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INTERKULTURELLE VERSTÄNDIGUNG Dialog Ein Fachkräfteaustausch im Rahmen des Projektes Interkulturell orientiertes Qualitätsmanagement“ 7.–14.5.2004 in Ankara

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Ein Fachkräfteaustauschim Rahmen des ProjektesInterkulturell orientiertesQualitätsmanagement“7.–14.5.2004

in Ankara

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Programm/Inhalt

Freitag, 7.5. AnkunftDie Kolleginnen und Kollegen aus Ankara holen uns vom Flughafen abGemeinsames Abendessen mit den Kolleginnen und Kollegen aus Ankara

Samstag, 8.5. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer erkunden die Stadt in KleingruppenAm Abend gemeinsamer Besuch der Preisverleihung im Rahmen derdeutsch-türkischen Kulturwochen

Sonntag, 9.5. Besichtigung der Burg, des Atatürk-Mausoleums, Park der Jugendund ein kurzer Ausflug ins UmlandAm Abend ProgrammbesprechungEinführung in politische Strukturen undin die Strukturen sozialer Arbeit __________________________________ 5

Montag, 10.5. Soziale Arbeit in der Türkei, Lehrplan der School of Social Work ______ 7Zeit zur freien Verfügung

Dienstag, 11.5. Treffen mit dem Youth Service Department ________________________ 9Treffen mit der Human Rights Foundation ________________________ 11

Mittwoch, 12.5. Street Children: ILO-IPEC Project _______________________________ 14Local Government of AnkaraTreffen im Community Center __________________________________ 17Am Abend Besuch eines Hamams

Donnerstag, 13.5. Zeit zur freien VerfügungTreffen mit „Flying Broom“ _____________________________________ 19

Auswertung des ProgrammsGemeinsames Abendessen mit den Kolleginnen und Kollegen aus Ankara

Freitag, 14.5. Abreise

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Vorwort

Der Fachkräfteaustausch „Dialog in Ankara“fand als Teil des Projektes „Interkulturellorientiertes Qualitätsmanagement“ statt. ImRahmen der qualitativen Interviews zur Evalua-tion des Projektkonzeptes wurde von den Teil-nehmenden geäußert, dass sie ihre Erfahrungendurch eine Auslandsreise erweitern wollten. Sieberichteten, dass eigene Auslandserfahrungendie Entwicklung von Empathie für Probleme inder Migration verbesserten. Zusätzlich wurdebei Qualitätszirkeltreffen der Wunsch geäußert,soziale Einrichtungen im Herkunftsland der Be-sucherinnen und Besucher mit Migrationshin-tergrund kennen zu lernen.

Mit der Unterstützung von Christiane Reinholz-Asolli vom Internationalen Jugendaustausch-und Besucherdienst der Bundesrepublik (IJAB)e. V. konnten als Partner in Ankara die General-direktion für Jugend und Sport und die HacettepeUniversity / School of Social Work gewonnenwerden.

Ein „Dialog“ war dieser Fachkräfteaustausch indreierlei Hinsicht: ein Dialog zwischen Fach-

kräften der Jugend- und der Sozialarbeit inAnkara und München, ein Dialog zwischenPolitik, Verwaltung und Mitarbeiterinnen undMitarbeitern der Jugend- und Sozialarbeit undein Dialog zwischen dem Projekt „Interkulturellorientiertes Qualitätsmanagement“ und demProjekt „Sachverständige für Migrationsfragen“.

Die beiden politischen Vertretungen wurdeneingeladen, um einerseits die Projektarbeit be-kannt zu machen und Stadträten die Möglich-keit zu geben, sich im direkten Gespräch einBild über Ziele, Inhalte und die Arbeit im Projektzu machen. Andererseits sollten die Einrich-tungsvertretungen die Möglichkeit haben, direktihre Belange, Befürchtungen und Bedürfnisseihrer Einrichtungen an die politischen Vertretun-gen weitergeben zu können. Es wurden Stadt-rätinnen und -räte mit Migrationshintergrundeingeladen. Damit waren folgende Annahmenverbunden: Es könnte zu einem fruchtbarenDialog zwischen Stadträtinnen und -räten,Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Einrich-tungen kommen: einerseits über die eigeneMigration und Migrationsmotivation derStadträtinnen und -räte selbst und über dieMotivation, in der Aufnahmegesellschaft einpolitisches Mandat zu übernehmen; anderer-seits über die Reflexion der Bilder, die in derAufnahmegesellschaft über Migrantinnen undMigranten aus der Türkei vorhanden sind; undals drittes über die Erfahrung, Migrantinnen undMigranten in der Rolle von Kommunalpolitikern,also in einer Machtposition zu begegnen. Durcheinen solchen Dialog wäre es möglich, sich derjeweiligen Fremd- und Selbstwahrnehmungund der damit verbundenen Rollenbilder in derkonkreten Begegnung bewusst werden zukönnen.

Teilgenommen an dieser Reise haben:Stadtrat Yasar Fincan, SPD und StadträtinSedef Özakin, Bündnis 90/DIE GRÜNEN undMitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus sechs

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Einrichtungen im Münchner Norden:Alfred Berger, Nachbarschaftsbüro Nordheide,Innere Mission München,Kathrin Grabert, Fraueninitiative Milbertshofen,Ruth Hermes, Schülerkiste, MilbertshoferKinder- und Jugendland, Verein Stadtteilarbeit,Maria Regina Reismann, Schuldnerberatung,Caritas – Zentrum München-Nord,Gabriele Schlaugat, Schülerförderung derArbeiterwohlfahrt,Uschi Weber, LernZiel, ETC e. V.

Sabine Handschuck, Stelle für interkulturelleArbeit, begleitete den Fachkräfteaustauschdurch die Evaluation auf der Grundlage vonqualitativen Interviews. Gülseren Demirel, Sach-verständige für Migrationsfragen der Beratungs-dienste der Arbeiterwohlfahrt konnte als Dol-metscherin für diesen Fachkräfteaustauschgewonnen werden. Anlass der Wahl war, durchdie gemeinsame Reise den Austausch und dieKooperation zwischen den Projekten „Interkultu-rell orientiertes Qualitätsmanagement“ und„Sachverständige für Migrationsfragen“ zu in-tensivieren. Organisiert und begleitet wurde der„Dialog in Ankara“ von Uschi Sorg, Stelle fürinterkulturelle Arbeit.

Beim Vorbereitungstreffen am 11.03.2004fragten wir die Teilnehmenden nach ihrenWünschen und Erwartungen an diesen Fach-kräfteaustausch in Ankara. Besonders wichtigwar ihnen der Besuch von Einrichtungen derKinder- und Jugendarbeit, von Nachbarschafts-projekten / Stadtteilarbeit, von Flying Broom(einem Frauenprojekt) und die Themen Ausbil-dung von Sozialarbeit, Menschen- und Frauen-rechte und der Umgang mit Minderheiten. Siewünschten sich, intensiv bzw. authentisch dieArbeit vor Ort zu erleben und davon für ihreeigene Arbeit zu profitieren.

Bei einem weiteren Vorbereitungstreffenreferierte Dr. Margret Spohn von der Stelle fürinterkulturelle Arbeit zum Thema „Deutsch-türkisches Verhältnis“.

Für alle Beteiligten war es eine intensive Reise,mit vielen Erfahrungen innerhalb und außerhalbdes offiziellen Programms. Beeindruckt warendie Teilnehmenden u. a. von der Offenheit undHerzlichkeit der Menschen, der Gastfreund-schaft und der Vielfalt an unterschiedlichenEindrücken. Als besondere Erfahrung wurde for-muliert, dass es in der Türkei sehr viele aufge-schlossene und engagierte Menschen gäbe, diesich für andere und deren Rechte einsetzten.Überraschend war die Modernität der Stadt unddass es nur sehr wenige verschleierte Frauenim Stadtbild gibt.

