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8 Die Auswirkung der Therapie auf die Plastizität des Nervensystems: Theorie und Forschung. Annunciato, N.F. Oliveira, C.E.N. Zusammenfassung Das Zentralnervensystem (ZNS) besitzt ein komplexes neuronales Netz, und zwar mit sehr spezialisierten Zellen, die tausende von Verbindungen haben. Diese Zellen bestimmen Sensibilität und motorische Aktivitäten, die in Verhalten umgewandelt werden. Nach einer Verletzung tritt eine Verwirrung dieses neuronalen Netzes auf, und das ZNS beginnt Prozesse von Umorganisation und Erneuerung. Neuronale Formbarkeit, das heißt Neuroplastizität, bedeutet, daß das NS eine innere Fähigkeit besitzt einige seiner morphologischen und chemischen Eigenschaften in Antwort auf Umwelt-Änderungen zu ändern. Mit anderen Worten, sie ist die innere Fähigkeit der Nerven- zellen ihre Aktivitäten zu verändern und an sich verändernde Umge- bung anzupassen. Analyse der plastischen Aspekte des ZNS erlaubt uns sie mit anderen Faktoren in Verbindung zu setzen, da die Plastiz- ität unter anderem von Umwelt-Einflüssen, emotionalem Zustand und kognitivem Niveau beeinflusst wird. Wir suchen nach neuen Perspek- tiven für die Rehabilitation der neurologischen Patienten. Deswegen ist es sinnvoll nach einer theoretischen Erklärung zu suchen, die eine Basis für die klinische Anwendung bietet. Einführung Da die Nervenzellen hoch spezialisiert sind, hat man immer geglaubt, daß das Zentralnervensystems (ZNS) nach seiner individu- ellen Entwicklung eine starre Struktur wäre. Diese Struktur könnte nach der alten Meinung nicht mehr modifiziert werden. Verletzungen dieses Systems wären bleibend, weil weder seine Zellen regeneriert noch seine Verbindungen reorganisiert werden könnten. Heute ist es

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Die Auswirkung der Therapie auf die Plastizität des Nervensystems: Theorie und Forschung.

Annunciato, N.F.Oliveira, C.E.N.

Zusammenfassung

Das Zentralnervensystem (ZNS) besitzt ein komplexes neuronalesNetz, und zwar mit sehr spezialisierten Zellen, die tausende vonVerbindungen haben. Diese Zellen bestimmen Sensibilität undmotorische Aktivitäten, die in Verhalten umgewandelt werden. Nacheiner Verletzung tritt eine Verwirrung dieses neuronalen Netzes auf,und das ZNS beginnt Prozesse von Umorganisation und Erneuerung.Neuronale Formbarkeit, das heißt Neuroplastizität, bedeutet, daß dasNS eine innere Fähigkeit besitzt einige seiner morphologischen undchemischen Eigenschaften in Antwort auf Umwelt-Änderungen zuändern. Mit anderen Worten, sie ist die innere Fähigkeit der Nerven-zellen ihre Aktivitäten zu verändern und an sich verändernde Umge-bung anzupassen. Analyse der plastischen Aspekte des ZNS erlaubtuns sie mit anderen Faktoren in Verbindung zu setzen, da die Plastiz-ität unter anderem von Umwelt-Einflüssen, emotionalem Zustand undkognitivem Niveau beeinflusst wird. Wir suchen nach neuen Perspek-tiven für die Rehabilitation der neurologischen Patienten. Deswegenist es sinnvoll nach einer theoretischen Erklärung zu suchen, die eineBasis für die klinische Anwendung bietet.

Einführung

Da die Nervenzellen hoch spezialisiert sind, hat man immergeglaubt, daß das Zentralnervensystems (ZNS) nach seiner individu-ellen Entwicklung eine starre Struktur wäre. Diese Struktur könntenach der alten Meinung nicht mehr modifiziert werden. Verletzungendieses Systems wären bleibend, weil weder seine Zellen regeneriertnoch seine Verbindungen reorganisiert werden könnten. Heute ist es

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bekannt, daß das ZNS einen hohen Grad von Anpassungsfähigkeitbesitzt, und dieses sowohl bei kindlichem als auch bei erwachsenemGehirn.

Entwicklung des Nervensystems

Die Entwicklung des Nervensystems hängt von zwei ganz wichtigenFaktoren ab, nämlich:

1. genetischem Programm

2. epigenetischen Faktoren

Das genetische Programm wird durch die Befruchtung geerbt, dadie neue befruchtete Eizelle 23 Chromosomen des Vaters mit 23Chromosomen der Mutter verbinden soll. Je nachdem welchesgenetische Programm entsteht, hat dieses neue Wesen eine bessereoder schlechtere Chance eine normale Entwicklung des Organismuszu geniessen. Sollte eine Mutation auftauchen, dann ist schon diepränatale Entwicklung gestört. Je umfangreicher die Mutation, destomehr Störungen tauchen auf.

Unter dem Begriff „epigenetische Faktoren“ (Gr. epi - über, auf)sollte man alle Faktoren verstehen, die nicht zum genetischen Pro-gramm gehören, nämlich die pränatale Mikroumgebung und dieganze postnatale Entwicklung. Ein gutes Beispiel der pränatalen epi-genetischen Faktoren ist, wenn eine Mutter während der Schwanger-schaft viel Alkohol trinkt oder Drogen nimmt. Je nach Art und Mengeder Droge, je nach Menge an Alkohol, wird die Mutter nicht dasgenetische Programm des Kindes verändern, sondern die Mik-roumgebung, in der die Nervenzellen sich vermehren, wandern undVerbindungen herstellen. Das heißt mit anderen Worten, die Mutterbeeinflusst, epigenetisch betrachtet, die Organisation des Nervensys-tems dieses Kindes. Aus diesem Grund versteht man, dass solcheKinder schon kleiner bei der Geburt sind und eine Entwicklungs-verzögerung haben. Als weitere Beispiele der epigenetischen Fak-toren, welche die pränatale Organisation des Nervensystems

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beeinflussen, können wir auch Röteln, Toxikoplasmose, Zytomega-lovirus nennen.

