Deutungshypothesen in der interpretativen Forschung

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231 Christian Beck/Helga Jungwirth Deutungshypothesen in der interpretativen Forschung ZusammenJassung. Der Beitrag diskutiert die Frage, welche Eigenschaften Hypothesen in der interpretativen Forschung aufweisen. Besonders wird der EntdeckungsprozeB solcher Hypothesen im Untersuchungsverlauf analysiert. Beispiele aus der empirischen mathematikdidaktischen For- schung verdeutlichen dies. Es werden Hinweise darauf gegeben, wie sich Deutungshypothesen im Untersuchungsverlauf selbst systematisch und gezielt prilfen lassen. Dabei stellt sich jedoch die Frage, ob dies in einer interpretativen Forschung ilberhaupt n6tig und angemessen ist. Der Beitrag begrilndet, warum auf Schritte einer solchen Prilfung nicht verzichtet werden sollte. Summary. The article discusses the question what properties hypotheses in interpretative research own. Particularly, the process of discovery of such hypotheses during the course of the research is being analyzed. This will be clarified by examples from research on didactic of mathematics. Ref- erences are given of how to systematically and specifically test hypotheses throughout the course of the research itself. Nevertheless, the important thing is whether such testing is appropriate to inter- pretative research at all. The article gives reasons for not to abstain from testing. Unter Zugrundelegung eines entsprechend weiten Textbegriffs beruht jede empirische Forschung in der Mathematikdidaktik auf der Deutung von Texten und ist daher interpre- tativ (vgl. dazu BECK/MAIER 1994a). Der Bezugspunkt des vorliegenden Aufsatzes ist allerdings nur die interpretative Forschung "im engeren Sinn"; das heiBt, diejenige, die ihrem eigenen VersUindnis nach Texte auslegt und sich auch nach auJ3en hin so darstellt. Die damit gegebene Moglichkeit der Auseinandersetzung mit der praktizierten wissen- schaftlichen Tatigkeit beglinstigte u. E. das Entstehen eines Forschungszusammenhangs, so dal3 nun von einer in methodologischer Hinsicht eher einheitlichen "interpretativen Richtung" in der Mathematikdidaktik gesprochen werden kann. Auf diese beziehen wir uns explizit, was aber nicht ausschliel3t, daB die hier angestellten Oberlegungen nicht auch fur Arbeiten aul3erhalb dieses Kontextes zutreffend sein konnten. Mit diesem Artikel mochten wir die theoretische Arbeit ein StUck weit vorantreiben, indem wir uns mit den Grundelementen der interpretativen Forschung, den Deutungshy- pothesen, auseinandersetzen (vgl. als Obersichten zur interpretativen Methodologie FLICK u. a. 1991, KONIG/ZEDLER 1995, FRIEBERTSHAuSERIPRENGEL 1997). Wir mochten zu- nachst auf der Basis einer erkenntnistheoretischen Reflexion die Frage erortem, was Deutungshypothesen Uberhaupt sind. Dabei stehen verschiedene Konzepte von Erklaren und Verstehen im Mittelpunkt. In einem zweiten Teil gehen wir sodann auf die Entste- hung von Deutungshypothesen im Forschungsprozel3 ein. Besonderes Gewicht erhalt die Frage nach der forschungslogischen Schlul3weise, die hier zugrunde liegt, da in der For- schungspraxis, aber auch in der Methodologie hierliber haufig noch Unklarheit herrscht: Es geht dabei urn die sog. Abduktion. Schliel3lich befassen wir uns in einem dritten Teil mit dem strittigen Thema, wie die gewonnenen Deutungshypothesen einer systematischen (JMD 20 (1999) H. 4, S. 231-259)

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Christian Beck/Helga Jungwirth

Deutungshypothesen in der interpretativen Forschung

ZusammenJassung. Der Beitrag diskutiert die Frage, welche Eigenschaften Hypothesen in der interpretativen Forschung aufweisen. Besonders wird der EntdeckungsprozeB solcher Hypothesen im Untersuchungsverlauf analysiert. Beispiele aus der empirischen mathematikdidaktischen For­schung verdeutlichen dies. Es werden Hinweise darauf gegeben, wie sich Deutungshypothesen im Untersuchungsverlauf selbst systematisch und gezielt prilfen lassen. Dabei stellt sich jedoch die Frage, ob dies in einer interpretativen Forschung ilberhaupt n6tig und angemessen ist. Der Beitrag begrilndet, warum auf Schritte einer solchen Prilfung nicht verzichtet werden sollte.

Summary. The article discusses the question what properties hypotheses in interpretative research own. Particularly, the process of discovery of such hypotheses during the course of the research is being analyzed. This will be clarified by examples from research on didactic of mathematics. Ref­erences are given of how to systematically and specifically test hypotheses throughout the course of the research itself. Nevertheless, the important thing is whether such testing is appropriate to inter­pretative research at all. The article gives reasons for not to abstain from testing.

Unter Zugrundelegung eines entsprechend weiten Textbegriffs beruht jede empirische Forschung in der Mathematikdidaktik auf der Deutung von Texten und ist daher interpre­tativ (vgl. dazu BECK/MAIER 1994a). Der Bezugspunkt des vorliegenden Aufsatzes ist allerdings nur die interpretative Forschung "im engeren Sinn"; das heiBt, diejenige, die ihrem eigenen VersUindnis nach Texte auslegt und sich auch nach auJ3en hin so darstellt. Die damit gegebene Moglichkeit der Auseinandersetzung mit der praktizierten wissen­schaftlichen Tatigkeit beglinstigte u. E. das Entstehen eines Forschungszusammenhangs, so dal3 nun von einer in methodologischer Hinsicht eher einheitlichen "interpretativen Richtung" in der Mathematikdidaktik gesprochen werden kann. Auf diese beziehen wir uns explizit, was aber nicht ausschliel3t, daB die hier angestellten Oberlegungen nicht auch fur Arbeiten aul3erhalb dieses Kontextes zutreffend sein konnten.

Mit diesem Artikel mochten wir die theoretische Arbeit ein StUck weit vorantreiben, indem wir uns mit den Grundelementen der interpretativen Forschung, den Deutungshy­pothesen, auseinandersetzen (vgl. als Obersichten zur interpretativen Methodologie FLICK u. a. 1991, KONIG/ZEDLER 1995, FRIEBERTSHAuSERIPRENGEL 1997). Wir mochten zu­nachst auf der Basis einer erkenntnistheoretischen Reflexion die Frage erortem, was Deutungshypothesen Uberhaupt sind. Dabei stehen verschiedene Konzepte von Erklaren und Verstehen im Mittelpunkt. In einem zweiten Teil gehen wir sodann auf die Entste­hung von Deutungshypothesen im Forschungsprozel3 ein. Besonderes Gewicht erhalt die Frage nach der forschungslogischen Schlul3weise, die hier zugrunde liegt, da in der For­schungspraxis, aber auch in der Methodologie hierliber haufig noch Unklarheit herrscht: Es geht dabei urn die sog. Abduktion. Schliel3lich befassen wir uns in einem dritten Teil mit dem strittigen Thema, wie die gewonnenen Deutungshypothesen einer systematischen

(JMD 20 (1999) H. 4, S. 231-259)

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und gezielten Priifung unterzogen werden konnen - bzw. ob dies uberhaupt notig und angemessen sei.

I. Was Deutungshypothesen sind

Nach auJ3en hin prasentiert werden im allgemeinen nur Interpretationen von langeren, komplexeren Sinnabschnitten. Vorgestellt werden also Deutungshypothesen, die sich zum Beispiel auf das Geschehen in einer ganzen Mathematikstunde beziehen (und nicht nur auf eine einzelne AuJ3erung eines Schlilers etwa) , auf die Stellungnahme zu einem be­stimmten Thema in einem Interview, auf den VerstehensprozeJ3 einer Schlilerin im Laufe einer bestimmten Unterrichtsreihe oder auf die Einfiihrung von Begriffen im gesamten beobachteten Mathematikunterricht. Die folgende Abhandlung hat also solche "resultie­renden" Deutungshypothesen zum Gegenstand. I

Was ist nun mit ihnen gewonnen? Was ist das Spezifische an Deutungshypothesen? Ein erster Antwortversuch auf diese Fragen konnte lauten: Deutungshypothesen in der interpretativen Forschung zielen auf das "Verstehen" der Phanomene; die nicht­interpretative Human- und Sozialforschung sowie die Naturwissenschaften mochten im Gegensatz dazu die Phanomene "erklaren". So werden etwa in statistisch orientierten mathematikdidaktischen Untersuchungen Unterschiede in den Mathematikleistungen der Probandinnen und Probanden mit der Art des Unterrichts, mit ihrer Einstellung zur Ma­thematik, mit ihrem Geschlecht, mit dem familiaren Hintergrund usw. in Verbindung gebracht und durch diese Faktoren "erklart". In der interpretativen Mathematikdidaktik hingegen wird versucht, die didaktischen Orientierungen von Lehrkraften beispielsweise moglichst genau zu erfassen oder sich auf die Handlungen von Schulerinnen und Schiilem im Unterricht einen Reim zu machen - kurz: all dieses zu "verstehen". Historisch gesehen hat die Entgegensetzung dieser Begriffe jedenfalls wissenschaftstheoretische Tradition. Von DILTHEY (1924; zit. nach MAlER 1995) her existiert der Versuch, den besonderen Wissenschaftscharakter der Geisteswissenschaften durch die Gegenuberstellung von Ver­stehen und ErkHiren herauszuarbeiten. Verstehen sei deren grundlegende Methode. Es wird dabei von sinnlich wahmehmbaren Zeichen auf einen Bedeutungsgehalt - die Inten­tion dessen, der sich durch die Zeichen ausdriickt - geschlossen. In den Naturwissen­schaften gibt es keine Intentionalitat, und damit auch kein Verstehen als Methode. Den Naturwissenschaften entspricht das Erklaren. Damit ist das Feststellen gesetzmaJ3iger, auJ3erer Beziehungen der Gegenstande untereinander gemeint. Nicht ausgeschlossen wird, daJ3 auch die Geisteswissenschaften Erklarungen entwickeln konnen.

Der Versuch, Deutungshypothesen der interpretativen Forschung von den Ergebnissen nicht-interpretativer Human- und Sozialwissenschaften und den Naturwissenschaften dadurch abzugrenzen, daB erstere auf Verstehen gerichtet betrachtet werden, letztere hingegen auf Erklaren, gelingt allerdings nicht. Die Analyse zeigt, daB es unterschiedliche Auslegungen von Erklaren und Verstehen in der Wissenschaft gibt, und daB sich be­stimmte Lesarten des einen Begriffs mit bestimmten des anderen uberschneiden, so daB keine wirkliche Trennscharfe gegeben ist. So unterscheidet beispielsweise MORA VCSIK

I Das Problem fUr unsere AusfUhrungen ist dabei, daB sie in aller Regel sehr umfangreich sind und wir daher vielleicht nicht in dem MaB Beispiele fUr Deutungshypothesen vorstellen k6nnen, wie es wiinschenswert ware.

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(1979; zit. naeh MAIER 1995) ein Verstehen im geisteswissensehaftliehen und ein Verste­hen im naturwissensehaftliehen Sinn und sprieht dann u. a. von einem "Verstehen, war­urn", was impliziert, dal3 einen Saehverhalt kausal zu erklaren eine Art und Weise ist, auf die er verstanden werden kann. Die Auseinandersetzung mit den beiden Begriffen ist aber trotzdem hilfreieh, als sie erkennen laBt, was Deutungshypothesen leisten bzw. was sie nieht leisten. Deutungshypothesen erklaren in einem ganz bestimmten Sinn des Wortes bzw. maehen Phanomene in eben diesem verstehbar.

