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Die Anrede als Intervention Eine empirische Untersuchung zur Anredeverwendung von Professionellen in der Sozialen Arbeit am Beispiel der Sozialpädagogischen Familienhilfe von Sylvi Sehm-Schurig Bachelorarbeit – vorgelegt WS 2012/13 an der Evangelischen Hochschule Dresden (ehs)

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Die Anrede als Intervention

Eine empirische Untersuchung zur Anredeverwendung

von Professionellen in der Sozialen Arbeit

am Beispiel der Sozialpädagogischen Familienhilfe

von Sylvi Sehm-Schurig

Bachelorarbeit – vorgelegt WS 2012/13 an der Evangelischen Hochschule Dresden (ehs)

Die Anrede & SPFH Anrede ist alltäglich

Anrede ist unumgänglich

Anrede wirkt

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Allgemeine Kriterien: •  Asymmetrie / Symmetrie in Verhältnissen •  Nähe /Distanz in Beziehungen

= Dimensionen sozialarbeiterischen Handelns Explizit in der SPFH

Forschungsfrage

"  Wie werden die Anredeformen DU und SIE in der SPFH genutzt?

"   Ist die Wahl der Anrede intendiert und wenn ja, wie?

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Theoretischer Rahmen

Soziolinguistik

"   Linguistische Modelle

"   Macht/Status- u. Solidaritätssemantik

"   Standardanreden

"   Rezeption von Anrede

"   Missverständnisse

"   Implizites Wissen

SOA

"   SPFH

"   Symmetrie / Asymmetrie

"   Nähe /Distanz

"   Das Arbeitsbündnis

"   Intervention

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Gesprächs- und Interventionsstrategien in der SPFH

Forschungsstand

Anrede

"   Funktion von Anrede

"   Bezeichnet jemanden

"   macht Personen zu Angesprochenen

"   Ermöglicht Relation und Rollenzuweisung

"   Eigenschaft von Anrede

" Relationalität

"   Spiegelt soziale Regeln

"   Bedeutung erschließt sich im Verhältnis der Sprechenden

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Status- / Solidaritätssemantik Brown & Gilman (1960)

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Statussemantik Solidaritätssemantik

* Erworbener Status (z.B. Beruf)

* Zugeschriebener Status (z.B. Alter)

* „Solidarität“ i.S.v. Übereinstimmung kontextueller Merkmale

Je größer die Distanz zwischen 2 Menschen Innerhalb einer der Statusdimensionen ist, desto wahrscheinlicher wird ein SIE

Je wesentlicher (kontextbezogen) die Übereinstimmung zwischen 2 Menschen ist, desto wahrscheinlicher ist ein DU

Die für eine Situation konstitutiven Status- oder Kontextmerkmale . . .

. . . stimmen wenig/nicht überein: . . . stimmen deutlich überein:

Lehrerin / SchülerIn ChefIn / Angestellte SozialarbeiterIn / KlientIn

KollegInnen TeilnehmerInnen Vereinsmitglieder

Asymmetrisch / Komplementär Symmetrisch

Linguistisches Modell:

Kriterien

z. Bsp.

Standardanreden (Bayer 1979)

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S t a n d a r d _ S I E (1) S t a n d a r d _ D U (2)

D U _ 1 S I E _ 2

Intimität

Solidarität/Übereinstimmung Status/Formalität

Soziale Distanz

Alle Kontextbezogen: z.B. Verein, Fitnessclub

Familie u. FreundInnen Gute Bekannte, langj. KollegInnen

Die „Anderen“

Linguistisches Modell:

Anrede als semantischer Möglichkeitsraum

Standard

Sie_1 Du_1

Standard

Du_2 Sie_2

höflich

egalitär

vertraut

abgrenzend

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Förmlichkeit Intimität

Soz. Distanz Übereinstimmung Solidarität

Ergebnisse

"   (Wie) werden die Anredeformen DU und SIE in der SPFH genutzt?

"   Ist die Wahl der Anrede intendiert und wenn ja, wie?

"   Anrede ≠ Intervention

...eine Intention macht noch keine Intervention...

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Ergebnisse

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Anrede wird genutzt als...

1. Regulativ ... für Distanz

... für Nähe

2. Abbild ... für Beziehung

... für institutionellen Kontext

situativ

kontextbezogen

... Zur Rollendefinition

Respekt / Verbünden

... für lebensweltliche Differenzen

Kriterien: 1. KlientInnen / 2. Themen

Regulativ für

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1. KlientInnen, bei denen ein bestimmtes Verhalten beschrieben/erwartet wird:

„Ich hab so ne Mutter, die muss wirklich an der Distanz arbeiten, und sie das och merkt, wo sie da distanzlos wird. Da kann ich keen DU anbieten!“ (AW2 52-57) pädagogische Intention

„Also, wenn ich eben so Leute hab, die mit Distanz so große Probleme haben, wo ich so merke, mit dem DU vereinnahmen die einen sofort“ (AW2 296-298)