Aber, wie oben beschrieben, auch die ganze postnatale Umgebunggehört zu den epigenetischen Faktoren, nämlich alles was mit demIndividuum während und nach der Geburt passiert. Ein anderes deut-liches Beispiel ist hier auch: Wenn ein Kind mit einem normalengenetischen Programm geboren wird, aber nicht genug richtige Reizeaus der Umgebung bekommt, leidet dieses Kind unter einer Entwick-lungsverzögerung, also unter einem Deprivationssyndrom, dasSpracherwerb, Motorik, geistige Leistung u.a. negativ beeinflusst.

Nun, wenn wir diese beiden phantastischen Phänomene zusammenbringen, können wir sie als Biographie des Individuums bes-chreiben. Auch wenn der Begriff „Biographie“ normalerweise erst abder Geburt benutzt wird, sollten wir ihn in der Medizin schon ab derBefruchtung gebrauchen, also schon die Beschreibung der vorge-burtlichen Entwicklung als Teil der Biographie betrachten.

Einfluss der Umgebung auf die Organisation des Nerven-systems (NS)

Damit das Nervensystem sich nach der Geburt weiter entwickelnkann, braucht es Reize durch Informationen aus der Umgebung. Esist gerade so, als ob das Nervensystem bei der Geburt unzähligeBlanko-Blätter hätte, die beschrieben werden sollen. Selbstver-ständlich sollte bei diesem Beispiel nicht vergessen werden, dass dasNervensystem dank des genetischen Programms und der pränatalenEntwicklung eine gute Menge von „schon beschriebenen Blättern“besitzt.

Alle physikalische Reize müssen gewissermaßen in eine „Sprache“umgewandelt werden, die vom ZNS verstanden wird. Dazu dient dassensorische System, das diese Informationen aus der Umgebung„übersetzt“, und zwar in neurale Impulse. Dies ermöglicht eine neu-rale Verarbeitung dieser Informationen, so dass das motorische Sys-

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tem davon profitieren kann und den Effektoren (Muskeln) Befehlegeben kann (Schema 1).

Die Informationen aus der Umgebung (physikalische Reize) werdendurch Rezeptoren empfangen. Dieser Prozess ist hoch wichtig, dadas NS selbst eigentlich nicht verstehen kann, was ein physikalischerReiz bedeutet. Mit anderen Worten: Die Reize aus der Umgebungmüssen durch Sinnesorgane aufgenommen und kodiert werden, alsoin neurale Impulse umgewandelt werden. Diese neuralen Impulsewerden durch die Nerven weiter ans Zentralnervensystem (ZNS)geleitet. Wenn diese neuralen Impulse im ZNS ankommen, werdensie dort dekodiert. Jetzt ist das ZNS in der Lage diese Informationenabzuwägen, damit es sich entscheiden kann: Welche sind wichtigerund müssen sofort erledigt werden und welche können vielleicht nocheine Weile bearbeitet werden? Danach wird das ZNS verschiedeneInformationen aus unterschiedlichen Kanälen integrieren, um eininneres Bild der äußeren Welt zu schaffen. Dank dieser Integration,d.h. dank neuer neuraler Verbindungen, entwickelt das NS einGedächtnis (sowohl kognitives als auch neuromuskuläres). So kanndas ZNS dank dieser Speicherung Informationen vergleichen. Diewillkürlichen Bewegungen werden dadurch noch nicht ausgeführt, dadas ZNS den ganzen Bewegungsablauf vorbereiten muss. Dasheißt, die Bewegungen werden geplant und in eine bestimmte Ord-nung eingesetzt. Nach diesen Prozessen werden die Motoneuronedie Botschaften, d.h. das Resultat dieser ganzen Prozesse erhalten.

physikalische Reize

sensorisches System

neurale Impulse

neurale Verarbeitung

motorisches System

Effektoren(Bewegung)

Schema 1. Prozesswege der Umwandlung von physikalischen Reizen in Bewegung.

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Damit werden die Effektoren angesprochen und die Bewegungenausgeführt.

Zusammengefasst:

1. Empfangen (Kodierung = Umwandelung der physikalischenReize in neurale Impulse) durch Rezeptoren

2. Transportieren der neuralen Impulse ins ZNS

3. Dekodieren

4. Abwägen

5. Integrieren - Gedächtnis und Vergleichen

6. Vorbereiten der Bewegungen – Planen und Ordnen

7. Ausführung der Bewegungen

Dank dieser ganzen Prozesse vergrößert und verbessert sich z.B.der Homunculus (Körperdarstellung in der Großhirnrinde).

So betrachtet hängt die weitere Entwicklung und Organisationunseres NS von den epigenetischen Faktoren ab, und genau diesewerden in der Therapie angeboten. Ein therapeutisches Programmsoll dafür sorgen, dass genug gute und richtige epigenetische Fak-toren angeboten werden, die von den Rezeptoren empfangen undweiter ans ZNS weitergeleitet werden können, damit es sie dekodi-eren kann und mit anderen Informationen aus anderen Sinnesor-ganeskanälen integrieren kann. So entstehen neue neuraleVerbindungen, die für eine richtige Steuerung der Motorik notwendigsind.

Stadien der Plastizität des Nervensystems

Plastizität zeigt das Nervensystem während drei Stadien: Entwick-lung, Lernen und nach Verletzungen.

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Entwicklung

Die Differenzierung der Zellen während der embryonalen Entwicklungist Teil des Prozesses des genetischen Ausdrucks, wodurch nicht-differenzierte Zellen zu Neuronen werden. In der folgenden Verme-hrung wandern sie an die entsprechenden Orte und bilden unterein-ander Verbindungen.

Neuronen haben eine innere Fähigkeit ihre Position gegenüberanderen Neuronen zu bestimmen; ihre Axone erreichen ihren Bestim-mungsort dank Kontrastmitteln molekularer und chemotaktischerNatur. Verborgene neurotrophische Wachstumsfaktoren helfen indiesem Falle bei der Zielsuche. Die Reifung des Nervensystemsbeginnt während der Embryonalphase, um während des extrauter-inen Lebens zu enden. Hierfür empfängt es Einwirkungen vongenetischen Faktoren, von der fetalen Mikroumwelt, ebenso wie vonder äußeren Umgebung. Letztere ist von großer Bedeutung für eineangemessene Entwicklung.

Lernen

Dieser Vorgang kann zu jeder Zeit im Leben ablaufen, sei es in derKindheit, beim Erwachsenen oder im Alter: Neue Tatsachen könnenjederzeit zur Kenntnis genommen werden und das Verhalten ange-messen verändern.

