Die Autorin - Forever

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Die AutorinBeate Boeker, geboren 1969, istneben ihrem Beruf als AutorinBetriebswirtin mit internationa-lem Schwerpunkt, arbeitet imMarketing und lebt mit ihremMann und ihrer Tochter inDeutschland. Der erste Romander USA Today Bestseller-Auto-rin wurde 2008 vom Verlag Ava-lon Books in New York veröf-fentlicht. Heute ist eine großeAuswahl ihrer romantischen

Komödien, Krimis und Kurzgeschichten auf Englisch verfüg-bar. Ihre Bücher wurden für viele Auszeichnungen nominiert,z.B. den Golden Quill Contest, den National Readers' ChoiceAward und den Best Indie Books.Obwohl sie Deutsche ist, entschied sie sich, zunächst nur aufEnglisch zu schreiben, weil sie in den USA mehr Hilfe bei derEntwicklung ihrer schriftstellerischen Fähigkeiten fand. Jetztübersetzt sie ihre Bücher auch ins Deutsche. Die Kurzge-schichte Das gewisse Etwas ist bereits erhältlich, zusätzlichbrachte sie die romantische Komödie Lieben und lügen las-sen heraus.Der Name Beate kommt aus dem Lateinischen und bedeutet'die Glückliche', während Boeker auf Plattdeutsch 'Bücher'heißt. Mit so einem Namen kann man nur Bücher mit einemglücklichen Ende schreiben, daher der Name ihrer Webseite:http://www.happybooks.de

Das BuchDer berührende Weihnachtsroman der USA Today Bestsel-ler-Autorin endlich auch auf Deutsch!

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Lorena ist Anfang dreißig und steht mit beiden Beinen fest imLeben. Sie glaubt nicht an Geister oder übernatürliche Er-scheinungen. Doch an einem regnerischen Abend im Dezem-ber meint sie, in ihrer Wohnung die Anwesenheit ihres Ex-Freundes Guido zu spüren. Kurz darauf erfährt sie, dass Guidoin besagter Nacht gestorben ist. Aufgewühlt versucht Lorena,sich einen Reim darauf zu machen. Sie ist sich sicher: Guidowollte ihr etwas Wichtiges mitteilen. Nur was? Kurzentschlos-sen reist sie über Weihnachten in Guidos Heimat: nach Ve-nedig. Gleich bei ihrer Ankunft verzaubert sie die winterlicheWasserstadt mit ihrem Vorweihnachts-Charme. Und dannbegegnet sie auch noch Enzo, Guidos gutaussehendem Bru-der, der ihr bei der Suche nach Antworten seine Hilfe anbietet.Planlos stolpert Lorena in ein Abenteuer, bei dem alte undneue Gefühle sich die Hand geben. Welche Botschaft wollteGuido ihr übermitteln? Und für welchen Mann wird sich Lo-rena am Ende entscheiden?

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Beate Boeker

Winterliebe in VenedigEine Weihnachts-Love-Story

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Forever by Ullsteinforever.ullstein.de

Originalausgabe bei ForeverForever ist ein Digitalverlag

der Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinNovember 2016 (1)

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2016

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Autorenfoto: © privat

ISBN 978-3-95818-095-6

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Kapitel 1

Er kam am Abend des ersten Dezembers zu mir. In diesemAugenblick wusste ich noch nicht, dass er tot war – das erfuhrich erst später. Ich bin nun wirklich nicht der Typ Frau, deran Übernatürliches glaubt. Der einzige Geist, mit dem ich jeauf Du und Du war, ist der Weingeist, den ich ab und zu fürdie Spirituosenabteilung meines Supermarktes in Hamburgeinkaufte, aber damit hatte es sich auch schon.

Nichtsdestotrotz war er da. Nicht, dass ich ihn hätte sehenkönnen, o nein, es war mehr eine ganz starke Präsenz; etwas,was ich noch nie zuvor gespürt hatte. Fast konnte ich seinAftershave riechen, genau wie vor zehn Jahren, als ich nochin meinen frühen, leicht beeindruckbaren Zwanzigern war.Wenn Guido einen Fehler hatte, dann war es seine Tendenz,zu viel Aftershave zu benutzen, aber ich glaubte immer, dassdas auf seine italienischen Wurzeln zurückzuführen war.