Das Programm wurde als sehr ausgewogenempfunden. In der Auswertung wurde ganz be-sonders der Besuch des Community Centershervorgehoben. Bei diesem Programmpunktkamen wir in Kontakt mit den Nutzerinnen derEinrichtung. Beeindruckt waren die Teilnehmen-den von der Herzlichkeit der Frauen, die an dieeigene Zielgruppe erinnere, von ihrem Selbstbe-wusstsein und dem Willen, am gesellschaft-lichen Leben teilzunehmen. Besonders berührthat uns die Geschichte von zwei älteren Frau-en. Eine davon hatte im Community Centertelefonieren, lesen und schreiben gelernt undkonnte dadurch Schritte zur eigenen Selbst-ständigkeit tun. Ein weiteres „Highlight“ warFlying Broom, der Fliegende Besen, ein Projekt-besuch, den sich die Teilnehmenden selbstgewünscht hatten. Hier wurde die Kraft derFrauen hervorgehoben, die es geschafft haben,dass die Einrichtung gut situiert und anerkanntist und die Organisation eines internationalenFrauenfilmfestivals „im Kreuz“ hat und interna-tional vernetzt ist. Als sehr wichtig wurde auch

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der Besuch der Menschenrechtsorganisationempfunden. Diese wurde sowohl als interessantals auch bedrückend erlebt. Formuliert wurde,dass es beeindruckend war, wie die engagier-ten Mitarbeiterinnen für Gerechtigkeit im eige-nen Land eintreten, Missstände aufzeigen undsich trotzdem für ihr Land einsetzen, trotz allerRepressalien, mit denen sie zu kämpfen haben.Wichtig war auch der Austausch mit den Kolle-ginnen und Kollegen der School of Social Workund auch des Straßenkinderprojektes.

Gefallen hat den Teilnehmenden die Mischungaus offiziellem Programm und Zeit für Erkun-dungen auf eigene Faust. Hier konnten Sprach-kenntnisse erprobt, Sehenswertes entdeckt undder Hamam ausprobiert werden. Innerhalb desnicht offiziellen Programms wurde der Hamam-besuch der Teilnehmerinnen als besondersbeeindruckend und als ein schönes Erlebnisempfunden.

Beim Programmrückblick lässt sich feststellen,dass die Arbeit von Frauen als besondersbemerkenswert wahrgenommen wurde. Hierspielt natürlich eine Rolle, dass von elf Teil-nehmenden neun weiblich waren, dadurch wardiese Reise u. a. auch ein Erlebnis unter Frauen.

Bei der Auswertungsfrage, wie sich die ge-machten Erfahrungen auf das eigene Arbeits-gebiet auswirkten, wurde schon kurz nach demAufenthalt deutlich, dass sich die Reise gelohnthatte. Es entstand der Wunsch, die eigenenSprachkenntnisse zu vertiefen. Durch die

Erfahrungen der Reise wollte man in Zukunftden Klientinnen und Klienten freundlicher undoffener begegnen und das Leben zwischenzwei unterschiedlichen Kulturen besser begrei-fen. Mehr Sensibilität und größere Wertschät-zung für die Arbeit mit Migrantinnen und Mig-ranten wurde entwickelt. Insgesamt hat dieReise viel zum Verständnis von türkischen Elternbeitragen. Der Blick auf die Türkei hat sich er-weitert. Es gibt es jetzt auch mehr Ansatzpunktefür Gespräche mit türkischen Klientinnen: EU-Beitritt, Rechte von Frauen in der Türkei undDeutschland, das Kennenlernen von Ankara,des Hamam, der türkischen Küche und derHerzlichkeit. Es gibt jetzt bei manchen dasGefühl, sich den türkischen Familien näher zufühlen. Die Motivation der aktiven Mitarbeit imProjekt „Interkulturell orientiertes Qualitätsma-nagement“ ist durch die Erfahrung des Fach-kräfteaustausches noch weiter gestiegen. Dazukommt, dass sich die Vernetzung zwischen denMünchner Teilnehmenden spürbar auf dieArbeit auswirkt. Ein Erlebnis war für uns alsVeranstalterinnen auch die Offenheit, dasInteresse und die gute Gruppendynamik vonund mit den Teilnehmenden.

Wir danken allen, die dies mit diesem Fachkräf-teaustausch ermöglicht haben. Insbesonderedanken wir Prof. Filiz Demiröz und Hakan Acarder Hacettepe University / School of SocialWork für das interessante Programm und ihreBegleitung während unseres Aufenthalts undGülseren Demirel, der Sachverständigen fürMigrationsfragen der Beratungsdienste derArbeiterwohlfahrt, für die kompetente Unter-stützung durch Dolmetschen und Kultur-dolmetschen.

Wir wünschen Ihnen viel Spaß beim Lesen!

Sabine HandschuckUschi SorgStelle für interkulturelle Arbeit

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Träger sozialer Arbeit in der Türkei

Sabine Handschuck

Die türkische Sozialgesetzgebung definiertsoziale Hilfe im Artikel Nr. 2828 vom 24. Mai1983 als systematische Hilfe, die Familien oderEinzelpersonen zugute kommt, die ohne eigenesVerschulden, sondern durch äußere Bedingun-gen unter materiellem oder sozialem Mangelleiden. Ziel sozialer Hilfe ist, die Lebensbedin-gungen von bedürftigen Personen oder Familienzu verbessern, die entweder ihren Lebensunter-halt nicht bestreiten können und materielleHilfe benötigen oder andere, professionellesoziale Unterstützung benötigen. Soziale Hilfekann kostenlos oder mit Kostenbeteiligung ge-währt werden.Die vielfältigen sozialen Institutionen, Program-me und Angebote werden sowohl von zentralgesteuerten staatlichen als auch von nichtstaatlichen Stellen kontrolliert. Strukturen wer-den von oben nach unten durch Beamte durch-gesetzt. In jeder Region und in jeder Stadt ha-ben die einzelnen Ministerien Repräsentanten.In den Regionen ist ein Gouverneur eingesetzt,der den Gesetzen des Innenministeriums unter-steht. Gouverneure müssen Politikwissenschaftstudiert haben und politische Erfahrungen inLandkreisen gesammelt haben. Sie bleibenGouverneure auf Lebenszeit und sind parteiun-abhängig. Auf kommunaler Ebene gibt es einengewählten Bürgermeister, in Großstädten einenOberbürgermeister, dem regionale Bürgermeis-ter unterstellt sind. Die Bürgermeister unterste-hen dem Bürgermeistergesetz. In Kreisstädtenwerden von der Regierung sogenannte „Land-räte” eingesetzt. Gouverneure haben gegenüberLandräten und Bürgermeistern die höhere Ein-flussnahme.Es gibt fünf unterschiedliche organisatorischeEbenen sozialer Arbeit:

1. MinisterienSozialministeriumJustizministeriumErziehungsministeriumGesundheitsministeriumSicherheitsministeriumFrauen- und FamilienministeriumArbeitsministeriumMinisterium für Jugend und Sport

2. Städtische VerwaltungGemeindezentrumJugendzentrumKursangeboteTagesbetreuungZufluchtstätten

3. UniversitätenJugendzentrumBeratungRehabilitationErziehung

4. Nichtregierungsorganisationen (NGO)Soziale HilfeErziehungService

5. Kommerzielle EinrichtungenTagesbetreuungRehabilitationAltersheime

Soziale Arbeit, die von der Regierung angebotenwird, verfügt über kein festgelegtes Budget. DerHauptteil der Arbeit wird über Spenden, so ge-nannte versteckte Steuern, finanziert. Zu diesenSpenden oder versteckten Steuern zählen„Sozialaufschläge” beispielsweise auf Kinokar-ten, Lotteriescheine, Busfahrscheine usw. AchtProzent der Staatseinnahmen fließen in einenHaushalt für Soziales. Die sozialen Bedarfewerden von der Regierung definiert und ent-sprechend werden Gelder verteilt. Es gibt

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unterschiedliche soziale Angebote durch dieunterschiedlichen Ministerien. Problematischdabei ist, dass es unterschiedliche Gesetzge-bungen gibt, die teilweise nicht einheitlich sind.Beispielsweise sind die Altersgrenzen, an denensich das Justizministerium orientiert, andere alsdie, die für das Erziehungsministerium gelten.Weiteres Konfliktpotenzial sind zentrale und re-gionale Mischträgerschaften, die Einfluss aufdas Budget der Einrichtung haben können. EinBeispiel sind hier die Waisenhäuser, die sowohldem Ministerium unterstellt sind als auch derregionalen Verwaltung. Oder Einrichtungen, diezwar keinem Ministerium unterstellt sind, dafüraber direkt dem Ministerpräsidenten, wie dasAmt für Frauen.Das Amt für Frauen gibt es seit zehn Jahren.Es hat die Aufgabe, zentral Frauenrechte zu för-dern, zu forschen und Vereine und Träger vonEinrichtungen zu steuern. Gerade in diesem Be-reich wurden viele Projekte durch EU-Mittel an-schubfinanziert oder die EU trägt noch immerden Hauptteil der Kosten, was zur Folge hat,dass Fraueneinrichtungen in der Regel keineRegierungsorganisationen sind. Dies kann zuVorbehalten von Regierungsseite bei der Zu-sammenarbeit führen.