Abstand zum Arbeiten

Siezen, damit „der Klient sich sicher is, wer ich bin. Die neigen wirklich dazu, Sozialarbeiter als ‚meine besten Freunde‘ zu sehen. Und da bescheißen die sich selber“ (AW2 254-255)

Rollenklärung

Kriterium

•  „Also wir ham ja mal das DU zurückgegeben, sozusagen. Es war schon och hilfreich. Weil diese Grenzüberschreitung, och so mit Vereinnahmung, und das war schon erstmal hilfreich, um die Arbeitsbeziehung wieder och klar zu stelln“ (AM1 737-761)

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Regulativ für 1. KlientInnen

„Zurückgabe“ der Anrede DU:

Regulativ für

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2. Themen als Kriterium für Anredewechsel:

•  Innerhalb einer Beziehung wird zwischen DU und SIE gewechselt

•  Voraussetzung: KlientInnen gehen von DU-Basis aus

•  „Jetzt is die Situation, dass ich praktisch duze, so in Alltagsdingen. Aber wenns eben um solche Themen geht, dass ich sage: ‚Das is aber Ihre Aufgabe!‘, dann verfall ich wieder ins SIE“ (AM1 369-378)

• „Also, wenn wir jetzt zum Beispiel einen Familienausflug machen, dann duzen wir uns och. Wenn ich ne Erziehungsberatung mache, da siez ich sie och. Das hab ich mit ihr och abgesprochen. Ich sag: ‚Das geht ni!‘ Ich kann Ihnen ni erklärn, wie Sie mit Kindern umgehen so of dieser freundschaftlichen Ebene.“ (AW2 58-64)

•  „...die jungen Volljährigen..., Da hat das DU natürlich aber och so was Verbündendes, Solidarisches: ‚Ich bin nicht der Erwachsene, der dir sagt wie‘s Leben geht, sondern wir wolln gemeinsam nach Lösung suchn, wenn was ne klappt‘, und so.“ (AM1 263-269)

•  „Es is strategisch och irgendwie ... Dass se mit Erwachsenen Schwierigkeiten ham. Und das is natürlich, mich dort abzugrenzn und zu sagen: ‚Ich bin da anders‘, da is das DU hilfreich“ (AM1 277-282)

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Regulativ für Rollendefinition

2. Verbünden – egalitäre Intention

1. Respekt – direktives Handeln nötig

•  „.eine Familie, da bin ich schon acht Jahre drin. Also, ich gehör dort wirklich schon zur Familie – ich bin immer noch die Frau NN. Ich kümmere mich dort mit um die Finanzen. Da kriegt die Mutti auch immer mal wieder eine auf den Deckel, wenn se mit dem Geld herumschleudert. Da hab ich eine ganz andere Rolle, als meine Kollegen, die dort eher in der Erziehungsberatung sind. (AW2 381-388)

Anrede als Regulativ für Nähe

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Kriterien:

1.  Wenn KlientInnen sich ein DU „wünschen“

2.  Wenn das Bedürfnis der KlientIn als wichtig für das Gelingen der Hilfe gesehen wird

3. Wenn ein Arbeitsbündnis besteht oder als möglich gilt

• „Für mich heeßt DU: Wir sind wirklich ein Team, wir arbeiten an demselben Problem. Ich als Sozialarbeiter hab von bestimmten Sachen mehr Ahnung. Deswegen kann ich immer mal was erklärn, aber grundsätzlich arbeiten wir an derselben Sache und sind uns einig am Ziel“ (AW2 219-225)

Ausschlaggebend ist das 3. Kriterium.

Anrede als Abbild

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1. Von Gemeinsamkeit

„Und wir hatten dann abends Runden mit den Muttis, wo wir sehr Intensiv über Kindheitserfahrungen geredet haben. Da haben wir dann irgendwann gesagt: ‚Wir duzen uns‘, weil das war so ne Erfahrung, wo man einfach gemerkt hat, da ist man sich nahe gekommen. Und mit denen duzen wir uns och.“ (AW2 166-185)

Anrede als Abbild

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2. Im institutionellem Kontext

„In Hilfeplangesprächen sind wir immer per SIE. Also och mit Kollegen vom Jugendamt. Wir duzen uns ja teilweise och, sind ja alte Kollegen. Das hat einfach was damit zu tun, dass das ja ein Verwaltungsakt is. Das is was Ernsthaftes, und da bleibt man of dieser geschäftlichen Ebene.“ (AW2 166-185)

„Das is übrigens ni nur beim Jugendamt so. Das is bei Terminen beim Arbeitsamt so, och in en Schulen. Also sobald das en offiziellen (Charakter hat), also das is wahrnehmbar: Klar, dass man dort siezt.“ (AM1 816-820)

Hypothesen

(Arbeitsstand)

Je stärker die Fachkräfte Probleme thematisieren müssen und/oder direktives Handeln u. Kontrolle daraus ableiten, desto wahrscheinlicher bleibt es beim formalen SIE_1