Ansonsten war er perfekt – zumindest dachte ich das amAnfang. Ich konnte mich noch genau daran erinnern, wie wiruns kennenlernten – als ob’s erst gestern gewesen wäre.

Die Sonne brannte auf meinen Kopf an jenem heißen Tag imJuli, als ich, von der Calle Bande Castello kommend, die Brü-cke überquerte. Das Wasser im Kanal schimmerte wie Glasund der Obstladen an der Ecke hatte einen Berg von Orangenaufgehäuft, die wunderbar dufteten. Meine Handtasche hin-terließ rote Streifen auf meiner Schulter, weil sie durch all dieReiseandenken, die ich gekauft hatte, so schwer gewordenwar. Da lagen wunderschöne Postkarten mit goldener Prä-

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gung von der Papeterie Il Papiro, ein blau-weiß gestreiftes T-Shirt, genau, wie die Gondolieri es trugen, Halsketten ausMuranoglas für mich und meine beiden besten Freundinnen– und eine riesige Flasche Sprudelwasser, damit ich in der leisevor sich hin köchelnden Stadt nicht ausdörrte.

Eigentlich wollte ich mich am Ende der Brücke nach linkswenden und mich auf die Stufen setzen, die hinunter zumKanal führten, um mich ein wenig auszuruhen. Doch als ichmich zur Seite drehte, übersah ich eine Kugel Eis, die jemandverloren hatte. Bevor ich wusste, wie mir geschah, rutschtemein Fuß unter mir weg, als ob er auf einem Rollschuh stünde.Meine Handtasche flog zur Seite und ich nahm mit ruderndenArmen direkten Kurs auf den Kanal, als ein paar starke Händemich auffingen und mich wieder sicher auf meine Füße stell-ten.

Ich starrte in das gut aussehende Gesicht eines Mannes, derungefähr mein Alter hatte. Er sah mich mit seinen dunkel-braunen Augen an und als unsere Blicke sich trafen, machtees zing.

»Ist alles in Ordnung?« Seine Stimme war wie eine Liebko-sung. Er sprach Englisch, aber das wunderte mich nicht – mitmeiner Haarfarbe würde mich niemand je für eine Italienerinhalten.

»Ja, danke.« Ich räusperte mich. »Entschuldigung. Das warziemlich dumm von mir.« Ich machte eine Handbewegung inRichtung Eisklecks. »Das hätte ich sehen müssen.«

Mit einem leicht benommenen Gesichtsausdruck blickte ererst auf den Boden, dann zu mir, und dann sagte er: »Wo wirgerade von Eis sprechen. Hättest du gern eines?«

Ich schaute ihm in die Augen und verlor mich darin. Ir-gendwie schaffte ich es dann doch, meine Sinne ausreichendzusammenzuraffen, um zu nicken.

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Er hob meine Handtasche auf und reichte sie mir, dannnahm er meinen Arm, ganz leicht. Schon gingen wir an derKirche vorbei und über die Piazza zu einem kleinen Geschäft,das selbstgemachtes Eis verkaufte.

Ich kann mich nicht mehr erinnern, welche Sorte ich andem Tag wählte. Alles, was nicht unmittelbar mit Guido inZusammenhang stand, erschien mir irgendwie vage, damalswie heute. Ich war nur zu Besuch in Venedig und mein Urlaubging viel zu schnell vorbei. Danach besuchten wir einander,sooft es uns möglich war. Das war eine harte Zeit, doch wirgenossen jede gemeinsame Minute. Ich fing sogar an, Italie-nisch zu lernen, um seine Mutter zu beeindrucken (das hatmich zwar nicht wirklich weitergebracht, aber damals hatteich noch Hoffnung).

Doch nach einem guten Jahr stellte ich fest, dass wir nichtfüreinander geschaffen waren. Er war zu gesetzt, zu bedächtig,zu konservativ. Die Meinung anderer Leute zählte ihm mehrals seine eigene. Seine Mutter gab in seinem Leben den Tonan – was sie sagte, war Gesetz. Keine Diskussion. Er träumtenie davon, jemals etwas Revolutionäres zu tun.