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Das Ausbildungsprogramm derSchule für Sozialarbeit und das Systemder Sozialarbeit in der Türkei

Maria Regina Reismann

Mitschrift eines Vortrags von Mr. Hacan Acar:Er ist von Beruf Sozialpädagoge, hat 1996 an derHacettepe Universität seinen Abschluss gemachtund promoviert gerade über Straßenkinder.

Sozialarbeit als Ausbildung und in Verbindungmit wissenschaftlicher Entwicklung hat 1961 inder Türkei begonnen. Aber es hat auch vorher,im osmanischen Reich, soziale Arbeit gegeben.Die UNO hat seinerzeit das Studienprojekt ent-wickelt, zunächst als Akademie, die an das Ge-sundheitsministerium angebunden war. Anfangder 80er-Jahre, nach dem Militärputsch, wur-den die Gesetze geändert. Die Universitätenwurden stärker in die Kontrolle genommen undum auch die Akademie kontrollieren zu können,wurde sie der Universität zugeordnet. Das hatjedoch den Vorteil, dass der Ausbildung eineakademische Aufwertung zugekommen ist. Bisvor drei Jahren war die Hacettepe Universitätdas einzige Ausbildungsinstitut. Nun gibt esauch eine private Universität, an der zur Zeit30 Personen studieren, die aber noch keinenAbschluss gemacht haben.

Das Studium orientiert sich an angelsächsi-schen Modellen (USA, Australien, England). Esdauert fünf Jahre, davon dient das erste Jahrder Vorbereitung auf die englische Sprache. DieUniversität sorgt für ihren eigenen Nachwuchs.Es gibt sieben Professorinnen und Professoren,acht Dozentinnen und Dozenten, sechs Assis-tentinnen und Assistenten und zwölf wissen-schaftliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter,die z. B. auch Supervision im praktischen Feldmachen. Die Universität hat 700 Studentinnenund Stundenten insgesamt und sie ist mit Aus-nahme des oben genannten privaten Institutesdie einzige in der gesamten Türkei. Das heißt,dass sie national tätig und zusätzlich für die in-ternationalen Kontakte zu den entsprechendenNetzwerken zuständig ist. An der Universität istdie Mehrheit der Professorinnen und Professo-ren weiblich! Wie überall in der Türkei!

Hacan Acar arbeitet im Zusammenhang mitseiner Hochschultätigkeit eng mit dem Ministe-rium für Erziehung und Sport zusammen und istMitglied einer Kommission für Außenkontakte,die an verschiedenen Programmen beteiligt ist.

Vor vier Jahren hat die Universität die Lernin-halte umgestellt. Man vermittelte differenzierte,aber voneinander losgelöste Methoden; die

Studierenden hatten große Schwierigkeiten mitder Umsetzung. Jetzt versucht man, ein Ge-samtstudium zu vermitteln. Die Lernendensuchen sich einen Schwerpunkt, z. B. Straßen-kinder, und anhand des Schwerpunktes werdenalle gesellschaftlichen Fragestellungen und dieVielfalt der Methoden gelehrt und gelernt.Im Anschluss an das Englischjahr werden zweiSemester wissenschaftliches Arbeiten vermit-telt und in den folgenden Semestern Fächerwie ökonomisches Wissen, Soziologie, For-schung im sozialpädagogischen Bereich,Anthropologie … (nachzulesen auf der Website).Auch Wahlfächer wie Spiele oder Kunst sindmöglich.

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Im 6. Semester beginnt der Praxiskontakt. DieStudierenden teilen ihre Interessen mit, die Unisucht eine Praxisstelle aus. Zunächst sind dieLernenden einmal wöchentlich in der Einrich-tung, nur als Beobachtende, aber begleitet voneinem Supervisor der Universität und der Ein-richtung, und ab dem 7. Semester zweimalwöchentlich. Es gilt einen Problemlösungs-ansatz zu erarbeiten und gelernte Methodenumzusetzen.Nach dem Studium kann man in allen Arbeits-feldern eingesetzt werden. Wer eine Regie-rungsanstellung bekommt, kann z. B. nachJahren von einem Waisenhaus in die Alten-arbeit versetzt werden. 80 % der Absolventenarbeiten im Regierungsapparat, seit zwei Jahrengibt es einen Trend hin zu den NGOs und in dielangsam entstehenden kommerziellen Einrich-

tungen für Behinderte oder alte Menschen. AmEnde des 8. Semesters ist der Absolvent bzw.die Absolventin fünfmal wöchentlich in der Ein-richtung. Er oder sie versucht, den mit den Su-pervisoren erarbeiteten Plan umzusetzen. Seitvier Jahren gehören zu den Techniken auchLobbyarbeit, beratende Ansätze und Bildung.Psycho-soziale Probleme kommen langsam zumVorschein. Bisher sind die gesellschaftspoliti-schen Ansätze noch wichtiger. Es gibt dort40 % Slumgebiete und die Menschen sind zusehr mit dem Überleben beschäftigt. Eine Dip-lomarbeit gibt es nicht, man macht eine praxis-bezogene Arbeit in der Gruppe (nach drei Jah-ren). Wer alle Scheine hat, kann von der Unigehen.Nach einem Jahr kann man im Ausland denMaster machen.

Die Verdienstmöglichkeiten für eine im öffent-lichen Dienst tätige Sozialarbeiterin bzw. einenSozialarbeiter sind so gering, dass es schwierigist, von dem Gehalt eine Familie zu ernähren. Inschwierigen Arbeitsfeldern gibt es alle drei Jah-re eine Gehaltserhöhung und alle zwei Monatedoppeltes Gehalt. Das ist dann gut für türkischeVerhältnisse. Diese Sozialarbeiter brauchen kei-ne Minderwertigkeitskomplexe zu haben. Aber:Die Schere, was Bezahlung anbelangt, klafftweit auseinander. Außerhalb von Ankara be-kommt man besser eine Anstellung, in Ankaraist es mittlerweile schwierig. Wer gut Englischkann, hat Chancen, bei einer Stiftung oder beider Unesco anzufangen, dort sind die Gehälterauch gut.Das Studium ist stark verschult. Es herrschtAnwesenheitspflicht. Finanziert werden kanndas Studium durch Stipendien vom Staat – esgibt Regierungskredite. Die Uni hat einen För-derverein, der zwölf wirtschaftlich schwachenStudentinnen und Studenten helfen kann. In derRegel kommt das Geld von den Familien, wobeies für die Mittelschicht immer schwieriger wird,die Kinder an die Universitäten zu bringen.

Nähere Informationen sind unterwww.shy.hacettepe.edu.tr zu finden.

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Besuch bei Genclik Spor Vakfi(Youth Service Department)

Alfred Berger

Begrüßt wurden wir vom stellvertretendenLeiter von Genclik Spor Vakfi, Herrn Adnan Gülund von zwei Mitarbeitern.Die Hauptaufgabe von Genclik Spor Vakfi ist inZusammenarbeit mit anderen staatlichen undstädtischen Institutionen die Durchführung undOrganisation von Freizeitmaßnahmen, kulturel-len Angeboten und präventiven Maßnahmen fürJugendliche. Eine enge Kooperation und Zu-sammenarbeit besteht mit Frau Fillis Demirözvon der Universität Ankara.

