermögensschäden ausgleichen soll,lehnen wir ab. Stattdessen sollte ein Betrag für jedenMonat der Verzögerung als Untergrenze und nicht alsfeste Entschädigung festgelegt werden. Dies ist geradevor dem Hintergrund der unterschiedlichen psychischenBelastungen der am Gerichtsprozess Beteiligten sinn-voll.

Mit einem Änderungsantrag zu ihrem eigenen Ge-setzentwurf versucht die Koalition den Anspruch zu be-schränken. Indem man die „Entschädigung“ in eine „an-gemessene Entschädigung“ umwandelt und dann erklärt,

dass damit eine verschuldensunabhängige Haftung gege-ben ist, darf der tatsächlich entstandene Schaden nichtmehr ersetzt werden. Die Haftung für den entgangenenGewinn ist damit ausgeschlossen.

Da man sich aber auch noch nicht sicher ist, ob diesesneue Instrument missbraucht werden oder überhaupt beiden Gerichten auf Zustimmung stoßen wird, sieht dieKoalition in einem Entschließungsantrag zu ihrem eige-nen Gesetzentwurf vor, die praktischen Folgen diesesGesetzes nach zwei Jahren zu überprüfen. Dabei werdenSie merken, dass Ihre Lösung nicht den Anforderungendes EGMR entspricht, was wir Ihnen aber schon heutesagen können.

Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Das Grundgesetz und die Europäische Menschenrechts-konvention gewährleisten den Anspruch jedes Bürgersund jeder Bürgerin auf Rechtsschutz – und zwar in ange-messener Zeit. Wir alle wissen: Die große Mehrzahl dergerichtlichen Verfahren in Deutschland wird zeitnah ab-geschlossen. Dennoch gibt es einzelne Verfahren, dieJahre oder gar Jahrzehnte dauern. Der Europäische Ge-richtshof für Menschenrechte in Straßburg hat deshalbzu Recht die Bundesrepublik in über 50 Fällen wegenunangemessener Verzögerung von Gerichtsverfahrenverurteilt.

Zusätzlich hat der Europäische Gerichtshof für Men-schenrechte festgestellt, dass wir im deutschen Rechtnoch keinen wirksamen Rechtsbehelf gegen überlangeGerichtsverfahren haben. Er hat auch Mindestanforde-rungen an einen solchen Rechtsbehelf aufgestellt. DieseAnforderungen müssen und wollen wir gesetzlich um-setzen.

Aber warum sollten wir uns auf diese Mindestvorga-ben beschränken? Das Grundgesetz und die EuropäischeMenschenrechtskonvention geben lediglich den äußerenRahmen für die Gesetzgebung vor. Die Ausgestaltungdieses Rahmens ist unsere Aufgabe im Bundestag. Hiergilt es, möglichst wirkungsvoll zu arbeiten und nicht aufhalbem Wege stehen zu bleiben! Der Gesetzentwurf derBundesregierung konzentriert sich auf die Einführungeiner Verzögerungsrüge und einer nachträglichen Ent-schädigungslösung.

Die Entschädigung für immaterielle Nachteile kannnur verlangt werden, „soweit nicht“ – so der Wortlautdes Entwurfs – „Wiedergutmachung auf andere Weise“ausreichend ist. Die „Wiedergutmachung auf andereWeise“ soll insbesondere durch eine gerichtliche Fest-stellung erfolgen, dahin gehend, dass die Verfahrens-dauer unangemessen war. In welcher Weise kann solcheine Feststellung aber etwas wiedergutmachen? Und:Welchen Nutzen soll der Betroffene aus dieser Feststel-lung ziehen?

Wir Grünen setzen uns für eine Umkehr der Rang-folge im Entwurf ein: In der Regel ist die Entschädigungin Geld zu leisten; nur in Ausnahmefällen kann die Wie-dergutmachung auch auf andere Weise erfolgen.

Hinzu kommt: Der Entwurf sieht eine Entschädigungvon 1 200 Euro für jedes Jahr der Verzögerung vor. Das

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bedeutet zum einen, dass derjenige, dessen Verfahrensich zum Beispiel um elf Monate verzögert, keine Kom-pensation erhält. Zum anderen könnte es für Bund undLänder günstiger sein, überlange Verfahren hinzuneh-men, anstatt an den Strukturen in der Justizverwaltungzu arbeiten und eventuell auch neue Richter und Richte-rinnen einzustellen. Diese Entschädigung ist viel zuniedrig. Angemessen wäre ein Entschädigungsbetragvon 1 000 Euro pro Monat.

Eine nachträgliche Entschädigungslösung ist aberauch nicht ausreichend. Wir müssen auch präventiv den-ken. Um sicherzustellen, dass Gerichtsverfahren in ange-messener Zeit abgeschlossen werden, schlagen wir des-halb eine Regelung vor, gemäß der das Präsidium desGerichts ein Verfahren an den Vertretungsrichter übertra-gen kann, wenn der zuständige Richter verzögert arbei-tet. Bewusst stellen wir die Entscheidung hierüber in dasErmessen des Präsidiums, um die Unabhängigkeit derRichter zu wahren und den Gerichten eine Entscheidungim Einzelfall zu ermöglichen.

Die Arbeit der Justiz hängt natürlich zudem von dersachlichen und personellen Ausstattung der Gerichte ab.Der Schlüssel zur Gewährleistung effektiven Rechts-schutzes liegt also auch in der Bereitstellung von ausrei-chenden Mitteln für die Justiz. Wir meinen deshalb, dassdas Präsidium des Gerichts feststellen sollte, wie vieleRichterstellen voraussichtlich zur ordnungsgemäßen Er-füllung der Aufgaben benötigt werden. Diese Feststel-lung sollte das Präsidium dann dem Haushaltsgesetzge-ber zuleiten können.

Wir Grünen fordern mit unseren Änderungsanträgenzum Regierungsentwurf dazu auf, nicht auf halbem Wegstehen zu bleiben. Wir wollen das Ziel – die Gewährungeffektiven Zugangs zum Recht – umfassend anzugehen.

Anlage 12

Zu Protokoll gegebene Reden

zur Beratung des Antrags: Eine EuropäischeGemeinschaft für die Förderung erneuerbarerEnergien gründen – EURATOM auflösen (Ta-gesordnungspunkt 14)

Roderich Kiesewetter (CDU/CSU): Bevor ich aufEinzelheiten des hier zu beratenden Antrags eingehe,möchte ich eine grundlegende Überlegung vorwegstel-len: In Ihrem Antrag, meine Damen und Herren derFraktion Die Linke, schlagen Sie eine duale Vorgehens-weise vor: Zum einen wollen Sie im Lichte des Reaktor-unfalls von Fukushima nicht nur die MitgliedschaftDeutschlands in der Europäischen Atomgemeinschaft,Euratom, beenden, sondern sprechen sich darüber hinausauch für deren grundsätzliche Auflösung aus. Zum ande-ren aber wollen Sie die Forschung im Bereich erneuer-barer Energien auf europäischer Ebene stärken. Dieseantagonistische Betrachtungsweise der Dinge teile ichgrundsätzlich nicht.

Die Europäische Atomgemeinschaft gehört zu dendrei Vertragsregimes, auf deren Grundlage das verfasste

Europa entstanden ist. Sie wurde zeitgleich mit der Eu-ropäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, EGKS,und der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, EWG– der späteren Europäischen Gemeinschaft, EG –, in denRömischen Verträgen von 1957 begründet und bestehtseither ohne wesentliche Änderungen fort. Mit dem In-krafttreten des Vertrags von Lissabon am 1. Dezember2009 ging die EG in der Europäischen Union, EU, auf;damit bleibt nur die Euratom als eigenständige Organisa-tion bestehen, ist jedoch in ihren Strukturen vollständigan die EU angegliedert.

Was sind überhaupt die Aufgaben von Euratom?Art. 1 des Vertrags führt aus:

Aufgabe der Atomgemeinschaft ist es, durch dieSchaffung der für die schnelle Bildung und Ent-wicklung von Kernindustrien erforderlichen Vo-raussetzungen zur Hebung der Lebenshaltung inden Mitgliedstaaten und zur Entwicklung der Be-ziehungen mit den anderen Ländern beizutragen.

Heute geschieht dieses insbesondere über die For-schungsaktivitäten. Hierzu hat sich in den letzten Jahr-zehnten der gesellschaftliche Konsens in Deutschlandtatsächlich verändert, worauf ich später nochmals einge-hen werde.

Politisch wichtig ist aber, dass die Gründung vonEuratom darüber hinaus stets das Ziel der europäischenFriedenssicherung verfolgte – indem ähnlich wie schonbei der Montanunion durch „Vergemeinschaftung“ derNukleartechnik eine gegenseitige Kontrolle ermöglichtwird – Art. 2 Buchstabe e. Diese Zielsetzung in diesemsensiblen Bereich der Hochtechnologie ist bis heute gül-tig.

Jenseits dieser grundsätzlichen Dimension ist abervor allem zu beachten, dass die Energiepolitik für alleeuropäischen Staaten und damit auch für Deutschlandvor großen Herausforderungen steht. Die Sicherheit un-ser aller Energieversorgung wird maßgeblich durch zweiEntwicklungen vor völlig neue Herausforderungen ge-stellt:

Erstens führt der gewaltig steigende Energiebedarfder aufstrebenden Wirtschaftsmächte China und Indiensowie anderer Schwellenländer bei begrenzten Energie-reserven und -ressourcen zu einem deutlichen Anstiegdes globalen Energieverbrauchs und damit zu einer ver-schärften Nachfragekonkurrenz auf den internationalenEnergiemärkten.

Zweitens wächst die Abhängigkeit Deutschlands vonEnergieimporten aus politischen Krisenregionen.

Beide Entwicklungen machen deutlich, dass die Frageder Versorgungssicherheit ein Anliegen nationaler Si-cherheit nicht nur für Deutschland darstellt. Die außen-und sicherheitspolitische Dimension des Themas wird inanderen Staaten bereits seit geraumer Zeit berücksich-tigt. Außerdem ist die Energieversorgung seit 2001 Be-standteil der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspoli-tik, GASP, der Europäischen Union. Wenn man aberdiese zentralen strategischen Aspekte der Versorgungssi-cherheit vernachlässigt, erhält man kein vollständiges

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Bild des Zusammenhangs, in dem wir Euratom zu be-werten haben.

Meine Damen und Herren von der Linken, das machtsehr deutlich, dass Ihre im Antrag erhobene Forderungnach genereller Auflösung von Euratom in Europa keineMehrheit finden würde, da wesentliche Partnernationenwie Frankreich und Großbritannien an Nuklearenergieals strategisch wichtigem Bestandteil ihrer jeweiligenEnergieversorgung festhalten. Energiepolitik unter Ein-bezug von Nuklearenergie bleibt auf europäischer Ebeneein Faktum – auch wenn wir in Deutschland einen ande-ren Weg gehen wollen.

Ob der zweite Teil Ihrer Forderung – also der nach ei-nem einseitigen Austritt Deutschlands – weise überlegtist, bezweifele ich außerdem. Es ist nicht nur so, dass esmutmaßlich rechtlich sehr schwierig wäre, einen solchenSchritt zu vollziehen. Aber angenommen, Deutschlandwürde austreten: Es würde an Einflussmöglichkeiten undMitspracherechten, beispielsweise in Bezug auf die Ein-haltung von Sicherheitsstandards in Atomkraftwerken,verlieren. Das kann gerade mit Blick auf die in denNachbarstaaten betriebenen Kernkraftwerke nicht unserInteresse sein. Auch deshalb lehnt die Fraktion von CDUund CSU nicht nur eine allgemeine Auflösung vonEuratom ab, sondern auch einen einseitigen AustrittDeutschlands.

Sehr viel mehr Sympathie habe ich für Ihre Forderungnach Stärkung der Erforschung erneuerbarer Energien.So geht ein Bericht der EU-Kommission über die Ver-sorgungssicherheit der EU von 2005 davon aus, dass dieAbhängigkeit der EU von Energieimporten von 50 Pro-zent auf 70 Prozent im Jahr 2030 steigt. Bis dahin wirddie EU 90 Prozent ihres Erdölbedarfs und 70 Prozent ih-res Erdgasbedarfs importieren müssen. Zugleich wirdsich die weltweite Energieförderung auf immer wenigerLänder – vor allem in der instabilen Region des erweiter-ten Nahen und Mittleren Ostens und Nordafrikas,MENA – konzentrieren: 65 Prozent aller Erdölreservenund 34 Prozent aller Gasreserven finden sich im Persi-schen Golf. Ein politisch in höchstem Maße krisenanfäl-liges Land wie der Iran verfügt nach Saudi-Arabien überdie weltweit zweitgrößten Erdölvorkommen und nachRussland über die weltweit zweitgrößten Erdgasvorkom-men. Diese Abhängigkeiten müssen reduziert werden –und deshalb ist die Förderung erneuerbarer Energienrichtig, ja notwendig.

Mit den Beschlüssen zur Energiewende wird die Bun-desregierung die weltweit führende Rolle Deutschlandsbei Konzepten und Technologien im Bereich der Ener-gieeffizienz und der erneuerbaren Energien nutzen, umdie Abhängigkeit unserer Energieversorgung weiter zureduzieren. Dazu müssen wir alles tun, die technologi-sche Führungsrolle zu verteidigen und auszubauen –hierzu fördern wir national, aber auch europäisch bereitsheute in erheblichen Größenordnungen.

Ob dann die von Ihnen vorgeschlagene Konstruktioneiner Europäischen Gemeinschaft für die Förderung er-neuerbarer Energien allerdings der richtige Weg ist,wage ich zu bezweifeln. Der historische Trend seit den1950er-Jahren läuft doch gerade genau andersherum:

Vergemeinschaftung und Integration anstatt Zersplitte-rung und Differenzierung. Insofern liegt die Zuständig-keit zur Förderung dieser neuen Energieträger im Kon-text des europäischen Forschungsrahmenprogrammsgenau richtig, nämlich bei der Europäischen Kommis-sion. Die Gründung einer neuen europäischen Gemein-schaft ist demnach institutionell sinnlos, politisch unklugund alles andere als zeitgemäß.

Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): Ich bin bekannter-maßen ein Verfechter der erneuerbaren Energien, und ichbin stolz darauf, dass wir in Deutschland sagen können:Erneuerbare lieferten im ersten Halbjahr 2011 mehr als20 Prozent des Stroms in Deutschland. Das ist eine Leis-tung des deutschen Gesetzgebers – eine Leistung, die aufdas unter Helmut Kohl eingeführte Stromeinspeisegesetzzurückzuführen ist, auf dem heute das EEG basiert unddas benannte Output von heute mehr als 20 Prozent Er-neuerbare geschaffen hat.

Das ist mir wichtig zu sagen, wenn Sie in Ihrem An-trag etwa formulieren:

Der Umstieg von Atomenergie auf erneuerbareEnergien ist sowohl politisch als auch finanzielllängst überfällig.

Guten Morgen, meine Kollegen von den Linken!

Deutschland hat in Europa in Sachen Aufbau von Er-neuerbaren und Ausstieg aus der Kernenergie eine– wenn auch sehr mutige und optimistische – Vorreiter-rolle eingenommen.

Das Thema Aufbau der Erneuerbaren haben wir poli-tisch in Deutschland längst auf den Weg gebracht.

In den nächsten Jahren werden unsere europäischenNachbarstaaten sicherlich ein besonderes Augenmerkdarauf haben, wie wir in Sachen Speicher und Netze vo-rankommen, damit auch nach unserem sukzessiven Aus-stieg aus der Kernenergie die Netzstabiliät genauso ge-währleistet werden kann, wie die Grundlast undBedarfsspitzen abgedeckt werden können.

Die Praktikabilität unseres deutschen Ausstiegs ausder Kernenergie, das wird das A und O sein, nach demder deutsche Ausstieg in Europa und international beur-teilt wird. Hierauf muss unser Augenmerk liegen.

Wenn die Linke nun in Ihrem Antrag eine weitere In-stitutionalisierung über eine „alternative EuropäischeGemeinschaft zur Förderung von erneuerbaren Energienund Energieeinsparung“ vorschlägt, dann stellt sich mirals Ökonom die Frage: Mit welcher Zielrichtung? Unse-ren deutschen Weg werden wir vor allen Dingen mitmarkt- und energiewirtschaftlichen Fakten belegen müs-sen.

Ich darf am Rande daran erinnern: Wir haben bereitseine internationale Organisation für erneuerbare Ener-gien – nämlich IRENA, eine internationale Organisation,die sich ausschließlich auf erneuerbare Energien konzen-triert – auf den Weg gebracht. Das Gründungsstatut ha-ben die Europäische Union und fast 150 Staaten längstgezeichnet. IRENA wird dabei eng mit anderen interna-

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tionalen Organisationen, etwa der Internationalen Ener-gie-Agentur, auch kurz „IEA“ genannt, sowie mit Netz-werken wie REN21, zusammenarbeiten.

Eine weitere Institutionalisierung vorzuschlagen –ihre Zielrichtung ging dabei wohl mehr dahin, Ihren An-trag formal aufzufüllen.

Aber dessen ungeachtet lassen Sie mich einen kurzenExkurs machen: Was wäre die Zielrichtung einer solcheneuropäischen Institution? Wollten Sie damit das leidigeHarmonisierungsthema im Bereich Erneuerbare inEuropa beflügeln, um über die Europäische Union zuversuchen, unser EEG-Erfolgsgesetz durch eine Quoten-regelung zu ersetzen?

Durch eine solche Quotenregelung würden wir Wert-schöpfung im eigenen Land – und zwar gerade im Herz-stück der deutschen Wirtschaft, dem Mittelstand – ver-lieren.

Außerdem hätten wir bei einer Quotenregelung nichtmehr die Chance, durch Rohstoffe aus dem eigenenLand unabhängiger zu werden.

Von Effektivitätsfragen ganz zu schweigen! Wir ha-ben mit dem EEG eben nicht zufällig für Deutschlandeine Vorreiterrolle bei den Erneuerbaren erzielt. Das dür-fen wir nicht einfach im Zuge einer europäisch initiiertenGleichmacherei dulden.

Aber nun zum zentralen Anliegen Ihres Antrags,Euratom aufzulösen, das ist ja bereits aus sich heraus alsschlicht untauglich zu bewerten.