Nicht, dass ich eine Revolutionärin bin. Mein Leben siehtsogar ziemlich zahm aus, wenn man es von außen betrachtet.Aber ich habe eine wilde Ader in mir, ein ganz starkes Be-dürfnis nach Unabhängigkeit. Das Leben, das er führen wollte,drückte mir schlicht die Luft ab. Alles war durchgeplant – Ar-beit im Familienhotel in Venedig, Hochzeit in der Kirche, inder seine Mutter geheiratet hatte, Grab auf dem Friedhof, woauch sein Vater begraben lag.

Ich weiß, auf den ersten Blick klingt das unglaublich ro-mantisch … ich meine, in Venedig leben, mit einem heißblü-tigen Italiener, und gemeinsam das Viersternehotel führen.Aber nachdem die erste rosige Verklärung unserer Romanzevorübergegangen war und wir einander gut kannten, stellte

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ich fest, dass Guido mich an ausgetrocknete Polenta erinnerte– und ich mochte Polenta noch nicht mal, wenn sie gut ge-macht war.

Also trennten wir uns, und obwohl ich traurig war, unsereFreundschaft zu verlieren, musste ich auch zugeben, dass ichmich wie befreit fühlte. Ich wurde nicht länger von seinenständigen Bedenken, Ermahnungen und Befürchtungen zu-rückgehalten und, was mich noch viel mehr überraschte, ichvermisste seine Gegenwart in meinem Leben gar nicht.

Mein Italienischunterricht machte mir allerdings immernoch Spaß, also setzte ich ihn fort, sodass mein Italienischmittlerweile ziemlich passabel war.

Ehrlich gesagt hatte ich in den letzten Jahren kaum an Gui-do gedacht. Wir blieben in Kontakt, nachdem er über dieEnttäuschung der Trennung hinweggekommen war. Zweimalim Jahr, zu unseren Geburtstagen, schickten wir einander E-Mails, und das war’s. Seit dem Tod seiner Mutter vor zweiJahren führte er das Hotel zusammen mit seinem älteren Bru-der, was wohl ziemlich schwierig war. Anscheinend war derBruder ein Luftikus, der das ganze hart erarbeitete Geld inirgendwelche Luftschlösser stecken wollte, und Guido mussteihn die ganze Zeit zurückhalten. Nicht, dass Guido das je soformuliert hätte, doch von einigen Bemerkungen hier und dawusste ich, dass die Beziehung ziemlich aufreibend war. Aberdas war auch schon alles, was ich von seinem Leben erfuhr.

Doch trotz all der Distanz zwischen uns war er heute Abendhier bei mir. Direkt in meiner Wohnung, ganz plötzlich undunerklärlich. Ich spürte seine Präsenz überdeutlich und konn-te an nichts anderes mehr denken. Es fühlte sich an, als ob ermir irgendetwas mitteilen wollte, eine ganz wichtige Nach-richt, und das machte mich total nervös. Warum drängte sichGuido einfach so in mein Leben? Und warum heute Abend?

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Die Fragen ließen mir keine Ruhe. Schließlich konnte ichdem unguten Gefühl nicht mehr widerstehen. Ich zog meinenLaptop zu mir heran und entschied mich, ihm eine E-Mail zuschreiben.

Dann zögerte ich, während meine Hände schon über derTastatur schwebten. Ich schaute vom Bildschirm hoch undkonnte Guido fast vor mir sitzen sehen, wie er das so oft getanhatte – bequem zurückgelehnt im Stuhl, sein linker Knöchelauf dem Knie, ein Glas mit seinem Lieblingswein, dem VinoNobile di Montepulciano, in seiner Hand. Er schwang denWein sanft im Kreis, bis dieser die Innenseiten des Glases be-netzte, und dann in langsamen Tropfen wieder nach untensank. Ich sah, wie Guido mir zuprostete und mit geschlosse-nen Augen an dem Wein roch, auf seinen Lippen das aner-kennende Lächeln, das so typisch Guido war.

Ich schüttelte mich. Himmel, war das beängstigend.Sollte ich ihm mitteilen, dass er mir heute Abend so nahe

war? Nein, lieber nicht. Nicht, dass er meine E-Mail falschinterpretierte und vielleicht sogar glaubte, dass ich ihn ver-misste und es noch einmal mit ihm versuchen wollte. Darumging es mir ganz sicher nicht. Doch ich wusste ja selbst nicht,was es war.