Die Türkei ist ein Land mit einem überdurch-schnittlich hohen Anteil an Jugendlichen. DasDurchschnittsalter der Bevölkerung beträgt26,8 Jahre. Über 70 Prozent der Einwohner sindjünger als 35 Jahre. 31 Prozent der Bevölke-rung, das heißt 21 Millionen Menschen, sindunter 15 Jahre alt.Die Zuständigkeit für jugendrelevante Themenist auf verschiedene Ministerien verteilt. Soliegt zum Beispiel die Kompetenz für die Ar-beitssituation der Jugendlichen beim Ministeri-um für Arbeit und Soziales, während für Bildungund Ausbildung das Ministerium für NationaleErziehung, für außerschulische Bildung aber dasKulturministerium die Kompetenz besitzt. Zu-ständig für Fragen der Jugendpolitik ist dasGeneraldirektorat für Jugend und Sport. DasGeneraldirektorat versteht sich in erster Linieals Sportdirektorat. Für die außerschulischekulturelle Jugendbildung sind ebenso wie fürdie politische Jugendbildung nur das General-direktorat für Jugend und Sport und das Kultur-ministerium autorisiert. Die jetztige RegierungErdogan plant die Trennung von Zuständigkeitenfür Jugend und Sport. Die Zuständigkeit fürJugendliche soll in das Nationale Erziehungs-ministerium wechseln.

Das größte Aktionsprogramm von Genclik SporVakfi ist die seit 20 Jahren immer in der Zeitvom 15. bis zum 22. Mai stattfindende natio-nale Jugendwoche. In Distrikten und Provinzen,

81 Kreisstädten, Gemeinden und in Dörfernwerden Vorbereitungskomitees unter Vorsitz deshöchsten Verwaltungsamtsinhabers gegründet,um die Feierlichkeiten in der Jugendwoche zuorganisieren. Die Jugendwoche wird in jederOrtschaft regional und in der Hauptstadt über-regional gefeiert. Die Feierlichkeiten, deren An-lass der Beginn des Befreiungskampfes am 19.Mai 1919 ist, beginnen in allen Ortschaften miteiner Jugenddemonstration am 15. Mai mit an-schließender Kranzniederlegung am örtlichenAtatürk-Denkmal. In dieser Woche finden ver-schiedene Veranstaltungen und Preisverleihun-gen an beispielhafte und erfolgreiche Jugend-liche und Jugendgruppen statt. Die Zielgruppedieser Aktionswoche sind Jugendliche im Altervon 12 bis 24, sowohl Jungen als auch Mäd-chen. Bei den Teilnehmerinnen und Teilneh-mern gibt es ein Stadt-Land-Gefälle, traditio-nelle und kulturelle Gegebenheiten bestimmenhier den Anteil der Mädchen und Jungen. DieAktionen sollen für das Kennenlernen und denDialog zwischen den Jugendlichen im Rahmennationaler Werte, der Kultur und den Atatürk’-schen Grundideen sorgen. Dieses Jahr werdenauch Maßnahmen zum Thema „Soziale Risikenvermindern” im Mittelpunkt stehen. Jugendver-treter können bei den Veranstaltungen ihre

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Probleme, Wünsche und Forderungen Vertreternaus Bürokratie und Politik vortragen und disku-tieren.

Ein weiterer Schwerpunkt ist die Organisationvon Sommercamps in den Schulferien für diegleiche Zielgruppe. Kinder und Jugendliche ausbenachteiligten Verhältnissen werden bevor-zugt. Die Sommercamps werden auch interna-tional in der Regel in 14 Ländern per Internetausgeschrieben. Der Eigenanteil für die Teilneh-merinnen und Teilnehmer ist gering. Finanziertwerden diese Maßnahmen aus verschiedenentürkischen Stiftungen und aus EU-Mitteln.Angeboten werden freizeit- und erlebnispäda-gogische Maßnahmen wie kulturelle Besichti-gungen, Wettbewerbe fürTheatereinspielungen,traditionelleTänze und Volksmusik, sportlicheAktivitäten wie Klettern, Rafting, Fußball, Volley-ball und Basketball.Genclik Spor Vakfi organisiert auch internatio-nale Jugendaustauschprojekte, zurzeit wird inAntalya ein Projekt mit deutschen Jugendlichendurchgeführt.Vor zwei Jahren ist eine nationale Agentur fürdie Jugend (Baygurt) gegründet worden, für ca.650 Projekte sind finanzielle Mittel zur Verfü-gung gestellt worden. 46 Projekte sind vonJugendlichen ausgearbeitet und initiiert worden,z. B. ein Pfadfinderprojekt „Bücher für alle” oder„Aus einer anderen Perspektive schauen undandere Perspektiven kennen lernen”.Die Arbeit der Projekte soll international be-kannt gemacht werden, vor allem in den EU-

Staaten, um die EU-Annäherung zu fördern.Eine Zusammenarbeit gibt es bereits mitDeutschland und der Schweiz, die aucheinzelne Projekte bis 10 Tsd. Euro fördern. Inder Türkei werden Sponsoren für die Projekteverstärkt gesucht. In Ankara ist in den Dienst-räumen von Genclik Spor Vakfi ein Jugendraumeingerichtet worden. Hier haben Jugendlichevon Privatorganisationen Treffmöglichkeiten mitZugang zum Internet.

Ein weiteres Arbeitsgebiet von Genclik SporVakfi ist die Prävention und Multiplikatoren-arbeit im Suchtbereich. Offizielle Zahlen zurDrogenabhängigkeit und zum Drogenmiss-brauch unter den Jugendlichen sind nicht be-kannt. In den Kriminalitätsstatistiken werden dieJugendlichen nicht gesondert erfasst. Man gehtdavon aus, dass die Drogenabhängigkeit in derTürkei noch kein gesellschaftliches Problemdarstellt, es kann aber zu einem werden, fallskeine präventiven Maßnahmen getroffen wer-den. Kinder und Jugendliche aus der Mittel-schicht, die vorwiegend Privatschulen besu-chen, sind auffälliger beim Konsum von hartenDrogen als Jugendliche aus der Unterschicht.

Nach der Vorstellung der Arbeitsbereiche vonGenclik Spor Vakfi entwickelte sich eine lebhaf-te Diskussion zu Problemen von türkischenKindern und Jugendlichen in Deutschland. Esbestand Übereinstimmung darin, dass das deut-sche Erziehungssystem nicht ausreichend aufdie fehlende Sprachkompetenz ausländischerKinder und Jugendlicher ausgerichtet ist. In derBerufsausbildung und im weiteren Berufslebenwerden sie deshalb benachteiligt. TürkischeKinder werden zwischen den beiden Sprachenhin- und hergerissen. Sie sind in beiden Spra-chen nicht sicher. Fördermöglichkeiten müssenschon im Kindergarten angeboten werden. Fürdie Kinder von Familien, die in die Türkei zu-rückkehren, gibt es vom ErziehungsministeriumEingliederungshilfen.

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Die Stiftung gibt es seit 1990.Ihre Aufgabenbereiche sind– Rehabilitation und Therapie der Folteropfer– Dokumentation dieser Überschreitungen– Position gegen Folter beziehen

Die Stiftung ist 1990 in Ankara entstanden.Mittlerweile gibt es Einrichtungen in fünf türki-schen Städten (Istanbul, Diyarbakir, Antalya,Izmir, Ankara). Insgesamt gibt es 45 Stellen(Ärzte, Psychiater, Sozialarbeiter, Journalisten).Hinzu kommt die Mitarbeit von Hunderten vonEhrenamtlichen, speziell im medizinischenBereich.

Es gibt eine internationale Vernetzung, v. a. mitDeutschland, Finnland und Schweden. Zudemgibt es Unterstützung durch die EU und durchdie UNO.Das Dokumentationszentrum macht tägliche,monatliche und jährliche Veröffentlichungen inenglischer und türkischer Sprache, die abon-niert werden können. Außerdem gibt es Modell-projekte zur Unterstützung im sozialen und imjuristischen Bereich.Die Stiftung ist im Ausland bekannter als inner-halb der Türkei. Seit einigen Jahren gibt es dieMöglichkeit, mit der Regierung zusammenzu-arbeiten, z. B. im Menschenrechtsausschuss.Besonders stolz ist man auf Veröffentlichungen,

Human Rights Foundation

die von der Regierung nicht abgeblockt wurden.Damit die Verfolgung der Menschenrechtsver-letzungen möglich ist, ist die Stiftung mit ande-ren Einrichtungen im Land vernetzt, steht sie fürBeratung und Informationsvermittlung zur Verfü-gung.Die Stiftung war ursprünglich nur als Dokumen-tationszentrum eingerichtet.