Zunächst vorab: Was ist Euroatom? Vielleicht liegtder Grund dafür, dass Ihr Antrag unbrauchbar ist,schlicht darin begründet, dass Sie den Kern desEuratom-Vertrags nicht verstanden haben: Der Vertragzur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft, alsoder Euratom-Vertrag, gehört zu den 1957 geschlossenensogenannten Römischen Verträgen. Die Regelung derfriedlichen Nutzung der Kernenergie durch denEuratom-Vertrag hat sich historisch bedingt aus derNachkriegszeit heraus entwickelt. Dabei geht die Rege-lung aber weit über den Bereich der Nuklearenergie imengeren Sinne hinaus und betrifft etwa auch den Anwen-dungsbereich der nuklearen Medizin sowie der For-schung und Wissenschaft.

Wichtig ist: Deutschlands Entscheidung eines vorzei-tigen Ausstiegs aus der Kernenergie wird durch denEuratom-Vertrag nicht beeinträchtigt. Klar muss uns inDeutschland aber auch sein, dass unser deutscher Weg inSachen Energiepolitik ein Sonderweg war, den Europanicht einfach so mitgehen wird, und wir können die Mit-gliedstaaten auch nicht dazu „verhaften“. Hierzu gibt esschlicht keine Rechtsgrundlage. Wir können nur auf dembeschriebenen Weg – mit energie- und wirtschaftspoliti-schen Fakten – Überzeugungsarbeit leisten.

Zu Ihrem Antragsanliegen, Euratom aufzulösen: DerEuratom-Vertrag sieht kein Kündigungsrecht vor. Viel-mehr regelt Art. 208, dass der Vertrag auf unbegrenzteZeit geschlossen wird. Hier gilt: Pacta sunt servanda.Das heißt: Verträge sind einzuhalten. Will heißen: Esgibt das Gebot der Vertragstreue. Und an dieses Gebot

hat man sich in demokratischen rechtsstaatlichen Gefil-den zu halten – auch wenn das jenem Teil der Linken,die dem alten SED-Geschwader angehörten, vielleichtnoch heute nicht in der Gänze verständlich erscheint.

Ich darf zusammenfassen:

Ein einseitiger Austritt Deutschlands aus der Europäi-schen Atomgemeinschaft ist eben nicht vorgesehen.

Anhaltspunkte für das, was Juristen „Wegfall der Ge-schäftsgrundlage“ nennen, gibt es keine.

Allein der EU-Vertrag sieht eine Kündigungsmög-lichkeit für EU-Mitgliedstaaten vor, der Euratom-Ver-trag nicht. Deswegen wäre ein Verlassen des Euratom-Vertrages nur bei einem Ausscheiden aus der EU mög-lich. Eine EU-Mitgliedschaft ohne Mitgliedschaft in derEuropäischen Atomgemeinschaft ist unionsrechtlichebenso wenig vorgesehen wie eine Mitgliedschaft in derEuropäischen Atomgemeinschaft durch nicht der EU an-gehörende Drittstaaten.

Und darf ich hier angesichts der Tragweite einer sol-chen Entscheidung einmal zaghaft nach der Sinnhaftig-keit eines Ausstiegs aus Euroatom fragen?

Wenn man beim Thema „nukleare Sicherheit“ Maß-stäbe setzen möchte, dann muss man das im internatio-nalen Verbund tun. Der Euroatom-Vertrag und andere in-ternationale Verträge und Konventionen tragen dafürSorge und tragen dem Rechnung. Deshalb wäre es – un-abhängig von der nationalen Entscheidung eines frühe-ren Ausstiegs aus der Kernenergie in Deutschland –fatal, anzunehmen, man bräuchte die deutsche Mitglied-schaft in Euroatom nicht mehr. Denn damit würde diedeutsche Mitsteuerungsmöglichkeit ausgeschlossen –und das ist nicht im deutschen Interesse.

Vorab hatte ich bereits auf den Regelungsbereich vonEuroatom hingewiesen: Die Regelungen von Euroatomgreifen weit über den Bereich der Nuklearenergie im en-geren Sinne hinaus und betreffen ja beispielsweise auchAnwendungsbereiche der nuklearen Medizin etc.

Deshalb muss man zusammenfassend sagen: Ihr Pro-pagandaantrag 17/6151 – das kann man so klar und deut-lich zusammenfassen – ist das Papier nicht wert, auf demer geschrieben ist.

Marco Bülow (SPD): Im Sommer haben wir zumzweiten Mal den Atomausstieg beschlossen. NachdemUnion und FDP den rot-grünen Atomkonsens zwischen-zeitlich aufgelöst und die Laufzeiten verlängert hatten,stehen endlich alle Fraktionen zum Ausstieg. Mit denBundestagsbeschlüssen vom Sommer haben wir aller-dings nur den Atomausstieg in Deutschland. Wir wissenaber, dass von jedem Atomkraftwerk, von jeder Atoman-lage auf dieser Welt eine Gefahr für Mensch und Um-welt ausgeht – und zwar über nationalstaatliche Grenzenhinaus. Die Abschaltung der deutschen Atomkraftwerkemacht Europa sicherer und verstärkt die Chance zu einerwirklichen Energiewende. Es ist völlig inkonsequent, in-folge der Ereignisse im japanischen Fukushima dieAtomkraftwerke in Deutschland nach und nach abzu-schalten, aber kein Problem darin zu sehen, dass in be-

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nachbarten Ländern gefährliche Atomanlagen auf Dauerweiterbetrieben werden. Direkt in Grenznähe zuDeutschland laufen zum Teil mit völlig veralteter Tech-nik betriebene Atomkraftwerke wie Temelin, Fessen-heim oder Cattenom noch viele Jahre weiter.

Von daher müssen wir jetzt den nächsten Schritt ge-hen und für einen internationalen Atomausstieg kämp-fen. Es kann nicht sein, dass die Bundesregierung mitHermesbürgschaften den Neubau von Atomkraftwerkenin Brasilien absichert. Wenn wir es ernst meinen, müssenwir uns in Europa jetzt für einen EU-weiten Atomaus-stieg engagieren. In Deutschland auf der einen Seite aus-zusteigen und den über 50 Jahre alten und kaum verän-derten Euroatom-Vertrag auf der anderen Seite weiterhinso zu belassen, wie er ist, das passt nicht zusammen. DieAusrichtung des Euroatom-Vertrags mit dem Ziel der„Entwicklung einer mächtigen Kernindustrie“ ist schonlange nicht mehr aktuell. Die Entwicklung der Atom-energienutzung in Europa muss zu Ende gehen. Jetztsollte die Abwicklung das Ziel sein. Der Euratom-Ver-trag muss daher grundlegend reformiert werden.

Diese Erkenntnis gibt es allerdings schon länger. DieBundesrepublik hat gemeinsam mit anderen europäi-schen Mitgliedstaaten eine Erklärung zur Schlussaktevon Lissabon vom 13. Dezember 2007 abgegeben, in dersie ihre Unterstützung für eine zeitgemäße Veränderungdes Euratom-Vertrags dokumentiert hat. Eine substan-zielle Veränderung hat es bisher aber nicht gegeben.Man könnte sich natürlich hinstellen und sagen: Wir tre-ten aus der Europäischen Atomgemeinschaft aus. Ob dasüberhaupt möglich ist, bleibt umstritten. Obwohl dieEuropäische Atomgemeinschaft eine eigenständigeRechtspersönlichkeit ist, wäre ein Austritt aufgrund derFinanz- und Personalunion von EU und EuropäischerAtomgemeinschaft kaum umsetzbar. Selbst wenn esmöglich wäre, würde man dadurch auch den Einflussverlieren, den Vertrag zu ändern. Den auf unbestimmteZeit geschlossenen Euratom-Vertrag jetzt einfach auflö-sen zu wollen, ist gemessen an den in Europa herrschen-den Verhältnissen auch unrealistisch.

Wir müssen uns vielmehr ans Werk machen und inEuropa Überzeugungsarbeit für einen Atomausstieg leis-ten. Wir müssen Europa und der ganzen Welt zeigen,dass man es nicht nur ohne Probleme schaffen kann, ausder Atomenergienutzung auszusteigen, sondern dadurchauch noch massiv gewinnt. Wir gewinnen nicht nur deut-lich mehr Sicherheit, wir gewinnen auch ökologisch undwirtschaftlich: ökologisch, weil wir mit einem konse-quenten Umbau der Energieversorgungsstrukturen vielstärker auf eine umweltfreundliche und klimaschonendeEnergieversorgung setzen, wirtschaftlich, weil durch denAusbau der erneuerbaren Energien viele Arbeitsplätzeentstehen und gesichert werden und weil Deutschlandhier auf dem Weltmarkt eine Führungsrolle einnimmt. Jemehr Länder aus der Atomenergie aussteigen undgleichzeitig vorrangig auf erneuerbare Energien setzen,umso mehr profitiert auch Deutschland. Wir hätten einimmenses Plus an Sicherheit. Wir würden davon profi-tieren, dass der CO2-Ausstoß sinkt. Es würden sich abervor allem auch neue Märkte erschließen. Deswegen istes einfach nur logisch, sich in Europa für einen Atom-

ausstieg einzusetzen, und deswegen kann der Euratom-Vertrag nicht so bleiben, wie er ist.

Die durch den Euratom-Vertrag festgeschriebeneSonderstellung der Atomenergie muss beseitigt werden.Alle Passagen, die Investitionen in die Atomkraft be-günstigen, müssen gestrichen werden. Forschung undEntwicklung auf dem Gebiet der Kernspaltung darf sichnur auf Sicherheits- und Gesundheitsfragen beschrän-ken. Hauptaufgabe muss sein, in Europa einheitliche Si-cherheitsstandards auf höchstem Niveau zu garantierenund die Entwicklung von Endlagerkonzepten voranzu-treiben. Diesen Forderungen des Bundesratsantrags desLandes Nordrhein-Westfalen kann ich mich nur an-schließen.

Euratom muss so umgebaut werden, dass die geord-nete Abwicklung der Atomenergie im Mittelpunkt stehtund, solange Atomkraftwerke in Europa noch am Netzsind, das höchste Sicherheitsniveau gewährleistet wird.Unabhängig davon sollten wir die Schaffung einer Euro-päischen Gemeinschaft für erneuerbare Energien anstre-ben. Sollten wir hier nicht rechtzeitig handeln, so müs-sen wir uns nicht wundern, wenn der Protest gegen einerückwärtsgewandte Energiepolitik erneut auf die Straßegetragen wird. Ich kann friedliche Demonstrationen undAktionen für die Abschaltung beispielsweise des franzö-sischen AKW Fessenheim nur unterstützen.

René Röspel (SPD): Vor über 50 Jahren haben sicheuropäische Regierungsvertreter in Rom zusammenge-funden und die Europäische Atomgemeinschaft, heuteEuratom, gegründet. Damals lebte man noch in derÜberzeugung, dass „… die Kernenergie eine unentbehr-liche Hilfsquelle für die Entwicklung und Belebung derWirtschaft und für den friedlichen Fortschritt darstellt…“. Ich glaube, diesen Satz teilt heute keiner mehr indiesem Parlament. Insofern wird hier auch keiner mehrdafür eintreten wollen, „... entschlossen die Vorausset-zungen für die Entwicklung einer mächtigen Kernindus-trie zu schaffen ...“. Genau diese beiden Sätze stehenaber so im Euratom-Vertrag – und zwar bis heute – undspiegeln damit den Geist des Euratom-Vertrages wider.Von der heutigen politischen Einschätzung zur Kern-energie ist dies aber weit entfernt. Insofern ist klar, dassdieser Vertrag reformiert werden und der Realität ange-passt werden muss.

Bereits 2007 hat Deutschland unter der rot-grünenBundesregierung zusammen mit den Regierungen vonIrland, Ungarn, Österreich und Schweden auf europäi-scher Ebene dazu aufgefordert, die Substanz des Vertra-ges an die aktuellen Verhältnisse anzupassen. Leider hatsich seitdem wenig – besser gesagt nichts – getan. Dashat auch mit dem Regierungswechsel in Berlin zu tun.Denn CDU/CSU und FDP glaubten bis Fukushima jaimmer noch an das Heil der Atomkraft. Aktuell hat dierot-grüne Landesregierung meines Bundeslandes Nord-rhein-Westfalen einen Entschließungsantrag in den Bun-desrat eingebracht, der ebenfalls eine Reform des Eura-tom-Vertrages anmahnt. Sie sehen, liebe Kolleginnenund Kollegen, die SPD zusammen mit den Grünen be-

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schäftigt sich schon lange und intensiv mit dem ThemaEuratom.

Um die Ziele des Euratom-Vertrages zu erreichen,wurde seitens der EU-Kommission im Rahmen des aktu-ellen 7. Forschungsrahmenprogramms für den Zeitraum2007 bis 2011 insgesamt über 3 Milliarden Euro für For-schungsaktivitäten zur Verfügung gestellt. Über 2 Mil-liarden Euro gingen dabei in die Fusionsforschung, ins-besondere für die kontrovers diskutierte Entwicklungdes Fusionsforschungsreaktors ITER. Für den Zeitraum2012 bis 2013 wurde der Betrag für Euratom auf2,5 Milliarden Euro festgelegt. Auch hierbei geht dergrößte Anteil des Geldes an ITER, nämlich 2,2 Milliar-den Euro. Fakt ist also, dass der Forschungsförderungs-bereich im Euratom-Vertrag derzeit vorwiegend zur Fi-nanzierung der Fusionstechnologie genutzt wird. Ob dasGeld dort gut aufgehoben ist, darüber lässt sich trefflichstreiten. Wir haben da große Zweifel.

Es ist nicht eindeutig geklärt, ob Deutschland einsei-tig zum Beispiel durch Kündigung aus dem Euratom-Vertrag aussteigen kann. Unabhängig davon finde icheine andere Argumentation überzeugender: Einen Vereinoder eine Partei verändert man am besten von innen.Beim Euratom-Vertrag ist das nicht anders. Deshalb ver-stehe ich, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Lin-ken, Ihre Argumentation in diesem Punkt nicht. Sie for-dern im vorliegenden Antrag eine Reform undgleichzeitig den Ausstieg aus Euratom. Wenn man aberetwas verändern will, kann man doch nicht einfach ausdem Entscheidungsgremium aussteigen. Völlig logischist doch, dass sich Euratom nach einem AusstiegDeutschlands gar nicht verändert. Übernahme von Ver-antwortung sieht meiner Meinung nach anders aus.

In Deutschland wird 2022 endlich das letzte Atom-kraftwerk vom Netz gehen. Der strahlende Müll wirdhingegen noch Generationen nach uns beschäftigen.Denn eine Lösung haben wir dafür immer noch nicht. InEuropa wird es nach heutigem Stand leider auch überdas Jahr 2022 Atomkraftwerke geben. Wir als Deutschehaben deshalb ein großes Interesse, dass die EU für alleAtomkraftwerke sowie Zwischen- und Endlager höchsteeinheitliche Sicherheitsstandards vereinbart. Im Bereichder Sicherheits- und Endlagerkonzepte besteht somit eu-ropäischer Forschungs- und Entwicklungsbedarf. Auchin der medizinischen Forschung wäre eine stärkere euro-päische Zusammenarbeit von Vorteil. Ich denke dabeizum Beispiel an die Behebung des Technetium-99-Man-gels. Klar muss aber auch sein, dass die Forschungsför-derung zum Ausbau oder sogar Neubau von Atomkraft-werken zur Energiegewinnung nicht Aufgabe einergemeinsam finanzierten Forschungsförderung sein darf.Ob die Fusionsforschung im heutigen Finanzrahmenweitergeführt werden sollte, bleibt ebenfalls zu diskutie-ren.

Die verstärkte Förderung von erneuerbarer Energie istnotwendig und richtig. Hierfür sind mehr nationale undeuropäische Anstrengungen nötig. Ob auf europäischerEbene ein eigener Vertrag das adäquate Mittel ist, mussnun geprüft werden. Grundsätzlich halten wir denSchwenk von der europäischen Atompolitik hin zur För-

derung von Effizienz und erneuerbaren Energien für un-ausweichlich, unverzichtbar und mit großen Chancenverbunden. Ich freue mich somit auf die weiteren Dis-kussionen zu den angesprochen Punkten mit Ihnen imAusschuss.

Heinz Golombeck (FDP): Der Euratom-Vertragverpflichtet die einzelnen Mitgliedstaaten der Europäi-schen Union nicht, die Kernkraft zur Energiegewinnungzu nutzen bzw. den Kernenergiesektor in den eigenenLändern auszubauen.

Die Vorschriften des Vertrags bilden vielmehr denRahmen für eine Zusammenarbeit der europäischen Mit-gliedstaaten auf den Gebieten der nuklearen Sicherheitund der Entsorgung, wie etwa bei den jüngst beschlosse-nen EU-weiten Risiko- und Sicherheitsbewertungen fürKernkraftwerke. Diese sind daher aus nicht verbrei-tungspolitischen Gründen und unter Aspekten des Strah-lenschutzes unabdingbar.

Der Euratom-Vertrag erleichtert zudem die Zusam-menführung von Wissen, Infrastrukturen und Finanzmit-teln für die Kernenergie. Er gewährleistet die Sicherheitder Kernenergieversorgung im Rahmen eines zentrali-sierten Überwachungssystems.

Die Euratom-Forschung findet im Rahmen mehrjähri-ger Programme statt, die aus dem EU-Haushalt finan-ziert werden. Gemäß dem Euratom-Vertrag sind dieEuratom-Rahmenprogramme auf fünf Jahre begrenzt.

Die EU-Kommission will das Euratom-Budget ent-sprechend dem Siebten Forschungsrahmenprogrammder EU bis 2013 verlängern. Es handelt sich um einenformal notwendigen Schritt, um die Laufzeit desEuratom-Rahmenprogramms der siebenjährigen Lauf-zeit des allgemeinen Siebten Forschungsrahmenpro-gramms, RP7, der EU anzupassen, das 2013 ausläuft.

Der Vorschlag beinhaltet keine Änderung der Politik.Die EU-Organe hatten bei der Einleitung beider Pro-gramme im Jahr 2007 seine Vorlage bereits eingeplant.Bei Verabschiedung des vorgelegten Vorschlags durchden Rat könnten die laufenden Forschungsarbeiten fort-gesetzt werden, die insbesondere der Erhöhung dernuklearen Sicherheit und dem Strahlenschutz dienen.

Das Euratom-Rahmenprogramm soll die FührungEuropas im Bereich der Kernenergie aufrechterhalten,indem es vorkommerzielle Forschung unterstützt undden Technologietransfer zwischen Hochschulen und In-dustrie erleichtert. Insbesondere soll es zu einem sehrhohen Niveau im Bereich der nuklearen Sicherheit undder Gefahrenabwehr sowie zur Nichtverbreitung vonKernwaffen beitragen. Der Schwerpunkt wird auf derAusbildung liegen, auf der Steigerung der Wettbewerbs-fähigkeit der bestehenden Nuklearindustrie und auf derSchaffung einer neuen spitzentechnologischen Industrie-branche für die Fusionsenergie.