Lernen erfordert den Erwerb von Kenntnissen, die Fähigkeit diesenErwerb zu behalten und zugleich die Fähigkeit ihn bei Bedarf abzu-rufen.

Physiotherapie hat unter anderem die Aufgabe das Lernen zufördern, bzw. das Wiedererlernen motorischer Aktivitäten. Dies ist einneurobiologischer Prozess, durch welchen Organismen vorüberge-hend oder auf Dauer ihre motorischen Antworten ändern und, als einErgebnis, ihre Leistung verbessern.

Während des Lernprozesses finden in den Nervenzellen und in ihrenVerbindungen strukturelle und funktionelle Veränderungen statt. Das

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heißt: Lernen befördert Gestaltänderungen, wie: Wachstum neuerNervenendungen und Synapsen, Wachsen von Dendritendornen,Wachstum funktioneller synaptischer Areale, Engerwerden des syn-aptischen Spaltes, Veränderungen des Rezeptorproteins und Verme-hrung von Neurotransmittersubstanzen.

Praxis oder Erfahrung bewirkt zugleich Veränderungen in der lokalenRepräsentation im Cortex. Pascual-Leone et al. (1995ª), demonstri-erten, dass der Erwerb einer neuen motorischen Fähigkeit, wie Kla-vierspiel, die cortikale Repräsentation umgestaltet, die Areale vonFlexor und Extensormuskeln der Finger vergrößernd. In einer Studiemit Brail le-Lesern wurde festgestel l t , dass der beim Lesengebrauchte Zeigefinger im Cortex größer repräsentiert ist als der-jenige der Gegenseite.

Bei der kartographischen Erfassung der CNS-Areale, welche beimErlernen motorischer Aktivitäten einschließlich Fingerbewegungenaktiviert werden, haben Jueptner et al.(1997) und Grafton et al.(1998) festgestellt, dass mehrere Areale zusammenarbeiten, dabeiu.a. den Primärcortex, den prämotorischen Cortex, das ergänzendemotorische Areal, das somato-sensorische Areal und die basalenNuclei umfassend.

Nach Verletzung von Nerven

Eine Verletzung ruft mehrere Vorgänge zugleich hervor, sowohlunmittelbar in der näheren Umgebung der verletzten Stelle, als auchin einiger Entfernung. Im ersten Augenblick setzen verletzte ZellenAminosäuren und Neurotransmittersubstanzen frei, welche bei hoherKonzentration die Empfindlichkeit und Verwundbarkeit der Neuronendurch die und gegenüber der Verletzung erhöhen. Hoch erregte Neu-ronen können Glutamat-Neurotransmitter freisetzen, welche das Gle-ichgewicht der Calciumionen verändern, was zu ihrem Einfließen inNervenzellen führt und dort zahlreiche toxische Enzyme aktiviert, diein der Lage sind Zellen zum Absterben zu bringen. Dieses Phänomenist bekannt als Exitotoxizität.

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Ein Riss von Blutgefäßen und/oder eine zerebrale Ischämie, die gle-ichfalls vorkommen, lassen den lebenswichtigen Sauerstoff- und Glu-cosespiegel abfallen. Mangel an Glucose macht die Nervenzellenunfähig einen adäquaten transmembranen Ionengradienten aufrecht-zuerhalten, was ein erhöhtes Einströmen von Calcium erlaubt unddamit einen Kaskadeneffekt hervorruft.

Entsprechend dem Grad der zerebralen Schädigung kann der noxi-sche Stimulus zum Absterben von Nervenzellen führen mit einemAufreißen der Zellmembran, wodurch zytoplasmatisches Materialfreigesetzt und benachbartes Gewebe verletzt wird. Alternativ kannder Stimulus einen genetischen Prozess namens Apoptosis in Gangsetzen, wobei die Nervenzelle ihr Plasma behält und nicht innerzel-luläre Substanzen freisetzt und so keine anderen Zellen schädigt.Apoptosis kommt zustande bei Anwesenheit gewisser noxischerStimuli, hauptsächlich Glutamat, oxidativem Stress und verändertemCalcium-Gleichgewicht.

Neuroplastizität als Chance für die Re-Habilitation

Unter Plastizität des Nervensystems sollte man nicht die kompletteHeilung verstehen, sondern eine weitgehende Anpassung an Situa-tionen einer Entwicklungsbeeinträchtigung durch Regeneration bzw.Kompensation. Plastizität bedeutet auch die inneren Fähigkeiten derNervenzellen, neue Verbindungen herzustellen und zu versuchen,alte Verbindungen wiederherzustellen. Dazu noch die innereFähigkeit der Nervenzellen sich gegen chemische und oder struk-turelle Änderungen zu währen; die inneren Fähigkeiten der Nerven-zellen ihre Aktivitäten in einer veränderten Umgebung und beiProzessen der Informationsspeicherung zu verändern.

Entgegen der früheren Lehrmeinung, daß Säugetiere nach Beendi-gung der individuellen Entwicklung keine Nervenzellen mehrproduzieren und daß das Zentralnervensystem des Menschen eineabsolut statische Größe ist, wie man es in vielen schon alten Lehr-büchern der Anatomie und der Histologie betrachten kann, wird das

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Nervensystem heutzutage als ein komplexes Netzwerk gesehen, dasmit seinen vielfältigen Verbindungen zwischen den Nervenzellen dieFähigkeit besitzt, sich an Umweltbedingungen äußerst flexibelanzupassen. Mit diesen Anpassungsmechanismen beweist das Ner-vensystem, daß es nicht starr oder statisch ist, sondern dynamischund Situationsgerecht reagieren kann, und damit die seit vielenJahren empirisch belegten Erfolge der Re-Habilitation neurologischzu erklären vermag.