1.1. Erkldren

Heute gibt es im wesentliehen zwei Diskussionsstrange, die sieh mit dem Begriff der wissensehaftliehen Erklarung befassen und ihn folgendermal3en auslegen. Zum einen wird unter einer wissensehaftliehen Erklarung eine Kausalerklarung verstanden; das heillt, eine Erklarung, die zu einem empiriseh fal3baren Ereignis ein anderes, es verursaehendes an­gibt, das die Frage naeh dem Warum des ersteren beantwortet (vgl. STANGL 1989). Ein wesentlieher Beitrag zur naheren Bestimmung dieses ErkJarungsbegriffs stammt von HEMPEL und OPPENHEIM (1948). Ihr Ansatz findet sieh dementspreehend haufig unter dem Namen "H-O-Sehema" in der wissensehaftstheoretisehen Literatur. Danaeh wird in einer wissensehaftliehen Erklarung versueht, zu einer Aussage, die den zu erklarenden Saehverhalt besehreibt, eine Menge von Gesetzen und Antezedensbedingungen zu fmden, aus denen sieh die Aussage ableiten Jal3t: "Die Erklarung rugt das zu erklarende Phano­men in ein System von Gesetzen ein und zeigt, dal3, wenn die spezifisehen Gesetze und die einsehlagigen besonderen Umstande gegeben sind, sein Auftreten zu erwarten war" (HEMPEL 1977, S. 73). HEMPEL/OPPENHEIM formulieren vier Adaquatheitsbedingungen, die eine wissensehaftliehe Erklarung errullen mul3. Erstens mul3 das "Explanandum", das heil3t, die zu erklarende Aussage, aus dem "Explanans" - den Satzen, die zur Erklarung dienen - logiseh folgen. Es mul3 eine deduktive Folgerung sein. Dies ist aueh insofem wichtig, als eine wissenschaftliche Erklarung auch Vorhersagen erlauben muJ3: Nur unter dieser Bedingung kann in entspreehenden Fallen aus den Gesetzen und entspreehenden Anfangsbedingungen eine Aussage iiber ein zukiinftiges Ereignis abgeleitet werden. Zweitens muf3 das Explanans allgemeine Gesetze enthalten, und nieht blol3 allgemeine Satze, die nur flir besondere Bereiehe, wenn aueh dann flir aile Faile in diesen Bereiehen, gelten. Drittens mul3 das Explanans empirisehenGehalt besitzen; es mul3 zumindest im Prinzip dureh empirisehe Tests bestatigt oder widerlegt werden konnen. Die vierte Forde­rung ist, dal3 die Satze des Explanans wahr sein miissen. Wie sieh an den illustrierenden Beispielen erkennen lal3t, haben die Autoren bei ihren Uberlegungen nur die Naturwissen­sehaften im Blick. Worin nun genau die Leistung beim Finden einer Erklarung liegt, ist nieht in jedem Fall gleieh: "Wenn man sagt, daB eine Erklarung auf allgemeinen Gesetzen beruht, dann heiBt das nieht, dal3 ihre Entdeekung eine Entdeekung der Gesetze erfordem wiirde. Die durch eine Erklarung erreichte entseheidende neue Einsieht kann manehmal in der Entdeekung einer besonderen Tatsache liegen (z. B. die Anwesenheit eines unent­deekten aul3eren Planeten; infektiose Materie, die sieh an den Handen der untersuchenden Arzte befand), die das Explanandum-Phanomen mit Hilfe der zuvor akzeptierten allge­meinen Gesetze erklart. In anderen Fallen, wie bei den Linien im Wasserstoffspektrum, liegt jedoeh die erklarende Leistung in der Entdeekung eines umfassenden Gesetzes (BALMERS) und eventuell in der Entdeckung einer erklarenden Theorie (wie etwa

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BOHRS); in noch anderen Fallen kann die Hauptleistung einer Erklarung in dem Nachweis liegen, daJ3, und wie genau, das Explanandum-Phanomen durch RUckgriff auf Gesetze und Daten erklart werden kann" (HEMPEL 1977, S. 77).

Ohne jetzt die problematischen Seiten dieses Schemas der deduktiv-nomologischen Erklarung mit seinen vier Bedingungen im einzelnen diskutieren zu wollen (vgl. dazu PATZIG 1988, STANGL 1989), sei an dieser Stelle nur darauf verwiesen, daJ3 es schon den Naturwissenschaften nur bedingt angemessen ist. Manche naturwissenschaftlichen Pha­nomene treten nicht mit Sicherheit, sondem nur mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit auf und sind also nicht in deterministischen Gesetzen faJ3bar. HEMPEL (vgl. etwa 1977) selbst hat (daher) eine wahrscheinlichkeitstheoretische Abschwachung des deduktiv­nomologischen Erklarungsschemas formuliert, in der Wahrscheinlichkeitsaussagen an­stelle von determinist is chen Allaussagen im Explanans zulassig sind und die Pramissen das Explanandum nicht logisch implizieren, sondem nur mehr oder weniger wahrschein­lich machen. In der Literatur wird diese "probabilistische Erklarung" allerdings als unbe­friedigende Lasung angesehen, da in ihrem Zusammenhang verschiedene Ungereimthei­ten auftreten kannen (vgl. STANGL 1989).

Erst recht problematisch ist die geforderte AligemeingUltigkeit der Gesetze des Ex­planans fur die human- und sozialwissenschaftliche Forschung. Die dort untersuchten Phiinomene sind nicht derart universeller Natur. Die Deutungshypothesen der interpretati­yen Forschung sind also schon aus dem Grund keine Erklarungen nach dem H-O-Schema. DarUber hinaus haben sie auch nicht die verlangte deduktive Struktur. Es wird nicht ver­sucht, zu den Aussagen Uber den analysierten Sachverhalt Gesetze und Antezedenzien anzugeben, aus den en jene logisch herleitbar sind. Ebensowenig wird ein Wahrschein­lichkeitsschluJ3 gezogen von neu aufgestellten oder bereits bekannten Wahrscheinlich­keitsgesetzen auf die Aussagen in der Deutungshypothese. Deutungshypothesen sind auch keine probabilistischen Erklarungen. Die unten, nach dem zweiten Erklarungsbegriff angefiihrten Beispiele werden den Unterschied verdeutlichen.

Der andere Strang der Diskussion Uber den Begriff der wissenschaftlichen Erklarung ist innerhalb der Sprachphilosophie angesiedelt; Bezugspunkt ist dabei die sozialwissen­schaftliche Forschung. Die Analytische Handlungstheorie hat hier das Konzept der "Handlungserklarung" entwickeIt (Vgl. dazu KELLE 1994, dessen Darstellung gefolgt wird). Bevor darauf naher eingegangen wird, sei darauf hingewiesen, daJ3 in diesem Dis­kurs die Unterscheidung zwischen Erklaren und Verstehen keine Rolle spielt - mehr noch: Die Trennlinie zwischen diesen beiden Begriffen verschwimmt; Verstehen wird als Erklarung von Handlungen angesehen.

Ausgangspunkt der Uberlegungen ist die Intentionalitat des Handelns; die Menschen verfolgen damit bestimmte Ziele. Nach KELLE (1994) mUJ3te nun als Ergebnis der Diskus­sionen in der Analytischen Handlungstheorie eine sozialwissenschaftliche Handlungser­klarung folgende Elemente umfassen:

eine allgemeine, in der Regel nicht explizierte "Rationalitatsannahme", die besagt, daJ3 die Handelnden in dem Sinn rational agieren, daJ3 sie ihr Alltagswissen verwen­den, urn eine Handlung auszuwahlen, die ihnen fur die Erreichung ihres jeweiligen Handlungszieles erfolgversprechend erscheint

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eine "Handlungsmaxime", die die in einem gegebenen sozio-kulturellen Kontext akzeptierte Verbindung zwischen Handlungszielen und dazu notigen Mitteln be­schreibt; damit wird die allgemeine Rationalitatsannahme in eine konkrete Aussage tibergeflihrt die "Kontextbedingungen", die fiir die Handelnden die Basis fiir die Verwirklichung der Handlungsmaxime bilden; dazu zahlen psychologische Besonderheiten der Han­delnden sowie soziale Kontextbedingungen, die den Zugang zu bestimmten Hand­lungsressourcen beeinflussen.

Handlungserklarungen nennen somit zwei Arten von Grunden fiir die untersuchten Handlungen: intentionale, die in den Handlungsmaximen zum Ausdruck kommen und nicht-intentionale, die in den Kontextbedingungen verortet werden.

Yom formal en Autbau her ahnelt eine Handlungserklarung der deduktiv-nomologi­schen Erklarung: Das Explanandum - die in Frage stehende Handlung - folgt aus dem Explanans, das eine eher allgemeine Regel beinhaltet sowie konkrete Bedingungen. Un­terschiedliche Auffassungen bestehen daruber, ob sie auch die inhaltlichen Bedingungen des H-O-Schemas erfiillt (vgl. dazu KELLE 1994). Dahinter steht die Frage, ob den Sozi­alwissenschaften, was die Struktur ihrer Aussagen anbelangt, im Vergleich mit den Na­turwissenschaften ein eigener Status zukommt oder nicht. Streitpunkte sind die Allge­meingtiltigkeit der Regeln und die empirische Uberprutbarkeit. Die mehrheitliche Auffas­sung in bezug auf den ersten Punkt ist, daB die Regeln keine universe lien Gesetze dar­stellen, sondem eben Maximen, die nur in einem bestimmten sozio-kulturellen Kontext Uberhaupt GUltigkeit haben und auch dort nicht in jedem Einzelfall gleichermaBen; und auBerdem gelten sie nur, sofem sie gewuBt werden. Die Rationalitatsannahme ist zwar eine allgemeine Aussage, sie hat aber keinen empirischen Gehalt; sie definiert gleichsam nur den Begriff der intentionalen Handlung selbst. 1m Zusammenhang mit der empiri­schen Uberprtitbarkeit wird argumentiert, daB es sich bei der Beziehung zwischen den Handlungsintentionen und den Handlungen urn eine "innere", rein logische Verbindung handelt, so daB es nicht moglich ist, beide unabhangig voneinander zu prUfen (daB eine bestimmte Handlung ausgefiihrt wurde, ist ohne die Zuschreibung einer bestimmten In­tention nicht moglich, und die Feststellung der Intention muB auf die Handlung Bezug nehmen); dieses Argument konnte sich aber nicht durchsetzen. Die gangige Meinung ist, daB der Zusammenhang zwischen Intentionen und Handlungen doch einer ist, der mit entsprechenden Methoden empirisch geprUft werden kann.

Die Frage, ob die Deutungshypothesen der interpretativen Forschung Handlungserkla­rungen im obigen Sinne sind, muB ebenfalls vemeint werden. Das Kriterium, das in dem Fall nicht erfiillt ist, ist der formale Autbau. Die Aussagen tiber die untersuchten Hand­lungen sind keine Folgerungen im logischen Sinn. In den Deutungshypothesen wird eine andere SchluBweise praktiziert, die "Abduktion" (siehe dazu im Detail 2.2). Das erkla­rungsbedtirftige Phanomen wird nicht aus mehr oder minder Allgemeinem hergeleitet, sondem es wird gleichsam umgekehrt versucht, neue Prinzipien zu entwickeln, unter deren Annahme dann das Phanomen plausibel erscheint.

Die beiden folgenden Beispiele sollen nun eine genauere Vorstellung von Deutungshy­pothesen geben und zeigen, daB sie weder Erklarungen im Verstandnis von HEM­PEL/OPPENHEIM noch der Analytischen Handlungstheorie sind.

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Das erste stammt aus der Analyse von Wahrscheinlichkeitsvorstellungen von Kindem (WOLLRING 1994). In den Interviews dazu sprachen Kinder immer wieder von irgendwel­chen "Wesen", die ihrer Ansicht nach den Ausgang des stochastischen Experiments be­einflussen. Diese uberraschende Gegebenheit wurde analysiert und das Resultat gebundelt in der Hypothese von den "animistischen Vorstellungen", die hier ausschnittweise pra­sentiert wird:

"Von ,animistischen Vorstellungen zur Wahrscheinlichkeit' sprechen wir, wenn durch Aul3erungen eines Probanden in einem Spielinterview belegt ist, dal3 sich seiner Meinung nach in der stochasti­schen Situation ein Wesen mit personal en Eigenschaften, insbesondere mit Bewul3tsein und Willen, autonom aul3ert .... Die dem angenommenen Wesen zugeschriebenen Eigenschaften konnen in weiten Bereichen variieren. Nach unseren Beobachtungen differenzieren wir animistische Vorstel­lungen zur Wahrscheinlichkeit bei Kindem anhand der Hierarchieposition des angenommenen Wesens beztiglich des Probanden und anhand der Korrespondenzform des Probanden mit diesem Wesen. Bei der Hierarchieposition in bezug auf den Probanden unterscheiden wir

tibergeordnete We sen, dabei sind unterscheidbar ,allwissende' We sen und solche, die dies nicht sind, femer We sen ,innerhalb' der stochastischen Situation oder ihr tibergeordnet, gleichgeordnete Wesen, etwa im Sinne einer archetypischen Selbstkopie des Probanden, dabei sind nach Motiven ,Gegner' und im weitesten Sinne ,Mitspieler' unterscheidbar, und nach Fahigkeiten solche, die das Zufallsgeschehen bestimmen oder beeinflussen, und solche, die ihm wiederum unterworfen sind, untergeordnete Wesen, die moglicherweise als durchschaubar, beeinflul3bar, beherrschbar oder domestiziert gesehen werden.

Die empfundene Abhangigkeit von diesem Wesen scheint von der subjektiv erlebten Risikosituati­on abzuhangen, bei hbheren Risiken tendiert die Auffassung der Probanden zu starkerer hierarchi­scher Abhangigkeit von dem angenommenen Wesen .... " (WOLLRING 1994, S. 7 und 23)

Die Vorstellung des Kindes Dominik im Spielwtirfelexperiment wird dann folgenderma­J3en gedeutet:

Er nimmt "ein als ,Gott' bezeichnetes Wesen an, da13 die Zufallssituation bestimmt. Moglicherwei­se mochte Dominik nur wie erwtinscht antworten und erinnert sich dabei an die positive Reaktion der Interviewerin auf seinen Hinweis zum Gedankenlesen 'bei der Mtinze. Der Autor vertritt die Auffassung, dal3 der Indikator ,eigentlich' in Zeile 35 (Oh, das macht eigentlich der Gott, der dreht die ja, die Wtirfel"; EinfUgung H. J.) und andere darauf hinweisen, dal3 eine stabile animistische Vorstellung besteht, die allerdings im Rahmen der Interaktion erst schrittweise eroffnet wird. Wir charakterisieren diese Vorstellung zum Spielwtirfel als ,einem ansprechbaren Herrscher unterge­ordnet', das Zufallige liegt fUr Dominik in der Undurchschaubarkeit ,Gottes'. Die von Dominik genannte Personalisierung des Zufallsgeschehens geht weit tiber den Rahmen der Frage hinaus. Dominiks Vorstellungen vom Zufall beim Spielwtirfel sind in ein Weltbild mit anthropomorphem Herrscher integriert. Seine Bezeichnung deutet an, dal3 er ihm Kenntnisse und Fahigkeiten zu­schreibt, die tiber den Zufallsgenerator und die Spielsituation hinausgehen." (WOLLRING 1994, S. 15)

Wie die Ausschnitte erkennen lassen, wird das Verhalten der Kinder nicht auf einen uber­geordneten, allgemeinen Sachverhalt zurUckgefiihrt (etwa in der Art: 1m Weltbild der Kinder haben magische Vorstellungen einen festen Platz. Sie bestimmen daher auch ihr

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Wahrscheinlichkeitsverstandnis.) Das Fehlen dieser Art von Argumentation bedeutet aber nicht, daB jeglicher Hinweis auf Kausalzusammenhange in einer Deutungshypothese ausgeschlossen ware. So wird hier etwa eine Korrespondenz zwischen der Art der Abhan­gigkeit vom Wesen mit dem erlebten Risiko genannt. Ebensowenig sind Bezugnahmen auf Handlungsintentionen untersagt, wie die Anmerkung, Dominik konnte sich anpassen wollen, zeigt. Zurlickhaltende, abschwachende Formulierungen ("tendiert", "moglicher­weise") deuten darauf hin, daB in beiden Fallen nicht an notwendige Zusammenhange gedacht wird. Die Darstellung der Handlungsintention erinnert liberhaupt an eine alltags­weltliche Betrachtung.