Für die FDP-Bundestagsfraktion ist die Investition inZukunftsenergien, die keine das Klima schädigendenEmissionen, keine Endlagerprobleme und keine Prolife-rationsprobleme mit sich bringen und die die Energie-

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versorgung in der Grundlast dauerhaft sichern, lohnendund vielversprechend. Wir unterstützen daher die For-schung sowohl auf dem Gebiet der erneuerbaren Ener-gien als auch auf dem Gebiet der Kernspaltungs- oderKernfusionsforschung. Nur so können wir die Heraus-forderungen einer sich rasch wandelnden Umwelt be-wältigen. Nicht zuletzt sind am ITER-Projekt führendedeutsche Forschungseinrichtungen beteiligt. Dies unter-stützen wir maßgeblich, damit die deutsche Forschungauch weiterhin im internationalen Vergleich leistungs-und wettbewerbsfähig bleibt.

Das vorgesehene Budget für das Euratom-Rahmen-programm von 2,5 Milliarden Euro für die Jahre 2012und 2013 umfasst etwas mehr als 2,2 Milliarden Euro fürdie Kernfusionsforschung (86 Prozent), bei der derSchwerpunkt im Wesentlichen auf dem Bau des interna-tionalen Fusionsversuchsreaktors ITER in Frankreichliegt.

Für die Forschungsprojekte im Bereich der Kernspal-tung – einschließlich Strahlenschutz – werden 118 Mil-lionen Euro bereitgestellt. Die Nuklearforschungs-arbeiten und die Arbeiten zur Gewährleistung derkerntechnischen Sicherheit der Gemeinsamen For-schungsstelle der Kommission werden mit 233 Millio-nen Euro unterstützt.

Die FDP unterstützt die Arbeit der GemeinsamenForschungsstelle der Europäischen Kommission in derWeiterführung ihres Kernforschungsprogramms. Wirwerden auch in Zukunft Unterstützung leisten bei derEntwicklung politischer Optionen für den geeignetsten„Energiemix“ für das 21. Jahrhundert, der den Zielen desEuropäischen Strategieplans für Energietechnologie– SET-Plan für die Entwicklung von Technologien mitgeringen CO2-Emissionen – entsprechen soll.

Bestrebungen in Richtung einer einseitigen Kündi-gung des Euratom-Vertrages erteilt die FDP aus denebengenannten Gründen eine entschiedene Absage. Esist unser aller Aufgabe, dafür Sorge zu tragen, dass keinMitgliedstaat sich einseitig von seiner jeweils übernom-menen Verantwortung für die nukleare Sicherheit inEuropa verabschiedet.

Eine Änderung des Euratom-Vertrages ist nur imKonsens aller EU-Mitgliedstaaten möglich. Ein einseiti-ger Austritt Deutschlands aus der Europäischen Atomge-meinschaft, EAG, ist unionsrechtlich nicht vorgesehen.Ein Austritt aus der EAG kann vielmehr nur im Paketmit einem Austritt aus der EU erfolgen.

Die FDP-Fraktion setzt sich für eine FührungsrolleEuropas im Bereich der nuklearen Sicherheit und derGefahrenabwehr sowie für die Nichtverbreitung vonKernwaffen ein. Die Unterstützung der Euratom-Rah-menprogramme ist, insbesondere im Hinblick auf dieEntwicklung politischer Optionen für den geeignetstenEnergiemix der Zukunft, dringend notwendig. DiesesZiel verliert der Linken-Antrag völlig aus den Augen.Wir lehnen ihn daher ab.

Alexander Ulrich (DIE LINKE): Seit dem Bestehender Europäischen Atomgemeinschaft, Euratom, also seit

54 Jahren, wird die Atomenergie in Europa von allenEU-Mitgliedsländern und damit von all ihren Bürgerin-nen und Bürgern mit Milliarden subventioniert und ge-fördert. Dies geschieht im Wesentlichen von der Öffent-lichkeit unbemerkt – nicht etwa weil die Menschen nichtinteressiert daran wären, zu wissen, wohin ihr Geldfließt, nein, die Wahrheit ist vielmehr, dass sie davon garnichts wissen können! Denn das Entscheidungsverfahrenund die Finanzierung von Euratom verläuft intransparentund damit völlig undemokratisch.

Die Bürgerinnen und Bürger der EU können wederEinfluss auf die Kreditvergabe und Forschungsförderungfür Atomkraftwerke und Atomenergie nehmen, nochkönnten sie sie verhindern. Aber selbst wenn das Verfah-ren transparenter wäre, hätten sie rechtlich nicht die ein-mal Möglichkeit, zu intervenieren. Denn die Finanzie-rung der europäischen Atomgemeinschaft unterliegtkeiner demokratischen Kontrolle durch das EuropäischeParlament.

Dies ist aus mehreren Gründen mehr als skandalös.Zum einen ist die öffentliche Meinung mehrheitlich ge-gen den Ausbau der Atomenergie, mehrere Länder be-treiben keine Atomkraftwerke, haben einen Ausstiegsbe-schluss oder haben die Atomfreiheit, wie es inÖsterreich der Fall ist, in der Verfassung fest verankert.Trotzdem aber werden sie alle über den Euratom-Vertragverpflichtet, Atomenergie weiterhin zu fördern.

Selbst Firmen wie Siemens überlegen inzwischen,aufgrund des hohen Risikos der Atomenergie aus derKernenergieforschung auszusteigen, auch hier fehlt esaufgrund des Euratom-Vertrages an politischer Unter-stützung.

Zum Zweiten stellt diese milliardenschwere Subven-tionierung der Atomenergie in Europa einen Skandal an-gesichts der Ereignisse allein der letzten Monate dar. DieNuklearkatastrophe von Fukushima, die Explosion imAtomkraftwerk Marcoule in Südfrankreich sowie dieFeststellung von erhöhten Strahlenwerten in Gorlebenhaben gezeigt, dass die Nutzung der Atomenergie eineimmense Gefahr für Mensch und Umwelt bedeutet unddass sie trotz dieser Milliardeninvestitionen und Subven-tionierungen keineswegs sicherer geworden ist.

Mit Blick auf die angeblichen Ambitionen der EU-Kommission und der Bundesrepublik Deutschland, eineEnergiewende hin zu erneuerbaren Energien vorantrei-ben zu wollen, gewinnt das Ganze eigentlich sarkasti-sche Züge. Denn es ist entlarvend, dass die EU seit Jahr-zehnten die größten Summen – und dies hat sich auchmit der Nuklearkatastrophe in Japan nicht geändert –nicht etwa in die Förderung der erneuerbaren Energiensteckt, sondern in das Euratom-Programm.

Und es ist auch entlarvend, dass die größten Summendes Euratom-Budgets nicht, wie offiziell behauptet wird,in den Strahlenschutz oder in die Verbesserung derSicherheitsstandards investiert werden, sondern in dieErforschung der Kernspaltung und besonders der Kern-fusion.

Ebenso wird die doppelgleisige Fahrt deutlich, indemdie Bundesregierung die Milliardenbürgschaft für den

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Bau des brasilianischen Atomkraftwerkes Angra 3 ver-längert hat und keine Ambitionen zeigt, aus dem Eura-tom-Vertrag auszutreten oder ihn wenigsten einmal zukritisieren, um damit einen am Ende sinnvollen Schritthin zur Energiewende möglich zu machen.

Auch dass SPD und Grüne, Letztere als angeblicheProtagonisten der Umweltpolitik, keine konsequente Ini-tiative gegen und Kritik am Euratom-Vertrag und somitan der EU-weiten Förderung der Atomenergie starten,zeigt ihre heuchlerische Haltung in Sachen Atomenergie.Denn die Aufrechterhaltung des Euratom-Vertrages ver-wässert und konterkariert den von der Bundesregierungund von SPD und Grünen gestützten „Ausstiegsbe-schluss“. Denn ein ernst gemeinter Atomausstieg ist nurohne Euratom möglich!

Die Milliarden Euro, die in Euratom fließen, hättenlängst für den Ausbau von erneuerbaren Energien unddie hierfür benötigte Forschung verwendet werden müs-sen. Dies hätte uns gewiss schon ein großes Stückweitergebracht. Dieses Geld ist dringend nötig, um eineumweltverträgliche, arbeitsmarktorientierte und verant-wortungsvolle Energieversorgung zu ermöglichen.

Die Linke fordert die Bundesregierung auf, sich fürdie Auflösung von Euratom und den Abschluss einesneuen europäischen Vertrages einzusetzen, auf dessenGrundlage eine alternative europäische Gemeinschaftzur Förderung von erneuerbaren Energien und Energie-einsparung eingerichtet wird. Die Linke fordert zudem,dass die Bundesregierung, solange die Auflösung vonEuratom noch nicht durchgesetzt werden konnte, eineInitiative für die Entflechtung der vertraglichen Grundla-gen der EU und von Euratom zu ergreifen und den Eura-tom-Vertrag einseitig zu kündigen.

Auf nationaler Ebene muss die Bundesregierung sichfür den vollständigen Atomausstieg bis 2014 einsetzenund den Atomausstieg im Grundgesetz verankern.Strompreise sollen sozial abgefedert, und die Marktauf-sicht soll wahrgenommen werden. Nicht zuletzt müssendie großen Energiekonzerne entmachtet und die Ener-giewende demokratisiert werden. Die Energiewende auf-grund neuer Technologien wird viele neue Arbeitsplätzeschaffen. Wir müssen diese Chance nutzen und eine de-zentrale und für alle Menschen bezahlbare Energiever-sorgung mit einer transparenten und demokratischenBürger- und Bürgerinnenbeteiligung, mit verbindlichenKonzepten für faire Übergangsstrategien, die die Arbeit-nehmerinteressen in den Vordergrund stellen, und mitUmschulungs- und Fortbildungsmaßnahmen endlich aufden Weg bringen.

Die vielen Mitgliedsländer der EU und ihre vielenBürgerinnen und Bürger, die sich inzwischen deutlichgegen die Nutzung der Atomkraft aussprechen, müssenin ihrer Meinung endlich politische und rechtliche Un-terstützung finden.

Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Der im breiten gesellschaftlichen Konsens und fraktions-übergreifend beschlossene Atomausstieg bringt

Deutschland nicht nur in die Vorreiterrolle für die um-weltverträgliche Energieversorgung. Es liegt auch im In-teresse Deutschlands, aus europäischer Verantwortungzum Motor bei der Neuausrichtung europäischer Ver-träge zu werden.

Der deutsche Wissenschafts- und Produktionsstandortprofitiert von der Weichenstellung hin zu einer an Nach-haltigkeitsgesichtspunkten ausgerichteten Industriepoli-tik. Deutsche Traditionsunternehmen, zum Beispiel Sie-mens, folgen bereits dem nun nach 2001 schon zumzweiten Mal eingeschlagenen Pfad des Atomausstiegsund ziehen sich aus dieser Risikotechnologie zurück.Das stärkt die Marktführerschaft im Sektor der erneuer-baren Energien und die Ausrichtung an den großen ge-sellschaftlichen Herausforderungen wie dem Klimawan-del und dem Schutz der natürlichen Ressourcen.

Ein praktisch seit 1957 unverändert bestehender Ver-trag, wie Euratom, entspricht nicht mehr den energie-politischen und gesellschaftlichen Anforderungen derheutigen Zeit. Heute gilt es, die Entwicklung und Förde-rung erneuerbarer Energien voranzutreiben, um so eineEnergieversorgung ohne unbeherrschbare Technologieri-siken sicherzustellen. Die Ausrichtung des Euratom-Ver-trages mit dem Ziel der „Entwicklung einer mächtigenKernindustrie“ ist heute ein Anachronismus, der drin-gend neu verhandelt gehört.

Nicht nur eine neue Risikobewertung führt zu dieserEinsicht, auch die Entsorgungsfrage ist nach wie vor un-gelöst. Heute sind wir uns der Verantwortung gegenübernachfolgenden Generationen durch die falsche Weichen-stellung der Kernenergienutzung weit mehr bewusst alsvor über einem halben Jahrhundert. Daher muss diedurch den Euratom-Vertrag festgeschriebene Sonderstel-lung der Atomenergie endlich abgeschafft werden. Ins-besondere sollen alle Passagen des Euratom-Vertragesgestrichen werden, die Investitionen, Forschungsförde-rung und Genehmigungsprivilegien der Atomkraft ein-schließlich der Kernfusion begünstigen.

Mit der Erklärung zur Schlussakte von Lissabon 2007hat auch die Bundesregierung auf die zeitgemäße Anpas-sung des Euratom-Vertrages gedrängt. Da ohnehin 12 der27 EU-Mitgliedstaaten keine Atomkraftwerke betreibenund sicherlich weitere Staaten dem Vorbild Deutsch-lands folgen, werden sich auf einer einzuberufendenRegierungskonferenz auch Mehrheiten für die grundle-gende Überarbeitung von Euratom finden. Sollte dieseNeuausrichtung auf europäischer Ebene nicht durchsetz-bar sein, fordern wir die Bundesregierung auf, denEuratom-Vertrag von deutscher Seite aus zu kündigen.

Jetzt gilt es, den europaweiten Ausstieg aus derAtomkraft vorzubereiten. Der Euratom-Vertrag steht da-bei grundsätzlich infrage und muss mit einem Enddatumversehen werden. Bei seinem Abschluss 1957 warEuratom auch ein Bekenntnis zur Gemeinschaft. Umdieses Bekenntnis zeitgemäß zu erneuern, fordern wirstatt Euratom die Schaffung einer Europäischen Ge-meinschaft für erneuerbare Energien.

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Anlage 13

Zu Protokoll gegebene Reden

zur Beratung:

– Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung derFinanzkraft der Kommunen

– Antrag: Wer bestellt, bezahlt – Konnexitätzugunsten der Kommunen im Grundgesetzverankern

– Antrag: Gemeindefinanzkommission ge-scheitert – Jetzt finanzschwache Kommunen– ohne Sozialabbau – nachhaltig aus derSchuldenspirale befreien

(Tagesordnungspunkt 15 a bis c)

Peter Götz (CDU/CSU): Heute ist ein guter Tagnicht nur für Europa, sondern auch für Städte, Gemein-den und Kreise in Deutschland.

Das Gesetz zur Stärkung der Finanzkraft der Kommu-nen, das wir in erster Lesung beraten, ist der Einstieg indie größte Entlastung der Kommunen seit Bestehen derBundesrepublik, und zwar ohne dass neue kostenträch-tige Aufgaben und sonstige Ausgabenpflichten übertra-gen werden.

Es steht im Kontext mit dem bereits beschlossenenBildungspaket. Zusammen gesehen entlastet der Bunddie Kommunen bis zum Jahr 2020 in einer Größenord-nung von mehr als 50 Milliarden Euro.

Dies reiht sich nahtlos in die kommunalfreundlichePolitik der CDU/CSU-geführten Bundesregierung ein.

Seit 2009 leisten wir in unterschiedlichsten Bereichenimmer wieder wichtige Beiträge zugunsten kommunalerKassen. Wir stärken so die Handlungsfähigkeit derStädte, Gemeinden und Kreise systematisch. So habenwir für die Kommunen durchgesetzt, dass sie die wichti-gen Investitionen des Konjunkturprogramms II einfacherumsetzen können; dass sie vom Wachstums- und Ar-beitsmarktimpuls seit 2010 profitieren; dass mit derHartz-IV-Organisationsreform das Prinzip der Hilfe auseiner Hand in eine verfassungsfeste Form überführtwurde; dass sich noch mehr Kreise und Städte auf eige-nen Wunsch hin selbstständig um Langzeitarbeitslosekümmern können; dass der Ausbau der Kinderbetreuungund die frühkindliche Sprachförderung mit zusätzlichenBundesmitteln massiv unterstützt werden; dass das Bil-dungspaket bei voller Kostenerstattung durch den Bundin kommunale Zuständigkeit überführt wurde; dass ih-nen zusätzlich drei Jahre lang 400 Millionen Euro fürSchulsozialarbeiter und Hortmittagessen zustehen; dasssich der Bund an den Hartz-IV-Unterkunftskosten mit ei-ner festen Quote an den tatsächlichen Kosten beteiligt –um nur einige Punkte zu nennen.

Heute beseitigen wir einen kommunalfeindlichen Aktder früheren rot-grünen Bundesregierung aus dem Jahr2003. Die Kommunalpolitiker in unserem Land wissenganz genau, wem sie die Kostenexplosion der vergange-nen Jahre im sozialen Bereich zu verdanken haben.

Gerhard Schröder und Rot-Grün hatten die Altersgrund-sicherung im Jahr 2003 eingeführt und auf die Kommu-nen übertragen, ohne für die notwendige Finanzierungzu sorgen. Seit ihrer Einführung haben sich die Kostender Grundsicherung verdreifacht. Sie belaufen sich zur-zeit auf jährlich 3,9 Milliarden Euro – mit dynamischsteigender Tendenz.

Von der Übernahme der Grundsicherung im Alterprofitieren verstärkt Kommunen mit strukturellen Pro-blemen und hoher Arbeitslosigkeit. Sie leiden besondersunter Finanzproblemen, weil sie in der Regel wenigeEinnahmen, dafür aber besonders hohe Sozialausgabenhaben.

Der Anteil der Menschen mit einer schwachen Er-werbsbiografie ist in den Kommunen mit hoher Arbeits-losigkeit besonders hoch. Das heißt, dort leben vieleMenschen, die auf die Grundsicherung im Alter ange-wiesen sind und damit die kommunalen Kassen überpro-portional mit besonders hoher Dynamik belasten.

Durch die Übernahme der Grundsicherung wird diekommunale Selbstverwaltung wieder möglich. DerDeutsche Städtetag kommentierte dazu beispielsweise:„Die drückende Last der Sozialausgaben wird sich da-durch auf Dauer spürbar verringern.“

Bereits im Koalitionsvertrag haben sich CDU, CSUund FDP auf rasche und nachhaltige Hilfe für Städte,Gemeinden und Kreise verständigt – obwohl nach derFinanzverfassung die angemessene Finanzausstattungder Kommunen in die Zuständigkeit der Länder fällt.Wichtig ist uns, dass am Ende des Tages die Bundesmit-tel tatsächlich vor Ort ankommen und nicht an den kleb-rigen Fingern der Länderfinanzminister hängen bleibenoder über den kommunalen Finanzausgleich der Länderwieder abgeschöpft werden. Ich rate deshalb den kom-munalen Spitzenverbänden, ob in NRW, Rheinland-Pfalz oder Baden-Württemberg: Schauen Sie in dennächsten Jahren besonders genau ihren Landesregierun-gen auf die Finger!