Ich schüttelte meinen Kopf, unfähig, meine Gefühle zu ver-stehen. Eine Ewigkeit verging, bis ich endlich die richtigenWorte gefunden hatte. Am Ende war das Ergebnis wirklichalles andere als spektakulär: »Ich denke heute Abend an dich.Wie geht es dir?«

Ich war nicht glücklich mit diesem Meisterstück an Kom-munikation, habe die Mail dann aber doch genau so abge-schickt.

Er antwortete nicht.Ich wartete mit angehaltenem Atem, aber es kam keine

Nachricht. Das war überhaupt nicht normal. Guido war förm-

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lich, korrekt, jederzeit bemüht, das Richtige zu tun. Und wennman eine E-Mail erhält, dann ist es richtig, dass man so schnellwie möglich antwortet. Die Antwort mag vielleicht nicht vielaussagen, vielleicht würde sie sogar eine konventionelle Lügesein, aber antworten würde er auf alle Fälle.

Meine Nervosität stieg. Dieses starke Gefühl seiner Gegen-wart war am nächsten Morgen verschwunden, aber die Erin-nerung daran blieb … als ob jemand einen Abdruck in meineSeele gedrückt hätte und dieser dort geblieben wäre, genau,wie ein Fußabdruck in frischem Zement.

Fünf Tage später – es war Sonntag und ich hatte geradenichts anderes zu tun – setzte ich mich an meinen Laptop undrief die Webseite seines Hotels Palazzo di Ventura auf.

Ich werde diesen Augenblick nie vergessen, und wenn ichhundert Jahre alt werde: Die Teetasse neben mir, über der einkleiner weißer Dampfkringel schwebte, die Weihnachtsduft-kerze, die auf meinem Schreibtisch flackerte, das Prasseln desRegens an der Fensterscheibe und das flauschige Gefühl mei-nes Lieblingspullis auf der Haut passten nicht zu den dürftigenWorten, die ganz oben auf der Webseite des Hotels standen:»Am sechsten Dezember bleibt das Restaurant des Hotels Pa-lazzo di Ventura aufgrund der Beerdigung des Besitzers Guidodi Ventura geschlossen.«

Mir stockte der Atem.Ich saß wie erstarrt, während eiskalte Schauer über meinen

Rücken liefen.Guido war tot.Guido war tot?Das glaubte ich einfach nicht.Mit zitternden Fingern gab ich seinen Namen in die Such-

maschine ein und fand eine kleine Zeitungsnotiz, die mirmehr Informationen gab. Guido war am ersten Dezember umsechs Uhr abends an einem Herzwandaneurysma gestorben.

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Ich schluckte.Um acht Uhr hatte ich seine Präsenz in meiner Hamburger

Wohnung gespürt und er hatte versucht, mir etwas mitzutei-len.

Die eiskalten Schauer gingen jetzt tiefer. Sie ergriffen meinHerz und quetschten es schmerzhaft zusammen. Übernatür-liche Dinge fand ich schon immer beängstigend. Ich ging janoch nicht mal zu einer Wahrsagerin, weil ich mich davorfürchtete, was sie mir wohl vorhersagen würde. Die Zukunftsollte ihre Geheimnisse für sich behalten; ich würde schon al-les früh genug herausfinden – das war mein Motto. Ich warabsolut nicht bereit, plötzlich mit Toten zu plaudern.

Verdammte Axt, wenn er mir etwas Wichtiges zu sagenhatte, hätte er doch mit mir sprechen können, solange er nochlebte! Warum musste er damit bis zu seinem Tod warten?Ohne Körper beziehungsweise Mund war die Sache mit derKommunikation doch erheblich erschwert.

Ich schloss meine Augen und versuchte, mir das genaueGefühl wieder ins Gedächtnis zu rufen, das mich an seinemTodestag so plötzlich überfallen hatte. Er war hier gewesen,direkt neben mir. Er hatte versucht, mir etwas mitzuteilen.Aber was? Hätte er nicht ein wenig deutlicher werden können?Hätte er mir nicht auf telepathischem Wege oder sonst einerübersinnlichen Kommunikationsweise eine klare Nachrichtzukommen lassen können? Andere Geister konnten das, zu-mindest hatte ich das mal in einer Zeitschrift gelesen.