Wie werden die Klienten erreicht? Die Opferoder Anwälte oder Menschenrechtsvereinewenden sich selbst an die Stiftung. Hauptsäch-lich sind es die Menschenrechtsvereine. Inzwi-schen sind es auch häufig Opfer, die durch Re-habilitierte von der Stiftung erfahren haben.

Der eigentliche Arbeitsbereich sind Opfer, diestrukturelle Gewalt erlebt haben (durch Polizei,Soldaten etc.). Entweder wenden sich die Opfersofort nach der Folter an die Stiftung oder nachBeendigung des Gefängnisaufenthaltes.Die Mehrheit der Opfer, die sich an die Stiftungwenden, sind politisch denkende, politisch mo-tivierte Menschen.Ein Kriterium für die Therapie ist, dass die Prob-leme durch Folter – physisch oder psychisch –entstanden sein müssen. Den Angehörigen derFolteropfer wird psychologische Unterstützungangeboten.Der Klient kommt in die Stiftung, es findet einErstgespräch statt, die Stiftung erklärt ihre Auf-gaben, anschließend wird eine ärztliche Unter-suchung durchgeführt. Danach werden anderemedizinische Einrichtungen eingeschaltet, fürderen Kosten die Stiftung aufkommt.Jeder, der in die Stiftung kommt, hat ein Ge-spräch mit Vertretern von drei Disziplinen (Arztetc.). Das Gespräch wird nach Möglichkeit inder Einrichtung geführt.Das größte Problem in der Arbeit der Stiftung:fehlende Lösungsansätze bezüglich der sozialenSituation (Arbeitslosigkeit, Obdachlosigkeit etc.).Man versucht, vorhandene Angebote in An-spruch zu nehmen, die Möglichkeiten sind

Ruth Hermes

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jedoch sehr einge-schränkt. Wenn An-gebote vorhandensind, gibt es andereProbleme: die Opferhaben Hemmungen,sie in Anspruch zunehmen oder werdendiskriminiert (z. B.Registrierung imFührungszeugnis).

Ein aktueller Fall: ein30-Jähriger, der we-gen Diebstahls zudrei Jahren Haft ver-

urteilt wurde, behauptet, von der Polizei gefol-tert worden zu sein. Er ist Lkw-Fahrer mit Füh-rerschein, bekommt wegen des Gefängnis-aufenthaltes jedoch keinen Job mehr. Seinepsychischen Probleme sind erst durch dieseArbeitslosigkeit entstanden. Leider gibt es nurwenige Stellen, die diese Menschen nichtdiskriminieren.

Angeblich gibt es in den letzten Jahren eineAbnahme der Folteropfer, aber es gibt immernoch zu wenig Einrichtungen, um dies überprü-fen zu können. Politisch Inhaftierte werden alsTerroristen bezeichnet, sie werden als ehemalsInhaftierte stigmatisiert und es wird ihnen da-durch die Möglichkeit der Resozialisierung ge-nommen.Reformgesetze: Es gibt ein Gesetz, das Vorbe-straften die Möglichkeit zur Anstellung im öf-fentlichen Dienst oder in der freien Wirtschaftgibt. Die Realität sieht jedoch anders aus.Folter ist gesetzlich verboten, im tatsächlichenLeben wird dies aber nicht berücksichtigt.Die Stiftung hatte bisher mit 900 gemeldetenFolteropfern zu tun. Dabei gibt es Unterschiede:Untersuchungshaft mit Tritten etc., 30–90 Tagemit Foltererfahrungen, jahrelanger Vollzug mitFoltererfahrungen.Je kürzer der Gefängnisaufenthalt, desto größerist die Wahrscheinlichkeit, dass die Therapieerfolgreich verläuft. Je vielschichtiger die Erfah-

rungen, z. B. Folter und erzwungene Auswande-rung aus dem Südosten, desto schwieriger wirdes, zu einem geregelten Leben zurückzufinden.

Fragen der Teilnehmenden: Kommen alle Klien-ten aus der Türkei oder kommen auch Minder-heiten in die Stiftung wie z. B. Bosnier?Die Stiftung ist für alle mit Foltererfahrungenda, aber für Bevölkerungsgruppen wie beispiels-weise die Bosnier gibt es noch die Flüchtlings-organisationen der UNO. Die Stiftung erstelltein Gutachten, egal aus welchem Land derHilfesuchende kommt.

Aus welchen Bevölkerungsgruppen kommendie meisten Folteropfer?90 % der Klientinnen und Klienten sind politischmotiviert, ein Großteil davon sind Kurden, vielekamen nach dem Militärputsch.

Gibt es Sanktionen für die Folterer?Es gibt keine Form der Sanktionierung. Selbstwenn der Gerichtsprozess gewonnen wird, hatdies keinerlei Folgen.

Zieht die Anzeige der Folterer weitere Sanktio-nen für die Folteropfer nach sich?Sie hat Bedrohung und Einschüchterung zurFolge, auch für die Angehörigen.

Wie ist das Zahlenverhältnis Männer – Frauen?Es gibt nur annähernde Zahlen, 30–35 % derFolteropfer sind Frauen (einschließlich der Ver-gewaltigungsopfer).

Auf Druck der EU kam es 2000 zu Reformge-setzen (siehe oben). Das Problem ist ein zubreites Spektrum. Die Zahlen für 2003 sehenfolgendermaßen aus:– 46 Tote, ohne Verurteilung liquidiert– 115 Tote bei Gefecht (durch Auseinander-

setzungen mit Waffen)– 20 Tote bei Minenexplosionen (verminte

Gebiete im Südosten)– 16 Tote, aus politischen Gründen– 1 ziviles Opfer– 61 Tote, von illegalen Organisationen getötet

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– 2 Todesfälle in der Untersuchungshaft– 19 Tote in den Vollzugsanstalten durch

TodesfastenDie Altersgruppe von 0–18 Jahren beträgt zirka7–10 %.

Können Sozialarbeiter ihre Klienten in dentürkischen Gefängnissen besuchen?Dabei muss man zwei Gruppen unterscheiden:Inhaftierte in Untersuchungshaft / Inhaftierte imVollzug (nach der Verurteilung).Seit 2000 gibt es durch die Reformgesetze einneues Modell, das so genannte „F-Modell”.Dabei handelt es sich um die Reduzierung derInsassen in einer Zelle (1–3 Personen) undmögliche Isolationshaft für politische Häftlinge.In der gesamten Türkei gibt es ca. fünf Sozial-arbeiter in den Vollzugsanstalten. Es sollen 69neue Stellen geschaffen werden. Die Kompe-tenz liegt allerdings bei Null.

In den Jugendhaftanstalten ist es etwas besser.Kinder können jedoch ab elf Jahren inhaftiertwerden (Strafmündigkeit), von elf bis 15 Jahrenerhalten sie mildere Strafen, von 15 bis 18Jahren werden sie bei der Verurteilung wieErwachsene behandelt, kommen aber zurStrafverbüßung ins Jugendgefängnis.

Während der Untersuchungshaft besteht dieMöglichkeit auf Strafanzeige, weil man nocheinen Anwalt hat. Nach der Verurteilung ist diesnoch schwieriger. Die Stiftung hat letztlichkeine Möglichkeit, in den Strafvollzug zu gehen.Eine Hilfe ist lediglich die Ärztekammer, weil dieÄrzte über die Vollzugsleitung zur Untersuchungzugelassen werden müssen.

Sind die Jugendvollzugsanstalten wie ein „nor-males” Gefängnis oder eher wie eine Jugend-vollzugsanstalt?In der gesamten Türkei gibt es fünf Jugendge-fängnisse. Die Jugendlichen kommen dorthin,wenn sie schon rechtskräftig verurteilt sind. Biszur Verurteilung gibt es spezielle Abteilungen inden normalen Vollzugsanstalten.