Wenn wir heute eine Debatte über die Kommunenführen, sollten wir uns auch anschauen, wie sich diekommunalen Investitionen entwickelt haben. Die Bilanzist eindeutig: Ein Teil des unter Rot-Grün in den Jahren1998 bis 2005 aufgebauten kommunalen Investitions-staus konnte unter unserer Führung aufgelöst werden. Inden Jahren der Finanzkrise 2009 und 2010 stammte jedersechste in den Kommunen investierte Euro aus den Mit-teln der Konjunkturpakete des Bundes. Allein 2010 be-deutete dies eine Steigerung der kommunalen Bauausga-ben um 10,5 Prozent auf 18,6 Milliarden Euro.

Ich fasse also zusammen:

Der wirtschaftliche Erfolg gibt Deutschlands Reform-politik recht. Die Politik hat die Weichen frühzeitig ge-stellt und gute Rahmenbedingungen geschaffen.

Noch vor Ausbruch der weltweiten Finanzmarkt- undWirtschaftskrise initiierten CDU und CSU die Moderni-sierung unserer bundesstaatlichen Ordnung.

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Mit der Föderalismusreform wurde die in den vergan-genen Jahrzehnten aufgebauschte Verflechtung vonBund und Ländern gestoppt.

Die Aufgabenzuweisung vom Bund an die Kommu-nen wurde ausgeschlossen, und so wurden die Kommu-nen nachhaltig geschützt. Das Staatswesen insgesamtwurde handlungsfähiger gemacht.

In einer zweiten Reform sicherte die unionsgeführteBundesregierung die langfristige Stabilität der Staatsfi-nanzen. Es gelang eine effektive Schuldenbegrenzungder öffentlichen Haushalte zu formulieren und diese imGrundgesetz einzumeißeln.

Heute gilt die deutsche Schuldenbremse europaweitals Vorbild für nachhaltige Stabilität und Generationen-gerechtigkeit. Sie wird zunehmend von anderen europäi-schen Ländern übernommen.

Die Koalition hat wichtige Ziele erreicht:

Der Arbeitsmarkt ist in der besten Verfassung seit derWiedervereinigung.

Die Zahl der Erwerbstätigen ist größer als je zuvor.Deutschland ist gestärkt aus der Krise hervorgegangen.

Als Träger der Sozialhilfe und der Unterkunftskostenvon Hartz IV profitieren die Kommunen von dieser posi-tiven Entwicklung ebenso wie von den kräftig steigen-den Einnahmen bei der Gewerbesteuer.

Kurzum, heute steht Deutschland sehr gut da! Und beider internationalen Diskussion um die Stabilität inEuropa schaut genau deshalb die ganze Welt auf uns.

Die Kommunen in Deutschland stehen trotzdem nochvor vielen gewaltigen Aufgaben. Diese reichen vomAusbau frühkindlicher Betreuung und Bildung über dieIntegration von Ausländerinnen und Ausländern bis zurBewältigung der demografischen Herausforderung.

Die städtebauliche Entwicklung und die Infrastrukturgilt es ebenso an die tatsächlichen Bedürfnisse der Men-schen anzupassen wie die örtlichen Strukturen zur Siche-rung der öffentlichen Daseinsvorsorge. Dazu gehörtübrigens auch die anstehende Novelle des Kreislaufwirt-schaftsgesetzes.

Nur mit starken Kommunen, die sich im Wettbewerblangfristig behaupten, kann in Deutschland Wohlstandgesichert werden. Wir vertrauen auf die Kraft und Leis-tungsfähigkeit unserer Gemeinden, unserer Städte undKreise. Wir wollen, dass die Menschen vor Ort ihre Hei-mat selbst gestalten können. Das Gesetz zur Stärkungder Finanzkraft der Kommunen ist dazu ein wichtigerBeitrag des Bundes.

Lassen Sie uns diesen Weg gemeinsam fortsetzen!

Gabriele Hiller-Ohm (SPD): Es ist ganz wichtig,dass wir Lösungen zur Stärkung der Finanzkraft derStädte und Gemeinden finden. Es darf nicht sein, dassKommunen ihre Aufgaben zur Daseinsvorsorge für dieBürgerinnen und Bürger nicht mehr erbringen können,weil ihre Kassen leergespült sind.

Wir können uns ein Gemeinwesen, das immer stärkerausblutet, nicht leisten. Deshalb haben wir uns im Ver-mittlungsausschuss zur Reform der Regelsätze im Januarund Februar dieses Jahres auch für die Kommunen starkgemacht. Wir haben durchgesetzt, dass die Grundsiche-rung im Alter vom Bund übernommen wird. Bisher zah-len dies zum größten Teil die Kommunen. Es hat mit denLändern eine Vereinbarung gegeben, wie dies umgesetztwerden soll. Man hat sich auf drei Stufen beginnend ab2012 mit einer Entlastung ab 2014 von 4,4 MilliardenEuro pro Jahr verständigt.

Heute liegt uns nun der Gesetzentwurf der Ministerinvor. Man staune: Wir finden im Gesetz nur die Absiche-rung der ersten der insgesamt vereinbarten drei Stufen ab2012 mit einem Volumen von 1,2 Milliarden Euro. Alsomich wundert es nicht, dass die Kommunen von diesemGesetzentwurf enttäuscht sind. Ich bin es im Übrigenauch.

Im Begründungsteil des Gesetzentwurfs finden wirdann den Hinweis, warum zurzeit nur der erste Schrittmöglich sei und die vereinbarte Anhebung der Bundes-beteiligung – also die Stufen zwei und drei –, ich zitiere,„einem weiteren Gesetzgebungsverfahren vorbehaltenbleibt“, das allerdings erst im Laufe des Jahres 2012 er-folgen könne. Überzeugend ist diese Begründung nicht.

Warum, so frage ich Sie, Frau Ministerin von derLeyen, haben Sie nicht frühzeitiger mit der Arbeit be-gonnen und rechtzeitig Ihre Hausaufgaben gemacht? DieEinigung im Vermittlungsausschuss liegt doch schon sie-ben Monate zurück.

Schwarz-Gelb verunsichert mit dem jetzt vorgelegtenGesetzentwurf die Kommunen und bringt sie um diedringend notwendige Planungssicherheit. Nach der Eini-gung im Vermittlungsausschuss haben die Kommunen,der Deutsche Städtetag und natürlich auch die Länder zuRecht erwartet, dass die Regelung der vereinbartenÜbernahme der Grundsicherung in einem Gesetzge-bungsakt erfolgt. Der Bundesrat hat sich dazu klar posi-tioniert – auch CDU-geführte Länder wollen das ganzgenau so.

Der Gesetzentwurf führt aber auch noch an einer wei-teren Stelle zur Verunsicherung. Wie soll die Kosten-erstattung gegenüber den Kommunen aussehen? DieKommunen haben sich darauf verlassen, dass die tat-sächlich anfallenden Kosten der Grundsicherung wieverabredet in 2012 zu 45 Prozent, in 2013 zu 75 Prozentund dann ab 2014 zu 100 Prozent übernommen werden.

Der Gesetzentwurf sieht jetzt jedoch vor, dass nichtdie jeweils aktuellen Ausgaben, sondern lediglich diedes Vorvorjahres als Berechnungsbasis gelten sollen. DieStädte und Gemeinden müssen also die Kostensteigerun-gen von zwei Jahren selbst tragen. Für Berlin wären dasbeispielsweise 40 Millionen Euro. Ich kann die Enttäu-schung der Kommunen darüber verstehen und wäre anihrer Stelle auch misstrauisch.

Wichtig ist, dass es rasch zu einer Einigung mit denLändern kommt, denn der Gesetzentwurf braucht nichtnur die Zustimmung im Bundestag, sondern auch denSegen des Bundesrates.

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Die Entlastung bei der Grundsicherung im Alter istfür die Kommunen von großer Bedeutung: Im Jahr ihrerEinführung, 2003, bezogen etwa 439 000 Personen dieseLeistung und bis zu den letzten verfügbaren bundeswei-ten Daten 2009 stieg die Zahl fast kontinuierlich aufknapp 764 000 an. Dementsprechend steigerten sichauch die Ausgaben von 1,45 Milliarden Euro im Jahr2003 auf über 4 Milliarden Euro für 2009.

In einer Stadt wie Lübeck, aus der ich komme, mit gut210 000 Einwohnern wuchsen die Kosten kontinuierlichvon rund 18 Millionen Euro im Jahr 2006 an, und siewerden dieses Jahr etwa 24 Millionen Euro erreichen.Abzüglich der bisherigen Erstattungen durch Bund undLand würde die Kostenübernahme durch den Bund fürmeine Hansestadt eine Entlastung von knapp 15 Millio-nen Euro jährlich bedeuten. Das ist ein toller Erfolg, denwir im Vermittlungsausschuss ausgehandelt haben. Al-lerdings werden aufgrund der von der Ministerin ge-wählten Abrechnungsbasis auch meiner Stadt 2 Millio-nen Euro fehlen.

Die Ausgaben für die Grundsicherung im Alter wer-den sich durch die demografische Entwicklung weitererhöhen. In meinem Wahlkreis wird von jährlichen Stei-gerungen von bis zu 5 Prozent ausgegangen. In anderenStädten wird es ähnlich aussehen.

Was können wir tun, um die Kosten der Grundsiche-rung im Alter nicht aus dem Ruder laufen zu lassen –ganz egal, wer sie zahlt? Die Antwort ist eigentlich rechteinfach: Liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU und FDP, machen Sie endlich eine Politik, die denMenschen hilft, gute Arbeit zu finden und faire, mindes-tens existenzsichernde Löhne zu erzielen; denn dannsind sie im Alter nicht auf Grundsicherung durch denStaat angewiesen. Stimmen Sie endlich einem gesetzli-chen Mindestlohn zu. Sorgen Sie dafür, dass Menschennicht mehr von einem befristeten Arbeitsverhältnis insnächste geschoben werden. Stellen Sie gleichen Lohnfür gleiche Arbeit sicher. Legen Sie den Niedriglohnsek-tor trocken.

Frauen sind überproportional von Grundsicherung imAlter betroffen, weil sie trotz guter Bildungsabschlüssemit miesen Jobs und unfairen Löhnen abgespeist wer-den. Frauen im Westen Deutschlands erhalten nur einehalb so hohe Rente wie die Männer. Das ist eine sozialeSchieflage, die sich unsere Gesellschaft nicht leistendarf. Handeln Sie endlich, und verbessern Sie die Chan-cen von Frauen auf dem Arbeitsmarkt.

Ich fürchte, wir haben nicht viel in dieser Richtungvon Ihnen zu erwarten. Statt die Chance sinkender Ar-beitslosigkeit zu nutzen, um Menschen wirksam zu hel-fen, die es auf dem Arbeitsmarkt trotzdem weiterhinschwer haben, streichen Sie die arbeitsmarktpolitischenInstrumente planlos zusammen und sparen so an denÄrmsten in unserer Gesellschaft.

Das ist der falsche Weg.

Wir werden dies ändern – spätestens 2013.

Kirsten Lühmann (SPD): Wir beraten heute in ers-ter Lesung über den Entwurf eines Gesetzes zur Stär-kung der Finanzkraft der Kommunen. Das ist ein starker

Name für ein längst überfälliges Vorhaben, ein Vorha-ben, das die Länder im Vermittlungsausschuss nach zä-hen Verhandlungen mit dem Bund erstritten haben. Einstarker Name, in der Tat. Aber das ist leider auch alles,was dieser Gesetzentwurf zu bieten hat.

Meine Kollegin Frau Hiller-Ohm hat es bereits aufge-zeigt. Aber lassen Sie mich den Sachverhalt trotzdemnoch einmal kurz zusammenfassen: Mit der Einigung imVermittlungsausschuss zum SGB II Anfang 2011 istauch vereinbart worden, dass der Bund schrittweise undab 2014 vollständig die Grundsicherung im Alter über-nimmt. Ziel ist es, damit die Kommunen von Sozialaus-gaben zu entlasten. Diese Vereinbarung ist durch dieBundesregierung in der abschließenden Sitzung der Ge-meindefinanzkommission Mitte Juni 2011 noch einmalausdrücklich bestätigt worden. Das jetzt angelaufeneGesetzgebungsverfahren zu der Umsetzung der Verein-barung lässt allerdings erhebliche Zweifel aufkommen,ob die Bundesregierung überhaupt eine vollständige Ent-lastung der Kommunen vornehmen will; denn der vorlie-gende Gesetzentwurf der Bundesregierung beinhaltetnur die Anhebung der quotalen Beteiligung des Bundesan den Kosten der Grundsicherung auf 45 Prozent in2012.

Dies ist jedoch nur die erste Stufe der Vereinbarung.Die Bundesregierung vertritt die Auffassung, dass dieweiteren Schritte erst einer umfassenden Abstimmungmit den Ländern und den Kommunalen Spitzenverbän-den bedürften.

Das, meine Damen und Herren, ist jedoch nur einSpiel auf Zeit, ein Spiel auf Zeit zulasten der Kommunenund damit auch ein Spiel auf Zeit zulasten der Bürgerin-nen und Bürger, denn die Kommunen können ihren um-fassenden Aufgaben und Verpflichtungen gegenüber denBürgerinnen und Bürgern nur dann gerecht werden,wenn ihre finanzielle Leistungsfähigkeit mittel- undlangfristig gesichert ist und die Kommunen damit hand-lungsfähig bleiben.

Die finanzielle Lage der Kommunen ist ohnehin dra-matisch. Der summierte Finanzierungssaldo der Jahre2009 bis 2011 beläuft sich nach Schätzung der Bundes-vereinigung der Kommunalen Spitzenverbände auf23 Milliarden Euro. Allein 2011 beliefen sich die Kostenfür die Kommunen, insbesondere durch weiter steigendeSozialausgaben, auf über 42 Milliarden Euro. Aber auchdurch eine stetige Ausweitung von bereits bestehendenAufgaben durch die Bundesgesetzgebung wird die finan-zielle Notlage der Kommunen stetig verschärft. DerBundesregierung scheint dies aber völlig gleichgültig zusein. Sie setzt sogar noch an überaus erfolgreiche Pro-gramme wie beispielsweise die „Soziale Stadt“ gnaden-los den Rotstift an. Durch dieses verantwortungsloseHandeln entwickelt sich die Krise der Kommunen zuse-hends zu einer großen Strukturkrise.

Die Bundesregierung scheint dies jedoch noch nichtim Ansatz realisiert zu haben. Im Gegenteil: Sie scheintsogar der Auffassung zu sein, sie habe mit der Über-nahme der Kosten der Grundsicherung im Alter ein All-heilmittel in der Hand, welches sie vor jeglicher finan-zieller Verantwortung gegenüber den Kommunen

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schütze. Ganz gleich, um welche finanziellen Vorhabenoder Kosten zulasten der Kommunen es geht, die Bun-desregierung bezieht sich gebetsmühlenartig auf dieKostenübernahme der Grundsicherung im Alter.

Man bekommt gar den Eindruck, diese Maßnahme seifür die Bundesregierung ein Dukatenesel, mit dem siedas Land bereist und jede zukünftige Mehrbelastung beiden Kommunen bezahlen kann.

Ein jeder, der die Grundrechenarten auch nur halb-wegs beherrscht, wird erkennen können, dass dieseRechnung vorne und hinten nicht aufgeht. Schlimmernoch: Die Bundesregierung erweckt dadurch den Ein-druck, sie würde mit der Übernahme der Kosten derGrundsicherung im Alter in Vorleistung treten. Das Ge-genteil ist jedoch der Fall: Dies ist eine längst überfälligeNachleistung, die in der jetzigen Form bei weitem nichtausreicht, um die in Zukunft für die Kommunen entste-henden Kosten zu decken.

Was die Bundesregierung überdies überhaupt nichtauf der Rechnung hat, sind die Befürchtungen der Kom-munen, dass die vom Bund zu erstattenden Kosten nichtvollständig oder nur unter Bedingungen an die Kommu-nen weitergegeben werden. Hier muss der Bund drin-gend handeln und mit den Ländern in den Dialog treten.

Lassen Sie mich abschließend sagen: Ein Gesetz zurStärkung der Finanzkraft wäre dringend geboten und er-forderlich. Die uns vorliegende Drucksache ist ein ersterSchritt in diese Richtung, nicht mehr, aber auch nichtweniger. In den kommenden parlamentarischen Beratun-gen wird noch einiges zu klären sein, damit dieses Ge-setz seinem eigenen Anspruch annähernd gerecht wird.

Pascal Kober (FDP): Mit dem heute eingebrachtenGesetz zur Stärkung der Finanzkraft der Kommunenvollziehen wir einen weiteren Schritt bei der Umsetzungdes Vermittlungsergebnisses der Hartz-IV-Verhandlun-gen aus dem Februar dieses Jahres. Mit dem Gesetzbeschließen wir den ersten Schritt zur Erhöhung derBundesbeteiligung an den Nettoausgaben in der Grund-sicherung im Alter und bei Erwerbsminderung.

Die Gemeindefinanzkommission hat in ihrer Sitzungam 15. Juni dieses Jahres das Ergebnis des Vermittlungs-verfahrens einvernehmlich begrüßt. Es sorgt dafür, dassdie Kommunen allein im Zeitraum zwischen 2012 und2015 um voraussichtlich mehr als 12 Milliarden Euroentlastet werden. Noch nie wurden die Kommunen aufeinen Schlag so stark entlastet. Obwohl die angemesseneFinanzausstattung der Kommunen in der Zuständigkeitder Länder liegt, leistet der Bund mit der Kostenüber-nahme einen gewaltigen Beitrag zur Stärkung der Kom-munalfinanzen.

Die Kostenübernahme für die Grundsicherung im Al-ter ab dem Jahr 2013 werden wir nach Klärung aller of-fenen Fragen mit den Ländern in einem eigenständigenweiteren Gesetzgebungsverfahren angehen. Es steht aberaußer Frage, dass es zur Übernahme der Kosten derGrundsicherung im Alter kommen wird. Es gibt abernoch Gesprächsbedarf über das Wie der Ausgestaltung.