Die andere Deutungshypothese entstand in der Untersuchung moglicher geschlechtsspezi­fischer Beteiligungspraktiken und Interaktionsstrukturen im Mathematikunterricht (JUNGWIRTH 1991 a). Es zeigte sich darin, daB die Interaktion zwischen Lehrkraft und Madchen an manchen Stellen des Unterrichts ungewohnt holprig erscheint; u. a. an sol­chen, in denen es urn Wiederholen, Zusammenfassen oder Einliben geht. Die andere Art der Interaktion dort wird als "liberkomplette Darstellung" interpretiert:

"In der fragend-entwickelnden Aufgabenlosung ist es ublich, daB die SchlilerInnen tentativ frag­mentarische Antwortangebote auf Fragen seitens der Lehrperson unterbreiten (vgl. VOIGT 1984). Die Auswertungen deuten nun darauf hin, daB den Madchen diese Handlungsweise nicht so sehr zur Routine geworden ist wie den Buben. Es konnte in verschiedenen Episoden beobachtet werden, da/3 Madchen von ihr abgehen und in sich geschlossene Antworten geben; das heiBt, Antworten, die im Kern zumindest, die wesentlichen Aspekte des jeweiligen Sachverhalts enthalten. Damit verlassen die SchUlerinnen die gewohnte Handlungsbahn. Aus ihrer neuen Handlungsweise ergibt sich fLir die Lehrperson nicht die Verpflichtung, Antwortfragmente zu bewerten und mit weiteren Fragen die noch fehlenden Aspekte hervorzulocken. Dennoch reagiert die Lehrperson in dieser Weise. Ihre Reaktion kann als ,Auftrennung' der geschlossenen Antwort bezeichnet werden. Sie greift einzelne Teilaussagen der Antwort auf und fragt nochmals nach ihnen. Als Resultat ergibt sich dann sinngema/3 die Aussage, die schon vor der Auftrennungssequenz vorhanden war. Durch die mit den Fragen durchgefLihrte Auftrennung und schrittweise Wiederherstellung erhalt die Ein­gangsau/3erung der SchUlerin, die geschlossene Antwort, eine neue Bedeutung: Sie erscheint im Lichte der Foigehandiungen als ,Uberkomplette Darstellung'. Das Madchen hat offenbar ,zu viel' gesagt; oder anders formuliert: Sie war ,zu schnell'. Die Handlungsweise der Lehrperson kann als Vcrsuch zur Wiederherstellung der fragend-entwickelnden Struktur gewertet werden, die die SchUlerin mit ihrer gcschlossenen Antwort verletzt hat." (JUNGWIRTH 1991 a, S. 151)

Auch an diesem Beispiel zeigt sich, daB Deutungshypothesen das untersuchte Phanomen nicht aus einem anderen herleiten bzw. in einen gesetzesmaBigen Zusammenhang einbet­ten. Dies schlief3t allerdings SchluBfolgerungen, und insofem deduktiv aufgebaute Uber­legungen, im Gesamt der Deutungshypothese nicht aus: DaB die Madchen die Handlungs­bahn verlassen, ist eine Konsequenz ihres Tuns vor dem Hintergrund des Ublichen. Au­f3erdem zeigt sich auch in dem Beispiel, daB Elemente von Handlungserklarungen vor­handen sein konnen. Es wird ein moglicher Handlungsgrund flir die Handlungsweise der Lehrkrafte angeflihrt, wobei hier offen bleibt, ob es sich urn eine subjektive Ansicht han­delt oder urn einen aus der Interaktion resultierenden Zugzwang.

Angemerkt sei abschlief3end noch, daf3 sich die interpretative Forschung auch elabo­rierter Kausalerklarungen nicht grundsatzlich enthalt. Es gibt Beispiele dafiir, daB solche

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entwickelt werden; allerdings nicht innerhalb der Deutungshypothesen, sondem separiert davon, gleichsam in einem zweiten Schritt. So stellt etwa JUNGWIRTH (1991 b) nach ihrer Analyse der Geschlechtsspezifitat der Interaktion im Mathematikunterricht eine Verb in­dung zwischen ihren Ergebnissen und den Befunden soziolinguistischer Untersuchungen tiber den Umgang mit Sprache durch Madchen und Buben her. MAlER (1995) - urn ein anderes Beispiel zu nennen - entwickelt nach der Beschreibung und Evaluierung des Schtilerverstehens Ansatze zur Erklarung von beobachteten Differenzen zwischen den unterrichtlichen Sinnangeboten der Lehrkrafte und den Verstehensprodukten von Schtile­rinnen und Schtilem.

1.2. Verstehen

Was Verstehen ist, wird in der Literatur in verschiedenen Zusammenhangen diskutiert. Eine besondere Tradition hat die Auseinandersetzung damit naturgema13 in der philoso­phischen Hermeneutik, aber auch in anderen Disziplinen - wie der Sozio logie, der kogni­tiven Psychologie oder der Mathematikdidaktik - finden sich zahlreiche Arbeiten, die sich mit dem Verstehensbegriff befassen (fur einen sehr brauchbaren Oberblick siehe MAlER 1995). Es gibt also eine Ftille von Literatur mit sehr unterschiedlichen Zugangen und Auslegungen. Dabei zeigt sich, da13 der Begriff Verstehen in philosophisch orientier­ten, grundlagentheoretischen Arbeiten - und nur solche sind im gegebenen Zusammen­hang von Interesse - im allgemeinen sehr weit gefa13t wird. Wir beschranken uns hier auf die Darstellung eines Ansatzes, der geeignet ist, das Verstehen (oder Erklaren; je nach Sprachgebrauch), das in den Deutungshypothesen der interpretativen Forschung prakti­ziert wird, zu verdeutlichen.2

Es handelt sich urn das Verstehenskonzept des Soziologen und Sozialpsychologen SCHUTZ (1899-1959). Schtitz, im intellektuellen Klima des Wiens der 20er Jahre soziali­siert, emigrierte vor dem Anschlu13 Osterreichs an Nazi-Deutschland in die USA, wo er seit 1943 in New York lehrte. Sein Forschungsinteresse galt vor allem einer philosophi­schen Begriindung der Sozialwissenschaften. Mit dem Soziologen WEBER ging er davon aus, "dass die Sozialwissenschaften als Handlungswissenschaften konzipiert werden mtis­sen und dass sozialwissenschaftliche Erklarung ein Verstehen des subjektiven Handlungs­sinnes voraussetzt" (EBERLE 1984, S. 6). SCHUTZ erweiterte die hieraus gewonnene Sieht durch zentrale Aspekte aus HUSSERLS Phanomenologie, urn die wissenschaftliche Metho­de des Verstehens grundlagentheoretisch abzusichem. Eine erste Fassung erhalten die daraus entwickelten Gedanken 1932 in "Der sinnhafte Autbau der sozialen Welt. Eine Einleitung in die verstehende Soziologie" (SCHUTZ 1981). Seit Mitte der 70er Jahre fin­den seine Schriften im deutschsprachigen Raum eine rasche Verbreitung als wichtiger Bezug in der autkommenden Diskussion urn interpretative Forschung, zunachst vermittelt tiber die Rezeption seines Werks in den USA (durch seine Schtiler BERGERfLuCKMANN, vor allem auch durch die interpretativen Arbeiten GARFlNKELS - vgl. EBERLE 1984, S. 6-9).

2 Es ist aber gleichzeitig so abstrakt, daJ3 es Verstehen im Alltag wie in den Human- und Sozialwis­senschaften iiberhaupt umfaJ3t; das eine erscheint danach weitgehend strukturgleich mit dem ande­ren.

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Die Aussage, von der wir ausgehen, lautet: "Der Mensch in der nattirlichen Einstel­lung versteht also die Welt, indem er seine Erlebnisse von ihr auslegt" (SCHUTZ 1981, S. 149), und dieses Auslegen meint, daB er mit ihnen einen bestimrnten Sinn verbindet. Der spezifische Sinn eines Geschehens ist niehts anderes als eine bestimrnte Art der Zuwen­dung dazu. Zwei Dimensionen werden dabei unterschieden: Intensitat und Perspektive. Intensitat ("artentionale Modifikationen der Aufmerksamkeit" nach SCHUTZ) meint den Grad der Aufmerksamkeit, der dem Geschehen zukomrnt. Der Bogen spannt sich dabei vom gerade noch Bemerken bis zum konzentrierten Betrachten. Bei der Analyse wissen­schaftlichen Tuns wie hier braueht auf diese Dimension nieht we iter eingegangen zu wer­den; imrner ist letzteres gegeben, da wissensehaftliches im Vergleich zu alltaglichem Tun stets auf groBtmogliche Explizierung des jeweiligen Gegenstandes geriehtet ist. Die zweite Dimension, die Perspektive, bezieht sich auf die inhaltliche Festlegung des Sinns. Diese ist abhangig von den Schemata, die zur Deutung des Gesehehens zur VerfUgung stehen. (Welche dann in die Wahl komrnen, hat wiederum mit der Intensitat der Zuwen­dung zu tun.) Die spezifische Sinngebung bzw. das Verstehen besteht somit in der An­wendung "passender" Schemata (vgl. dazu auch die Rahmen-Analyse von GOFFMAN 1977), durch die das betraehtete Gesehehen eingeordnet wird in das Gesamt der alltagli­chen oder wissensehaftlichen Erfahrung.

Die Formulierung, daB Deutungsschemata zur VerfUgung stehen, ist allerdings insbe­sondere in Hinblick auf das Verstehen in der interpretativen (und auch der anderen) For­schung zu vereinfacht. Das Geschehen, fur das eine Deutungshypothese entwickelt wird, ist in der Regel keines, fur das die Folien der Auslegung bereits griffbereit sind. Zum einen handelt es sieh ja urn neuartige Situationen - wie etwa die Auseinandersetzung von Grundsehulkindem mit stochastischen Materialien (vgl. etwa W OLLRING 1994) -, fur die solche noch nieht vollstandig vorhanden sein konnen. Zum anderen sind zwar die Situa­tionen und Handlungen schon aus dem Alltag bekannt - wie etwa das Vorrechnen an der Tafel im Mathematikunterrieht -, sie sollen aber neuartig ausgelegt werden, das heiBt, es sollen bislang unbeaehtete Bestimmungsmogliehkeiten herausgearbeitet werden, da wis­sensehaftliche Sinngebung ja nieht in der schliehten Reproduktion altbekannter Ausle­gungen besteht. Die Forsehenden nehmen die an sich vertrauten Handlungen und Situa­tionen bewuBt als fremde wahr; sie sind also so gesehen auch wieder neuartig. Es handelt sich nach SCHUTZ urn "problematisehe Situationen" und in diesen "muB ieh also neue Wissenselemente erwerben oder alte, aber flir die gegenwartige Situation nieht genUgend geklarte Wissenselemente auf hohere Klarheitsstufen Uberflihren" (SCHUTZ/LuCKMANN 1988, S. 150). Die Deutungssehemata, so wie sie sind, reiehen nieht fur die Sinngebung aus; sie mUssen mehr oder minder modifiziert oder weiterentwiekelt werden bis hin zum Grenzfall, daB Uberhaupt neue Schemata entworfen werden. Ais ein Beispiel flir das be­sehriebene Vorgehen sei VOIGTS (1984) Interaktionsanalyse genannt. Ausgehend von den begriffliehen Konzepten von Muster in der sozialwissensehaftlichen Literatur entwickelt er den Begriff des Interaktionsmusters, der dann als Folie flir die Auslegung von unter­richtlicher Interaktion dient. Sie resultiert in den Deutungshypothesen "Erarbeitungspro­zeBmuster" und "Muster der inszenierten Alltagliehkeit" flir bestimmte Faile von Unter­richt.

SCHUTZ differenziert in der Folge dann den Begriff "Fremdverstehen" we iter aus. Es bedeutet zum einen, den Blick auf den "auBeren Hergang" von Handlungen oder Interak­tionen zu lenken, und diesen unter Anwendung geeigneter Deutungsschemata in den Ge-

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samtzusammenhang der Erfahrung einzuordnen. Das Wesentliche dieser Art von Verste­hen ist, daB die gesetzten Zeichen - seien sie nun verbaler oder nonverbaler Natur - ohne Rtickbezug auf die Handelnden gedeutet werden. "Was ich ... erfasse, ist ... die objektive Gegenstandlichkeit des Handlungsablaufs, welche durch einen Akt der Deutung - etwa der Benennung - von mir und fur mich in einen Sinnzusammenhang eingestellt wird" (SCHOrz 1981, S. 36). Er bezeichnet diesen dann auch als "objektiven Sinnzusammen­hang". Eine wesentliche Rolle kommt dabei der Sprache zu: Sie ist ein von der Subjekti­vitat abgelostes, eben sozial objektiviertes Bedeutungssystem. Die in ihr aufgehobenen "typisierenden Erfahrungsschemata" sind ein Teil des den Menschen "vorgegebenen gesellschaftlichen Apriori" (SCHOTZ/LuCKMANN 1988, S. 282), auf welches sie sich be­ziehen (konnen).