Es hat zu diesem Thema ein Symposium statt-gefunden. Dabei wurde klar, dass der Justizbe-reich der problematischste Bereich in der Türkeiist. Generell sind die Vollzugsbeamten nichtentsprechend ausgebildet.

Wenden sich bei inhaftierten Kindern undJugendlichen die Eltern an die Stiftung?Dies ist kaum der Fall. Wenn ja, wird es an dieAnwaltskammer abgegeben. Diese Möglichkeitbesteht bei Kindern und Frauen, wenn es sichnicht um politisch Verfolgte handelt.

Wie gehen die Sozialarbeiter damit um?Sie erhalten eine Form von Supervision durch„Care for Cares”.

Wie wird die Stiftung finanziert?Sie erhalten wirtschaftliche Hilfe von der EUund der UNO.

Es gab schon Prozesseröffnungen gegen dieStiftung, weil sie Kontakte zu europäischen Ein-richtungen hat, Informationen weitergibt, einenMedikamentenaufruf im Internet hat etc. In denletzten Jahren ist es etwas ruhiger, die Übergrif-fe sind etwas weniger geworden.

Internet-Adresse: www.tihv.org.tr

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Diese Einrichtung wurde 1992 durch einAbkommen über Kinderarbeit gegründet. DieFinanzierung wurde bis 1997 gewährt, danachzurückgezogen. Seitdem arbeitet die Einrichtungeigenständig. Seit der Entstehung wurden 6000Kinder im Alter zwischen sieben und 15 Jahren

aufgenommen, sowohl Mädchen als auchJungen. 90 % der Kinder kommen durch Bin-nenemigration aus den östlichen Teilen desLandes. Der Mädchenanteil beträgt 1 %, da esin den Traditionen der Familie liegt, dass Mäd-chen keine Straßenarbeit übernehmen. Durch-schnittlich liegt die Kinderzahl in den Familienbei drei Personen, bei denen durch Binnen-emigration nach Ankara gekommenen Familienbei fünf Personen. Der Trend in den Städtengeht zu weniger Kindern, weil die Situation öko-nomisch schwieriger ist. Es gibt ein Land-Stadt-Gefälle, und grundsätzlich kann man sagen,dass der Bevölkerungszuwachs viermal so hochist wie in anderen europäischen Ländern, mitallerdings sinkender Tendenz.Die Angebote der Einrichtung sind: Mittags-tisch, Hausaufgabenbetreuung, Fußball,Theater, Judo, Bibliothek, Malen usw. 45 % derBevölkerung Ankaras sind Kinder im Alter vonnull bis 18 Jahren.Die Klientenzahl beträgt 2895 Kinder, die mo-mentan registriert sind. Zum Mittagessen kom-men 100 Kinder, an den Wochenenden sind esetwa 500 Besucherinnen und Besucher.Man versucht noch mehr Kinder zu erreichen,ein Problem dabei ist die Raumbegrenzung. ImJuni erfolgt eine Ausschreibung, man hofftdann, die Raumkapazität zu erweitern. (Die Ein-richtung befindet sich im Obergeschoss einesParkhauses.)In Ankara einschließlich des Landkreises gibt eszirka 11000 Kinder, die in der Straßenarbeit be-schäftigt sind (Schuhputzer, Verkäufer usw.).Unter den Kindern gibt es in der Regel keineAnalphabeten, wenn doch, können sie in derEinrichtung Lesen und Schreiben lernen. DieZielgruppe ist: Kinder, die Geld verdienen müs-sen. Das Hauptziel ist: die Kinder im BereichSchulbildung zu motivieren. Die Kinder werdenoftmals gezwungen zu arbeiten, weil sie dieFamilie finanziell unterstützen müssen (Vaterarbeitslos, Mutter krank). Wenn die Kinder in dieSchule gehen können, brauchen die Familien

Besuch der Street Children: ILO-IPECProject Local Government of Ankara

Gabriele Schlaugat

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Unterstützung für Bücher, Schuluniformen undZuwendungen, z. B. für Kohle zum Heizen.

Wie werden die Kinder erreicht?Die Einrichtung ist seit vielen Jahren bekannt.Sie liegt sehr zentral im Mittelpunkt der Umge-bung, wo die Kinder meistens arbeiten. DieMethoden sind dem „Streetwork” ähnlich. VorBeginn der Maßnahme gab es eine Erhebungüber die Population der Straßenkinder, um dieErreichbarkeit zu gewährleisten. Außerdemkann man die Kinder über Mundpropagandaerreichen (Multiplikatorenwirkung).

Welche Familienverhältnisse haben die Kinder?Alle Kinder haben Familien, wenn es Waisen-kinder darunter gibt, werden sie in stationäreEinrichtungen gebracht. Wenn die Eltern sichweigern, dass die Kinder in die Schule gehen,kann das Sorgerecht entzogen werden. Es gibtgrundsätzlich keine Kinder, die auf der Straßeleben. In Istanbul gibt es eine kleine Gruppe vonStraßenkindern. In der Einrichtung selbst gibt eskeine Übernachtungsmöglichkeiten.Über Prostitution ist nichts bekannt. Mit Sucht-abhängigen wird nicht gearbeitet, wenn etwasbekannt ist, werden sie an entsprechende Ein-richtungen weitergeleitet.

Arbeiten die Kinder weiterhin auf der Straße,wenn schon Kontakt zur Einrichtung besteht?Die Wirtschaft hier ist nicht sehr gut ausgestat-tet. Wenn es um einen achtjährigen Jungengeht, dessen Vater arbeitslos ist und die Mutterbettlägerig, wenn sie in einer Baracke wohnen,wo sie 40 Millionen Miete zahlen, dann kannman nicht einfach sagen, arbeite nicht, wennder Junge der einzige Verdiener ist. Der Kontaktzu den Eltern ist sehr wichtig. In der Verfassungder Türkei ist der Anspruch auf Schulbildungfestgelegt, deshalb muss man mitunter die El-tern zwingen, die Kinder in die Schule zu schi-cken, unter Umständen sie sogar verklagen.Vielleicht ist es ja möglich, das Kind Samstagund Sonntag arbeiten zu lassen und es unterder Woche in die Schule zu schicken. DasHauptziel ist, dass die Kinder so wenig wie

möglich auf der Straße sind, deshalb sollen siein diese Einrichtung kommen, natürlich mit Er-laubnis der Eltern. Auch Seminare für Eltern mitAufklärung über Risiken auf der Straße findenstatt, auch Unterstützungen finanzieller Art sindmöglich, oder Hilfen bei der Suche nach Ar-beitsplätzen, so entsteht Vertrauen. Bei älterenKindern, die Analphabeten sind, gibt es dieMöglichkeiten zu Kursen und Angeboten, dieeine Berufsausbildung ermöglichen.

In Ankara gibt es etwa 30 Vereine, die sich imKinderbereich engagieren. Es gibt Patenschaf-ten unterschiedlicher Art, z. B. werden Zahnbe-handlungen für Kinder gesponsort, Schulunifor-men, Schulbücher und Schreibmaterial. Grund-sätzlich werden keine Geldspenden entgegen-genommen, sondern nur Sachspenden. Die Kin-der nehmen die Spenden direkt entgegen, da-mit der Spender auch weiß, dass das Geld an-kommt.

Wer sorgt für die Schulbildung der Mädchen?Das liegt nicht in der Verantwortung der Ein-richtung. In der Türkei sind es 90 % Jungen und80 % Mädchen, die in die Schule gehen. Seitzwei Jahren gibt es ein Projekt von Unicef unddem Präsidenten für Mädchen. Das Bildungs-problem wird eher in den weiterführendenSchulen und Universitäten gesehen. Es gibtKinder in Kleinbetrieben, die mehr als andereunterdrückt werden, da sie fern vom „öffent-lichen Auge” sind. Die Schulpflicht wurde vonbisher fünf auf jetzt acht Jahre ausgedehnt.Wenn das Familiensystem unterstützt wird,macht man keine Unterschiede, ob es Mäd-chen oder Jungen in den Familien gibt.