Ab dem Jahr 2013 treten wir durch die Kostenüber-nahme in eine Bundesauftragsverwaltung ein, da derBund über 50 Prozent der Kosten übernimmt. Dies erfor-dert eine Vielzahl von Rechtsänderungen sowie eineVerankerung von Prüf- und Weisungsrechten des Bun-des.

Da die Ausgaben für die Grundsicherung trotz der indie richtige Richtung gehenden Vorhaben von Dr. Ursulavon der Leyen im Rahmen des Rentendialogs im Alterkünftig wohl weiter steigen werden, ist mit der Kosten-übernahme auch für eine nachhaltige Entlastung derkommunalen Finanzen gesorgt.

Zudem können wir auch aufgrund einer erfolgreichenWirtschafts-, Steuer- und Finanzpolitik dieser schwarz-gelben Bundesregierung positive Zahlen bei den Kom-munalfinanzen feststellen. So lag das Defizit der Kom-munen in den ersten sechs Monaten dieses Jahres nurnoch bei 4,8 Milliarden Euro und damit um 3,5 Milliar-den Euro niedriger als im letzten Jahr. Das StatistischeBundesamt führt dies vor allem auf eine Steigerung derEinnahmen um 7,4 Prozentpunkte zurück.

Die Steigerung ist vor allem auf ein Plus von12,8 Prozent bei den Steuereinnahmen zurückzuführen.Sie machen innerhalb des Einnahmeplus den größtenTeil aus. Dies ist vor allem durch die Gewerbesteuer be-dingt und damit sehr konjunkturabhängig. Leider konn-ten die Kommunen im Rahmen der Gemeindefinanz-kommission nicht davon abgebracht werden, an derGewerbesteuer festzuhalten.

Die FDP hätte die Einnahmen der Kommunen gernekonjunkturunabhängiger und damit auch nachhaltigergestaltet. So kann ich schon jetzt vorhersagen, dass wirin der nächsten konjunkturellen Flaute wieder vermehrtKlagen aus den Kommunen über zu geringe Mittel hörenwerden. Sollte es dann wieder Initiativen geben, dassauch Freiberufler Gewerbesteuer zahlen sollen, wie diesheute auch wieder im Antrag der Grünen gefordert wird,werden wir dies entschieden ablehnen. Freiberufler sindeine wesentliche Säule der deutschen Wirtschaft undschaffen eine Vielzahl von Arbeitsplätzen. Sie tun diesunter persönlicher Haftung und leisten mit ihrer Eigen-verantwortung einen enormen gesellschaftlichen Bei-trag, der unsere Anerkennung verdient.

Die Einführung der Gewerbesteuer, wie sie Ihnenvorschwebt, würde zu einer zusätzlichen steuerlichenBelastung für Selbstständige führen, was wiederum fürBürgerinnen und Bürger zu Preissteigerungen führenwürde, die entweder direkt oder durch höhere indirekteKosten zum Beispiel im Gesundheitswesen und danndurch höhere Sozialversicherungsbeiträge durchschla-gen würden.

Sie von Bündnis 90/Die Grünen kritisieren die Steuer-senkungsabsichten der Koalition. Dabei sind Sie dochdie größte Steuersenkungspartei in der jüngeren Ge-schichte der Bundesrepublik Deutschland. Sie haben inIhrer Regierungszeit die Steuern in einem Volumen von32 Milliarden Euro gesenkt.

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Ziel der FDP bleibt eine nachhaltige, solide Finanzie-rung der Kommunalfinanzen. Einen ersten Schritt schaf-fen wir mit diesem Gesetz.

Katrin Kunert (DIE LINKE): Die Entlastung derKommunen ist der Koalition so wichtig, dass sie dieerste Lesung des „Gesetzentwurfs zur Stärkung der Fi-nanzkraft der Kommunen“ an das Ende der heutigen Sit-zung platziert hat.

Am 15. Juni 2011 hat die Gemeindefinanzkommis-sion ihre Arbeit eingestellt. Nach mehr als einem Jahrhat sie ihr klägliches Laienspiel beendet. Positiv schlägtzu Buche, dass Schwarz-Gelb mit dem Versuch geschei-tert ist, die Gewerbesteuer abzuschaffen. Negativ ist,dass sich an der Finanznot vieler Kommunen nichts än-dert wird. Hier hat die Gemeindefinanzkommission ver-sagt.

Die Reform der Gemeindefinanzen bleibt auf der Ta-gesordnung. Die Finanznot der Kommunen kann mannur lindern, indem man sie stärker am Gesamtsteuerauf-kommen beteiligt und indem man die Einnahmen aus derGewerbesteuer stabilisiert und sie in Form einer Ge-meindewirtschaftsteuer verlässlicher gestaltet. Die Linkewird hierzu auch weiterhin initiativ werden. Wir werdenauch alle Initiativen im Bundestag unterstützen, die einewirkliche Stärkung der Finanzkraft der Kommunen zumZiel haben.

Einziges Ergebnis der Gemeindefinanzkommissionim Bereich Finanzen ist die Entlastung der Kommunenbei der Grundsicherung im Alter. Die Bundesregierunghat erklärt, die Kosten hierfür schrittweise und ab 2014ganz zu übernehmen. Sicher wäre dies zu begrüßen,wenn nicht andere Entscheidungen dies ins Gegenteilverkehren würden.

Anmaßend und zynisch finde ich es, den uns vorlie-genden Gesetzentwurf „Gesetz zur Stärkung der Finanz-kraft der Kommunen“ zu nennen. Zur Stärkung der derFinanzkraft der Kommunen gehört mehr als eine Entlas-tung der Kommunen im Bereich der Grundsicherung imAlter und bei Erwerbsminderung.

Außerdem werden im gleichen Atemzug die Kommu-nen an anderer Stelle wieder belastet und ein Teil derMittel – 400 Millionen Euro – mit dem Gesetzentwurfbereits verplant.

Die Übernahme der Kosten für die Grundsicherungim Alter und bei Erwerbsminderung soll durch eine dras-tische Reduzierung der Bundesbeteiligung an der Ar-beitsförderung refinanziert werden. Dadurch werden we-niger Mittel für die aktive Arbeitsmarktpolitik zurVerfügung stehen, was zulasten von Arbeits- und Er-werbslosen geht.

Die Kommunen brauchen zwar dringend eine Entlas-tung bei den Sozialausgaben, dies muss aber geschehen,ohne dass es gleichzeitig an anderer Stelle zu entspre-chenden Kürzungen kommt. Sowohl die Grundsiche-rung im Alter als auch die Arbeitsmarktinstrumente die-nen der Absicherung allgemeiner Lebensrisiken, für dienicht die Kommunen, sondern die Bundesregierung zu-

ständig sind. Die Kommunen sind nur für die örtlichenRisiken und deren Lösung zuständig.

Die Bundesregierung erwartet, dass die Kommunendie frei werdenden Mittel für eine dauerhafte Finanzie-rung des Mittagessens in Schulhorten oder für Schulso-zialarbeit einsetzen. Das ist ein Eingriff in die kommu-nale Selbstverwaltung, den Die Linke nicht mittragenwird.

Darüber hinaus ignoriert der Gesetzentwurf auchschwerwiegende Kritikpunkte der kommunalen Spitzen-verbände und des Bundesrates. Ich möchte an dieserStelle auf drei Punkte eingehen.

Erstens. Es ist nach wie vor offen, wie sichergestelltwerden soll, dass das Geld bei den Kommunen vollstän-dig ankommt. Die Kommunen haben hier bereits leid-volle Erfahrung gemacht. Die Länder haben in der Ver-gangenheit Mittel des Bundes für die Kommunen nichtoder nicht ausreichend weitergeleitet. Der Forderung derKommunen, hier eindeutige Regelungen zu schaffen,sind Sie von der Bundesregierung nicht nachgekommen.Das aber ist Voraussetzung dafür, dass die Kommunenwirklich entlastet werden. Ich fordere Sie daher auf, diesumgehend nachzuholen.

Zweitens. Bisher sollen der Berechnung der Bundes-beteiligung nicht die tatsächlichen Ausgaben der Länderund Kommunen für die Grundsicherung im Alter und beiErwerbsminderung zugrundegelegt werden. Berech-nungsgrundlage sollen die Ausgaben im jeweiligen Vor-vorjahr sein. Das aber bedeutet, dass Länder und Kom-munen den Anstieg der Ausgaben im laufenden Jahr imVergleich zum Vorjahr selbst finanzieren müssen. Damitentsteht für sie ein dauerhafter Fehlbetrag. Allein an die-ser Regelung wird deutlich, wie ernst Sie es meinen mitder Entlastung der Kommunen.

Drittens. Der Referentenentwurf des BMAS vom6. Juni 2011 regelte noch die Kostenübernahme für dieJahre 2012, 2013 und 2014. Der nun vorliegende Gesetz-entwurf regelt nur die Kostenübernahme für 2012. Dieweiteren Steigerungsschritte sollen später geregelt wer-den. Die Begründung der Bundesregierung dafür lautet,ich zitiere aus der Gegenäußerung der Bundesregierungzur Stellungnahme des Bundesrates: „Die Erhöhungs-schritte für die Jahre 2013 (auf 75 Prozent) und 2014(auf 100 Prozent) bleiben einem gesonderten Gesetzge-bungsverfahren vorbehalten, weil aufgrund des Errei-chens und Überschreitens eines hälftigen Anteils derBundesmittel an den Nettoausgaben für die Grundsiche-rung im Alter und bei Erwerbsminderung ab dem Jahr2013 nach Art. 104 a Abs. 3 Satz 2 des GrundgesetzesBundesauftragsverwaltung eintritt. Da die Erhöhung derBundesbeteiligung für das Jahr 2012 bis zum Jahresende2011 beschlossen werden muss, steht im vorliegendenGesetzgebungsverfahren nicht ausreichend Zeit zur Re-gelung der Umsetzung der Bundesauftragsverwaltungzur Verfügung.“

Liebe Bundesregierung, das wussten Sie bereits imFebruar. Es war also genügend Zeit, um diese Änderun-gen mit dem heutigen Gesetzentwurf vorzulegen. Ichmeine, dass Sie sich mit der jetzigen Regelung eine Hin-

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tertür offen lassen wollen. Möglicherweise wollen SieIhre Entscheidung noch einmal überdenken? Ich kannIhnen versprechen, die Linke wird sehr genau hin-schauen und darauf drängen, damit Sie Ihrer Verantwor-tung nachkommen.

Sollte sich an dem Gesetzentwurf nichts ändern, wirdmeine Fraktion dieses Gesetz ablehnen. Es ist nicht nurmit großen Mängeln behaftet, es ist auch ein vergiftetesGeschenk an die Kommunen.

Auch wenn sich die Einnahmen aus der Gewerbe-steuer nach dem krisenbedingten Einbruch insgesamtwieder erholen, gibt es keinen Grund zur Entwarnung.Die Entlastung der Kommunen – auch das sei an dieserStelle gesagt –, die nur einem Teil der Kommunen zugu-tekommt, ist keine befriedigende Lösung. Die Kosten fürdie Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderungmachen nur 10 Prozent der gesamten Sozialausgabenaus.

Das strukturelle Defizit wird nicht beseitigt. Und dasProblem, dass Bund und Länder ständig neue Aufgabenauf die Kommunen übertragen und dafür nur unzurei-chend Mittel zur Verfügung stellen, wird auch nicht ge-löst.

Der Bund kann zwar nicht mehr auf direktem Wegeden Kommunen Aufgaben übertragen. Dieser Weg istdem Bund seit der Föderalismusreform verwehrt. Aberer hat die Möglichkeit, über die Länder den Kommunenneue Aufgaben zu übertragen und bereits übertrageneAufgaben qualitativ und quantitativ zu erweitern. Unddavon macht er zur Genüge Gebrauch.

Ein aktuelles Beispiel: Am 26. September 2011 fandeine Anhörung zum Gesetzentwurf der Bundesregierungzur Stärkung des Schutzes von Kindern und Jugendli-chen statt. Das Anliegen des Gesetzes ist sicher zu be-grüßen. Was nicht zu begrüßen ist, ist, dass wieder ein-mal versucht wird, neue Aufgaben über die Länder aufdie Kommunen zu übertragen bzw. bestehende zu erwei-tern, ohne sie auskömmlich zu finanzieren. Die Kommu-nen erhalten dafür nicht die Mittel, die notwendig wären,um die Aufgaben in der entsprechenden Qualität zu er-füllen.

Ich zitiere aus der Stellungnahme der kommunalenSpitzenverbände zum Gesetzentwurf: „Der vorliegendeGesetzentwurf beinhaltet … einige ganz wesentlicheAufgabenverdichtungen und ebenso einige ganz grund-sätzliche neue Aufgaben der Jugendhilfe. Hierzu erfolgteine nicht nachvollziehbare Kosteneinschätzung seitensdes BMFSFJ, dessen Auskömmlichkeit vor dem Hinter-grund des Umfangs der mit dem Gesetzentwurf verbun-denen Aufgaben grundlegend bezweifelt wird. … Nebender Auskömmlichkeit dieser Mittel steht hier zu befürch-ten, dass nach Auslaufen der befristeten Bundesfinanzie-rung eine kommunale Verstetigung erwartet wird.“

Weitere Beispiele sind: Änderungen im Vormund-schafts- und Betreuungsrecht, im Eichwesen, die Einfüh-rung des elektronischen Aufenthaltstitels und die Ein-führung des elektronischen Personalausweises haben zurErweiterung der Aufgaben geführt, ohne dass die dafürnotwendigen Mittel bereitgestellt worden wären.

Die Bundesregierung muss endlich begreifen, dassauch für sie gilt: Wer die Musik bestellt, muss zahlen.

Die Einführung eines Konnexitätsprinzips dürfte ei-gentlich in diesem Hause auf breite Zustimmung stoßen.Es ist nicht nur unsere Auffassung, auch Bündnis 90/DieGrünen und SPD erheben diese Forderung.

Und selbst die FDP hatte in der letzten Wahlperiodeimmer wieder die Einführung eines Konnexitätsprinzipsgefordert. Sie haben nicht nur einen Antrag zur Einfüh-rung eines Konnexitätsprinzips eingebracht, sondernauch jede sich bietende Möglichkeit genutzt, dies zu for-dern. Insbesondere Frau Piltz hat zum Beispiel am29. August 2007 im Zusammenhang mit dem Kitaaus-bau erklärt: „Das Hickhack um die Finanzierung zeigteinmal mehr, dass es ein kapitaler Fehler war, im Rah-men der Föderalismusreform kein Konnexitätsprinzip imGrundgesetz zu verankern. Wenn sich bei einer gesamt-gesellschaftlichen Aufgabe wie der Kindertagesbetreu-ung eigentlich alle einig sind, dass etwas getan werdenmuss, ist es unverantwortlich, dass die Kostentragungnicht schnell und unkompliziert geklärt werden kann.Die FDP wird sich daher weiterhin für die Verankerungdes Grundsatzes ‚Wer bestellt, bezahlt‘ im Grundgesetzeinsetzen.“

Ich bin gespannt, wie die FDP sich zu unserem An-trag verhalten wird.

Die Einführung eines Konnexitätsprinzips im Grund-gesetz ist dringender denn je. Es schützt die Kommunenvor Mehrbelastungen und eröffnet ihnen die Möglich-keit, gegen den Bund – wenn erforderlich – auch gericht-lich vorzugehen. Bisher können durch den Bund ausge-löste Aufgabenübertragungen von den Kommunen nichtauf dem direkten Rechtsweg angegriffen werden.

Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Wir diskutieren heute einen Gesetzentwurf, mit dem dieBundesbeteiligung an der Grundsicherung im Alter undbei Erwerbsunfähigkeit neu geregelt werden soll. Diesefinanzielle Unterstützung seitens des Bundes ist bereitsim Februar im Zuge des Hartz-IV-Kompromisses verein-bart worden. Sie ist für die strukturell unterfinanziertenKommunen eine dringend notwendige Maßnahme, wer-den doch ausweislich des Gemeindefinanzberichtes dieAusgaben der Kommunen für soziale Leistungen alleinin diesem Jahr von 42 Milliarden Euro auf 45 MilliardenEuro steigen. Zehn Jahre zuvor waren es noch 26 Mil-liarden Euro. Die Kostenentwicklung bei den sozialenPflichtleistungen ist mithin dramatisch.

Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen von Unionund FDP, sind im Februar durch die Lande gezogen undhaben den Kommunen eine Entlastung von rund 4 Mil-liarden Euro ab dem Jahr 2014 versprochen. Dabei ha-ben Sie nicht erwähnt, dass Sie von den Kommunen imGegenzug verlangen, dass sie ab diesem Jahr auch dasim Hartz-IV-Kompromiss vereinbarte Hortessen und dieAusgaben für die Einstellung von 3 000 Schulsozialar-beiterinnen und -arbeitern finanzieren sollen. Jedenfallsversuchen Sie nun, im Gesetzentwurf durch die Hinter-tür eine Zweckbindung zu erreichen, indem Sie in der

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Begründung erwähnen, dass die Kommunen nun auchgenügend Mittel zur Übernahme dieser Kosten hätten.

Für die Bürgerinnen und Bürger in den Gemeinden istes kein gutes Signal, dass Sie die Vereinbarung zurGrundsicherung im Alter aus dem Vermittlungsverfah-ren zu Hartz IV auch im Schlussbericht der Gemeinde-kommission abfeiern mussten, damit Sie dort überhauptein Ergebnis zu vermelden haben, nachdem Sie mit Ih-rem Projekt, die Gewerbesteuer abzuschaffen, zumGlück gescheitert sind. Damit hätten Sie die Gemeinde-finanzen weiter geschwächt.

Jetzt, da Sie die Chance haben, Ihre Versprechen ein-zulösen, regeln Sie mit dem Gesetzentwurf nur den ers-ten Schritt der vereinbarten Entlastung: die Erhöhungdes Bundesanteils von 16 auf 45 Prozent im Jahr 2012.Die Kommunen, die in 2011 trotz besserer Steuereinnah-men immer noch ein Defizit von 5 Milliarden Euro aus-weisen, brauchen jetzt dringend ein Zeichen für Pla-nungssicherheit.

Warum säen Sie jetzt Zweifel, dass Sie auch gewilltsind, sich ernsthaft an Ihre Zusagen, nämlich 75 Prozentin 2013 und 100 Prozent in 2014 zu übernehmen, zu hal-ten? Die Begründung im Gesetzentwurf, dass die Umset-zung der weiteren Schritte daran scheitere, dass es zu ei-ner Bundesauftragsverwaltung käme, greift nicht. DieBundesregierung hatte seit Februar dieses Jahres, als derHartz-IV-Kompromiss besiegelt wurde, Gelegenheit, einAbstimmungsverfahren mit den Ländern und den kom-munalen Spitzenverbänden dazu einzuleiten.