Wiederherstellungsvorgänge

Eine Verletzung führt zu drei verschiedenen Situationen: (a) der Ner-venzellkörper ist affiziert, ein unumkehrbarer Prozess, der zum Todder Nervenzelle führt; (b) in welchem der Zellkörper unverletzt bleibtaber sein Axon geschädigt ist oder (c) wobei die Nervenzelle sich ineinem abnehmenden Erregungszustand befindet. Reparatur- undReorganisationsmechanismen des ZNS beginnen unmittelbar nachder Verletzung aufzutreten und können Monate oder sogar Jahreandauern. Sie umfassen:

Nach einem vaskulären Ereignis, Trauma oder chirurgischen Eingriffam Nervensystem werden viele Synapsen inaktiv, weil sie nahe der

Abb. 1: Erholung der synaptischen Wirksamkeit

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Schädigungszone liegen und durch das perifokale Ödem funktionellbeeinflusst werden. Innerhalb von 1 bis 2 Wochen tritt dort, wo dasÖdem zurückgeht, eine Wiederaufnahme z.B. der Wahrnehmungs-,Bewegungs- oder Erkennungsfunktion ein.

Sind einige Äste eines Axons durchtrennt worden, werden sämtlicheim Zellkörper produzierten neuroaktiven Substanzen (Neurotransmit-ter und Neuromodulatoren) zu den restlichen intakt gebliebenenSynapsen transportiert, wodurch dort die Konzentration dieser Sub-stanzen erhöht und damit der Aktivitätseffekt gesteigert wird. Alsinteressantes Beispiel sei hier der teildenervierte Skelettmuskelerwähnt, bei dem die verbliebenen intakten neuro-muskulären Ver-bindungen (motorische Endplatten) wesentlich mehr Acetylcholinzugeführt bekommen, was eine Steigerung der synaptischen Wirk-samkeit bedeutet. Ein interessantes Beispiel ist eine periphere Schä-digung des Nervus Faciales (VII Hirnerv). In diesem Fall werden vieleMuskelfasern keine Botschaft aus dem ZNS erhalten. Die anderenMuskelfaser, die allerdings weiter von Nervus Facialis innerviert wer-

Abb. 2: Synaptische Übereffektivität

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den, zeigen eine höhere Menge von Neurotransmitter, nämlich vonAcetylcholin.

Wenn eine Synapse degeneriert, erhöhen die Rezeptoren alsKompensation dazu auf der verbliebenen postsynaptischen Membrandes Zielsneurons ihre Ansprechbarkeit. Diese Rezeptoren reagierenjetzt bereits auf kleinste Konzentrationen von neuroaktiven Substan-zen, die von benachbarten Synapsen ausgeschüttet oder als Medika-ment gegeben werden. Auch die Anzahl dieser makromolekularenRezeptoren kann erhöht werden. Ein klassisches Beispiel hierfür istdie bei Parkinson-Krankheit erfolgende Sensibilitätssteigerung derNeurone im Corpus Striatum auf Dopamin mit jetzt erhöht ansprech-baren und überdies vermehrt vorhandenen Dopaminrezeptoren als

Abb. 3: Synaptische Überempfindlichkeit

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Reaktion auf die Zerstörung vieler dopaminerger Neurone der Sub-stantia nigra.

Das NS sämtlicher Säugetiere besitzt während der pränatalenEntwicklung in bestimmten Arealen eine hohe Anzahl von Nerven-zellen; man schätzt, dass diese Anzahl während der pränatalenEntwicklung um 50 bis 60% höher liegt als im erwachsenen Individ-uum. Nur jene Zellen, die zu einer bestimmten Zeit geeignete Verbin-dungen herstellen und aktiv bleiben, können überleben, währendandere, die keine Funktion mehr haben, absterben.

Einige Neurone können jedoch funktionsfähig bleiben und sich damitam Leben erhalten, obwohl sie normalerweise abgebaut würden.Wenn eine Schädigung im Kindesalter passiert, dann versuchen die

pränatal

erwachsen

Abb. 4: Fortbestehen der pränatalen Überinnervation

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nicht geschädigten Nervenzellen die pränatale Verbindungen zu erh-alten.

Viele Teile des Nervensystems besitzen aus morphologischer SichtSynapsen, die unter physiologischen Bedingungen inaktiv erschei-nen. Diese Synapsen üben ihre funktionellen Aktivität nur unterbestimmten Bedingungen aus. So werden sie z.B. aktiv, wenn sie inder Randzone eines verletzten Hirnareales liegen oder bei dem Alter-sprozess. Die Folge ist eine beachtliche Erholung der geschädigtenFunktion, z.B. Lähmung. Wird nun aber auch diese Randzone zer-stört, gibt es nur eine ganz geringe Chance einer Erholung. Wirschließen daraus, dass das NS in diesen Synapsen die Möglichkeithat, Verbindungen zu verstärken, die bis zu diesem Zeitpunkt (Schä-digung oder Altersprozess) wenig genutzt wurden.

„Sprouting“ (Aussprossung) bedeutet das Wachstum von neuralenÄsten (Dendriten und Axonen), das regenerativ oder kollateral erfol-gen kann

Abb. 5: Aktivierung der “schlafenden” Synapsen

A)

B)

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.Das regenerative Sprossen erfolgt vor allem auf Ebene derSynapsen mit einer Sprossungsstrecke bis ca. 100 µm im ZNS.Wenn das Ziel eines Axons (z.B. ein Nervenzellkörper) und dieAxonendung selber geschädigt sind, kann dieses Axon sich noch ein-mal bilden (Regeneration).

Abb. 6: Regenerative Aussprossung

A)

B)

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Bei der kolateralen Aussprossung entwickeln denervierte Neuronedie Fähigkeit, die Sprossungen benachbarter Nervenzellen zuaktivieren und auf sich zu lenken. In der Umgebung der Läsion spros-sen im ZNS Zellfortsätze sowohl beschädigter wie unbeschädigterZellen aus. Sogar Zellen anderer Systemsteile können in diesenProzess miteinbezogen werden.

Für das Wachstum der Axone verantwortliche Faktoren

Die Fähigkeit neue Knospen zu bilden und das Wachstum der Axonekönnen genetisch programmiert sein oder vom Milieu abhängen.

Abb. 7: Kolaterale Aussprossung

A)

B)

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Eine Klasse regenerativer Proteine, genannt Wachstumsfaktoren,wie der Nervenwachstumsfaktor (NGF), der im Gehirn erzeugte neu-rotrophe Faktor (BNDF/ brain-derived n.f.), Neurotrophin 3 (NT3),Neurotrophin 4 und 5, die sauren und basischen Fibroblasten-Wach-stumsfaktoren (aFGF und bFGF) und der Epidermis-Wachstumsfak-tor (EGF) befördern dieses Geschehen. Wachstumsfaktoren werdenz.B. von Zielzellen produziert, von anderen Neuronen, von Drüsen,von Muskelgewebe, und jeder Wachstumsfaktor scheint eine jeeigene Klasse von Neuronen zu unterstützen.