Ich schaute mich furchtsam um. War er etwa noch hier?Hing er hier in irgendeiner Ecke, klammerte sich fest an dieserWelt, um herauszufinden, ob ich endlich begreifen würde, waser mir zu sagen hatte? Ich schauderte wieder. Selbst als Guidonoch lebte, wollte ich nicht ständig in seiner Nähe sein. Jetztwo er tot war, wollte ich das noch viel weniger.

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Ich versuchte, mich zu beruhigen. Nein, Guido war nichtmehr hier. Aus irgendeinem Grund war ich mir dessen sicher.Dieses überwältigende Gefühl seiner Gegenwart, den Geruchseines Aftershaves, hatte ich nur am Abend des ersten De-zembers wahrgenommen. Dann war er dorthin gegangen,wohin auch immer tote Seelen gehen … ich zitterte jetzt amganzen Körper.

Mir wurde schwindelig und plötzlich merkte ich, dass ich,seitdem ich die furchtbare Nachricht gelesen hatte, vergessenhatte zu atmen. Bewusst sog ich die Luft in tiefen Zügen ein.Es tat weh. Meine Lungen kämpften, als ob sie noch nie zuvorgebraucht worden wären. Mit Mühe nahm ich meine Schul-tern zurück. Es kostete mich mehr Kraft als sonst. Ich hatteeine Nachricht von einem Toten erhalten. Jetzt musste ichhandeln. Wenn ich bloß wüsste, was genau von mir erwartetwurde.

Der Rest des Tages verging, als ob jemand mich unter einGoldfischglas gesetzt hätte. Alles war gedämpft und weit weg.Ich funktionierte wie von selbst weiter, ohne zu merken, wasich eigentlich tat.

Das änderte sich erst, als meine Mutter mich am Montag-morgen an meinem Arbeitsplatz im Supermarkt anrief.

»Wie ist das Wetter, Lolly?«Sie nannte mich immer Lolly, obwohl ich eigentlich Lorena

heiße. Sie ruft mich auch täglich an, um mir den neuestenWetterstand mitzuteilen. Wir stehen uns sehr nahe, meineMutter und ich. Es ist, als ob der Wetterbericht ihr eine un-sichtbare Verbindung zu meiner Seele öffnet und sie automa-tisch auf den neuesten Stand bringt. Unsere Gespräche dauernselten länger als eine Minute, aber das reicht aus.

Ich drehte mich auf meinem Bürostuhl herum und blinzeltedurch das Fenster neben meinem Computer. Die Büros inSupermärkten befinden sich immer in der dunkelsten Ecke,

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weil die schönen Bereiche alle für die Kunden vorgesehensind. Der Regen hatte sich verzogen und es war ein klarer undfrischer Dezembermorgen mit einem zartblauen Himmel.

»Nebelig ist’s.«»O.« Meine Mutter zögerte. »Wird er sich bald auflösen?«»Sieht nicht so aus. Und bei dir?«»O, hier ist es schön und sonnig.«Ich hatte mir heute Morgen den Wetterbericht von Hildes-

heim, wo meine Mutter lebte, angesehen. Im Gegensatz zu mirsagte sie die Wahrheit.

»Gut.«»Na, ich hoffe, dass es morgen besser wird. Ich rufe dich

an.«Meine Mutter verspricht immer, dass sie mich anruft. Das

amüsiert mich ein wenig, aber es erfüllt mich auch mit einerArt zärtlicher Bewunderung. Es ist ihre Art zu sagen, dass siean mir hängt, bevor wir die Unterhaltung beenden. Heute un-terbrach ich jedoch unsere Routine.

»Sag mal, Mutti, ich hab mir was überlegt … wegen Weih-nachten.«

»Ja?«»Würdest du gern Weihnachten in Venedig mit mir ver-

bringen?« Ich hörte, wie meine eigene Stimme das fragte, undmein Unterkiefer fiel herab. Hatte ich das wirklich gesagt? Wowar denn diese Idee hergekommen?