Auch der Bundesrat sieht in seiner Stellungnahmevom 23. September 2011 offenbar kein Problem darin,alle vereinbarten Schritte sofort in diesem Gesetzentwurfumzusetzen. Es gibt also keinen sachlichen Grund, dasVersprechen, die Grundsicherung im Alter ab 2014 voll-ständig zu übernehmen, jetzt auch gesetzlich umzuset-zen.

Offenbar wollen Sie die Ausgaben für die Grund-sicherung auch nicht eins zu eins an die Kommunen wei-terleiten. Der Gesetzentwurf sieht eine Kostenerstattungauf Basis der tatsächlichen Ausgaben des Vorvorjahresvor. Anstatt eine Spitzabrechnung vorzunehmen, schie-ben Sie den Kommunen die Last der Vorfinanzierungvon zwei Jahren zu. Vor dem Hintergrund von jährlichenSteigerungsraten von 7 Prozent enthalten Sie Kommu-nen damit eine halbe Milliarde Euro vor. Das ist nichttrivial. Einer Stadt wie Bielefeld, die heute rund 19 Mil-lionen Euro für die Grundsicherung ausgibt, fehlen da-durch 2,7 Millionen Euro. Damit ließe sich kommunaleine Menge auf die Beine stellen oder so manches Haus-haltsloch stopfen.

Wenn Sie schon nicht in der Lage sind, mit der vonIhnen eingerichteten Gemeindefinanzkommission dieEinnahmen der Kommunen, insbesondere durch Refor-men der Gewerbe- und der Grundsteuer, zu stärken undzu stabilisieren, sollten Sie wenigstens das einzig nen-nenswerte Resultat dieser Kommission vollständig um-setzen. Statt mit Trickspielen die Abrechnungen zuguns-ten des Bundes zu schönen, sollten Sie den Bürgerinnenund Bürgern vor Ort in den Städten und Gemeinden zei-gen, dass Sie es ernst meinen mit Ihrem Versprechen, die

Gemeinden von den wachsenden Belastungen aus derGrundsicherung im Alter zu entlasten.

Angesichts dramatischer Haushaltsnotlagen, insbe-sondere bei Gemeinden in strukturschwachen Gebieten,kann die Übernahme der Grundsicherung im Alter nurein erster Schritt zur Stärkung der Kommunalfinanzensein. Die Länder machen sich inzwischen auf, Entschul-dungsprogramme für ihre Kommunen in Haushaltsnotla-gen umzusetzen. Vor dem Hintergrund der Schulden-bremse ist dies für die Länder, insbesondere fürRheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen, ein großerfinanzieller Kraftakt. Diese Entschuldungsprogrammewerden trotz harter Sparvorgaben bei den betroffenenKommunen ins Leere laufen, wenn die Kommunen beiden sozialen Pflichtleistungen nicht weiter nachhaltigentlastet werden.

Wegen des Zusammenhangs zwischen Arbeitslosig-keit, Unterkunftskosten und kommunalen Kassenkredi-ten plädieren wir Grüne weiter für höhere Bundesanteilean den Unterkunftskosten für ALG-II-Beziehende. DieKostenaufwüchse der Vergangenheit und künftige Kos-tensteigerungen dürfen nicht mehr einseitig allein vonden Kommunen getragen werden. Hier haben Sie, werteKolleginnen und Kollegen von der CDU, ein weiteresMal schlecht für die Städte und Gemeinden gesorgt, alsSie in dem besagten Hartz-IV-Kompromiss die Bundes-anteile an den Unterkunftskosten für ALG-II-Bezie-hende auf 25,1 Prozent eingefroren haben. Ich erinnereSie daran, dass Ihre Parteikollegen in Nordrhein-Westfa-len gemeinsam mit den Grünen und der SPD eine Bun-desbeteiligung von 50 Prozent gefordert haben.

Schließlich fordert meine Fraktion in unserem An-trag, finanzschwache Kommunen ohne Sozialabbau zuunterstützen. Völlig inakzeptabel ist die Gegenfinanzie-rung der Übernahme der Grundsicherung im Alter durcheine Streichung des Bundeszuschusses für die Arbeits-agentur in gleicher Höhe. Flankiert durch die sogenannteInstrumentenreform bei den arbeitsmarktpolitischenMaßnahmen drohen massive Kürzungen in der Arbeits-marktpolitik vor Ort. Wir Grüne sind deshalb zu Rechtim Februar aus dem Vermittlungsverfahren um Hartz IVausgestiegen.

Dr. Ralf Brauksiepe, Parl. Staatssekretär bei derBundesministerin für Arbeit und Soziales: Mit dem vor-liegenden Gesetzentwurf zur Stärkung der Finanzkraftder Kommunen setzen wir die Protokollerklärung desVermittlungsausschusses vom Februar dieses Jahres um,indem der Bund schrittweise die Kosten der Grundsiche-rung im Alter und bei Erwerbsminderung vollständigübernimmt und die Kommunen damit im Milliardenbe-reich jährlich entlastet. Die Annahme der Protokollerklä-rung hat maßgeblich zur Einigung in dem jahrelangenStreit über die Höhe der Regelbedarfe in der Sozialhilfeund in der Grundsicherung für Arbeitsuchende beigetra-gen. Ich glaube, dass es sich lohnt, daran zu erinnern,wie der Streit eigentlich entstanden ist.

Vor zehn Jahren, im Jahr 2001, hat die damalige Bun-desregierung mit der damaligen Parlamentsmehrheit be-schlossen, die bedarfsorientierte Grundsicherung im Al-

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ter und bei Erwerbsminderung in der Form einzuführen,dass bei Bedürftigkeit im Alter auf enge Familienange-hörige nur noch dann Rückgriff genommen wird, wenndas Jahreseinkommen dieser engen Familienangehöri-gen mindestens 100 000 Euro beträgt. Der den Kommu-nen insbesondere daraus entstehende sogenannte grund-sicherungsbedingte Mehraufwand wurde im Jahr 2001von der damaligen Bundesregierung ursprünglich auf600 Millionen DM oder 307 Millionen Euro pro Jahr ge-schätzt. Nur diese Summe sollte aus der Sicht der imJahr 2001 im Bund Regierenden den Mehraufwand derKommunen ausgleichen. Eine Dynamisierung war nichtvorgesehen. Entsprechend hat eine Rednerin der SPD-Fraktion am 26. Januar 2001 unter dem Beifall ihrerFraktion in diesem Hohen Haus festgestellt, dass – ichzitiere – „die den Kommunen dadurch“ – durch den Ver-zicht auf den Unterhaltsrückgriff – „entstehenden Kos-ten vom Bund getragen werden. Die Kommunen werdenalso nicht belastet (…).“ Zitat Ende.

Entsprechend heißt es auch in der Gesetzesbegrün-dung, dieser Betrag stelle sicher – ich zitiere –, „dass derBund den Ländern diejenigen Mehrausgaben ausgleicht,die den Kreisen und kreisfreien Städten als Trägern derSozialhilfe wie auch als Trägern der Grundsicherung un-mittelbar aufgrund der gegenüber dem Sozialhilferechtbesonderen Regelungen im Gesetz über eine bedarfs-orientierte Grundsicherung im Alter und bei Erwerbs-minderung entstanden sind.“ Zitat Ende. Dem sich an-schließenden Vermittlungsverfahren ist es zu verdanken,dass der Betrag zumindest auf 409 Millionen angehobenwurde. Ich bin froh darüber, dass heute niemand mehrernsthaft der Meinung ist – anders als vor zehn Jahren,als die damalige Opposition schon erklärt hat, das sei zuwenig für die Kommunen, sich aber nicht durchsetzenkonnte –, dass mit 409 Millionen Euro oder gar nur307 Millionen Euro der grundsicherungsbedingte Mehr-aufwand gedeckt ist.

In der Großen Koalition ist die absolute Summe derBundesbeteiligung dann auf eine prozentuale Summeumgestellt und dynamisiert worden, so dass wir heutebei einer Beteiligung von 15 Prozent sind und nach dergeltenden Rechtslage im nächsten Jahr bei einer Beteili-gung von 16 Prozent wären, die wir aber nicht umsetzenwollen, weil der Bund in der Protokollerklärung zuge-sagt hat, seinen Anteil an den Nettoausgaben für dieGrundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung imJahr 2012 auf 45 Prozent‚ im Jahr 2013 auf 75 Prozentund vom Jahr 2014 an auf 100 Prozent zu erhöhen.

Zu dieser übernommenen Verpflichtung steht derBund ohne Wenn und Aber. Ich weise in diesem Zusam-menhang darauf hin, dass in der Protokollerklärungkeine Verabredung getroffen worden ist, diese Zusage ineinem einzigen Gesetz in diesem Jahr umzusetzen. Dazubesteht auch keine Notwendigkeit. Wir legen hier einenGesetzentwurf vor, der vorsieht, für das nächste Jahr dieBeteiligung des Bundes in Höhe von 45 Prozent festzu-setzen.

Kritik wurde dahin gehend laut, dass die Bundesre-gierung aufgrund des Eintretens von Bundesauftragsver-waltung die weiteren Erhöhungsschritte der Bundesbe-teiligung in einem separaten Gesetzgebungsverfahren

regeln will. Bundesauftragsverwaltung liegt unstreitigdann vor, wenn mindestens 50 Prozent der Geldleistun-gen vom Bund erbracht werden. Bei der Grundsicherungim Alter und bei Erwerbsminderung bringt sie erhebli-che Veränderungen mit sich, mit denen im Sozialhilfe-recht Neuland betreten wird. Es gibt bislang kein in derDimension vergleichbares Sozialleistungssystem, das inBundesauftragsverwaltung durchgeführt wird. Ich denkenur daran, dass sich die Ausführung auf rund 450 Sozial-hilfeträger verteilt und dass rund 770 000 leistungs-berechtigte Personen betroffen sind. Niemand wird er-warten, dass der Bund Ausgaben von jährlich etwa5 Milliarden Euro übernimmt, ohne die gemeldeten Aus-gaben und ihre Verwendung überprüfen zu können.

Bundesauftragsverwaltung wird auch in Zukunftnicht das gesamte Zwölfte Buch Sozialgesetzbuch be-treffen, sondern nur den Teilbereich der genanntenGrundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung; imÜbrigen bleibt es bei der Eigenverwaltung. Bei der Um-setzung der Bundesauftragsverwaltung geht es folglichauch um die Frage, ob Eigenverwaltung und Auftrags-verwaltung in einem Gesetz nebeneinander stehen kön-nen, ob sich hieraus ein funktionsfähiges und ver-fassungskonformes Gesetz ergibt. Das alles sindkomplizierte Rechtsfragen, die zu erörtern sind.

Was die Kritik an der im Gesetzentwurf der Bundes-regierung vorgesehenen Orientierung an den Ausgabendes Vorvorjahres bei der Erstattung betrifft, so ist festzu-stellen, dass die entsprechenden Daten des StatistischenBundesamtes zur Sozialhilfestatistik für ein Kalender-jahr nicht früher vorliegen. Das heißt, verdeutlicht an ei-nem Beispiel: Im Jahr 2011 wurde die Bundesbeteili-gung am 1. Juli an die Länder gezahlt. Erst zum 1. April2011 lagen – über das Statistische Bundesamt – die end-gültigen Ergebnisse der Nettoausgaben bei der Grund-sicherung im Alter und bei Erwerbsminderung für dasJahr 2009 vor.

Ich glaube, es ist unser gemeinsames Interesse, zu ei-ner korrekten, sorgfältigen und verfassungsfesten Um-setzung der Protokollerklärung zu kommen. Deswegenlegen wir einen Gesetzentwurf vor, der zunächst in die-sem Jahr die für das nächste Jahr notwendigen Schrittevornimmt.

Es kann keinen Zweifel daran geben, dass der Bundzu seiner Zusage einer nachhaltigen finanziellen Entlas-tung der Kommunen steht. Im heute zu beratenden Ent-wurf eines Gesetzes zur Stärkung der Finanzkraft derKommunen sind die entsprechenden finanziellen Aus-wirkungen schwarz auf weiß dargestellt. Die Erhöhungs-schritte für 2013 und 2014 mit ihren finanziellen Aus-wirkungen bis zum Jahr 2015 sind darüber hinaus in dermittelfristigen Finanzplanung des Bundes enthalten. Diefinanziellen Auswirkungen für den Bund sind in entspre-chende Beschlüsse der Bundesregierung und in den vor-liegenden Gesetzentwurf bereits eingepreist.

Ich betone: Die bei der Einführung des Gesetzes vorzehn Jahren für die Kommunen vorgesehene Finanzaus-stattung war nicht ausreichend. Ich bin froh, dass es ge-lungen ist, hier einen Konsens herzustellen.

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Mit dem vorliegenden Gesetz leistet der Bund einengroßen Beitrag zur Stärkung der Handlungsfähigkeit derKommunen. Bereits in der Großen Koalition haben wirdiesen Weg eingeschlagen. Jetzt gehen wir ihn in derchristlich-liberalen Koalition konsequent weiter.

Anlage 14

Zu Protokoll gegebene Reden

zur Beratung der Beschlussempfehlung und desBerichts: Seenotrettung im Mittelmeer konse-quent durchsetzen und verbessern (Tagesord-nungspunkt 16)

Erika Steinbach (CDU/CSU): Die Welt ist in Bewe-gung, in einer ständigen Bewegung rund um den Globus.Unsere Aufmerksamkeit richtet sich seit Beginn des Jah-res auf die Umwälzungen im arabischen Raum, den ara-bischen Frühling. Der Erfolg der Aufständischen in Tu-nesien und Ägypten steckte junge Menschen in dergesamten Region, von Marokko bis Saudi-Arabien gera-dezu an, für ihre Freiheit auf die Straße zu gehen. Die zubefürchtenden Repressionen der seit Jahrzehnten herr-schenden autokratischen Regime hielten die Menschennicht mehr auf.

Deutschland leistete im Rahmen der Transformations-partnerschaften mit Tunesien und Ägypten unter ande-rem flankierende Hilfe, um die Entwicklung hin zu De-mokratie und Rechtstaatlichkeit zu ermöglichen. Einemöglichst breite Beteiligung der Menschen am Über-gangsprozess in ihren Ländern war das Ziel. Deutsch-land hat zahlreiche Projekte für Demokratieförderung,Berufsbildung und Jugendbeschäftigung sowie für Kre-dite an kleinere und mittlere Unternehmen auf den Weggebracht. Nachhaltiger Stabilität den Weg zu bahnen, istdie Absicht.

Erste humanitäre Hilfsmaßnahmen, wie medizinischeNotversorgung für die Libyer, leistete Deutschland be-reits im Februar. Für die Betroffenen der Auseinander-setzungen wurden rund 15 Millionen Euro in den Mona-ten Februar bis August bereitgestellt. Das ist Hilfe, diedazu beiträgt, Situationen zu entschärfen und stabilisie-ren. Oberste Priorität muss es sein, die Menschen in ih-ren Heimatländern zu unterstützen und Flucht verhin-dern zu helfen. Doch sind die Zahlen der Vertriebenenund Flüchtlinge allein in Libyen in der Tat erschreckendhoch. Rund 970 000 Menschen waren im Mai den Schät-zungen OCHAs zufolge auf Hilfe angewiesen,330 000 Binnenvertriebene unter ihnen.

Ich will aber auch darauf hinweisen, dass gerade Li-byen durchaus ein Land ist, das ohne unsere finanzielleHilfe sprichwörtlich „auf die Beine kommen“ wird. DieUNO hatte bereits Ende August 1,5 Milliarden US-Dol-lar freigegeben, die an libyschen Geldern eingefrorenwaren. Der französische Präsident Nicolas Sarkozy kün-digte schon Anfang des Monats an, dass rund15 Milliarden Euro sofort freigegeben würden. In derZentralbank in Tripolis fanden sich 16 Milliarden Euro;die Opposition fordert die Freigabe weiterer 170 Milliar-den Euro.

Seit Jahren sind wir mit der Problematik konfrontiert,dass afrikanische Flüchtlinge versuchen, über das Mit-telmeer nach Europa zu gelangen. Bis Mitte des Jahressind 32 000 Menschen auf diesem Weg aus Nordafrikanach Italien gekommen, vorwiegend Wirtschaftsmigran-ten. Migration kann jedoch nicht die Lösung für die Pro-bleme der Herkunftsländer sein. Die Regierungen derStaaten sind ebenfalls und in erster Linie in der Pflicht.Die Flüchtlinge, die Italien erreichen, wollen nicht dortbleiben, sondern in andere Länder Europas weiterreisen,um Arbeit aufzunehmen. Die Weiterreise ist mit den vonitalienischen Behörden ausgestellten temporären Aufent-haltsgenehmigungen möglich.

Deutschland hat im vergangenen Jahr 41 332 Flücht-linge aufgenommen. Das ist eine Verdoppelung im Ver-gleich zum Vorjahr und Platz 2 innerhalb der Europäi-schen Union; nur Frankreich nahm eine noch größereZahl an Flüchtlingen auf. Italien steht mit 8 200 aufge-nommenen Flüchtlingen im Jahr 2010 bei der Betrach-tung der relativen Zahlen, dem Verhältnis der Asylbe-werber zur Bevölkerungszahl, auf Platz 17. DieAufnahmeleistung Italiens entspricht einem Anteil von0,01 Prozent Asylbewerber pro Einwohner. Zweifels-ohne steht Italien vor einer großen Herausforderung,nicht aber von einer Überforderung. Hilfe, die Deutsch-land angeboten hat, wurde von italienischer Seite nichtangenommen.

Schlepperbanden finden in Situationen der Instabilitätden größten Markt für ihr verbrecherisches Treiben. Ge-nau diese Situation beobachten wir mit großer Sorge ver-stärkt in den vergangenen Monaten. Auf seeuntüchtigenund völlig menschenüberladenen Booten schickenSchlepperbanden Flüchtlinge auf illegalem Weg vonNordafrika nach Europa. Doch seit Jahren erreichen unsMeldungen, dass Menschen dabei auf See den Tod fin-den. Jedes Jahr ertrinken mehrere Hundert Menschen beidem Versuch, als illegale Einwanderer das Mittelmeervon Nordafrika in Richtung Italien oder Spanien zuüberqueren.