Zum anderen bedeutet Fremdverstehen - nach SCHOrz das "echte" Fremdverstehen -, die Aufmerksarnkeit auf die BewuBtseinsablaufe des (oder der) handelnden Menschen beim Vollziehen der Handlungen zu richten. Gefragt wird nach dem "subjektiven" Sinn­zusammenhang, das heiBt, danach, was der Handelnde mit dem meint, was er sagt bzw. tut, und welchen Stellenwert es flir ihn in einem weiterreichenden Handlungsentwurf hat, sowie nach seinen Motiven - urn wessen willen er handelt (seine "Um-zu-Motive"), und wodurch er zu seinem Handeln veranlaBt ist (seine "Weil-Motive"). Auch hier wird also deutlich, daB Verstehen auch ein Erklaren ist, und zwar im Sinn des Entwickelns sowohl von Handlungserklarungen als auch von kausalen Erklarungen, wenn auch beide nicht formalisiert dargestellt werden.

Darauf hingewiesen sei, daf3 in den Ausfuhrungen zum "echten" Fremdverstehen eine wichtige Annahme enthalten ist; namlich die, daB der Handelnde selbst schon mit seinem Tun einen bestimmten Sinn verbindet. Diesen versucht der Interpret zu erschlieBen. Er kann nicht direkt daran teilhaben, aber er kann sich gedanklich an die Stelle des Handeln­den versetzen und von dieser Position aus sein Handeln deuten - naturgema/3 allerdings auf der Basis seiner eigenen Erfahrung und den damit gegebenen Moglichkeiten einer Deutung. 1m Fall, daf3 ein Beobachter eine Interaktionsbeziehung betrachtet, kann er auch den subjektiven Sinn zu erschlieBen trachten, den das Handeln des Akteurs fur den Adres­saten hat. Er kann fragen, wozu sich dieser veranlaf3t sieht, und die Reaktion als Basis fur die Fixierung des Sinns der in Frage stehenden Handlung nehmen.

Die Deutungshypothesen der interpretativen Forschung zielen auf beide der genannten Arten des Fremdverstehens. Es wird versucht, das Geschehen aus der Binnenperspektive der Handelnden zu betrachten, und es wird diese veri ass en und das Geschehen in einen objektiven Sinnzusammenhang gestellt. Resultierende Deutungshypothesen bieten Rekon­struktionen des untersuchten Geschehens im Lichte der jeweiligen theoretisch­begrifflichen Mittel. Die Gewichtung der beiden Arten von Fremdverstehen im einzelnen hangt von dem Forschungsinteresse abo Sollen etwa Vorstellungen von bestimmten ma­thematischen Begriffen bei Schtilerinnen und Schtilem analysiert werden, kommt deren subjektiven Deutungen naturgemaB ein hoherer Stellenwert zu als wenn beispielsweise Strukturmerkmale von Interaktionen untersucht werden, von denen nicht erwartet werden kann, daB sie bei den Handelnden selbst im BewuBtsein umfassend reprasentiert sind.

Die obigen Unterscheidungen im Fremdverstehen finden sich in ahnlicher Form auch in texttheoretischen Arbeiten, die sich ebenfalls mit Sinn und Verstehen befassen (fur einen

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Oberblick tiber den texttheoretischen Zugang siehe BECK/MAIER 1994a). Betont wird darin die Moglichkeit von Verstehen, das die BewuBtseinsabHiufe der Handelnden tiber­schreitet oder von ihnen absieht. Ausgangspunkt der Oberlegungen ist, daB der sozialwis­senschaftliche Interpret auf Texte angewiesen ist. Verbale AuBerungen bzw. in Form von Beschreibungen auch nonverbale Handlungen sind ihm schriftlich vorgegeben. Gegen­tiber den Intentionen der Sprechenden enthait ein Text nun ein "Mehr an Sinn" ("surplus of meaning" - R1COEUR 1976, S. 4S; zit. nach BECK/MAIER 1994a), das sich durch die unterschiedlichen Bedeutungen des Gesagten im System der Sprache ergibt. Den Sinn von AuBerungen zu heben, bedeutet also nicht nur, die Intentionen der Sprechenden zu erschlieBen. Es ist ebenso zulassig - bzw. sogar angezeigt, da Wissenschaft ja neue Les­arten ins Spiel bringen soli - dartiber hinaus zu fragen, wie jemand die vorliegende AuBe­rung im Sprachsystem tiberhaupt verstehen kann. AuBerdem ist der Text nicht mehr auf die Sprechsituation bezogen. Es bietet sich daher die Moglichkeit zu "nicht-situativen und tiberdauemden Beztigen" (RICOEUR 1985, S. 90; zit. nach BECK/MAIER 1994a). Damit konnen allgemeine, die Situation tiberschreitende Aspekte herausgearbeitet werden; je­doch keinesfalls im Sinn einer empirischen Verallgemeinerung, sondem als "Verweis auf eine mogliche Welt" (R1COEUR 1985, S. 113), wodurch ein neuer Bezug entsteht. Und drittens verliert der Text den konkreten Adressatenbezug des Sprechens. Eine genaue Kenntnis der jeweiligen Adressaten der festgehaltenen AuBerungen ist daher nicht erfor­derlich, urn diese auslegen zu konnen.

Auch OEVERMANN in seinem Ansatz unterscheidet zwei Realitatsebenen: die Ebene der "latenten Sinnstrukturen eines Textes einerseits, die unabhangig von ihrer jeweiligen psych is chen Reprasentanz auf seiten der Textproduzenten und Textrezipienten rekon­struierbar sind", sowie die Ebene der "subjektiv intentional reprasentierten Bedeutungen eines Textes auf seiten der handelnden Subjekte andererseits" (OEVERMANN u. a. 1979, S. 367).

Gemeinsames Kennzeichen jeder Art von Verstehen ist, daB es immer ein konstruktiver Akt ist. Es bedeutet nicht, sich "die" Wirklichkeit zu erschlieJ3en. Zuganglich ist die Welt nur so, wie sie aufgrund der Erfahrung konstruiert wird. Dies gilt fur den Bereich das Alltags ebenso wie fur den der Wissenschaft. Wahrend aber das Interpretieren im Alltag moglichst rasch brauchbare Vermutungen tiber den gemeinten Sinn der Handlungen der anderen und ihrer Motive liefem soli, ist das Kennzeichen des wissenschaftlichen das extensive, gleichsam "unpraktische" Auslegen. Es ist durch spezifisch wissenschaftliche Interessen, die zum Beispiel in den Forschungsfragen zum Ausdruck kommen, angeleitet, und zur Auslegung werden eben auch nichtalltagliche Deutungsschemata verwendet. Die wissenschaftlichen Konstruktionen sind also mehr oder minder weit von den alltaglichen entfemt. SCHUTZ formuliert dazu allerdings das Postulat der "Adaquanz": Damit ist ge­meint, daB ,jeder Begriff in einem wissenschaftlichen Modell mensch lichen Handelns so konstruiert sein muB, daB eine innerhalb der Lebenswelt durch ein Individuum ausge­fuhrte Handlung, die mit der typischen Konstruktion tibereinstimmt, fur den Handelnden selbst ebenso verstandlich ware wie fur seine Mitmenschen, und das im Rahmen des All­tagsdenkens" (SCHUTZ 1971, S. SO).

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1.3. Generalisierbarkeit

1m folgenden soli nun die Frage der Generalisierbarkeit der Deutungshypothesen ange­schnitten werden. Haben sie eine Reichweite tiber die in sie eingehenden Daten hinaus? Oder beziehen sich die Aussagen gerade auf die untersuchten Daten, trotz des Verweises auf eine mogliche Welt (RICOEUR); drucken sie also nichts Allgemeineres aus? Wissenschaft wird gemeinhin als der Bereich angesehen, der sich mit dem "AlIgemeinen" befaBt. Allgemeinheit ist dabei in den Erfahrungswissenschaften etwas, das tiblicherweise empirisch festgestellt wird: Allgemein ist ein Phanomen, wenn es gentigend haufig auf­tritt, bis hin zum Grenzfall, daB es unter seinen Bedingungen in jedem Fall zu beobachten ist. Wenn nur ein Ausschnitt des interessierenden Gegenstandsbereichs untersucht werden kann, das Auftreten des Ph an omens also nur dort konstatiert werden kann und Aussagen dartiber somit zunachst einmal bezogen sind auf diesen Ausschnitt, erOffnet in den Hu­man- und Sozialwissenschaften das tibliche quantitative, empirisch-analytische Vorgehen die Moglichkeit der Verallgemeinerung der Aussagen auf den gesamten interessierenden Bereich. Es wird eine statistische Hypothese formuliert und aufgrund der Untersuchung eines Ausschnitts in Form einer zufallig ausgewahlten, moglichst reprasentativen Stich­probe gepruft, ob sie zutrifft oder nicht. Wenn die Stichprobe ein Ergebnis liefert, das bei Gtiltigkeit der Ausgangshypothese sehr wenig wahrscheinlich ist, dann wird die Hypothe­se zurtickgewiesen (und damit gleichzeitig ihr Gegenteil angenommen), ansonsten beibe­halten. Die in der Hypothese bzw. ihrer Negation formulierte Aussage gilt dann fur den gesamten Bereich, aus dem die Stichprobe stammt. Die Frage der Verallgemeinerbarkeit wird hier also mit Mitteln der Statistik entschieden.

Eine solche Generalisierbarkeit ist bei den Deutungshypothesen der interpretativen Forschung nicht gegeben, und sie wird auch gar nicht angestrebt. Die Entwicklung von Deutungshypothesen beruht auf einem anderen Vorverstandnis von empirischer For­schung und damit auch von der Gewinnung von Resultaten und deren Aussagekraft. Ins­besondere ist an dieser Stelle anzufuhren, daB die Datenerhebung in Form der "theorie­geleiteten Stichprobenermittlung" ("theoretical sampling") erfolgt: "Theoretical sampling is the process of data collection for generating theory whereby the analyst jointly collects, codes, and analyzes his data and decides what data to collect next and where to find them, in order to develop his theory as it emerges. This process of data collection is controlled by the emerging theory" (GLASER/STRAUSS 1967, S. 45). Es wird also nicht vorweg ent­schieden, an welchen Daten eine Deutungshypothese entwickelt wird; Datensammlung und -auswertung sind vielmehr miteinander verschrankt. Will man auch in diesem Fall von einer Reprasentativitat des Datenmaterials sprechen, so ist eine Umdeutung des Be­griffs vorzunehmen: Die ausgewahlten Daten sollen die theoretischen Beschreibungsmit­tel angemessen reprasentieren; interpretative Studien sind daher "ihrem Anspruch nach reprasentativ fur das Spektrum empirisch begrundeter theoretischer Konzepte, in dem sich die empirischen Gegebenheiten angemessen abbilden lassen. Man konnte daher sinnvol­lerweise von theoretischer Reprasentativitat sprechen" (HERMANNS 1992, S. 116).

Wenn in Deutungshypothesen der interpretativen Forschung Allgemeines zum Aus­druck kommt, kann dies also nicht auf einer gelungenen empirisch-statistischen Verall­gemeinerung grunden. Das Allgemeine ist angelegt in den theoretisch-begrifflichen Re­konstruktionen des Geschehens selbst: Es geht in den Deutungshypothesen nicht darum, Person en und ihre Vorste\lungen, Handlungen oder Handlungsgeflechte in ihrer konkre­ten Einmaligkeit zu erfassen. Wenn beispielsweise das Handeln der Schtilerin Sabine

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interpretiert wird, ist dies von Interesse als es das Handeln einer Schtilerin ist; an der Stelle von Sabine konnen auch Petra oder Thomas stehen, wenn deren Handeln - in den untersuchungsrelevanten Aspekten - das gleiche ist. Was tiber das Handeln von Sabine ausgesagt wird, gilt nicht nur gerade fur ihres. Die Darstellung des jeweiligen Geschehens versteht sich zugleich als Darstellung einer Grundform, die sich in diversen konkreten Fallen realisieren kann, und dies eben in den analysierten getan hat. Die Deutungshypo­the sen passen auf die Daten, anhand derer sie entwickelt wurden, aber sie weisen durch diesen Umstand auch dartiber hinaus. Ein "Argumentations-Format" (KRUMMHEUER 1991) - urn ein Beispiel zu geben - beschreibt die Verstandigung ermoglichende Stan­dardisierung der Argumentationen zwischen Lehrkraft und Schtilerinnen bzw. Schtilem in allen Unterrichtssequenzen, die wie die untersuchten Episoden geartet sind.

Mit Bezug auf SCHOTZ handelt es sich bei den Deutungshypothesen urn "typisierende" Darstellungen. Es werden "Typen" gebildet - Konstruktionen, in denen ein Moment der Abstraktion enthalten ist, und die deswegen nicht unbedingt beschrankt sind auf die in die Untersuchung eingegangenen Daten (vgl. dazu auch PESCHEK 1989 tiber Abstraktion und Verallgemeinerung).