Jedoch, damit die Nervenwachstumsfaktoren auf ein Neuron ein-wirken können, ist die Anwesenheit eines Rezeptors an den Axon-Endungen erforderlich.

NGFs heften sich an diese Rezeptoren. Der so gebildete Komplexwird zurück zum Zellkörper transportiert und in ihn aufgenommen(Endozytose). Im Soma wird die DNA activiert und sie veranlasst dieBildung von zytoplasmatischen Organellen, welche das Wachstumvon Dendriten und Axonen begünstigen.

Technologische Fortschritte, hauptsächlich auf dem Gebiet der Gen-technik und Versuche die Bedingungen für eine Regeneration desZNS aufzudecken, haben zur Synthese und Produktion dieser undanderer trophischer Faktoren geführt. Diese Moleküle haben einhohes therapeutisches Potential speziell für Alzheimer, Parkinson,Amyotrophe Lateralsklerose und andere degenerative Krankheiten.

Tierexperimentelle Studien gestatten einen Einblick in die Wirkmech-anismen der Plastizität des Nervensystems, die im folgenden in ihrerBedeutung für die Entwicklung des Kindesalters beschrieben werdensollen.

Reorganisation des Homunculus nach Schädigung peri-pherer Nerven

Nach den neuesten Erkenntnissen der Neurowissenschaften kannman beobachten, daß das NS ein sehr dynamisches und responsives

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System ist. Dies bedeutet, daß auch der von Wilder Penfield bes-chriebene Homunculus (schematische Darstellung der kortikalenRepräsentation von Motorik und Oberflächensensibilität) nicht kon-stant und starr ist, sondern, daß er sich unter bestimmten Kondi-tionen verändern kann. Analysieren wir ein Beispiel einer komplettenDurchtrennung oder einer starken Ausdehnung eines peripherenNervs (was z.B. bei einem Autounfall mit tiefen Verletzungen gesche-hen kann).

Damit es besser verstanden wird, nehmen wir als Beispiel eine Schä-digung des Nervus medianus, der durch den sensiblen Ramus pal-maris n. mediani die Haut des Daumenballens, der radialen Seite derHandwurzel und der Hohlhand versorgt.

Die Abbildung 8 zeigt uns ein Schema der Darstellung (Homunculus)der Hand in verschiedenen Phasen nach einer Schädigung diesesNervs. Auf der linken Seite (Abb. 8A) sehen wir die Darstellung vorder Schädigung. Dia Abb. 8B zeigt die kortikale Karte (Darstellung)nach der Schädigung des N. medianus, wobei das unterbrechendeAreal die Abwesenheit von Reaktionen auf sensible Reize darstellt.Das bedeutet, daß diese Region, in die die vom N. medianus trans-portierten Informationen münden, inaktiv ist. Jedoch, wenn dieseRepräsentation nach einigen Wochen wieder erforscht wird, ohnedaß (in diesem Experiment), eine Regeneration des peripherenNervs geschehen ist, beobachtet man eine deutliche Veränderungdes Homunculus (Abb. 8C). Das Areal, das nach der Schädigungkeine Reaktion zeigte, reagiert noch einmal auf sensible Reize. Nachtotalem Verlust eines Fingers beobachtet man eine sehr ähnliche Sit-uation, in der das kortikale Areal, das nicht mehr reagiert hat, da derFinger nicht mehr da war, wieder anfängt auf die Reize an den ben-achbarten Fingern zu reagieren (für weitere Informationen sieheMerzenich et al, 1983).

Die Abbildung 8D zeigt einen Homunculus der Hand nach einigenWochen nach der Schädigung. Es ist deutlich zu sehen, daß einekomplette Regeneration des Nervs medianus aufgetreten ist. Das ist

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doch möglich, wenn der Nerv nur ausgedehnt oder stark gedrücktwird, aber ohne einen kompletten Querschnitt. Bei dieser Abbildungfällt es schwer einen Unterschied zwischen dieser neuen Repräsen-tation und der Repräsentation vor der Schädigung zu erkennen. (Abb.8A).

Eine falsche oder nicht komplette Reorganisation nach einerDurchtrennung eines peripheren Nervs führt zur einer kortikalenDarstellung, wie bei der Abb. 8E beobachtet wird. Hier fand eineirreguläre Reorganisation statt und einige kleine „Inseln“ binden sich.In diesen „Inseln“ reagieren die Neuronen auf Reize verschiedenerund getrennter Punkte der Hand. Nun sehen wir, daß je größer einebetroffene Region, je größer die Schädigung eines Nervs, destoweniger die Fähigkeit einer kortikalen Reorganisation.

Reorganisation nach einer zentralen Schädigung des somatosensiblen Kortex

Die Abbildungen 8F und 8G zeigen die Auswirkung einer zentralenSchädigung im somatosensiblen Kortex. In der Abbildung 8F stelltdas unterbrechende Areal (rot und schwarz) eine Schädigung dar.Diese ist ein bißchen größer als die Darstellung des Mittelfingers(D3). In diesem Fall findet zuerst ein vollkommener Verlust der Wahr-nehmung dieses Fingers statt. Das zerstörte Gewebe degeneriertund nach einigen Wochen besteht nur ein kleiner Streif von reaktivenGliazellen (schwarze Zone bei der Abbildung 8G). Jedoch findet amRand der Schädigung, innerhalb des gebliebenen Nervengewebes,eine Reorganisation des Homunculus statt. Interessanterweise gabes nach de Schädigung einen totalen Verlust der Sensibilität desentsprechenden Fingers, jedoch befindet sich nach einer bestimmtenZeit am Rand des geschädigten Areals noch einmal eine Zone, in derdie Sensibilität des Mittelfingers wiederhergestellt wurde. Vor derSchädigung war sowohl die Darstellung des Zeigefingers (D2) alsauch des Ringfingers (D4) zu sehen. Das heißt, die Funktion des zer-

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störten Gewebes wurde von dem noch gesunden und benachbartenNervengewebe übernommen.