Die Antwort kann nur lauten, dass Migration konse-quenter Kontrolle bedarf. Die Überwachung der Seeau-ßengrenzen der Europäischen Union trägt dazu bei, impositiven Sinn. Sie verhindert oder verringert nicht Mi-gration, sondern ihre Wege, die – wie wir sorgenvollfeststellen müssen – auf hoher See lebensgefährlich sind.

Wem also keine Hintertür geöffnet werden darf, istder organisierten Kriminalität, den Schleppern und Men-schenhändlern. Sie passen die Wege und Mittel ihresmenschenverachtenden Geschäfts so rasant den vorzu-findenden Rahmenbedingungen an, dass es ihnen einLeichtes ist zu behaupten, sie würden seenotrettend un-terwegs sein. Deshalb ist ein genereller, grundsätzlicherSchutz vor Strafverfolgung und die Forderung des finan-ziellen Ausgleichs für „Seenotrettende“ nicht ansatz-weise zielführend.

Die Rettung Schiffbrüchiger ist in der Tat ist einwichtiges Anliegen. Die Forderung jedoch, jederzeit ei-nen Raum wie das Mittelmeer dahin gehend zu überwa-chen und abzusichern, ist schlichtweg unrealistisch undnicht zu leisten. Hier lautet die Antwort wiederum, die

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Wege der Migration sind zu verändern und zu kontrollie-ren, um der Menschen willen.

Lobend und beispielhaft erwähnen will ich die Orga-nisation der Seenotrettung in Deutschland. Sie wirddurch die Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrü-chiger, DGzRS, eine nichtstaatliche Rettungsorganisa-tion, durchgeführt. Die Gesellschaft finanziert sich über-wiegend durch freiwillige Zuwendungen und komplettohne Steuergelder. Die erste deutsche Rettungsstationwurde 1809 in Memel gegründet. Heute betreibt dieDGzRS eine Flotte von 61 Seenotkreuzern und Seenot-rettungsbooten auf 54 Stationen. Seenotrettung istgrundsätzlich Teil nationalstaatlicher Kompetenz.Würde die Seenotrettung für das Mittelmeer europäischgeregelt, welches Hochseegewässer würde dann der na-tionalen Seenotrettung weiterhin unterstehen und wel-ches nicht, oder organisiert und finanziert die EU dannauch die Seenotrettung im Atlantik, dem SchwarzenMeer und in der Nord- und Ostsee?

Wolfgang Gunkel (SPD): Es gibt eine seit Jahrhun-derten geltende stolze Tradition der Seefahrt, die in na-hezu allen Kulturen und Regionen der Welt Geltung hat.Ich spreche vom selbstverständlichen Gebot, Menschenin Seenot Beistand zu leisten. Das völkerrechtlichegrundsätzliche Übereinkommen, Schiffbrüchigen dasRecht auf Hilfe zu garantieren, findet sich folgerichtigauch im Seerechtsübereinkommen der Vereinten Natio-nen wieder. Dort heißt es:

Jeder Staat verpflichtet den Kapitän eines seineFlagge führenden Schiffes (…) jeder Person, dieauf See in Lebensgefahr angetroffen wird, Hilfe zuleisten;

Insofern muss es sehr verwundern, dass wir einen An-trag kontrovers debattieren, der im Kern schlicht undeinfach die Einhaltung der völkerrechtlichen Pflicht zurSeenotrettung einfordert, mithin eine unstrittige rechts-staatliche Grundwahrheit.

Das Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationenspricht von mindestens 2 000 Menschen, die in diesemJahr bereits im Mittelmeer auf der Flucht ertrunken sind.Das Bundesministerium des Innern geht von etwa50 000 – wie es dort heißt – Migranten aus, die bis heuteaus Nordafrika über das Mittelmeer nach Europa gekom-men sind. 9 000 Menschen wurden laut BMI in Seenotgerettet. Über Fälle, in denen Boote abgedrängt oderzum Kentern gebracht wurden, wie es immer wieder vonMenschenrechtsorganisationen zu hören ist, liegen demBundesinnenministerium keine Informationen vor. Sojedenfalls wurde im Menschenrechtsausschuss des Bun-destages berichtet. Aber natürlich kennt auch die Bun-desregierung die von Nichtregierungsorganisationen ge-nannten Zahlen, hinter denen Schicksale von Menschenauf der Flucht stehen, die auf hoher See verhungert, ver-durstet oder ertrunken sind.

Die „Europäische Agentur für die operative Zusam-menarbeit an den Außengrenzen“, kurz Frontex genannt,koordiniert, wie wir wissen, auch die Einsatzkräfte derEU-Mitgliedstaaten im Mittelmeer. Menschenrechtsor-ganisationen weisen seit langem auf die – vorsichtig aus-

gedrückt – problematische Rolle hin, die Frontex imUmgang mit den Flüchtlingen nicht nur im Mittelmeer,sondern auch an der griechisch-türkischen Grenze spielt.So behauptet zum Beispiel Human Rights Watch, dassFrontex eine Mitschuld trage, wenn sie Migranten wis-sentlich Bedingungen aussetze, die eindeutig gegen in-ternationale Menschenrechtsstandards verstoßen. DieEU müsse dringend die Regeln für Frontex-Einsätze ver-schärfen und sicherstellen, dass zur Verantwortung gezo-gen wird, wer diese Regeln nicht einhält.

Auf Anfrage heißt es aus dem Bundesinnenministe-rium zwar, dass Frontex sich nach den einschlägigenmenschenrechtlichen Leitlinien richte, sich an das Ver-bot einer Ausschiffung von Flüchtlingen halte und auchdas Nonrefoulement-Prinzip achte – also keine Flücht-linge zwangsweise in Staaten zurückgewiesen werden,in denen sie unmittelbare existenielle Bedrohung zu be-fürchten haben. Dennoch scheint man Handlungsbedarferkannt zu haben. So plant die EU-Kommission ein Pro-jekt zur besseren Überwachung der Seesicherheit imMittelmeer, an dem 6 Mitgliedstaaten und 37 Behördenbeteiligt sein sollen. Außerdem soll bei Frontex einMenschenrechtsforum angegliedert werden, in dem auchdas Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationeneine Stimme erhält. Ein Verhaltenskodex in Menschen-rechtsfragen ist für Frontex geplant, der Sanktionen beiVerstößen vorsieht. Im Rahmen der gemeinsamen euro-päischen Asylpolitik will man die Rechtssicherheit beiFrontex-Einsätzen verstärken.

So weit, so gut. Nur wissen wir aus bitterer Erfah-rung: Papier ist geduldig. Den geplanten Maßnahmender Bundesregierung und der EU-Kommission, mit de-nen Menschenrechtsverletzungen geahndet und besten-falls sogar verhindert werden sollen, müssen nicht nurbeschlossen, sondern auch effektiv umgesetzt werden.Es ist ja nicht so, dass Frontex zentral gesteuerte eigeneEinsatzkräfte hätte. In vielen Fällen handeln Einsatz-kräfte eines EU-Mitgliedstaates allein und mit Unterstüt-zung von Frontex. So gibt es zum Beispiel beim Einsatz„Hermes“ vor Lampedusa im Mittelmeer keine Ret-tungs- oder Marineschiffe von Frontex. Frontex beteiligtsich nur an der Finanzierung italienischer Einsatzmittelund Einsatzkräfte. Lediglich die Maßnahmen an Landbei der Registrierung der Flüchtlinge und beim soge-nannten Screening finden unter Beteiligung von Frontexstatt. Auch bei der Luftüberwachung unterstützt Frontexden Einsatz. Die Maßnahmen auf See entziehen sichaber der unmittelbaren Kontrolle jedweder EU-Behör-den. Kurz: Ohne ein funktionierendes Kontrollregimebleibt ein Verhaltenskodex und Menschenrechtsforumfür Frontex ein Papiertiger.

Wie wenig die geplanten Maßnahmen zur Überwa-chung der Seenotrettung auf EU-Ebene einem tatsächli-chen politischen Durchsetzungswillen folgen, zeigt zu-gleich ein anderer Aspekt, der – aus welchen Gründenauch immer – in der Debatte kaum zu hören ist: Die See-notrettung liegt gar nicht in der Kompetenz des für Fron-tex zuständigen Innenministeriums, sondern in der desBundesverkehrsministeriums. Und hier gibt es wedereine Koordinierung unter den EU-Mitgliedern noch eineInitiative, eine solche zu institutionalisieren. Wie also

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soll ein Verhaltenskodex für den Umgang mit Flüchtlin-gen im Mittelmeer umgesetzt und kontrolliert werden,wenn es in der Europäischen Gemeinschaft überhauptkeine Koordinierung der Seenotrettung gibt?

Es ist überhaupt keine Frage, dass die EU angesichtsder Flüchtlinge aus Nordafrika vor sehr großen Heraus-forderungen steht. Einfache Antworten und Lösungender Probleme wird es hier nicht geben. Aber es verbietetsich auch nur der Gedanke, potenzielle Flüchtlinge vorihrem Weg nach Europa abzuschrecken, indem man un-ter anderem tatenlos zusieht, wie Tausende Menschenauf hoher See ertrinken.

Gerade darum geht es in dem Antrag, den wir hiereinstimmig beschließen sollten. Es geht darum, alles unsMögliche in die Wege zu leiten, um das Sterben auf ho-her See zu beenden. Dazu bedarf es einer Koordinierungder EU-Staaten bei der Seenotrettung, einer rechtlichenRegelung für Seenotrettende, einer finanziellen Unter-stützung für die EU-Mitgliedstaaten an den Seegrenzen,und schließlich brauchen wir dringend eine gemeinsameeuropäische Asylpolitik, um humanitäre Antworten aufdie drängende Flüchtlingsfrage zu finden.

Deshalb kann die Ablehnung des Antrages durchCDU/CSU und FDP auf nichts anderes als Unverständ-nis stoßen, gerade auch weil die offiziellen Begründun-gen für ihr Votum wenig zielführend sind. Ausschuss fürMenschenrechte und Humanitäre Hilfe im DeutschenBundestag hätte die geschlossene Unterstützung einessolch genuin humanitären Antrags mit Forderungen andie Bundesregierung gut zu Gesicht gestanden.

Serkan Tören (FDP): Das Parlament beschäftigtsich in der heute vorliegenden Beschlussempfehlung mitdem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zumThema „Seenotrettung im Mittelmeer konsequent durch-setzen und verbessern“. In ihrem Antrag fordert dieFraktion Bündnis 90/Die Grünen die Bundesregierungzu Folgendem auf: eine völkerrechtliche Pflicht zur See-notrettung im Mittelmeerraum innerhalb der Europäi-schen Union konsequent durchzusetzen.

Wenn das Thema nicht so ernst, so emotional bewe-gend und so sensibel wäre, könnte berechtigterweise ge-fragt werden, was Rot-Grün in den Jahren 1998 bis 2005im Bereich der Seenotrettung im Mittelmeer bewegt hat.Denn die Flüchtlingsströme über das Mittelmeer gibt esja nicht erst seit der Regierungsübernahme der christ-lich-liberalen Koalition im Jahr 2009, auch wenn die mi-litärischen Handlungen in Libyen aus jüngster Zeit resul-tieren. Es war Bundesinnenminister Otto Schily, dernoch im Jahr 2004 unter Rot-Grün forderte: Wir brau-chen Auffanglager in Afrika. Er sagte: „Afrikas Pro-bleme müssen in Afrika gelöst werden.“ Wie zynischund selbstgerecht ist es nun von den Grünen, die aktuellechristlich-liberale Bundesregierung für das eigene Versa-gen von 1998 bis 2005 verantwortlich zu machen.

Jetzt in der Opposition, sehr geehrte Damen und Her-ren von den Grünen, fordern Sie lautstark Reformen be-züglich der Seenotrettung im Mittelmeer. In Ihren eige-nen sieben Jahren Regierungszeit haben Sie in dieserHinsicht nichts getan und vollkommen versagt.

Mit erschütternder Regelmäßigkeit erreichen uns dra-matische Nachrichten von Flüchtlingen, die auf demWeg nach Europa im Mittelmeer Schiffbruch erleidenund umkommen. Die schwierige Situation in Nordafrikaund die Hoffnung auf Verbesserung der eigenen wirt-schaftlichen Lage treibt viele Personen, besonders junge,dazu, eine von Strapazen gekennzeichnete Reise zu un-ternehmen, um von dort aus die Seereise in die EU anzu-treten. Auf ihrem langen Weg sind diese Menschen oftkorrupten Beamten ausgeliefert und müssen sich für denTransfer über das Meer nach Europa in die Hände vonskrupellosen Menschenschleppern begeben. Um derVerhaftung zu entgehen, zwingen diese Schlepper dieFlüchtlinge regelmäßig, noch vor Erreichen der europäi-schen Küste ins Meer zu springen und die restliche Stre-cke zum rettenden Land schwimmend zurückzulegen.Für viele Flüchtlinge endet diese letzte Etappe tödlich.In anderen Fällen erweisen sich die Boote schon wäh-rend Überfahrt als nicht seetüchtig, sodass die Menschenan Bord Schiffbruch erleiden.

Wir dürfen nicht außer Acht lassen: KriminelleSchleuser locken Menschen aus Geldgier mit falschenVersprechungen nach Europa. Wir dürfen nicht die Au-gen davor verschließen: Solche Schlepperbanden neh-men sogar den Tod der Verschleppten auf See billigendin Kauf. Wenn sich Menschen, durch falsche Verspre-chungen verlockt, selbst in Gefahr bringen, etwa aufSee, dann ist Seenotrettung zwar notwendig, aber keineUrsachenbekämpfung. Vielmehr muss sowohl in denHerkunftsländern der Migranten als auch in der EU da-rauf hingewirkt werden, dass solche Tragödien gar nichterst stattfinden.

Nun zu dem Antrag: Im Großen und Ganzen lehnt dieFDP-Bundestagsfraktion den Antrag der Fraktion Bünd-nis 90/Die Grünen ab. Der Antrag enthält zwar einzelnePunkte, denen man zustimmen kann. Es gibt aber ausSicht der Liberalen im Wesentlichen zu viele kritischeAspekte.

Zum einen wird in dem Antrag verlangt, eine europa-rechtliche Regelung einzuführen, um Seenotrettende vorStrafverfolgung zu schützen. Dem ist entgegenzuhalten:Die Thematik der Seenotrettung ist völkerrechtlich gere-gelt. In europarechtlicher Hinsicht gehört die Seenotret-tung nicht zu den vergemeinschafteten Bereichen. Hierist nationales Handeln vorrangig. Ferner muss auch ge-fragt werden, wer hier geschützt wird.

Dies ist insofern ein großes Problem, als unklar ist,wie zwischen Rettern und Schlepperbanden unterschie-den werden kann. Es besteht folgende Gefahr: Schlep-perbanden nutzen eine derartige Vorschrift aus, um ih-rem Geschäft ungestört nachgehen zu können. Es darfkeine Hintertür geöffnet werden, die den Menschen-händlern das Leben noch einfacher macht. Hier ist des-halb eine Einzelfallprüfung nötig, ob ein Straftatbestandvorliegt. Eine pauschale Regelung zur Straflosigkeit istaus unserer Sicht keine Lösung. Der Menschenhandel istleider heutzutage noch profitabler geworden als der Dro-genhandel.

Aus unserer Sicht muss die Politik weiterhin in derLage sein, im Einzelfall zwischen Flüchtlingen und kri-

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15492 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011

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minellen Schlepperbanden zu differenzieren. Hier for-dert der Antrag der Grünen de facto eine Blankovoll-macht und malt zu sehr schwarz-weiß.

Wir müssen für Folgendes sorgen: Vor Ort muss ge-holfen werden, damit die Menschen sich nicht genötigtsehen, ihre Heimat zu verlassen. Sie brauchen Perspekti-ven im eigenen Land.

Seit Jahresbeginn sind 57 000 Migrationsbewegungenfestgestellt worden: zunächst junge, männliche Tunesier,derzeit Personen aus Libyen, Eritrea, Äthopien und demTschad.

In über 9 000 Fällen hat Frontex Seenothilfe geleistet.Deutschland hat sich mit zwei seenotrettungstauglichenHelikoptern an der Mission beteiligt und zeitweilig auchPersonal zur Identitätsfeststellung mutmaßlicher Flücht-linge nach Lampedusa entsandt. Dieses Angebot hält dieBundesregierung aufrecht, auch wenn es zurzeit nichtabgerufen wird.

Die von der Opposition genannten Kritikpunkte sindfür uns nicht unbedingt an den Fakten orientiert. Das esangeblich glaubwürdige Berichte gibt, wonach Frontexdurch Abdrängmanöver Schiffe zum Kentern gebrachthat, ist für uns nicht verifizierbar. Insgesamt darf dieFrontex-Mission auch nicht als Allheilmittel missver-standen bzw. als Alleinverantwortlich verteufelt werden,wie in dem Antrag der Grünen leider geschehen. Frontexwird in erster Linie im Bereich des Grenzschutzes tätig.

Im Rahmen des kommenden EU-Ministerrates wirdallerdings eine zusätzliche Verordnung erlassen werden.Diese bildet dann die Grundlage für die Schaffung einesMenschenrechtsbeauftragten durch den Frontex/Verwal-tungsrat. Auch werden durch die kommende Verordnungzahlreiche menschenrechtsrelevante Standards verbind-lich. Zur Kontrolle von Frontex ist zu sagen: Hier hat dasBeispiel der Grenzmission Griechenland-Türkei gezeigt:Allein die Anwesenheit und Berichterstattung deutscherBundespolizisten führt zu einer Erhöhung von Men-schenrechtsstandards im Bereich grenzpolizeilicherMaßnahmen. Die Rettung Schiffbrüchiger ist ein wichti-ges Anliegen. Die Forderung der Grünen, dies jederzeitfür das gesamte Mittelmeer zu leisten, ist allerdingsschlichtweg unrealistisch.

Lassen Sie mich zum Abschluss aufgrund der Aktua-lität der Libyen-Krise noch Folgendes sagen, was dieDefinition des Begriffes „Seenotrettung“ angeht: Ausunserer Sicht ist ein Seenotfall anzunehmen, wenn derKapitän eines in Not geratenen Bootes oder Schiffes ei-nen entsprechenden Notruf absetzt bzw. wenn erkennbarist, dass sich Personen auf See in Lebensgefahr bzw. inSeenot befinden.