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Was passiert, wenn Drogenproblematikbekannt wird?Dann wird die Polizei eingeschaltet, die bringtdas Kind dann in eine Drogeneinrichtung. Wenndie Eltern damit einverstanden sind, kann dasKind dort bleiben.

Welche Ausbildung haben die Mitarbeiter?Zu jedem Angebot gibt es das nötige Berufs-profil. Sozialarbeiter und Erzieher steigen zusätz-lich mit ein.

Danach erfolgte die Besichtigung der Ein-richtung.1. PC-Raum: Dort werden Kenntnisse vermit-

telt. Ausstattung wurde aus eigenem Etatfinanziert.

2. Hausaufgabenraum: Rhetorikkurse, phone-tische Aussprache mit professioneller Un-terstützung. Bücherspenden werden dortangenommen. Bücher können auch ausge-tauscht werden.

3. Musikraum4. Medizinische Station: Zwei Kranken-

schwestern helfen bei Verletzungen undKrankheiten. Akute Fälle werden ans Kran-kenhaus überwiesen und Behandlungendort kostenlos durchgeführt. In der Einrich-tung werden die Kinder einmal im Jahrganzheitlich untersucht. Zahnpflege undKieferuntersuchungen sind eingeschlossen.

5. Küche: 100 Kinder werden mittags versorgt.Diätassistentinnen analysieren den Nah-rungsbedarf für den Mittagstisch. In denFerien verdoppelt sich die Zahl der Kinder.

6. Freizeitraum (mit Billardtischen): Als Vor-beugung gegen die Spielsalons. Kinder ler-nen beim Spielen Höflichkeitsregeln. AmWochenende finden Filmvorführungen statt.

7. Tanzraum8. Gymnastikraum/Judoraum: 30–40 Kinder

wurden schon erfolgreich trainiert, könnendann auch in Sportvereinen der Kommunenunterkommen. Ein Jugendlicher war schonTürkeimeister, es gab den zweiten und drit-ten Platz bei der Weltmeisterschaft und dersiebte Platz wurde schon zweimal errungen.

9. Schachraum und Spieleraum.10. Kunstraum und Malatelier. Der Künstler

zeichnet Vorlagen mit Bleistift und die Kin-der malen dann mit Farben nach. Eine Aus-stellung wird geplant.

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Besuch desTuzlucayir Community Center

Teilnehmende der Gesprächsrunde waren Mit-arbeiterinnen und Nutzerinnen des Stadtteil-zentrums, drei Kolleginnen aus Frankreich,Schottland und Schweden und unsere Gruppeaus München in Begleitung von Hakan Acar.

1. Begrüßung und VorstellungsrundeDie Vorsitzende der Stiftung, Frau Suhal Armes,die auch Sozialarbeiterin ist, begrüßt uns ganzherzlich.Danach folgt eine ausführliche Vorstellungs-runde aller Anwesenden.Besonders beeindruckend war die Vorstellungder Nutzerinnen des Zentrums. Eine Frauberichtet z. B., dass sie Analphabetin war undhier einen Alphabetisierungskurs gemacht hat.Dadurch sei sie viel selbstständiger und selbst-bewusster geworden.Eine andere Frau erzählt, dass sie sehr aktiv ineiner Theatergruppe mitspielt. Sie kommt auseinem kleinem Dorf und hatte anfangs Proble-me, sich in Ankara einzuleben. Hier musste siesich mit ihrer traditionellen Erziehung auseinan-dersetzen. Sie hat verschiedene Städte besuchtund ganz unterschiedliche Erfahrungen ge-macht. Da sie selber nicht lange in der Schulewar, möchte sie, dass ihre Kinder eine guteSchulausbildung bekommen.

2. Suhal stellt das Stadtteilzentrum vorDie Stiftung nennt sich Contemporary Womenand Youth Foundation – Fortschrittliche Frauen-und Jugendstiftung.Gegründet wurde sie vor zehn Jahren und ar-beitet vorwiegend mit wirtschaftlich schwachenBewohnerinnen und Bewohnern des Stadtteils.Es ist eine unabhängige Stiftung, die nicht pro-fitorientiert arbeitet. Sie ist eine NGO-Einrich-tung, d. h. keine Regierungseinrichtung. NGO-Einrichtungen haben es in der Türkei nichtleicht. Im Rahmen der EU-Annäherung ist dieRegierung jetzt zwar eher bereit, mit der Stif-tung zusammenzuarbeiten, aber es gibt keinefinanzielle Unterstützung.

Die Stiftung kann sich nur über Projekte finan-zieren, für die es Zuschüsse gibt. Alle Mitarbei-terinnen arbeiten ehrenamtlich. Zur Zeit gibt es50 Ehrenamtliche.Der Vorstand besteht aus sieben Personen.Jede Frau kann Mitglied werden und sich inden Stiftungsvorstand wählen lassen. Es wer-den keine Mitgliedsbeiträge erhoben. Das Hausgehört der Kommune. Die Ausstattung wurdeüber ein Projekt finanziert.Die Frauen bestimmen die Themen, die für ihreLebenswelt wichtig sind und lernen, mit Vertre-tern der Bürokratie umzugehen. Dadurch wer-den sie selbstbewusster und selbstständiger.

Suhal beschreibt die wichtigsten Arbeits-schwerpunkte der Stiftung:Partizipation der Frauen an politischenEntscheidungenWenn z. B. in den Slumvierteln der Müll nichtabgeholt wird, besuchen die Frauen den Bür-germeister.Wichtige Themen im Wahljahr. Dazu wurdenalle Parteien zu Informationsveranstaltungeneingeladen.Gewalt in der FamilieDie Ehemänner werden zu Beratungsgesprächenin die Einrichtung eingeladen. Auch mit derPolizei arbeiten die Mitarbeiterinnen zusammen.Frauen- und MenschenrechteIn einem Kurs, der über sechs Monate geht,lernen die Frauen ihre Rechte kennen. Er wirdvon ca. 40 Frauen besucht. Er beinhaltet Zivil-recht und Strafrecht, z. B. Ehrenmorde, Miss-brauch, Nötigung und internationale Abkommen.Vernetzung und Zusammenarbeit mit anderensozialen EinrichtungenBei Bedarf, z. B. bei Gewalt in der Familie, wirdan andere Beratungsstellen weitervermittelt.Dadurch lernen die Frauen auch Ankaras sozia-le Infrastruktur besser kennen.Vernetzung und Zusammenarbeit mit anderenStädtenEs wurden bereits mehrere Städte im Süden

Kathrin Grabert

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und Südosten der Türkei besucht. Die Reisenwerden dokumentiert und mit eigenen Erfahrun-gen ergänzt.In der Türkei gibt es eine starke Binnenmigra-tion. Frauen, die früher in den Dörfern gelebthaben und dort ein wichtige Arbeitskraft waren,müssen sich in den Städten ihre Aufgaben neudefinieren.Qualifizierung der FrauenDie Berufsausbildung von Frauen wird unterstützt.Durch die Wirtschaftskrise gibt es eine hoheArbeitslosigkeit. Zur Zeit wird ein Qualifizie-rungsprojekt für 500 Frauen durchgeführt.Finanziert wird dieses Projekt von den Nieder-landen.Die Weltbank finanziert Qualifizierungsmaßnah-men im Bereich Kindererziehung und Pflege.Abschließend sagt Suhal, dass die Entwicklungdes Stadtteilzentrums zwar sehr positiv, aberdoch nur „ein Tropfen im Meer“ sei.

3. Fragen – AntwortenWas kosten die Kurse? Gibt es auch Angebotefür ältere Frauen?Frauen, die Mitglieder sind, zahlen nichts für dieAngebote. Der Mitgliedsbeitrag beträgt 1 MillionLira. Nur Frauen können bei der Stiftung Mit-glied werden.Am Anfang waren alle Kurse umsonst. Jetztkosten sie einen minimalen Beitrag.Der Schwerpunkt der Angebote richtet sich anjüngere Frauen. Ihnen soll damit eine Zukunfts-perspektive eröffnet werden. Für ältere Frauengibt es kaum Angebote. Dafür sind leider wederdie finanziellen noch die personellen Kapazitä-ten vorhanden.