Plastizität durch periphere Stimulation

Periphere sensorische Stimulationen (z.B. auf die Haut oder Schleim-haut) können Änderungen der Organisation und Reorganisation desHomunculus auslösen. Die Abb. 8H zeigt einen Homunculus dessomatosensiblen Kortex eines Affen („Macaca mulatta“), der trainiertwurde, täglich Stunden lang seinen Zeigefinger (D2) und seinen Mit-telfinger (D3) auf eine Filzplatte zu streichen, um die Oberflächedieser Finger stark anzuregen. Es ist deutlich zu sehen, daß die

Degeneriertes Areal

Geschädigtes GewebeFunktionsloses

HandrückseiteMischungs-reaktionszone

Gewebe

Abb.8: Dynamische Änderungen in der kortikalen Topographie (Homunculus) der Han-dregion. Die Abbildungen A-B-C-D zeigen die Sequenz der Änderungen, die nach einer Schädigung des Nervus medianus (Nm) auftauchen. Abb. 1E zeigt die kortikale Karte nach einer Durchtrennung und peripherer Reorganisation des Nm. Wegen einer nicht korrekten peripheren Reinnervation zeigt sich die Repräsentation der Hand als ein „Mosaik“, in dem einige Zonen existieren, die auf verschiedene und getrennte Teilflächen der Oberfläche der Hand reagieren. 1F und 1G stellen die Änderungen der kortikalen Karte nach einer zentralen Schädigung der Darstellung des Mittelfingers dar (D3). Obwohl die Darstellung von D3 am Anfang vollkommen geschädigt war (rot und schwarz bei 1F und 1G), bildet sich am kortikalen Rand dieses Areals eine neue Repräsentation des Mittelfingers. 1H zeigt die Vergrößerung der Darstellung des Zeigefingers (D2) und Mittelfingers (D3) nach starker peripherer Anregung. „D“, Finger; „S“, Fingerhandfläche. (Nach Merzenich et al. 1983).

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somatosensiblen Darstellungen der Finger D2 und D3 im Homuncu-lus eine beträchtliche Vergrößerung entwickelt haben.

Diese Beobachtung erklärt uns die Mechanismen, die bei der Plastiz-ität des Homunculus auftreten. Das heißt, die periphere Stimulationbedeutet eine sehr starke Anregung der Neuronen, die dasentsprechende Areal versorgen Deswegen sollte man immer im Blickbehalten, daß die neuronale Aktivität, oder genauer, ein spezifischesMuster der neuronalen Aktivität als Komponente des plastischenMechanismus dient. Diese Reize haben sozusagen Schutz- undWohltuendeffekte, die ausgenutzt werden sollten, um die Dysfunk-tionen und/oder durch Schädigungen schwache somatotopischeDarstellungen stärker zu machen. Aktivierung dieser Muster durchdie epigenetische Faktoren (Umgebungsfaktoren) sollte dann dasZiel jedes therapeutisches Programm sein.

Plastizität des motorischen Systems

Die oben beschriebenen Formen der Plastizität finden nicht nur anüberwiegend sensorischen Arealen statt, sondern sind auch immotorischen System zu beobachten. Ähnlich wie der sensorischeKortex besitzt der motorischen Kortex eine Darstellung der entspre-chenden Regionen des Körpers, also den motorischen Homunculus.Mit anderen Worten, spezifische Areale des motorischen Kortex sindverantwortlich für spezifische Regionen des Körpers und kontrollierendie willkürliche Muskulatur. Wenn diese Areale elektrisch stimuliertwerden, lösen sie Impulse aus, die in Spannung der entsprechendenMuskulatur kulminieren.

Genauso wie die Anpassungsfähigkeit der topographischen Organi-sation und Reorganisation der sensiblen Areale in den vorangegan-genen Paragraphen beobachtet wurden, so beobachtet mananalogischerweise Änderungen der zentralen motorischen Darstel-lungen im Kortex. Nach einer peripheren „motorischen“ Schädigungwird gesehen, daß die zentrale bzw. kortikale Stimulation derentsprechenden Peripherie nicht mehr in der Lage ist, muskuläre

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Bewegungen auszulösen. Bei einer Stimulation des genannten kor-tikalen Areals einige Stunden nach der Schädigung zeigt es jedochBewegungen der benachbarten Muskeln. Schlußfolgerung ist, daßder motorische Kortex, der sofort nach der Schädigung ohne Funk-tion blieb, Stunden später versucht, die Kontrolle der benachbartenMuskulatur zu übernehmen. Beeindruckend an dieser Reorganisationder motorischen Arealen ist allerdings der Zeitraum, in dem sie statt-findet.

Da die Krankengymnastik Teil der Umwelt des Patienten ist; ist esnotwendig daß die Therapeuten auf einige Faktoren achten., diedirekt oder indirekt die plastischen Prozesse lenken,

Voraussetzungen für eine erfolgversprechende Förderung unter Berücksichtigung der Plastizität des Nervensystems

Für die Praxis lassen sich aus den Erkenntnissen über die Plastizitätdes Nervensystems einige Schlußfolgerungen ableiten, die Empfe-hlungscharakter haben. Sie verweisen auf Bedingungen, die eineSozialentwicklung und Re-Habilitation verbessern können oderzumindest günstig beeinflussen:

1. Das Alter des Patienten: je jünger, desto besser.

Entgegen mancher Aussage, dass die neuroplastische Fähigkeitmit dem Älterwerden abnehme und ihre Spitze am Anfang derOntogenese habe, steht nunmehr fest, dass neuroplastischesFortschreiten sowohl in der Kindheit, als auch beim Erwach-senen und im Alter stattfindet.

Die Mehrheit der veröffentlichten Arbeiten lässt daraufschließen, dass frühe Schädigung des ZNS geringereAuswirkung zeitigt, als eine Schädigung, die reifere Systemetrifft. Andere Autoren dagegen berichten, dass zerebrale Schädi-gung Erwachsenen weniger als Kindern schade, die von der-selben Art und demselben Grad von Verletzung betroffen waren.Stein et al. (1995) stellen fest, dass es dafür keine festen Regelngibt und dass das ZNS in verschiedenen Stadien seiner Entwick-lung auf eine Verletzung unterschiedlich reagiert.