»Venedig?« Eine ganze Welt von Emotionen war in diesemWort enthalten. Zweifel und Überraschung, gemischt mit et-was, was ich nicht ganz fassen konnte. »Hat es etwas mit Guidozu tun?«

Ich drückte meine Augen fest zusammen. »Guido ist tot.«Meine Mutter sagte gar nichts. Sie ist generell eine Frau von

wenigen Worten und wenn sie tief bewegt ist, dann sagt sie

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gar nichts mehr. Es gibt nichts, was ich mehr fürchte, als ihrSchweigen.

»Mutti? Bist du noch da?«»Ja. Es tut mir so leid, Lolly.« Ihre Stimme war weich. »Ein

Unfall?«»Nein. Herzwandaneurysma.« Ich erzählte ihr alles, was ich

im Internet gefunden hatte, aber ich sagte ihr nichts von Gui-dos Besuch am ersten Dezember. Der Zeitpunkt dafür warnoch nicht gekommen. Vielleicht würde er auch nie kommen.

»Aber die Beerdigung hat doch sicher schon stattgefun-den«, sagte meine praktische Mutter. »Warum möchtest dudenn dann noch nach Venedig?«

Ich schluckte. »Um … um Abschied zu nehmen.« Das warimmer noch die beste Umschreibung. Um herauszufinden,was Guido mir mitteilen wollte, als er mich in seiner letztenStunde auf Erden besuchte, hätte irgendwie viel zu exzentrischgeklungen.

»Aber warum Weihnachten?«»Weil ich dann ein paar Tage freihabe. Dieses Jahr bin ich

mit dem Urlaub über Weihnachten an der Reihe und ich weißnicht, wann ich das nächste Mal die Gelegenheit haben wer-de.« Wenn man in einem Supermarkt arbeitet, ist die Zeit vonWeihnachten bis Neujahr nicht dafür da, um die Füße hoch-zulegen und zu entspannen, daher dürfen immer nur einigewenige Auserwählte zu dieser Zeit in den Urlaub gehen.

Meine Mutter dachte eine Weile nach.Ich umklammerte den Hörer vor Spannung. Was für eine

dämliche Idee, dies aufs Tapet zu bringen, während ich imSupermarkt war. Jeden Augenblick konnte jemand herein-kommen und mich in diesem Stadium von akuter Funktions-störung auffinden.

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»Nein«, sagte meine Mutter schließlich. »Ich werde diesesJahr Weihnachten nicht nach Venedig fahren. Aber ich denke,du solltest es tun.«

»Was? Ich? Ganz alleine?« Ich quiekte wie eine nervöseMaus.

»Ja.« Die Stimme meiner Mutter war fest. »Fahre du nachVenedig.«

»Aber was ist mir dir? Dann wirst du doch an Weihnachtenalleine sein.« Mein Vater war jung gestorben.

»Keine Sorge, ich schaffe das schon. De facto hat Barbaramich gebeten, zu ihr nach Hause zu kommen und ihr mit denvier Enkelkindern zu helfen. Ihre Tochter und ihr Schwieger-sohn haben eine Kreuzfahrt gebucht und sie gebeten, überWeihnachten auf die Kinder aufzupassen.«

»Was?« Ich blinzelte. »Sie fahren über Weihnachten auf ei-ne Kreuzfahrt ohne ihre Kinder?«

»Ja«, sagte meine Mutter trocken. »Hat irgendetwas mitBurn-out zu tun und dass sie Ruhe für sich und die Erneue-rung ihrer Ehe brauchen. Deshalb hat Barbara zugestimmt,aber jetzt hat sie Angst, weil vier Kinder für zwei Wochen dochganz schön viel sind.«

»Das kannst du laut sagen.«»Aber du weiß ja, dass ich kleine Kinder liebe, und daher

wird es mir Freude machen, Zeit mit ihnen zu verbringen.«Meine Mutter war Kindergärtnerin und selbst Jahrzehnte

in ihrem Beruf haben die Begeisterung für ihren Job nichtmindern können. Ich schätzte sehr, dass sie mich nie mit demWunsch nach eigenen Enkelkindern nervte.