Anzumerken ist, daB Typenbildung keineswegs ein Spezifikum wissenschaftlichen Tuns ist. Auch das Alltagswissen kennt Elemente, "die sich nicht auf spezifische Gegen­stande und Personen beziehen, sondem auf typische Aspekte und Attribute von Gegen­standen, Personen und Vorgangen" (SCHOTZ/LuCKMANN 1988, S. 181). Sie spielen sogar eine ganz wesentliche Rolle, die als neue Erfahrungen mit Hilfe von in fiiiheren Erfah­rungen konstituierten Typen3 bestimmt werden. Die Alltagswelt wird also weitgehend als typisiert erlebt. Unter Einbeziehung dieses Aspekts, das heiBt dessen, daB auch im Alltag Typisierungen getatigt werden, konnen die wissenschaftlichen Typen als Konstruktionen zweiten Grades angesehen werden: Die Interpretinnen und Interpreten nehmen Typisie­rungen der ihnen als Untersuchungsgegenstand gegebenen Typisierungen der Handelnden vor.

Als typisierende Rekonstruktionen des Geschehens sind Deutungshypothesen somit potentiell jedenfalls verallgemeinerbar: Sie sind anwendbar nicht nur auf die Daten, aus denen sie resultieren, sondern auch auf andere, neue, fur die eben die Deutungshypothe­sen auch zutreffen, weil durch sie diese Daten hinreichend ausgelegt werden konnen. 1m Gegensatz zu den Studien empirisch-analytischer Provenienz ist der Gtiltigkeitsbereich nicht vorweg bestimmt durch die Wahl einer Stichprobe, die nur fur eine ganz bestimmte Grundgesamtheit reprasentativ ist, sondern offen.

2. Wie Deutungshypothesen entstehen

Nachdem wir im ersten Teil die Beschaffenheit von Deutungshypothesen und deren Ei­genschaften abgegrenzt haben, gehen wir nun auf den EntstehensprozeB solcher Hypothe­sen ein. Wir beziehen uns dabei weniger auf einzelne Methoden der Textinterpretation bzw. Kunstlehren zur Erzeugung von Deutungshypothesen (vgl. fur die Mathematikdi­daktik BECK/MAIER 1994b, generell fur interpretative Forschung z. B. FLICK u. a. 1991,

) Die Deutungsschemata, die im Abschnitt Uber Verstehen angesprochen wurden, stellen also auch Typen dar.

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S. 209ff., FRIEBERTSHAuSERlPRENGEL 1997, S. 535ff.), sondem starker auf allgemeine Voraussetzungen und auf die hier angemessene forschungslogische SchluJ3weise.

2.1. Wissensbasis

Die Relevanz des Alltagswissens fur die Konstruktion von Deutungshypothesen haben wir schon erwahnt: sei es, daJ3 es urn solches Wissen im untersuchten Realitatsbereich geht oder urn das Alltagswissen generell. Daruber hinaus findet sich in einem Teil der metho­dologischen Literatur (vgl. etwa STRAUSS 1987, S. 12) der Rat, moglichst weitgreifende Erfahrungen zur Bildung von Hypothesen zu nutzen. Es zahlen dazu die personliche Er­fahrung ebenso wie Einsicht aus explorativer Forschung, Kenntnis aus fiiiheren Projekten oder Wissen tiber forma Ie Moglichkeiten, Konzepte in Hypothesenform zu verbinden und daraus Theorie zu generieren. In anderen methodologischen Publikationen wird in dieser Hinsicht jedoch eher restriktiv verfahren: Es komme sozusagen darauf an, die Daten so­we it wie moglich selbst sprechen zu lassen - auf die Emergenz theoretischer Einsichten aus den Daten selbst zu vertrauen: "In this posture, the analyst is able to remain sensitive to the data by being able to record events and detect happenings without first having them filtered through and squared with pre-existing hypotheses and biases." (GLASER 1978, S. 3).

Was hierbei implizit thematisiert wird, ist das Problem der Subsumtion, deren strikte Vermeidung in interpretativer Forschung seit jeher ein Abgrenzungskriterium war (vgl. etwa BLUMER 1981, WILSON 1981). "Der Vorwurf der Subsumtion besagt im wesentli­chen, daJ3 ein Forscher aufgrund eines bestimmten Vorwissens einem zu untersuchenden Fall vorschnell seine Eigenttimlichkeit abspricht und ihn lediglich als Exempel zur Besta­tigung seines (theoretischen) Vorurteils vorfiihrt." (REICHERTZ 1995, S. 405) Wie dem entgegengewirkt werden kann, ist bei den beiden soeben skizzierten Positionen jedoch keine prinzipielle Frage der Forschungs10gik: Beide wollen Deutungshypothesen aus dem empirischen Material se1bst generieren. Insofem unterscheiden sie sich z. B. von einem deduktionslogischen Vorgehen. Was indessen strittig ist, sind forschungspsychologische Aspekte. Traut man den Forschenden zu, ein maximal erweitertes Vorwissen zu nutzen, urn auf moglichst viele Deutungsmoglichkeiten, die den Daten angemessen erscheinen, aufmerksam zu werden? Oder halt man die gezielte Aktivierung und Ausweitung des Vorwissens fur eine allzu groJ3e Gefahr, (unbewuJ3t) den eigenen Lieblingsideen nachzu­gehen und die ihnen entsprechenden Deutungshypothesen zu favorisieren, die zwar durchaus an Hand des Datenmaterials plausibel erscheinen konnen, aber andere Deu­tungsmoglichkeiten vorschnell ausschlieJ3en?

Manche Methodologen (z. B. GLASER 1992, S. 31-34) gehen so weit zu fordem, daJ3 Forschende zuvor Uberhaupt keine Literatur aus dem jeweiligen Forschungsgebiet durch­sehen sollen: Das werde erst spater im ForschungprozeJ3 sinnvoll, wenn Deutungshypo­the sen genUgend aus den Daten heraus erarbeitet seien. Andere betonen dagegen die Moglichkeit und auch die WUnschbarkeit, durch die Lekttire die eigene theoretische Sen­sibilitat und Offenheit anzuregen (etwa STRAUSS/CORBIN 1990, S. 48-56). Insofem es sich hier in erster Linie urn ein forschungspsychologisches Problem handelt, liegt es unse­res Erachtens primar daran, durch geeignete interpretative Kunstlehren der Gefahr einer Subsumtion zu begegnen. Hilfsmittel konnen z. B. sein, die Interpretation moglichst in einer Gruppe durchzufiihren, deren Mitglieder unterschiedliche Perspektiven beitragen

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und die sich ggf. korrigieren konnen, oder gezielt und systematisch nach moglichst vie len momentan plausibel erscheinenden Deutungen zu suchen. Welche konkreten UnterstUt­zungen man hier auch immer heranziehen mag: wichtig ist es, das eigene V orgehen und die gewonnenen Resultate immer wieder unter dem Gesichtspunkt der genannten Gefahr zu reflektieren. Auch wenn das keinesfalls eine Garantie sein kann, dieser Gefahr nicht zu erliegen, halten wir die Vorteile fur weit groBer, die eine bewuBte Aktivierung der eige­nen Wissensbasis fur die Bildung von Deutungshypothesen erbringen.

Das Ziel ist die Optimierung der sog. theoretischen Sensibiliuit: "die Verfiigbarkeit brauchbarer heuristischer Konzepte, die die Identijizierung theoretisch relevanter Kate­gorien im Datenmaterial und die Herstellung von Zusammenhangen zwischen diesen Kategorien, d. h. von Hypothesen, ermoglicht" (KELLE 1994, S. 312). Hier orientieren wir uns an Maximen, wie man sie typischerweise in der Feldforschung finden kann - "if social research is to fulfill its potential, we will have to search for the keys to social phe­nomena wherever they may be"; "creative social scientists must be as eclectic as possible. Everything is potential grist for their mill." (ARNOLD 1982, S. 49 und 59) Es kommt ge­rade anfangs darauf an, mit den verschiedenen Wissensarten moglichst ungezwungen zu operieren. ARNOLD (1982, S. 59) spricht hier von "daydreaming": "searching out analo­gies, no matter how farfetched they may at first appear". Wichtig ist dabei nur, sich stets bewuBt zu sein, daB es sich in diesem Fall urn sehr provisorische Hypothesen handelt, die durch Gegenevidenz auch sehr schnell wieder zurtickgenommen werden konnen.

Eine Zuscharfung des Dissenses, inwieweit Vorwissen verwendet werden kann, zeigt sich, wenn man ausdrticklich die Frage stellt, inwieweit es legitim ist, auch Hypothesen aus anderen Forschungen bei der Interpretation zu verwenden. Dies wird insbesondere dann von Bedeutung, wenn die aktuelle Untersuchung ein weiteres Element in einer Kette aufeinander aufbauender F orschung ist. Es lassen sich zwei Eingangsvoraussetzungen unterscheiden:

Sofem es sich urn deduktive Hypothesen handelt, wird mitunter der Rat gegeben, diese nur dann zu verwenden, wenn sich dadurch zusatzliche Interpretationsmoglich­keiten gewinnen lassen; nicht aber, urn - vielleicht voreilig - die in den Daten vorlie­genden Phanomene etwas Bekanntem unterzuordnen. Die Gefahr einer Subsumtion liegt hier sehr deutlich auf der Hand, und eine solche Verwendung deduktiver Hypo­thesen ist auf jeden Fall auszuschlieBen. Es spricht aber nichts dagegen, "daB der In­terpretationsprozeB durch einen differenzierten Einsatz einer Vielzahl von moglichst expliziten theoretischen Ansatzen, die als Heuristiken fungieren, angeleitet werden so lite" (OEVERMANN u. a. 1979, S. 392) - aber eben nur a1s Heuristiken, die gegen­tiber dem Alltagswissen keine privilegierte Erkenntnisstufe darstellen (also nur als Mittel zur Gewinnung neuer, sehr vor1aufiger Hypothesen). Etwas anders verhalt es sich, wenn bereits empirisch begriindete Deutungshypothe­sen (solche, die interpretativ aus vergleichbarem Datenmaterial gewonnen wurden) weiter verwendet werden sollen (vgl. z. B. NETHlVoIGT 1991). Haben solche Hypo­thesen nicht von vornherein eine andere, gegenstandsnahere Wissensbasis? 1st hier die Gefahr, bei Obertragung auf vergleichbare Situationen bzw. verg1eichbarem Da­tenmaterial zu Fehlschltissen zu gelangen, nicht geringer als bei einer herkommlichen Deduktion? Forschende, welche die Grundannahmen einer interpretativen Forschung (vgl. MAIERlVoIGT 1991) teilen, werden diese Fragen in der Regel bejaben (vgl. etwa GLASER 1978, S. 143-149). Doch urn der Gefahr eines Fehlschlusses soweit als ir-

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gend moglich zu entgehen, kommt es auch hier darauf an, die jeweilige Deutungshy­pothese aus dem jetzt vorliegenden Datenmaterial emeut zu rekonstruieren (vgl. STRAUSS 1987, S. 13). Insofem haben auch hier die vorausgehenden Hypothesen strenggenommen nur eine heuristische Funktion.

Psychologisch durfte die Gefahr, "neue Phanomene" unter Bekanntes unterzuordnen, im allgemeinen zwar tatsachlich urn so groJ3er sein, je mehr sich die Forschenden schon mit dem Gegenstand der Untersuchung befaJ3t haben. Und deshalb raten manche Methodolo­gen auch dazu, daJ3 Forschende nie eine zweite Studie zum selben Gegenstand durchfUh­ren sollten. Doch wtirde das gerade dem Ziel einer aufbauenden, kumulierenden Theorie­bildung im jeweiligen Gegenstandsfeld sehr entgegenstehen. Die strikte Empfehlung, sich dem Gegenstand der Untersuchung mit moglichst wenigen vorherigen Hypothesen zu nahem und auf die Emergenz der Deutungshypothesen aus dem Datenmaterial zu vertrau­en (z. B. Glaser 1978, 1992), halten wir fUr naiv. Denn die Entdeckung von Indizien, die fUr die Bildung von Deutungshypothesen relevant sein konnten, setzt immer schon ein Vorverstandnis voraus. Das gilt erst recht fUr die Entdeckung neuer, uberraschender Pha­nomene; denn neu und uberraschend kann etwas nur vor dem Hintergrund eines bisheri­gen (vielleicht stillschweigend akzeptierten) Wissens sein. Insofem ist der bewuJ3te, re­flektierte Einsatz dieses Vorwissens vorzuziehen, anstatt einer unkontrollierten Dynamik stattzugeben und etwas, das sich im BewuJ3tsein der Forschenden auf der Basis ihres VOrWissens konstituiert, am Ende gar falschlich den Daten selbst als eine Art innere Qua­litat zuzuschreiben.

2.2. Abduktion

Wie wir betonten, geht es bei der Gewinnung von Deutungshypothesen nicht urn ein De­duzieren. Und Deutungshypothesen selbst haben keinesfalls den Status von allgemeinen Gesetzen. Von der Gestalt her sind sie elliptisch; im AnschluJ3 an die Handlungstheorie (s. 0.) ist es ublich, hier eher von allgemeinen Regeln und deren jeweiligen Bedingungen zu sprechen. Es kommt bei der Suche nach solchen Regeln, wie wir schon sagten, be son­ders darauf an, nach bisher unbeachteten Bestimmungsmoglichkeiten zu suchen. Vor allem neue und iiberraschende Ereignisse, die sich mit dem vorhandenen Regelwissen nicht erklaren lassen, mach en eine solche Forschungsperspektive geradezu unumganglich. Aber auch bei vertrauten Ereignissen laJ3t sich bewuJ3t nach dem bisher Ungeklarten und Fremden fragen.

Die forschungslogische SchluJ3weise, die hier bei der Generierung von Deutungshy­pothesen zum Tragen kommt, ist die sog. Abduktion (lat. "das WegfUhren"). Das Konzept wird in der interpretativen Forschung im allgemeinen im Ruckgriff auf PEIRCE gebraucht; in der Mathematikdidaktik wurde es bereits von VOIGT (1984, S. 83-88) ausfUhrlicher thematisiert. Die Abduktion besteht nun darin, eine neue allgemeine Regel zu konstruie­ren, mit der sich ein unerwartetes Ereignis oder ungeklarte Aspekte eines ansonsten be­kannten Phanomens erklaren lassen. Man versucht, probeweise neue Regeln zu formulie­ren, unter deren hypothetischer Gultigkeit das iiberraschende Ereignis plausibel wird.