Je unsicherer Fachkräfte in ihrem Verhältnis zu den KlientInnen sind, und je konfrontativer sich die Beziehung gestaltet, desto wahrscheinlicher wird ein ausgrenzendes SIE_2 (auch durch Wechsel)

Je eher die Fachkräfte mit KlientInnen ein Arbeitsbündnis entwickeln können, desto wahrscheinlicher wird ein stabiles DU_2 – als Option neben SIE_1

Je stärker Fachkräfte Handlungssicherheit in intimer Nähe suchen, oder je eher Nähe durch beidseitige Vertrautheit entstanden ist, desto wahrscheinlicher ist ein intimes DU_1

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Semantik in der SOA Entwurf eines Modells

Struktur-Ebene: Institutioneller Auftrag Sie_1

Sie_2

Du_1

Beziehungs-Ebene Hilfebeziehung Du_2

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Asymmetrie

Symmetrie

Verbindung der Dimensionen: 1. Semantik der Standardanreden 2. Dimensionen sozialarbeiterischen Handelns

Semantik in der SOA Entwurf eines Modells

Struktur-Ebene: Institutioneller Auftrag Sie_1

Sie_2

Du_1

Beziehungs-Ebene Hilfebeziehung Du_2

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Asymmetrie

Symmetrie

Verbindung der Dimensionen: 1. Semantik der Standardanreden 2. Dimensionen sozialarbeiterischen Handelns

Asymmetrie fällt auf Beziehungsebene

Intimität „unterwandert“ Strukturebene

Empfehlungen

"   Formalität und Höflichkeit (SIE_1) sind sozialer Distanzierung und Abgrenzung (SIE_2) vorzuziehen.

"   Transparenz und Vertrauen (DU_2) sind intimer Nähe und Vertraulichkeit (DU_1) vorzuziehen

SIE_1 und DU_2 sind legitime Optionen im fachlichen Handeln - weil sie beiden Seiten Schutz bieten durch formale

Distanz und vor Grenzüberschreitungen durch Intimität.

SIE_2 und DU_1 bieten keine adäquaten Möglichkeiten und Sicherheiten für die Gestaltung einer Hilfebeziehung

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Empfehlungen

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Struktur-Ebene Sie_1

Sie_2

Du_1

Beziehungs- Ebene Du_2

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Asymmetrie

Symmetrie

Fazit u. Praxisrelevanz

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✓Anrede wird intendiert verwendet

✓Anrede verändert Qualität von Beziehung nicht

✓ Intention von Anrede muss durch Handeln eingelöst werden

✓Anrede transportiert symbolisch Beziehungsoptionen

✓Anredemodell könnte helfen, Deutungen und Intentionen von Arbeits- bzw. Hilfebeziehungen zu klären (z.B. in Supervisionen insbesondere bei Konfusionen & Missverständnissen

✓ Ergebnisse könnten beitragen, Fachkräfte für den Gebrauch von Anrede zu sensibilisieren

✓ Anrede = Fokus, der spezifische Aspekte von SOA / SPFH sichtbar macht

Anrede in der SOA "   Alex Funke, Anstaltsleiter Bethel

(1968-1979)

"   „Mit wem habe ich es zu tun? Wie stehe ich zu ihm? Welche Einstellung zu ihm kann er mit Fug und Recht von mir erwarten? Welchen Respekt? Welches Maß an Entgegenkommen, an Freundlichkeit, an Anerkennung, an Rücksichtnahme?

"   Jeder von uns hat eine Skala von Testfragen durchzugehen, ehe er Du oder Sie sagt.“ (1975)

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(1914-2003)

Ausgewählte Quellen

"   Auer, Peter (1986): Kontextualisierung

"   Bayer, Klaus (1979): Die Anredepronomina Du und Sie – Thesen zu einem semantischen Konflikt im Hochschulbereich. In: Deutsche Sprache, Bd. 3, S. 212-219.

"   Brown, Roger; Gilman, Albert (1977 {1960}): Die Pronomen der Macht und Solidarität. In: Wenzel, Ursula; Hartig, Matthias (Hrsg.): Sprache – Persönlichkeit – Sozialstruktur.

" Hinnenkamp, Volker (1998): Missverständnisse in Gesprächen. Eine empirische Untersuchung im Rahmen der interpretativen Soziolinguistik.

"   Hitzler, Sarah (2013): Aushandlung ohne Dissens? Praktische Dilemmata der Gesprächsführung im Hilfeplangespräch.

" Kohz, Armin (1982): Linguistische Aspekte des Anredeverhaltens. Untersuchungen am Deutschen und Schwedischen.

"   Kreuzer, Max (2001): Handlungsmodelle in der Familienhilfe.

" Terbuyken, Gregor (1998): Wissen sie, was sie tun? Untersuchungen von Interventionsstrategien bei in der SPFH arbeitenden SozialarbeiteriInnen.

"   Thiersch, Hans (2005): Moral und Soziale Arbeit. In: Otto / Thiersch : Handbuch Sozialarbeit Sozialpädagogik.

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