»Bist du sicher, Mutti?«»Absolut. Buche du deinen Flug nach Venedig. Aber rufe

mich jeden Tag an und sage mir, wie das Wetter ist, ja? Duweißt ja – acqua alta und so.«

»Acqua alta?« Das ging mir alles viel zu schnell hier.

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»Natürlich. Jetzt erzähl mir nicht, dass du vergessen hast,wie häufig Venedig im Winter überschwemmt wird!«

»Nein, nein, natürlich nicht.« Ich war noch immer zu über-wältigt, um zusammenhängend sprechen zu können. »Ichziehe meine Gummistiefel an.«

»Ja.« Meine Mutter klang ganz glücklich. »Die in Pink mitden Blümchen. Die werden vor den verfallenen Pallazzi ganztoll aussehen.«

Na, wenn das meine einzige Sorge war, dann würde Weih-nachten in Venedig ja ein Kinderspiel werden.

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Kapitel 2

Es fühlte sich ganz und gar nicht wie ein Kinderspiel an, alsich am frühen Abend des 24. Dezembers in der Ankunftshalledes Marco Polo Flughafens in Venedig stand. Es war eher einTrauerspiel. Eines, bei dem ich einen großen, schweren Steinim Magen hatte. Ich ertappte mich ständig dabei, wie ich aufder Suche nach Guidos breitem Lächeln die Menge mit denBlicken durchsuchte. Aufgeregte Kinder hüpften auf und ab,Eltern schlossen ihre erwachsenen Kinder – über Weihnach-ten zu Hause – in die Arme und ich … ich war alleine.Niemand wartete auf mich.

Neidisch starrte ich all die glücklichen Menschen um michherum an. Plötzlich wirkte mein Leben so leer und langweilig.Nach meiner Trennung von Guido vor all diesen Jahren hatteich eine Ausbildung bei einer großen Supermarktkette im gu-ten, alten Deutschland begonnen. Ich habe immer gesagt, dassdas die beste Entscheidung meines Lebens war. Ich mochtemeinen Job wirklich und habe sogar Karriere gemacht, wasmich selbst noch mehr überraschte, als meine Vorgesetzten.Ich habe Freunde gefunden und ein kleines Apartment miteinem wunderbaren Blick auf einen Apfelbaum gekauft undobwohl das irgendwie alles ganz gesetzt und langweilig klingt,war es genau richtig für mich.

Ich erinnerte mich an all die guten Dinge in meinem Leben,aber trotzdem kam ein Seufzer über meine Lippen, als ichmeinen Koffer von all den Menschen, die sich glückstrahlendumarmten, wegzog. Ich wusste, was mir fehlte: Ein Partner.Aus irgendeinem Grund war der richtige Mann noch nicht

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am Horizont erschienen. Manchmal fragte ich mich, ob ichvielleicht einfach zu blind war, um ihn zu erkennen. Dannkamen wieder diese quälenden Zweifel zurück. Ich hatte dieLiebe eines guten Mannes weggeworfen. Ich war die Liebeseines Lebens gewesen, zumindest hatte Guido das gesagt …und seine Handlungen hatten dies bestätigt, denn schließlichhatte er nie geheiratet.

Aber ich hatte das ja auch nicht getan. Hatte ich damals dierichtige Entscheidung getroffen? Vielleicht erwartete ich ein-fach zu viel vom Leben? Oder hatte ich mich von meinerMutter beeinflussen lassen, die mir von Anfang an gesagt hat-te, dass Guido nicht der richtige Mann für mich war? ZehnJahre hatte ich nun schon gewartet und der Mann meinerTräume – wer auch immer er war – hatte immer noch keineForm angenommen.

Offensichtlich war das Schicksal ein wenig langsam in mei-nem Fall und mein Prinz brauchte ernsthafte Unterstützung,um entdeckt zu werden. Deshalb hatte ich mich kürzlich beieiner Partnerschaftsvermittlung im Internet angemeldet.Aber das Ergebnis war katastrophal für mein Selbstbewusst-sein gewesen – nur Typen über sechzig hatten sich gemeldet,wenn man von einem absoluten Spinner absah, dessen einzigeVollzeitbeschäftigung die Höhlenforschung war – je dunklerund tiefer die Höhle war und je mehr Fledermäuse sie hatte,umso besser. Brrr. Also hatte ich mich blitzschnell wieder ab-gemeldet.