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"The surprising fact, C is observed. But if A were true, C would be a matter of course. Hence there is a reason to suspect that A is

true." (PEIRCE, 5.189; zit. nach KEtLE 1994, S. 148)

Zur Illustration des Abduktionsbegriffs verwendet PEIRCE die Entdeckung der Ellipsen­form der Planetenbahnen durch KEPLER. Die Entdeckung "begann mit der Beobachtung von Daten, die in Widerspruch zu KEPLERS kopemikaniscqem Weltbild standen. KEPLER konnte dies en Widerspruch schliel3lich IOsen, indem er die bis dahin allgemein akzeptierte These falienlieB, daB aile Himmelskorper sich in perfekten Kreisbahnen bewegen .... Am Anfang seiner Oberlegungen stand die Hypothese ovoider Planetenbahnen, die in geome­trischer Hinsicht mehr mit dem Kreis gemeinsam haben als mit der Ellipse. Da die zur Verfugung stehenden Daten auch dieser These widersprachen, fuhrt KEPLER die Annahme von ellipsenformigen Bahnen als Hilfshypothese ein." (KELLE 1994, S. 154)

In Obereinstimmung mit KELLE (1994) und anderen AutoreniAutorinnen (z. B. MATTHES-NAGEL 1982, HILDENBRAND 1991, REICHERTZ 1994) gehen wir davon aus, daB in der interpretativen Forschung al\ein die Abduktion die angemessene Form der hypo­thetischen ErkHirung darstellt, mit welcher der bisherige Rahmen des Wissens tiberschrit­ten werden kann. Es ist zur Begrtindung eine klare Abgrenzung gegentiber der Induktion notig, die vor all em in den Anfangen der interpretativen Forschung als die angemessene logische SchluBweise betrachtet wurde (z. B. GLASER/STRAUSS 1967, BECK 1988). Dazu zitieren wir EBERHARD (1987, S. 126):

,.Die Induktion flihrt - wenn die Stichprobe groB genug und fur die Population reprasentativ ist - lediglich zu Wahrscheinlichkeitsaussagen, und diese Wahrscheinlichkeitsaussagen teilen wenig Neues mit, sondern generalisieren (mit entsprechendem Irrtumsrisiko) die in der Stich­probe bereits gemachten Beobachtungen auf die Population." "Die Abduktion flihrt zu SchluBfolgerungen, die logisch illegitim sind, aber wenn sie stim­men, vermitteln sie neue Informationen. gerade weil sie nicht denknotwendig aus der theoreti­schen Vorgabe und der Beobachtung resultieren."

Zur Illustration konstruiert EBERHARD (1987, S. 126f.) folgendes Beispiel: Das beobach­tete Ereignis sei "diese Vogel sind weiB". Dies fuhrt bei der Induktion unter der Vorgabe des zuordnenden Satzes "diese Vogel sind Schwane" zu der SchluBfolgerung "aile Schwane sind weiB". Von dem beobachteten Ereignis richtet sich die SchluBfo1gerung auf einen allgemeinen Satz ("die empirische Tatsache, daB es in Australien schwarze Schwa­ne gibt, hat keinen EinfluB auf die dargestellte Logik"). Dasselbe beobachtete Ereignis fuhrt bei der Abduktion zur Vorgabe eines allgemeinen Satzes wie "aile Schwane sind weiB", mit dem auf den vorliegenden Fall zurtickgeschlossen wird: "diese Vogel sind Schwane" (EBERHARD 1987, S. 124 halt aus diesem Grund den Ausdruck Retroduktion­Zuriickftihrung -, den PEIRCE neben dem der Abduktion gebraucht, eigentlich fur treffen­der).

Mit den Benennungen, die PEIRCE verwendet, handelt es sich bei der Induktion urn ei­nen SchluB yom Resultat und dem Fall auf die Regel, wahrend bei der Abduktion von Resultat und Regel auf den Fall geschlossen wird (hier nach Zitat und Darstellung in KELLE 1994, S. 145f.) Die bloBe Induktion eignet sich schon deshalb wenig fur eine in­terpretative Forschung, weil sie wenig Neues erbringt und damit dem Postulat einer neu­artigen Interpretation, wie wir es im ersten Teil un seres Textes formulierten, entgegen-

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steht. Bedeutsam ist hier eine Unterscheidung, die PEIRCE in seinem Spatwerk trifft: Er differenziert dort explizit zwischen einer "qualitativen Induktion" und der Abduktion, nachdem er zunachst rur be ides den Ausdruck Hypothese verwendet hatte (KELLE 1994, S. 145 macht darauf aufinerksam, da/3 diese Unterscheidung vielfach in der PEIRCE­Rezeption vernach1assigt wird). 1m Gegensatz zur Abduktion wird bei der qualitativen Induktion ein - neues - Phanomen unter eine bekannte Regel subsumiert; d. h., man macht sich nicht die Miihe eine neue Regel eigens zu tinden, sondern man zieht zuerst bekannte Regeln heran, urn das Phanomen als "typischen Fall von ... (etwas Bekanntem)" zu deuten - eine Schlu/3weise, die auch Lehrkrafte im Unterrichtsalltag unter Handlungs­druck sehr hautig praktizieren. Diese Schlu/3weise tragt aber nur sehr begrenzt zu einem Erkenntnisgewinn bei und kann allenfalls zur Wahrscheinlichkeit der schon bekannten Schlu/3folgerung beitragen. (HABERMAS - 1973, S. 147 - z. B. spricht hier weniger deut­lich von explanatorischer und innovatorischer Abduktion, sagt aber klar, da/3 "die rur die Rekonstruktion der Moglichkeit des wissenschaftlichen Fortschritts relevante Verwen­dung der Abduktion ... die innovatorische" ist.)

An Hand dieser Differenzierung la/3t sich nachdriicklich darauf aufinerksam machen, da/3 auch die qualitative Induktion eine Form der Subsumtion darstellt, die in interpretati­ver Forschung, ihrem Selbstverstandnis gema/3, zu vermeiden ist (vgl. REICHERTZ 1994). Will interpretative Forschung dagegen die Gefahr eines subsumtionslogischen Vorgehens wirksam vermeiden, kommt sie nicht umhin, den abduktiven Schlu/3 bei der Interpretation eines jeden Sinnabschnitts anzuwenden. Das gilt also selbst dann, wenn verrugbares Re­gelwissen schon zu einer plausiblen Deutung befahigen wlirde. Zwar mag sich eine solche Deutung am Ende durchaus mit dem Resultat der Abduktion decken; doch kommt es genau auf den Unterschied im Vorgehen an, der darin besteht, da/3 die Forschenden bei der Abduktion selbst etwas scheinbar Bekanntes klinstlich als fremd betrachten.

Wie heikel eine konsequente Handhabung dieser Forschungslogik ist, laBt sich am Beispiel der Objektiven Hermeneutik nach OEVERMANN u. a. verdeutlichen. Dieses Bei­spiel ist besonders aufschlu/3reich, weil die Objektive Hermeneutik (vgl. als aktuelle Dar­stellung REICHERTZ 1995) als das am weitesten ausgearbeitete und am besten reflektierte Verfahren qualitativer Sozialforschung im deutschen Raum gilt und weil sie sich nach­drlicklich auf die Abduktion als die grundlegende forschungslogische Schlu/3weise beruft. REICHERTZ (1994, S. 140-150) konnte jedoch an Hand von Aussagen OEVERMANNS zei­gen, daB dieser in seinen AU/3erungen zur Forschungslogik zeitweise die Abduktion mit der qualitativen Induktion gleichsetzte und da/3 er in seinen spateren Projekten faktisch subsumtionslogisch vorging: "Je mehr OEVERMANN explizit den Anspruch anrneldete ... , die Abduktion sei die Grundoperation seiner Forschungsarbeit, desto weniger entsprach ihr seine eigene Praxis ... Die in der Anfangsphase abduktiv gewonnenen Theorien gerin­ger und mittlerer Reichweite wurden im Laufe der Entwicklung der objektiven Herme­neutik immer mehr zu einer breit angelegten Kosmologie verwoben, welche bei weiteren Analysen stark interpretationsleitend wirkte und die nur erneut illustriert werden konnte." (REICHERTZ 1994, S. 143)

Umgekehrt la/3t sich an anderen Methodologien und Verfahren zeigen, da/3 sie faktisch einer abduktiven Forschungslogik folgen, auch wenn sie selbst ihre SchluBweise anders bezeichnen. Das prominenteste Beispiel ist die Grounded Theory. Sie gilt international als die am weitesten ausgearbeitete und praktisch entwickelte bzw. erprobte Methodologie zur Generierung empirisch begriindeter Theorie (vgl. als Uberblick STRAUSS/CORBIN

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1994; als deutsche Ubersetzungen liegen vor STRAUSS 1994, STRAUSS/CORBIN 1995, GLASER/STRAUSS 1998).

Die Grounded Theory wurde seit Anfang der 60er lahre im wesentlichen von GLASER und STRAUSS, zwei US-amerikanischen Soziologen, hervorgebracht, zunachst als Neben­produkt einer Feldstudie tiber Sterbeprozesse (GLASER/STRAUSS 1965 - deutsch 1974 -und 1968). Schon zu Beginn der deutschsprachigen Diskussion urn eine interpretative Methodologie weist HOFFMANN-RIEM (1980, S. 345 und 365) darauf hin, daf3 die Ent­wicklung von Hypothesen am deutlichsten von GLASER und STRAUSS vertreten wird. 1hre methodologischen Schriften gelten bald als die "besten Lehrbticher tiber die Verfahren qualitativer Sozialforschung" (KLEINING 1982, S. 249). 1hre aktuelle Bedeutung faf3t SCHWANDT (1997, S. 60) zusammen: "Grounded theory methodology is a specific, highly developed, rigorous set of procedures for producing substantive theory of social phenom­ena". 1hr gegenwartiger Entwicklungsstand ist dokumentiert in einer Reihe kommentierter Anwendungsbeispiele bei STRAUSS/CORBIN 1997.

Obgleich sie sich haufig als induktives Verfahren definierte, konnte KELLE (1994, S. 283-349) nachweisen, daf3 sie in ihren Projekten von Anfang an ein abduktives Vorgehen praktizierte. Es unterstreicht nochmals das bisherige Defizit an Reflexion, daf3 gerade in der Frage der forschungslogischen SchluJ3weise in den letzten lahren ein Dissens zwi­schen den Begrtindem der Grounded Theory zutage getreten ist: Wahrend STRAUSS (1987, S. 12) es ein Mif3verstandnis nennt, die Grounded Theory als "induktive Theorie" zu bezeichnen - wohingegen er erstmals auf die Nahe zur PEIRCES Konzept der Abdukti­on verweist -, halt GLASER (noch 1992) in scharfer Abgrenzung am Anspruch der Induk­tion fest.

Die Abduktion darf man nun jedoch nicht als Anleitung fUr die Bildung von Deu­tungshypothesen auffassen: Sie charakterisiert nur formal die Hypothesengenerierung, stellt aber selbst keine Methodologie dar. Erst die jeweilige Methodologie legt die kon­kreten Forschungsoperationen fest, fUr die sich dann die Form des abduktiven Schlusses rekonstruieren laf3t. Zufall, Intuition oder Spekulation spielen bei jedem Verfahren eine gewisse Rolle, wmal es sich in der Regel urn sog. KunstIehren handelt; dies widerspricht aber keinesfalls dem Prinzip der Abduktion.

Was man auf den ersten Blick vielleicht als Zufallsentdeckung, als Ergebnis von In­tuition oder Spekulation ansieht, entsteht zudem nicht vollig bedingungs- und bezie­hungslos, sondem kntipft an bestehenden Einsichten an. PEIRCE spricht yom Zusammen­kommen von "something old and something hitherto unknown" (PEIRCE, 7.536 zit. nach KELLE 1994, S. 150). Das Alte sind die verschiedenen Elemente der neuen Deutungshy­pothese, das bisher Unbekannte ihre Verkntipfung: So besteht das Resultat der Abduktion in der "Idee, das zusammenzubringen[,] welches zusammenzubringen wir uns vorher nicht hatten traumen lassen" (PEIRCE 1903, 5.181 zit. nach Kell<! 1994, S. 150). Hierbei handelt es sich jedoch urn eine forschungspsychologische Einsicht, nicht aber urn eine zwingende Frage der Forschungslogik. Diese Einsicht ist fUr den Fortgang einer interpre­tativen Theoriebildung dennoch sehr wichtig - zeigt sie doch, daf3 das so zustande kom­mende Wissen keineswegs sprunghaft, fragmentarisch und jeweils befremdend neu ist, sondem daf3 es an Elemente der bisherigen Wissensbestande anschlieJ3t (ohne dabei der Gefahr einer bloJ3en Subsumtion zu erliegen). Unter der Annahme der neuen Deutungshy­pothese kann jedoch sodann eine Modifikation oder sogar Aufgabe bestimmter bisheriger Wissenselemente notig sein.