Wie wird mit Gewalt in der Familie umge-gangen?Eine betroffene Frau aus der Runde antwortet.Sie habe Gewalt erfahren und mit Hilfe derEinrichtung eine neue Lebensperspektive be-kommen. Suhal ergänzt, dass sie mit Frauen-häusern zusammenarbeiten und eine kosten-lose Rechtsberatung anbieten.Wird das Zentrum im Stadtteil akzeptiert?Müssen die Frauen ihre Männer um Erlaubnisfragen, wenn sie dort hingehen wollen?Ein Teilnehmerin berichtet, dass es für sie amAnfang sehr schwierig war. Ihr Mann will nicht,dass sie in das Stadtteilzentrum geht. Aber jetztwürde sie sich nicht mehr einschüchtern las-sen. Eine andere Frau erzählt, dass ihre Nach-barin sie mitgenommen habe und sie sehr be-eindruckt war. Ihr Mann hätte sich nie in ihreAngelegenheiten eingemischt.Yasar beglückwünscht die Frauen und meint,dass Frauenrechte auf der ganzen Welt einge-fordert werden müssen.Suhal berichtet, dass es in einem anderenStadtteil eine ähnliche Einrichtung gibt. Dortgibt es aber nicht so viele Frauen, die das An-gebot nutzen, da der Stadtteil konservativer ist.In ihrem Stadtteil leben mehr Aleviten und dieFrauen sind freier und haben mehr Rechte.Wieviele Frauen nutzen die Angebote?In den Kursen sind jährlich ca. 250 Frauen.Dazu kommen noch die Jugend- und Kinder-gruppen. Außerdem ist das Stadtteilzentrumeine Begegnungsstätte mit vielseitigen Maß-nahmen, z. B. Picknickausflüge, Theaterbe-suche.Communitiy Center sind Orte, an denen demo-kratische Spielregeln erlernt werden können.Sie fördern ein friedliches Miteinander.Wie sieht die Vernetzung aus?Die Vernetzung mit anderen Einrichtungen istsehr gut. Es gibt viele Zusammenschlüsse, z. B.können sie Räume in der Schule nutzen undumgekehrt.

Abschließend haben wir dann noch die Einrich-tung besichtigt.

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Flying BroomUcan Süpürge

Uschi Weber

Die Organisation „Flying Broom” entstand imJahre 1990 aus der Diskussion über das Frau-enthema in der Türkei. Die Hauptaufgabe be-steht in der Vernetzung und Zusammenführungvon Frauenorganisationen (NGOs), Frauenpro-jekten, Initiativen und Stiftungen in der Türkei,um ihre Wirkung innerhalb der Gesellschaft zuverstärken. Der fehlenden Kommunikation derunterschiedlichen Fraueninitativen in den 90er-Jahren sollte durch den Aufbau dieses Netz-werkes entgegen gewirkt werden. Der Dachver-band des „Flying Broom” sitzt in den Nieder-landen.

„Flying Broom” organisiert regionale Treffen inallen Teilen des Landes, um die Leistungsfähig-keit der unterschiedlichen Frauengruppen undInitiativen zu erhöhen. Mittlerweile haben siedie Möglichkeit, einmal in der Woche Frauen-themen im Radio zu diskutieren. In zwölf Städ-ten gibt es bis jetzt lokale Journalistinnen, dievon den dort arbeitenden Frauengruppen emp-fohlen wurden und die die Situation der Frauenvor Ort aufgreifen und in die Öffentlichkeittragen: Radiosendungen, Internetpräsenz:www.ucansupurge.com, Bulletins in türkischerSprache (alle zwei Monate), Bulletins in engli-scher Sprache (alle zwei Jahre), jährlichesFrauenfilmfestival. Es wird angestrebt, in allenStädten lokale Journalistinnen zu haben. Sievertreten auch die Anliegen von Minderheiten(z. B. Kurdinnen, Armenierinnen …) und wendensich gegen jede Diskriminierung der Frau.

„Flying Broom” versteht sich als Informations-stelle, Kommunikationszentrum und Beratungs-stelle. Die türkische Regierung, Botschaften undauch BBC greifen auf die Organisation zurück,wenn es um Frauenthemen geht. „FlyingBroom” hat auch die Frauenversammlung inPeking mit unterstützt. Der internationale Kon-vent ist für die Organisation sehr wichtig.

Unterschiedliche Projekte werdenvorgestellt:„Wir bauen Brücken”ist ein Projekt, in welchem zwei Filme entstan-den sind. Der erste Film zeigt die positive Aus-wirkung der Arbeit, der zweite die Schwächen.

Das „Internationale Frauenfilmfestival”ist das einzige Festival, wo Filme zu Frauenthe-men erscheinen. Es gibt das Festival seit 1992.Neben den Filmen werden viele Parallelveran-staltungen angeboten, wie z. B. Symposien,Ausstellungen, Diskussionsveranstaltungen.Das Festival bietet mehr Freiheiten als das Kino,so darf z. B. auch Sexualität gezeigt werden. Esgab auch ein Symposium zu dem Thema„Sexualität, Pornographie, Leinwand“ mit demTitel „Was gibt es denn noch zu zeigen?”Andere Themen: Welche Geschlechterrolle wirdin der Türkei durch die Medien vermittelt undwie hat sie sich verändert? – Dokumentation:„Die andere Stimme”Drehbuchautorinnen und Regisseurinnen wer-den dem Publikum vorgestellt und stehen fürDiskussionen zur Verfügung.

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Das Festival ist international und bietet zudemdie Möglichkeit weiterer Vernetzung und Zu-sammenarbeit über die Landesgrenzen hinaus.Es werden Männer und Frauen (50:50) auseiner bestimmten Bildungsschicht erreicht. DieBesucher kommen aus dem ganzen Land, aberauch aus Israel, Korea, USA und Europa. DasFestival wird von Sponsoren finanziert.

„Flying Broom” ist auch mit dem Frauenprojekt„Matra” des Community Centers in Mamakvernetzt, in dem 500 Frauen der Region beruf-lich qualifiziert werden. „Flying Broom” über-nimmt für dieses Projekt die Öffentlichkeits-arbeit.

Auf Druck der EU wurde kürzlich im Parlamentdas Gleichberechtigungsgesetz zwischen Mannund Frau verabschiedet. Die Mitarbeiterinnendes „Flying Broom” nehmen nun Kontakt zuallen Parlamentariern auf, um mit ihnen über

das Gesetz zu sprechen, seine Schwächen undderen Behebung anzusprechen. „Flying Broom”möchte eine positive Diskriminierung, wie z. B.eine besondere Förderung, Einführung vonQuoten usw.

Personal:Es sind neun professionelle Mitarbeiterinnen beider Organisation angestellt. Die Gehälter wer-den über Projektmittel finanziert. Diese Gelderstammen hauptsächlich aus dem Ausland: EU-Mittel, Unterstützungen aus Finnland, England,den Niederlanden u. a. Die lokalen Journalistin-nen bekommen nur „symbolische Summen”, eingroßer Teil der Arbeit geschieht ehrenamtlich.

Zum Namen „Flying Broom”100 Frauen haben am 8. März 1990 über denNamen abgestimmt. Es gibt im Türkischeneinen Spruch: „Ich habe dir meine Haare alsBesen gegeben” (Ich habe mich für dichaufgeopfert) … Keine Frau soll sich für einenMann aufopfern … „wir werden unsere Haarezu Besen machen, auf denen wir fliegen.”Der Name soll Dynamik, Schnelligkeit und Kraftsymbolisieren.

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Impressum

Herausgegeben von

Stelle für interkulturelle ArbeitSozialreferatUschi SorgFranziskanerstraße 881669 MünchenTel. (0 89) 2 33-4 06 30Fax (0 89) 2 33-4 06 [email protected]/interkult

Gestaltung, SatzAnja Rohde, Hamburg

FotosUschi Weber

April 2005

Der Fachkräfteaustausch fand mit derUnterstützung des Bundesministeriums fürFamilie, Senioren, Frauen und Jugend statt.

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