Völkerrechtlich besteht hier für die Schifffahrt diePflicht zur Hilfeleistung. Gesetzlich verankert ist dies imArt. 98 Abs. 1 des UN-Seerechtsübereinkommens. ImFalle von Seenot auf der hohen See ist der Kommandanteines Schiffes, das sich vor Ort befindet, verpflichtet, al-les Notwendige zur Rettung von Schiffbrüchigen zu ver-anlassen, soweit keine unvertretbare Gefährdung eigenerKräfte besteht. Wenn er in sonstiger Weise von einemHilfsbedürfnis Kenntnis erhält, eilt er Personen in See-

not zu Hilfe, wenn dies vernünftigerweise von ihmerwartet werden kann. Es gelten die durch die Internatio-nale Seeschifffahrts-Organisation, IMO, festgelegtenStandards auch für Kriegsschiffe.

Folgendes muss aus unserer Sicht im konkreten Fall inBezug auf Libyen beachtet werden: Ein Arbeitsüberein-kommen zur Zusammenarbeit zwischen der NATO undFrontex besteht nicht. Bei den im Rahmen der Frontexeingesetzten Schiffen zur Seegrenzüberwachung handeltes sich bis dato ausschließlich um Schiffe der italieni-schen Behörden. Diese unterliegen in Fällen von Seenotebenfalls dem UN-Seerechtsübereinkommen. Darüberhinaus gilt die Ergänzung des Schengener Grenzkodexes,die sogenannte Frontex Leitlinie. Diese enthält verbindli-che Vorschriften für das Abfangen und den Aufgriff vonSchiffen bzw. Booten sowie Leitlinien für die Durchfüh-rung von Such- und Rettungsmaßnahmen an den See-grenzen.

Neben der Beachtung der Pflicht zur Hilfeleistung aufSee unterliegt Deutschland als Nichtanrainer-Staat imMittelmeer keinen weitergehenden Pflichten zur Verbes-serung der Seenotrettung. Da sich die BundesrepublikDeutschland im Mittelmeer nicht an der NATO-Opera-tion mit Seekriegsmitteln, Schiffen, Booten beteiligt,wurden seitens der Bundesregierung auch insoweit keinespeziellen Maßnahmen initiiert.

Abschließend ist daher zu sagen: Die FDP-Bundes-tagsfraktion begrüßt, dass die Koordination auf EU-Ebene funktioniert und darüber hinaus weiter verbessertwird. Die neuen Frontex-Regeln, wie etwa die Einset-zung eines Frontex-Grundrechtebeauftragten, werden inKürze in Kraft treten.

Annette Groth (DIE LINKE): Was sich seit Jahrenan den Außengrenzen der Europäischen Union abspielt,ist ein moralischer Skandal. Die humanitären Katastro-phen vor den Grenzen der „Festung Europa“ haben wirmit unserer Politik zu verantworten. Die „FestungEuropa“ wurde unter rot-grüner Bundesregierung maß-geblich fortentwickelt und heute unter schwarz-gelberBundesregierung weiter aufgerüstet. Diese „Festungs-politik“ hat eine legale Einreise für Migrantinnen undMigranten in die EU faktisch unmöglich gemacht.

Die Politik der Abschottung zwingt Menschen, sichmenschenverachtenden Schleuserbanden zuzuwenden,welche die Not der Menschen ausnutzen und sie auf see-untüchtigen Booten zusammenpferchen. Bei der Diskus-sion über Schleuser dürfen wir jedoch nicht Ursache undFolgen verwechseln. Ursache der zunehmenden Schleu-sertätigkeiten an den EU-Außengrenzen ist die EU-Poli-tik der Abschottung.

Ich möchte daran erinnern, dass es die rot-grüneRegierung war, die Frontex maßgeblich zur heutigenFlüchtlingsabwehragentur aufgerüstet hat. Das zeigt sichauch deutlich an der Grundausrichtung des Antrags vonBündnis 90/Die Grünen: Ich vermisse in dem Antrageine grundsätzliche Kritik an Frontex! Alleine in denJahren 2009 bis 2011 liegt das Budget für die EU-Grenz-schutzagentur Frontex bei jährlich etwa 88 MillionenEuro. Human Rights Watch hat in seinem kürzlich vor-

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gelegten Bericht darauf hingewiesen, dass die Frontex-Behörde Migrantinnen und Migranten unmenschlicherund erniedrigender Behandlung aussetzt. Die Linke for-dert, die Ausrichtung der Aufgaben von Frontex grund-sätzlich zu verändern.

Ebenfalls fehlt in dem Antrag eine scharfe Kritik ander Untätigkeit der NATO-Stellen, die das Mittelmeerlückenlos überwachen. Der Antrag greift daher in eini-ger Hinsicht zu kurz.

Die Fraktion Die Linke unterstützt im Grundsatz eineAusweitung der Seenotrettung. Von den Staaten der Eu-ropäischen Union fordern wir, großflächige Kapazitätenfür die Rettung von Menschen im Mittelmeer zur Verfü-gung zu stellen. Die Argumentation, dass hierdurch derangebliche „Flüchtlingsstrom nach Europa“ zunehmenwürde, ist nicht nur zynisch, sondern auch falsch. Dashat mit der Realität der Flüchtlingszahlen nichts zu tun.

Im Jahr 2010 gab es etwa 44 Millionen Flüchtlinge.Das waren ungefähr 400 000 mehr als im Jahr 2009.Über 80 Prozent aller Flüchtlinge waren Binnenflücht-linge oder Menschen, die in die direkten Nachbarländerflohen. Nur jeder fünfte Flüchtling schaffte es in die westli-chen Industrieländer. 2010 lebten die meisten Flüchtlingein Pakistan – 1,9 Millionen –, im Iran – 1,1 Millionen –und in Syrien – 1,0 Millionen –. In Deutschland lebenzurzeit knapp 600 000 Flüchtlinge. Also sind es die ar-men Länder des Südens, die den Großteil der Flücht-lingsbewegungen aufgenommen haben!

In einem neuen Positionspapier beklagt Amnesty dievöllig ungenügende Bereitschaft der meisten europäi-schen Länder, die etwa 5 000 Flüchtlinge aufzunehmen,die aufgrund der Kämpfe aus Libyen fliehen mussten.Die Antwort der EU fiel, wie zu erwarten, bisher sehrzögerlich aus: Neben den USA, Australien und Kanadahaben sich nur acht europäische Länder zur Aufnahmevon insgesamt lediglich 800 Menschen bereit erklärt.

Die Europäische Union baut immer höhere Mauernzur Abwehr von Flüchtlingen auf. Menschen werdenganz bewusst im Stich gelassen und müssen qualvoll imMittelmeer ertrinken. Alleine in diesem Jahr sind mehrals 2 000 Menschen ertrunken, als sie versuchten, in dieEuropäische Union zu gelangen. Die Gemeinschaft dereuropäischen Staaten schaut hier bewusst weg.

Am 20. September brach im Zuge von Protesten einBrand in einem überfüllten Flüchtlingslager auf der ita-lienischen Insel Lampedusa aus. Der UNHCR erklärtehierzu, der Brand sei die Folge der wachsenden Span-nungen unter den Flüchtlingen, die zu lange in haftähn-lichen Bedingungen in den übervollen Lagern festge-halten werden. Mehrere Hundert minderjährigeunbegleitete Flüchtlinge leben zurzeit unter unzumutba-ren Bedingungen auf Lampedusa, manche bereits seitüber sechs Wochen. An der griechisch-türkischen Land-grenze werden aufgegriffene Migrantinnen und Migran-ten in völlig überfüllte, menschenunwürdige Haftzentrenüberstellt. Diese Bilder sollen abschrecken und Men-schen davon abhalten, um Hilfe in der EU zu bitten.Diese menschenunwürdige Behandlung ist ein Armuts-zeugnis für Europa und seine humanitären Grundsätze!

Genau hier muss eine effektive und humane Flücht-lingspolitik in der Europäischen Union beginnen. DieFraktion Die Linke fordert auch seit vielen Jahren einesolidarische Flüchtlingspolitik für die EuropäischeUnion. Staaten, die an der Außengrenze der EU liegen,dürfen wir nicht alleine lassen.

Wir wollen, dass Kapitäne und Schiffsbesatzungenverpflichtet werden, Menschen in Not zu helfen. Das in-ternationale Recht muss so weiterentwickelt werden,dass Kapitäne, die Menschen in Seenot nicht helfen, sichfür ihr Verhalten strafrechtlich verantworten müssen.Unterlassene Hilfeleistung auf See muss ein schwerwie-gender Straftatbestand sein.

Der im Antrag der Grünen eingebrachte Vorschlag,Schiffe, die Menschen in Seenot helfen, dafür eventuellauch zu entschädigen, ist intensiv zu prüfen. Gleichzeitigzeigt dieser Vorschlag auch die gesamte Perversität derheutigen Diskussion um die Seenotrettung auf: Menschenin Seenot werden deshalb im Stich gelassen, weil hier-durch wirtschaftliche Interessen berührt sind und even-tuell zusätzliche Kosten für die Reedereien entstehen.

Der Tod von Menschen auf hoher See wird also be-wusst in Kauf genommen, weil hierdurch die wirtschaft-lichen Gewinne von Reedereien geringer ausfallen könn-ten! Das ist eine wahrhaft traurige Bilanz für unserehumanitären Grundsätze. Hier müssen wir endlich um-denken und zu einer menschlicheren Politik finden.

Stattdessen erleben wir sogar, dass Kapitäne, dieMenschen auf See retten, wegen angeblicher Schleppe-rei angeklagt werden. Der Prozess gegen den ehemali-gen Cap-Anamur-Vorsitzenden, Elias Bierdel, hat welt-weit für Schlagzeilen gesorgt.

Auch der Fall des Fischers Zenzeri, der am 8. August2007 auf ein kaputtes Schlauchboot mit 44 Flüchtlingenaus dem Sudan, Eritrea, Äthiopien, Marokko, Togo undder Elfenbeinküste stieß, ist ein Skandal. Die Tageszei-tung berichtet, dass das kaputte Boot bei schwerer Seemanövrierunfähig in maltesischen Hoheitsgewässerntrieb. Der Fischer tat das einzig Richtige: Er entschied,dass das Boot, auf dem auch zwei Kinder, eines von ih-nen behindert, und zwei schwangere Frauen waren, soschnell wie möglich an Land musste. Nachdem dieFischer SOS abgesetzt hatten, schickten die italienischenBehörden kein Boot zur Hilfe, sondern eine Patrouilleder italienischen Küstenwache. Für diese Hilfe wurdedem Fischer sein Schiff abgenommen, und heute steht ervor Gericht mit einer Anklage wegen Schlepperei. Dasist unfassbar!

Solche Anklagen müssen in Zukunft unmöglich sein.Die Rettung von Schiffbrüchigen muss als oberstes Zielund verbindliche Verpflichtung in den internationalenAbkommen, aber auch in den Rechtssystemen der Mit-gliedstaaten der EU festgeschrieben werden.

Die Linke begrüßt, dass mit dem Antrag vonBündnis 90/Die Grünen die überfällige und notwendigeDebatte über den Schutz von Flüchtlingen durch dieStaaten der EU in Gang gekommen ist. Dieser Antragmuss jedoch weiterentwickelt werden, damit wir endlichzu einer Flüchtlingspolitik finden, die Menschen in Notund auf der Flucht nicht mehr als Last begreift. Die Hilfe

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für solche Menschen muss zu einem wesentlichen Be-standteil des humanitären Handelns von Staaten undStaatengemeinschaften werden.

Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): SeitJanuar 2011 haben nach Angaben des UN-Flüchtlings-hilfswerkes 2 000 Menschen auf ihrer Flucht vor Men-schenrechtsverletzungen, Gewalt und Armut ihr Lebenim Mittelmeer verloren. In Anbetracht dieser Todesfälleist es vollkommen unverständlich, wenn nun die Regie-rungsfraktionen unseren Antrag zur Seenotrettung mitder Begründung ablehnen möchten, es gebe bereits Ver-besserungen, und es müsse nichts mehr getan werden.Wenn Tausende Menschen vor den Küsten Europas er-trinken, ist der Handlungsbedarf doch offensichtlich. DieBundesregierung sollte sich in dieser humanitären Kata-strophe drei zentrale Prinzipien einer menschenrechtlichvertretbaren Flüchtlingspolitik in Erinnerung rufen.

Erstens. Die Rettung von Menschenleben hat oberstePriorität. Deshalb fordern wir in unserem Antrag dieBundesregierung auf, die Seenotrettung im Mittelmeergemeinsam mit anderen EU-Mitgliedstaaten zu verbes-sern. Die Ursachen der Schiffsunglücke sind nicht aufein lückenhaftes völkerrechtliches Regelwerk zurückzu-führen, sondern vielmehr auf die mangelnde Durchset-zung der bereits bestehenden seerechtlichen Verpflich-tungen. Die derzeitige Situation ist humanitär undmenschenrechtlich unhaltbar. Da es kaum noch Mög-lichkeiten gibt, die EU auf legalem und sicherem Weg zuerreichen, gehen Flüchtlinge lebensgefährliche Risikenein, um Schutz in Europa zu finden. Es muss ein sichererKorridor geschaffen werden, der das Überleben derFlüchtlinge sichert. Europäische Maßnahmen dürfennicht mit dem Schutz der Grenzen und dem Verbarrika-dieren der „Festung Europa“ beginnen. Es geht zualler-erst um den Schutz von Leib und Leben der Flüchtlingean der Grenze.

Es ist für Europa als Ganzes unwürdig, dass mit Fron-tex zwar eine sehr effiziente Agentur zum Schutz derGrenzen gefunden wurde, es aber keine europäische In-stitution gibt, die das Mittelmeer in der Frage derSeenotrettung sichert. Die Rettung von Menschenlebenals oberste Priorität nicht zu erkennen, ist eine Katastro-phe. Die Europäische Union mit ihrem Wertekanon undDeutschland mit seinem Grundgesetz können es sichnicht leisten, sehenden Auges die Menschen zu Tausen-den im Mittelmeer ertrinken zu lassen. Europa muss sichentscheiden, der Tragödie zuzusehen oder zu helfen.Wenn wir jetzt nicht handeln, werden uns nachfolgendeGenerationen zu Recht vorwerfen, dass Deutschlandzwar die Menschenrechte weltweit gepredigt, beimDrama im Mittelmeer aber tatenlos zugesehen hat.

Zweitens. Die Flüchtlingsfrage ist keine nationale,sondern eine europäische Angelegenheit. Die Präambelder Genfer Flüchtlingskonvention betont nicht ohneGrund, dass eine befriedigende Lösung nur durch eineZusammenarbeit der Staaten erreicht werden kann. Hu-manitäre Pflichten, die mit der Aufnahme von Flüchtlin-gen einhergehen, dürfen nicht allein den Ländern desSüdens überlassen bleiben. Deutschland trägt Mitverant-wortung für das, was in anderen EU-Mitgliedstaaten undwas im Mittelmeer geschieht. Am 21. Januar 2011 hat

der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Be-dingungen in griechischen Flüchtlingslagern als men-schenunwürdig und erniedrigend verurteilt. Laut HumanRights Watch tragen Frontex und beteiligte EU-Mit-gliedstaaten, darunter auch Deutschland, eine Mitschuldan den Menschenrechtsverletzungen, da sie Flüchtlingewissentlich menschenunwürdigen Bedingungen ausset-zen. Jetzt haben auch Unionspolitiker nach ihrer Reisenach Griechenland erkannt, dass die Situation men-schenrechtlich untragbar ist. Die entscheidende Frageaber bleibt, ob die Bundesregierung die richtigen Konse-quenzen aus dieser Erkenntnis zieht. Hierzu gehört, dieAussetzung von Rückführungen nach der Dublin-II-Ver-ordnung nach Griechenland auf unbefristete Zeit zu ver-längern.

Außerdem sollte die Bundesregierung ihre Blockade-haltung gegenüber einem einheitlichen europäischenAsylsystem aufgeben. Gemeinsame Regeln für die Bear-beitung von Asylanträgen und einheitliche Aufnahmebe-dingungen sind unbedingt notwendig. 2009 lag dieWahrscheinlichkeit, dass ein Iraker Asyl erhielt, inFrankreich bei 82 Prozent, in Griechenland nur bei2 Prozent. Insgesamt sollte für Flüchtlinge an den EU-Außengrenzen eine europäische Lösung gefunden wer-den, die allen Menschenrechtsnormen gerecht wird.Dazu gehört auch eine solidarische Verteilung derFlüchtlinge innerhalb Europas. Die Bundesregierung be-ruft sich immer noch auf die Dublin-II-Verordnung. Dasist für Deutschland ohne EU-Außengrenzen bequem,sieht aber keine gerechte Teilung der Verantwortung vor.

Drittens sollten wieder alle Staaten eng mit dem Ho-hen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen zu-sammenarbeiten. Hierzu gehört die finanzielle Unter-stützung seiner Arbeit, zum Beispiel bei derBewältigung der humanitären Katastrophe am Horn vonAfrika, aber auch die Aufnahme von einer bestimmtenAnzahl von Flüchtlingen. Der UNHCR hat Bundesin-nenminister Hans-Peter Friedrich am 15. März 2011 ge-beten, die dauerhafte Neuansiedlung von Flüchtlingenaus Libyen in Deutschland zu ermöglichen. Das UN-Flüchtlingshilfswerk sucht 8 000 solcher Resettlement-Plätze für Flüchtlinge aus Eritrea, Somalia, Äthiopienund dem Sudan. Diese können weder nach Libyen nochin ihre Heimatländer zurückkehren. Weltweit stehen bis-her nur 900 Plätze zur Verfügung. Ägypten und Tunesientragen weiterhin die Hauptverantwortung bei der Auf-nahme der Flüchtlinge aus Libyen. Weniger als 1 Pro-zent dieser Flüchtlinge sind nach Europa gelangt. Dieabschlägige Antwort der Bundesregierung ist daher beson-ders beschämend. Und sie steht im Widerspruch zur GenferFlüchtlingskonvention, die Staaten zur Kooperation mitdem UNHCR verpflichtet. Deutschlands Einsatz für einendemokratischen Wandel und einen besseren Schutz derMenschenrechte in Nordafrika muss auch die Bereitschaftzur Aufnahme von Menschen einschließen, die durch denKonflikt in Libyen ihre Zuflucht verloren haben.

Mit der Umsetzung dieser drei Prinzipien kämen wirden Grundwerten einer menschenwürdigen Flüchtlings-politik ein Stück näher. Es ist ein Gebot der Menschlich-keit, Flüchtlinge zu retten. Europa muss sich dieser Ver-antwortung stellen. Ich bitte Sie daher, unserem Antragzur Seenotrettung zuzustimmen.

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ISSN 0722-7980