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Bei der Interpretation eines bestimmten Ereignisses konnen prinzipiell mehrere, d. h. inhaltlich unterschiedliche Abduktionen zu plausiblen Deutungshypothesen flihren - eine in der Forschungspraxis sehr haufige Situation. Dies stellt insofem aber kein unlosbares Problem dar, als sich prinzipiell tiber die unterschiedliche Plausibilitat konkurrierender Deutungshypothesen urteilen laBt (vgl. BECK/MAIER 1994b, S. 65-67). Es wird dazu ebenfalls das vorhandene - vorlaufige - Wissen herangezogen, auf dessen Hintergrund wir der einen oder der anderen Deutung argumentativ eine hohere Plausibilitat zuspre­chen, ohne daB wir dabei strikt quantifizieren oder die Relevanzkriterien strikt auf einer Dimension liegen wiirden. In den interpretativen Methodologien haben sich hierzu einige praktische Anhaltspunkte herausgebildet, wie z. B. die sog. "Sparsamkeitsregel", nach der die Forschenden zuerst nach auBeren Kontextbedingungen suchen sollen, urn ein uner­wartetes Ereignis sinnvoll erscheinen zu lassen (vgl. etwa AUFENANGERILENSSEN 1986, S. 5). Doch kann eine Entscheidung flir eine bestimmte Deutungshypothese durchaus eine schwierige Aufgabe sein kann, und nicht immer laBt sich eine klare und in der Differen­zierung hinreichend groB erscheinende Abstufung treffen (auch eine Lesart, die wir mo­mentan flir eher unwahrscheinlich halten, ist eine prinzipiell mogliche). Es bleibt hier nur die Moglichkeit, daB im Fortgang der Forschung die eine oder die andere (oder mehrere) Deutungshypothesen altemativ in Rechnung gestellt werden.

Insofem Deutungshypothesen, wie wir im ersten Teil dargestellt haben, nicht nur auf den einzelnen Fall, sondem auch auf eine Generalisierung in vergleichbaren Fallen zielen, wird mit der unterstellten Regel - und das unabhangig von der faktisch praktizierten SchluBweise - ein Allgemeinheitsanspruch erhoben, der tiber den untersuchten Fall hin­ausreicht: Indem man eine Haltung einnimmt, die von den untersuchten Phanomenen abstrahiert, erwartet man bei neuen, aber vergleichbaren Fallen, daB sich dieselbe Regel wieder heranziehen laBt, urn das gleichartige Ereignis plausibel zu machen. Damit stellt sich aber auch die .Frage, inwiefem die zunachst an einem einzelnen Fall gewonnene Regel schon als geltend anerkannt werden kann - bzw. wie sie im weiteren Forschungs­prozeB oder in anderen Studien als ein "Wissen" genutzt werden kann und darf.

3. Wie Deutungshypothesen weiler verwendet werden konnen

In der Praxis der interpretativen Forschung geschieht eine Hypothesenpriifung4 haufig schon wahrend des Prozesses der Generierung - zum Teil mehr oder weniger implizit, ohne daB die Hypothesenpriifung als eigener Arbeitsschritt ausgewiesen (oder empfun­den) wiirde, manchmal eher als beilaufige Uberlegung. Etwa: "Wenn sich beim Vorrech­nen von Buben an der Tafel bisher gezeigt hat, daB sie Fehler gut kaschieren konnen, dann mtiBte auf die neuerliche Nachfrage des Lehrers jetzt auch wieder so eine nach au­Ben hin Verstandnis demonstrierende Bemerkung kommen." Dieser SchluB wiirde auf Grund der bisherigen Interpretation mehr oder weniger naheliegen; von einem Gesetz, nach dem das prognostizierte Ereignis zwingend ware, wird aber keinesfalls ausgegangen.

Eine zweite Moglichkeit der Prtifung besteht an Hand des bisher aufgezeichneten Da­tenmaterials, sofem eine Auswertung unter dem spezifischen Aspekt der gerade aktuellen Deutungshypothese noch nicht erfolgt ist: "Wenn sich nun andeutet, daJ3 Buben Fehler gut

4 Die illustrierenden BeispieJe aus der Mathematikdidaktik beziehen sich inhaltlich auf JUNGWIRTH (I99Ja).

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kaschieren konnen, dann ware auch nochmals eine Interpretation der Interaktionssequenz XY interessant, die bisher nicht unter diesem Gesichtspunkt betrachtet wurde."

Eine noch dartiber hinausgehende systematisch-gezielte Hypothesenprtifung ist dann nicht zuletzt eine Frage der Forschungsokonomie: Stehen die zeitlichen, finanziellen und feldspezifischen Moglichkeiten zur Verftigung, nochmals in das Forschungsfeld zurtick­zukehren? Urn beim obigen Beispiel zu bleiben: "Wenn Buben Fehler kaschieren, dann ware es wohllohnend, sich jetzt einmal gezielt mtindliche Prtifungen anzusehen, wei! man dort vermutlich besonders fundig werden mtiBte."

Wissenssoziologisch lieBe sich sodann betrachten, wie Deutungshypothesen von ande­ren Forschenden, in einer Gruppe oder dartiber hinaus rezipiert werden. Welche Kriterien und Argumente werden zur Beurteilung der Validitat geltend gemacht? Dies ist sicherlich eine der zentralen Fragen, wenn man voraussetzt, daB der Anspruch auf Gtiltigkeit in einer scientific community nur per Konsens einzulOsen ist. Solche Prozesse sind keines­wegs zu reduzieren auf das bloBe Anwenden logischer SchluBformen!

Dennoch soli im folgenden der Schwerpunkt auf dem Aspekt der Forschungslogik lie­gen, und zwar - urn das Vorausgegangene fortzuftihren und mogliche Konsequenzen auszuloten - strikt bezogen auf das Prinzip der Abduktion.

Unter der Pramisse dieser Engftihrung ist es im Hinblick auf die Geltung von Deu­tungshypothesen zunachst wichtig, sich bewuBt zu bleiben, daB die Abduktion eine bloBe Vermutung und kein Wahrscheinlichkeitskalktil darstellt - und erst recht keinen Beweis: "Deduction proves that something must be; Induction shows that something actually is operative; Abduction merely suggests that something may be" (PEIRCE 1934, S. 106; zit. nach HILDENBRAND 1991, S. 258). Man folgert hier von einer bekannten GroBe - dem Resultat - auf zwei unbekannte - auf die vermutete Regel und zuletzt auf den Fall (vgl. REICHERTZ 1995, S. 387). Es handelt sich somit um eine extrem fehlbare Aussage. Ober die Wahrscheinlichkeit eines bestimmten abduktiven Schlusses ist damit zunachst nichts ausgesagt. Die Frage nach der faktischen Generalisierbarkeit und der Weiterverwendung der an EinzeWillen (-ereignissen) gewonnenen Deutungshypothesen wird damit zusatzlich problematisch.

Es lassen sich idealtypisch zwei Wege rekonstruieren, wie sich mit dieser Problematik umgehen HiBt. Der erste beruht auf der Entscheidung, jede systematische und gezielte Form einer Wahrscheinlichkeitsprtifung fur tiberfltissig zu erklaren oder sie sogar aus grundsatzlichen Erwagungen zum Selbstverstandnis interpretativer Forschung abzuleh­nen. Der zweite Weg ist, eine solche Prtifung durchaus fur notwendig zu halten und hierzu auch forschungsiogische Schritte zu reflektieren, die unter den Pramissen einer interpre­tativen Forschung angemessen erscheinen.

Eine ausftihrliche Auseinandersetzung mit beiden Moglichkeiten findet sich in der Methodologie der Grounded Theory: Deshalb wollen wir sie wieder als Beispiel heran­ziehen. Wenn deren Vorgehen dabei vielleicht etwas artifiziell erscheint, so liegt das daran, daB die methodologische Reflexion es erfordert, etwas in abgegrenzte Teilschritte zu zeriegen, was im ForschungsprozeB haufig ineinanderfallt: Aile im folgenden darge­stellten Schritte "go on throughout the life of the research project. Probably few working scientists would make the mistake of believing these stood in simple sequential relation­ship." (STRAUSS 1987, s. 12)

Bemerkenswert ist, daB es in der Grounded Theory zu keiner einheitlichen Stellung­nahme kommt - wahrend GLASER strikt auf dem Befolgen der ersten Moglichkeit, auf dem Verzicht einer gezielten Hypothesenprtifung, beharrt, halt STRAUSS eine Prtifung der

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Deutungshypothesen fur unabdingbar. Unser Eindruck yom gegenwartigen Diskussions­stand interpretativer Forschung ist, daB mit der skizzierten Problematik einer der zentra­len offenen und kontroversen Punkte angesprochen wird.

3.1. Hinreichende Relevanz

GLASER und STRAUSS stimrnen darin tiberein, daB Deutungshypothesen zuerst nur den Status von unterstellten, bloB vermuteten Beziehungen haben (vgl. GLASER 1978, S. 79), sie sind stets vorlaufig und stehen unter Vorbehalt (vgl. STRAUSS 1987, S. 12). Dies hat den Vorteil, daB erste Hypothesen relativ rasch formuliert werden konnen, ohne daB es dazu einer ausgefeilten Beweisfuhrung bedarf: "Generating hypotheses requires evidence enough only to establish a suggestion - not an excessive piling up of evidence to establish a proof" (GLASER/STRAUSS 1967, S. 39f.).

Es komrnt hier nun nicht darauf an, daB Glaser den faktisch abduktiven SchluB der von ihrn vorgestellten Forschungsschritte falschlich als Induktion bezeichnet (vgl. vor allem GLASER 1992). Ausschlaggebend ist vielmehr, daB er sich entschieden gegen jede Form einer systematischen und gezielten Priifung der gewonnenen Deutungshypothesen wendet.

Zwar schlieBt GLASER (1978, S. 37f.) eine bestimrnte Art von "Deduktion" nicht ganz aus. Und das in dem Sinn, daB Oberlegungen folgender Art getroffen werden wie: "Ange­nomrnen, unsere empirisch gewonnene Hypothese konnte auch in weiteren Fallen plausi­bel erscheinen; wo wiirden wir soJche Faile dann erwarten?" GLASER spekuliert dabei nicht auf eine logisch makellose SchluBfolgerung, die fur die betreffenden Elemente der Stichprobe zu einer korrekten Pradikatisierung fuhrt (EBERHARD 1987, S. 126 tiber den herkommlichen Deduktionsbegriff) - was letztlich ein Denken in Gesetzen bzw. Gesetz­maBigkeiten voraussetzen wiirde. Er sieht seine Art von Deduktion dagegen strikt im Dienst der Generierung weiterer Deutungshypothesen, indem er auch Phanomene erwartet - ja sogar wiinscht -, die von seinen vorlaufigen Erwartungen abweichen. Da er dabei systematisch strikt von den bisher erarbeiteten theoretischen Resultaten ausgeht und sich von ihnen leiten laBt - so vorHiufig und fraglich sie auch sein mogen -, nennt er dieses Vorgehen "conceptual elaboration" (GLASER 1978, S. 40) und spater auch "conceptual deduction" (GLASER 1992, S. 39; [Hervorhebung nicht im Original]).

Es geht GLASER also nicht darum, mit Hilfe der conceptual deduction aus den schon erarbeiteten Deutungshypothesen V oraussagen fur bestimrnte Ereignisse zu formulieren und diese dann an der erfahrbaren Realitat zu priifen ("logical elaboration", "logical de­duction" - in jenem herkomrnlichen Sinn, wie wir den Begriff Deduktion bisher ebenfalls verwendet haben); sondem die Deduktion dient alJein dazu, Ideen zu gewinnen, wo es sich lohnen konnte, weiteres Datenmaterial zu erheben, urn die entstehende Theorie durch zusatzliche - neue - Deutungshypothesen zu erweitem bzw. die bereits generierten Deu­tungshypothesen ggf. zu differenzieren. Absicht ist es folglich, mit Hilfe der Deduktion systematisch Anhaltspunkte dafur zu gewinnen, wo sich beim nachsten Schritt der Da­tenerhebung oder -auswertung theoretisch bedeutsames Material finden laBt, wodurch sich die Moglichkeiten zur Ausarbeitung der Theorie maximieren lassen (vgl. GLASER 1978, S. 40). Forschungspraktisch ist damit genau jener ProzeB des theoretical samplings angesprochen, den wir schon im ersten Teil als angemessene Form der Datenerhebung einer interpretativen Forschung zitiert haben. Die neu entstehenden Deutungshypothesen

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werden dann ihrerseits wieder zur Basis fur weitere conceptual deductions, die den Pro­zeJ3 der Datenerhebung leiten. Folgerichtig spricht GLASER auch von "directing hypothe­ses".

Zwar raumt GLASER ein, daJ3 eine gezielte Prtifung einzelner Deutungshypothesen hin und wieder stattfinden kann - aber nur, soweit dies fur den Zweck einer Erweiterung der entstehenden Theorie erforderlich bzw. fruchtbar ist! Eine Prufung urn ihrer selbst willen findet also auch hier nicht statt. 1m tibrigen ist GLASER (1978, S. 40) der Ansicht, daJ3 Prtiiprozesse gewissermaJ3en nebenbei ablaufen, ohne daJ3 sie eigens Aufrnerksamkeit verdienen: "The data constantly check deductions that lead nowhere, as the analyst takes his directions from emerging relevancies." Sollten sich leitende Hypothesen als schlecht geeignet erweisen, wlirden sie verworfen und durch andere ersetzt, die sich aus der lau­fenden Interpretation ergeben. Haufig gentige jedoch eine Spezifizierung oder Erweite­rung der fraglichen Deutungshypothesen. Dabei handelt es sich urn die Generierung von naher bestimmenden Bedingungen (vgl. GLASER 1978, S. 38f.).