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Jedoch, was wirklich wichtig zu sein scheint ist, dass das ZNSnach einer Schädigung sich selbst reorganmisiert und dassdiese Tatsache der Hauptfaktor ist, der die Wiederherstellungbestimmt, auch wenn nur teilweise.

2. Eine richtige Diagnose; eine nicht komplette oder gar falscheDiagnose kann zu einer falschen Therapieindikation führen.Deswegen sollte man auch immer an eine funktionelle Diagnosedenken.

3. Eine richtige Therapie: jedes Individuum braucht ein bestimmtesund individuelles Therapieprogramm. Unter dem Begriff „Ther-apieprogramm“ soll man alles verstehen, was zu der jeweiligenTherapie paßt: Medikamente, Chirurgie, Orthese, Prothese,Logopädie, Physiotherapie, Ergotherapie, Psychologie, Päda-gogik usw. Zu dem therapeutischen Programm gehört auch dieBenutzung verschiedener therapeutischer Konzepte, beziehung-sweise verschiedener Hilfsmittel, je nachdem was der Patientbraucht. Diese „Mischung“ von Hilfsmitteln sollte nicht die Philos-ophie verschiedener Autoren durcheinander bringen, sondern esgeht darum, das beste Programm herauszufinden, um demPatienten zu helfen.

4. Beginn des therapeutischen Programms: je früher, destobesser. Selbstverständlich sollte man nicht nur das chronolo-gische Alter des Patienten bedenken sondern auch das neurolo-gische Alter.

5. Qualität, Frequenz und Dauer des therapeutischen Pro-gramms. Aus demselben Grund sollte man auch mit der Hilfeund der Motivation der Familie rechnen können, da die Familiezu Hause auf bestimmte Sachen achten kann, wie Beleuchtung,Kontrast, Kopf- und Körperhaltung des Patienten etc. Es istwichtig, dass die Therapie intensiv und kontinuierlich durch-geführt wird, um die beste Wirkung zu erzielen, d.h. sie solltemöglichst täglich mehrere Stunden durchgeführt werden. Weiter-hin, wenn diese Therapie über mehrere Tage hinweg durch-geführt wird, erbringt sie einen größeren Lernerfolg, als wenn sieauf einen einzigen Tag konzentriert wird. Motorisches Lernenbenützt die Erinnerung an den Vorgang, ein Gedächtnistyp, derdurch Training geschult werden kann. Das bedeutet, um einemotorische Aktion zu lernen ist es notwendig dieselbe Aktion

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viele Male zu wiederholen, mit kleinen Variationen und unter ver-schiedenem Kontext, damit sie behalten wird. Es ist offensich-tlich nicht möglich vorherzusagen, wie viele Male jedemotorische Aktion wiederholt werden sollte, damit sie behaltenwird, weil dabei viele Variable auftreten, die insbesondere vondem Grad der Komplexität der jeweiligen Aufgabe abhängen.Wichtig sind angepasste Geschwindigkeit und Pausen. Einebestimmte Häufigkeit und Intensität erbringen ein höheres Maßund eine bessere Qualität von sensorischem Feedback undbegünstigen so die Festigung der motorischen Aktion. Festigkeitund Intensität einer motorischen Aufgabe sind wichtig, weil eineerlernte Wiederherstellung wieder verloren gehen kann, wennsie für längere Zeit nicht gebraucht wird. Es ist deshalb ange-messen eine kontinuierliche oder eine periodische Aktivierungdes betreffenden neuralen Systems beizubehalten und immer zuversuchen sie mit dem täglichen Leben zu verbinden.

6. Bei therapeutischen Programmen, die nicht intensiv und kon-tinuierlich begleitet werden können, ist familiäre Orientierung vonenormer Wichtigkeit. Großer Segen wird dem Patienten erwach-sen, wenn seine Familie ebenso gut wie er selbst in bestimmtenVerhaltensweisen unterwiesen und eiengeführt ist, die die Ther-apie unterstützen.

7. Emotionaler Zustand des Patienten, der Familie, der Gesell-schaft und des Therapeutenteams: je stärker die Motivation,desto besser. Aus diesem Grund sollte das therapeutischeTeam dieselbe „Sprache“ sprechen. Dies bringt dem Patientenund der Familie mehr Vertrauen und Motivation, die Behandlungweiter zu machen und die Behandlung zu unterstützen. Auchaus diesem Grund sollte man ganz vorsichtig sein eine Prog-nose festzustellen Viele Eltern und Verwandte können die Moti-vation verlieren, wenn. ihnen z.B gesagt wird, dass der Patientnie in der Lage sein werde, bestimmte Sachen zu machen. Es istklar, dass man nicht lügen darf, aber die Art und Weise der For-mulierung, mit der eine schlechte Prognose bekannt gemachtwird, kann wirklich sehr negativ wirken. Dabei sollten wir nichtvergessen, dass sensomotorische Aktivität den emotionalenZustand auch beeinfluust.

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8. Die Umgebung der Behandlung: regelmäßig zu Hause istbesser als nur im einer Gesundheitseinrichtung. Es wird auf derganzen Welt eine hohe Welle der „Home Care“ gesehen. Mögli-cherweise können einige Patienten) unter einem Deprivations-syndrom leiden, wenn sie im Krankenhaus oder Kinderheimstationiert sind, auch wenn sie schon Erwachsene sind. Es ist zuvermuten, daß die Familie und Verwandten zu Hause mehr Zeitaufbringen können, sich um den einzigen Patienten zu küm-mern. Dadurch bekäme er eine bessere Qualität der Reize.

Die therapeutische Umgebung sollte die angemessenen Bedin-gungen schaffen für das motorische Lernen oder Wieder-Erlernen durch den Patienten und ihm Reize bestmöglicherQualität bieten, denn die Integration des Patienten mit seinerUmgerbung können zu gangbaren Wegen führen seine durchdie zerebrale Schädigung erzeugte Behinderung zu überwinden;und zwar in beiderlei Hinsicht: sowohl die durch das morpholo-gische Substrat, als auch unter funktionellen Gesichtspunkten.