GLASER setzt folglich ganz auf das Potential der Forschenden zur Generierung mogli­cherweise geltender Regeln, mit den en sich auf die jeweils vorliegenden faile (Daten) schlieJ3en laJ3t. Ausdrticklich grenzt er sich von dem Ziel ab, auf empirischem Weg - tiber Wahrscheinlichkeitsschltisse - zu einer Verallgemeinerung zu gelangen; gerade diese Absicht wlirde das Potential der Forschenden zur Entdeckung neuer Deutungshypothesen schmalern, wenn nicht gar zunichte mach en (vgl. GLASER 1978, S. 149). Die Chancen zur Entfaltung dieses Potentials gilt es dagegen durch eine geeignete forschungspraktische Kunstlehre zu maximieren (vgl. dazu insbesondere die Kapitel tiber "theoretical sensitiv­ity" und "theoretical pacing" in GLASER 1978, S. 1-35).

Konsequenterweise haben am Ende eines Forschungsprozesses fur GLASER aile Deu­tungshypothesen den Status von Vermutungen: "The theory is an integrated set of hy­potheses, not of findings. Proofs are not the point." (GLASER 1978, S. 134) Forschungs­prozesse werden aus dieser Sicht pragmatisch abgeschlossen; die theoretischen Ergebnis­se sind stets voriaufig und konnen durch weitere Forschungen ggf. modifiziert werden.

Eine Art indirekte Validierung der Deutungshypothesen iibertragt GLASER auf die Re­zeption der Forschungsergebnisse durch Betroffene im jeweiligen Forschungsfeld und durch die FachOffentlichkeit. Bei Beachtung der iiblichen Kunstregeln einer Grounded Theory-Studie ist er sich zwar einer Zustimmung im hohen MaJ3e sicher: "This process generates theory that fits the real world, works in predictions, is relevant to the people concerned and is readily modifiable. Countless studies make us quite sure of this effort." (GLASER 1978, S. 142; vgl. auch GLASER 1992, S. 18) Doch kommt es hier auf die fak­tisch weitgehende Herausnahme der Validierungsthematik aus dem Begrundungszusam­menhang der Forschung an. Statt des sen wird diese Thematik tcndenziell in den Verwer­tungszusammenhang verlagert. Oder es wird anderen Forscherinnen und Forschern iiber­lassen, in sog. Verifikations- und Replikationsstudien die aufgestellten Hypothesen zu priifen (vgl. GLASER 1992, S. 30).

Grounded Theory sei ausschlief31ich eine Methodologie zur Generierung von Hypo­thesen (vgl. GLASER 1992, S. 8, 15f.). "That is all, the yield is just hypotheses! Testing or verificational work on or with the theory is left to others interested in these types of re­search endeavor." (GLASER 1992, S. 16) Und diese Prtifung von Hypothesen erfordere letztlich eine ganz andere Methodologie bzw. Forschungslogik (vgl. GLASER 1992, S. 30).

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3.2. Notwendigkeit einer Prufung

STRAUSS halt es dagegen fUr absolut notwendig, die gewonnenen Deutungshypothesen einer empirischen Prtifung zu unterziehen (vgl. STRAUSS 1987, STRAUSS/CORBIN 1990). Dabei kommen deduktive und induktive ScnluBweisen zur Anwendung. Es ware sogar moglich, daB STRAUSS sieh zur Stiitzung seiner Position auf PEIRCE beruft. Flir diesen lag die "einzige Rechtfertigung" der Abduktion namlich "darin, daB die Deduktion aus ihrer Vermutung eine Vorhersage ziehen kann, die durch die Induktion getestet werden kann" (PEIRCE 1991, 5.171; zit. nach KELLE 1994, S. 151). Auch fUr STRAUSS (1987, S. 12) dient die Deduktion eigens und ausdrticklich dem Zweck der Prlifung der gewonnenen Deutungshypothesen, indem aus ihnen Implikationen gefol­gert werden, die es an weiteren Daten zu prtifen gilt: "Deduction consists of the drawing of implications from hypotheses or larger systems of them for purposes of verification"; "the theory is not just discovered but verified' (STRAUSS 1987, S. 12 und 17). Diese Aus­sage darf jedoch keinesfalls so aufgefaBt werden, als ginge es hier nur urn eine Suche nach Bestatigung. Vielmehr lassen sich auch falsifikatorische Absichten aus den Aussa­gen von STRAUSS rekonstruieren; denn fUr ihn hat auch die teilweise oder vollige Modifi­kation, ja sogar die Zurtickweisung der ursprtinglichen Deutungshypothese einen hohen Stellenwert. Meist wird es jedoch urn eine Spezifizierung und Differenzierung der zu­nachst gewonnenen Deutungshypothesen gehen (vgl. STRAUSS/CORBIN 1990, S. 108f.). Deduktion mit dem Ziel der Prtifung erarbeiteter Deutungshypothesen sei selbstverstand­lich, und ein Vemachlassigen wlirde ein Verklirzen interpretativer Forschung bedeuten: "In this regard, effective social science research must follow the example of physical science research in its intertwining of the formulating of provisional hypotheses, making deductions, and checking them out - all with the use of data." (STRAUSS 1987, S. 14)

Das heiJ3t, daJ3 Deutungshypothesen wahrend des Ablaufs einer Untersuchung mehr­mals geandert werden konnen - je nach dem Ergebnis der Interpretation zusatzlicher Daten, die zur Prtifung herangezogen wurden. Abduktion - auch von STRAUSS/CORBIN als Induktion bezeichnet -, sich anschlieBende Deduktion und induktive Wahrscheinlich­keitskalktile an Hand der gewonnenen Resultate folgen aufeinander und beginnen immer wieder von neuem, wenn eine weitere Deutungshypothese generiert wird (zur Art dieser Wahrscheinlichkeitskalktile: "Recall, that we are not counting numbers, though we are looking for evidence to support and qualify our statements of relationships regarding the data." - STRAUSS/CORBIN 1990, S. III [Hervorhebung nicht im Original]).

Am bemerkenswertesten fUr die Grundsatzdebatte urn Hypothesengenerierung einer­seits versus Hypothesengeneriung plus -prtifung andererseits ist, daB STRAUSS/ CORBIN (1990, S. Ill) nun gerade in dem vollstandigen Prtifdurchgang das eigentliche Qualitats­kriterium von interpretativer Forschung sehen: "This back and forth movement is what makes our theory grounded!" Es wird sogar eine wiederkehrende Bestatigung von Deu­tungshypothesen im Datenmaterial gefordert. "Our proposed relationships have to be supported over and over again in the data, though the particulars may differ" (STRAUSS/CORBIN 1990, S. 112).

Das bedeutet aber keinesfalls, daB man auf diesem Weg die Vorstellung einer streng gesetzesmaBigen Ordnung sozialer Realitat wiedererweckt; vielmehr geht es hier urn probabilistische Kalktile, die auch nieht auf wahrscheinlichkeitstheoretischen Uberlegun­gen basieren, sondem eher den Charakter von alltaglichen Plausibilitatstiberlegungen haben. Damit kann man ein solches Kalktil durchaus noch im Einklang mit dem sehen,

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was wir im ersten Teil als kennzeichnend fur eine interpretative Forschung beschrieben haben.

Ahnlich wie GLASER betont denn auch STRAUSS (1987, S. 13), daB Erfahrung im grlindlichen - gegenstandsbezogenen - Durchdenken der jeweiligen Untersuchungsdaten eine wichtige Grundlage sei. Erst in dieser Koppelung halt STRAUSS eine wirkungsvolle, theoretisch bedeutsame Deduktion fur moglich. Auch fur das induktive Wahrscheinlich­keitskalklil, wenn die Deduktionen an Hand weiterer Daten gepruft werden, ist fur STRAUSS die Kenntnis von eventuell wichtigen Handlungszusammenhangen, Ereignissen u. a. wichtig. Er wendet sich also gegen ein bloB mechanisches KalkUI und zieht bereits interpretativ generiertes Wissen oder Alltagswissen in seine Uberlegungen mit ein.

Auch wenn Deutungshypothesen im weiteren Gang der Untersuchung soweit wie moglich geprUft werden, behalten sie ihren anfanglichen wissenslogischen Status als Vermutungen. Sie sind niemals abschlieBend verifiziert und konnen in zusatzlichen Un­tersuchungsschritten bzw. -projekten stets weiter geprUft werden. Es handelt sich urn "historisch gewordene Erkenntnisse", urn "transitorische Stadien in einer unendlichen Abfolge" (KELU 1994, S. 221)

GLASER (1992, S. 30) versucht zu zeigen, daB es sich bei der von ihm konzipierten Vor­gehensweise und jener von STRAUSS bzw. STRAUSS/CORBIN urn zwei verschiedene Me­thodologien handelt. Er hat insofem recht, als - nach PEIRCE - die Generierung von Hy­pothesen und deren empirische Prlifung logisch unabhangig voneinander zu erfolgen haben (vgl. KELLE 1994, S. 152). So stellt GLASERS Methodologie allein die Generierung in den Mittelpunkt, wahrend STRAUSS auch auf Schritten einer PrUfung besteht. Dennoch hait auch GLASER eine Koppelung fur moglich; beide Methodologien folgen dann nach seiner Vorstellung aufeinander, bleiben aber strikt getrennt: "The two types of method­ologies should be seen in sequential relation. First we discover the relevancies and write hypotheses about them, then the most relevant may be tested for whatever use may require it." Deutlich ist zu spUren, daB GLASER den Nutzen der zweiten Phase nicht recht einzu­sehen vermag. Wichtig ist fur unseren Zusammenhang jedoch festzuhalten, daB es hier nicht urn zwei sich ausschlieBende Optionen geht, zwischen denen man sich wie zwischen zwei inkompatiblen Paradigmen zu entscheiden hatte (vgl. BECKiMAIER 1993, S. 170-173).

Insbesondere dann, wenn es darum geht, aufbauend auf bereits durchgefuhrter inter­pretativer Forschung, eine weitere Theorieentwicklung voranzutreiben (vgl. fur die ma­thematikdidaktische Forschung z. B. KRUMMHEUERlVoIGT 1991), sollte man unseres Erachtens nicht auf Schritte einer PrUfung von Deutungshypothesen verzichten. Zwar ist es fur die Rezeption der Ergebnisse von interpretativer Forschung zutreffend, daB sich ein ProzeB der Generalisierung immer (auch) ,,'im Kopf' des Lesers" (VOIGT 1984, S. 117) vollziehen muB und daB deshalb eine Generalisierung "nicht unbedingt in der Untersu­chung selbst geschieht" (VOIGT 1991, S. 170). Doch dUrfte die Frage, wie sich for­schungslogisch begrUndet zu theoretischen Generalisierungen (Uber die fallbezogene Validierung hinaus) gelangen laBt, in Zukunft tatsachlich - wie OEVERMANN schon 1981 (S. 2) formulierte - "bestandswichtig" fur interpretative Forschung werden: insofem sie sich schon forschungspolitisch der zumindest von auBen an sie herangetragenen Forde­rung stellen muB, auch fUr Theorieentwicklung bedeutsamer Generalisierungen leisten zu konnen (BECK 1994).

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256 Ch. Beck/H. Jungwirth

Dem steht die Frage gegentiber, ob z. B. Gegenstande, wie sie in der interpretativen Unterrichtsforschung untersucht werden, tiberhaupt so einheitlich strukturiert sind, daB Aussagen tiber viele FaIle sinnvoll angestrebt werden konnen. Hierzu sei auf ECKARD KONIG (1982, S. 10lf.) verwiesen, der vor all em in der Auseinandersetzung mit einer quantitativen, am normativen Paradigma orientierten Forschung fordert, daB "die einseiti­ge Ausrichtung der empirischen ErziehungswissenschaJt auf die Untersuchungen gene­reller Gesetzesaussagen .. aufzuheben" ist. Das Ziel sollte sein, zu "Aussagen moglichst hoher Plausibilitat und hohen Gehalts" (KONIG 1982, S. 102) zu kommen, auch wenn sie nur partikular (in bestimmten Gegenstandsfeldern und unter bestimmten Bedingungen) Geltung beanspruchen. Er stellt die Relevanz erziehungswissenschaftlicher Forschung rur konkrete Praxisfelder vor die Frage nach der Generalisierbarkeit der Ergebnisse: Es geht urn das Aufzeigen von Handlungsmoglichkeiten, tiber die Praktiker/-innen in der jeweili­gen Situation entscheiden, wenn sie ihre Erfahrungen wiederfinden oder eben nicht. Inso­fern betrachtet KONIG (1982, S. 102) erziehungswissenschaftliche Forschung als "eine praktische im Unterschied zu einer theoretischen Disziplin".

Trotz der Notwendigkeit, Deutungshypothesen soweit wie moglich zu prtifen, sehen auch wir in der Verifikation nicht das Hauptziel einer interpretativen Forschung - darin sind sich im ilbrigen auch GLASER und STRAUSS einig (vgl. GLASER/STRAUSS 1967, S. 39f.). Das vorrangige Streben nach Verifikation konnte allzu leicht zur aufwendigen Prti­fung weniger, wenn auch relevanter Deutungshypothesen ruhren. Die eigentIiche Starke interpretativer Forschung liegt vielmehr darin, gegenstandsnah haufig auftretende Pro­blem- und Entscheidungssituationen ausfindig zu machen, deren Struktur angemessen zu beschreiben und tentativ mit Hilfe der Abduktion zu neuen Einsichten zu gelangen sowie alternative Formen der Bewaltigung solcher Situationen zu ermitteln (vgl. ZEDLER 1983).

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Anschriften des Verfassers und der Verfasserin.

Dr. habil. Christian Beck Padagogisches Institut Universitat Mainz D-55099 Mainz

Eingang Manuskript: 28.12.1998 EingangTyposkript: 25.05.1999

Dr. Helga Jungwirth Fachbereich MathematikiInformatik Universitat/Gesamthochschule Kassel D-34 \09 Kassel