Von den am wenigsten therapeutisch bereichernden Umgebun-gen sollte das Krankenhaus genannt werden. Es ist geplant umwirksame medizinische Technologie zu bieten, aber gewöhnlichsind Krankenhäuser nicht an den psychologischen Aspekten derUmgebung interessiert. Sie haben eine sterile, unpersönlicheAtmosphäre, die die funktionale Reorganisation des Patientenbeschränken kann. Andererseits behindert eine unsaubereUmgebung ebenso die Re-Habilitation. Unzählige verschiedenesensorische Anreize zur selben Zeit zu bieten macht die Therpienicht wertvoller, denn während des Lern- oder Wiederlern-Proz-esses muss das ZNS immer wieder dieselbe Information in einerbestimmten Ordnung erhaltenum in der Lage zu sein sie zu inte-grieren und funktionell umzusetzen.

Die therapeutische Umgebung umfasst neben dem Kranken-haus, der Klinik, der Sonderschule oder dem Integrativen Kin-dergarten die Wohnung des Patienten, wo er sein eigenesLernverhalten entwickeln möchte. In diesem Kontext stößt manwieder auf die Wichtigkeit der Teilnahme von Familienmitglied-ern oder Pflegern, die mit dieser individuellen Therpie befasstsind, von einer korrekten Positionierung an bis zur Beschäfti-gung mit seinen psychosozialen Interaktionen. Der Patient sollte

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adäquate propriozeptive und stereozeptive sensorische Reize inallen seinen Umgebungen erhalten. Deswegen braucht erentsprechende individuell angepasste Hilfsmittel.

Ätiologie der Schädigung – Zeitdauer: je schneller die Schädi-gung geschieht, desto weniger Chancen hat das Nervensystemsich zu reorganisieren. Die Ursache: vaskulär, traumatisch,chirurgisch, giftig usw. spielt auch eine wichtige Rolle in derPrognose der Plastizität.

9. Ausmaß der Schädigung/Störung: je umfassender und größer,desto schwieriger. Schädigungen und/oder Störungen, die mehr-fach geteilt sind, führen normalerweise zu einer Schwierigkeitder Verbesserung. Wenn beispielsweise ein Individuum eineMissbildung des Balkens (Corpus callosum) hat, kann es völligunauffällig sein. Wenn aber mit dieser Missbildung zugleichandere Missbildungen auftreten, dann sind die Störungenstärker.

10. Ort der Schädigung/Störung: die Aussprossungen der Neuronensind stärker in dem peripheren Nervensystem als im ZNS.Außerdem, je älter die Struktur phylo- und ontogenetisch gese-hen, desto weniger Plastizität. Das erklärt uns den Unterschiedzwischen der Rehabilitation von Patienten, die Querschnittsläh-mung oder ein frontales Schädelhirntrauma haben. Da der Fron-tallappen in der Evolution jünger ist, ist die Plastizität stärker.

11. Geschlecht des Patienten: die Entwicklung und Rehabilitationdes Nervensystems zeigt Geschlechtsunterschiede. Dies hängtseinerseits von Hormonen ab. Damit lässt sich erklären, warummehr Jungen Sprachprobleme (Spracherwerb, Stottern, Legas-thenie) haben als Mädchen. Dasselbe erklärt warum mehr Män-ner als Frauen unter einer Aphasie leiden. Gleichzeitig besitzenMänner, normalerweise, eine bessere räumliche Orientierung.

12. Ernährungszustand des Patienten: der sollte selbstverständlichmöglichst gut sein.

13. Biographie des Patienten: eine „trainierte“ Hirnregion hat stetsbessere Wiederherstellungschancen. Unter dem genanntenBegriff „Biographie“ ist alles zu verstehen, was seit dem Zeit-punkt der Befruchtung mit einem Individuum geschehen ist(genetisches Programm, prä-, peri- und postnatale Entwicklung

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– jungendliches, erwachsenes und älteres Alter). Die Behand-lung wird durch eine möglichst umfangreiche Sammlung biogra-phischer Daten vom Patienten gefördert. Der Therapeut kannaus diesen Daten Nutzen ziehen, indem er Material und eineSprache gebraucht, die der Patient versteht und schätzt.Beispielsweise wenn der Patient Schreiner ist, kann die Thera-pie Material aus Holz zur Stimulation gebrauchen. Bei Babieskann der Thrapeeut den Körper der Mutter oder seinen eigenenKörper beim Handling einsetzen. Bei älteren Kindern kann ersingen, Geschichten erzählen usw..

14. Kommunikation. Im Bereich des Gesundheitswesens ist Kom-munikation von fundamentaler Bedeutung. Sie soll ein gutesgegenseitiges Verstehen gewährleisten zwischen Patient undTherapeut, Familie und Therapeut, Patient und Familie ebensowie im ganzen multidisziplinären Team. Kommunikationgeschieht nicht nur durch das gesprochene Wort, denn vieleneurologische Patienten können keine Phoneme hervorbringen.Deshalb ist die non-verbale Kommunikation, die alle Informationumfasst, die durch Gestik, Haltung, Gesichtsausdruck, körperli-che Besonderheiten, räumliche Anordnung von Objekten undselbst von der Verwandtschaft zwischen den Individuen aus derDistanz aufrechterhalten erfolgt, eine sehr wertvolle Quelle fürmöglichst präzise Interpretation von Gefühlen, Zweifeln, Ängstenund Wünschen des Patienten durch den Therapeuten undschafft eine exaktere therapeutische Basis und ermöglicht erstPhysiotherapie.

Schlußbemerkung

Nach diesen Ausführungen muss man feststellen, dass sich dasWeltbild über unser menschliches Nervensystem immer mehr vomKonzept eines statischen unveränderlichen Systems zu einem dyna-mischen und responsiven „Neuro-Universum“ wandelt.

Die Plastizität des ZNS verursacht Wiederherstellung des neurologis-chen Patienten, dass er wieder lebensfähig wird, wenn auch nur teil-weise. Die Intertaktion mit der Umwelt kann strukturelle undfunktionale Anpassung im ZNS hervorrufen, denn Physiotherapiebeeinflusst die inneren und äußerenn Faktoren, was ein fortlaufend

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kontrolliertes anpassen der gezeigten motorischen Antworten erlaubt.Dies bedeutet, dass Physiotherapie eine Behandlungsmethode ist,die, wenn angemessen angewandt, wirksam zur Neuroplastizitätbeiträgt.

Dies zeigt von welcher grossen Bedeutung die Ausbildung von Ther-apeuten für die neurophysiologische Re-Habilitation eines Patientenist. Dies ist das Ziel der Autorinnen des vorliegendes Buches.