Ich seufzte noch einmal. Wenn Guido ein Geist war, wärejetzt die perfekte Gelegenheit für ihn, zu mir zu kommen undein wenig frohe Weihnachtsstimmung zu verbreiten. Ich teilteihm dies in Gedanken mit, während ich meinen Koffer zu demSchalter rollte, wo ich die Fahrkarte für die Fähre kaufenkonnte. Leider hörte er mich nicht, oder falls er mich hörte,reagierte er jedenfalls nicht.

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Ich kaufte die Fahrkarte zu einem Preis, der mir die Spracheverschlug, und versuchte nicht daran zu denken, dass michsonst immer Guido mit seinem eigenen Boot abgeholt hatte,sodass ich nie auf die öffentlichen Transportmittel angewiesengewesen war. Dann verließ ich den Flughafen und ging zumAnleger.

Der Himmel war grau und der Wind so kalt, dass meineHaare hochflogen und mein Hals ungeschützt der Eiseskälteausgesetzt wurde. Ich zog den Kopf tiefer in meine dicke Win-terjacke. Schon wieder eine quälende Erinnerung – Guido, derden Arm um mich legte, damit mir warm blieb, als wir genaudiesen Weg entlangliefen, unter dem gewölbten Plastikdach,das die Passanten vor dem Regen schützte. Ich konnte michallerdings nicht erinnern, ob dieses Dach schon vor zehn Jah-ren hier gewesen war. Na, kein Wunder, schließlich hatte ichnur Augen für Guido gehabt. Guido, der jetzt tot war.

Ich schluckte mit trockener Kehle. Irgendwie konnte ich esimmer noch nicht glauben. Der Wind zerrte weiter an meinenHaaren und ich schlug meine Kapuze hoch. Wenigstens reg-nete es heute nicht. Es wäre auch zu schrecklich gewesen,wenn ich zu Beginn meiner exzentrischen Mission von Ve-nedig mit einem gleichmäßigen Dauerregen in Empfang ge-nommen worden wäre. Es war zwar nicht wirklich fröhlichhier, mit der ganzen Welt in Einheitsgrau, aber wenigstenswar es trocken. Konzentriere dich auf das Gute, sagte ich mirund kämpfte mich weiter vor. Dann fiel mir ein, dass ich jameine Mutter anrufen wollte. Sie ging nicht ans Telefon, alsoschickte ich ihr eine SMS: »Bin gut angekommen. Es ist grauin Venedig.«

Ich hatte Glück – die Fähre der Linea Blu legte just in demAugenblick an, als ich an den Pier kam. Der Fährmann riefjemandem, der auch gerade ankam, einen Witz durch das of-fene Fenster seiner Kabine zu. Der Kontrolleur machte ein

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Loch in mein Ticket und lachte dabei so herzlich, dass ich seinZäpfchen wackeln sehen konnte.

Wieder schoss heißer Neid durch mich hindurch. Ich wollteauch mit jemandem lachen. Was für eine blödsinnige Idee,ganz alleine diese seltsame Reise ins Land der Erinnerungenanzutreten – und das auch noch zu Weihnachten! Da war dieKatastrophe ja eigentlich vorprogrammiert und ich steuertegeradewegs in ein einziges Jammertal aus Selbstmitleid undBedauern. Was wollte ich hier überhaupt? Was für ein Wahn-sinn, diesem seltsamen Impuls zu folgen, nur weil mich einGeist für eine einzige Nacht besucht hatte – ein Geist, derseitdem spurlos verschwunden war. Vielleicht hatte Guidosich ja nur rächen wollen, weil ich ihn damals verlassen hatte.

Panik ergriff mich, während ich mich umsah. Ich hatte nochZeit. Zeit, das nächste Flugzeug zu nehmen und wieder inmeine gemütliche Wohnung in Hamburg zurückzukehren.Ich drehte mich um und blickte genau in die dunklen Augendes Kontrolleurs.

»Piazza San Marco?« Er hatte die Hände schon auf demMetallgitter, bereit, es zur Seite zu schieben und zu schließen.

Ich schaute ihn an, komplett hilflos. Was wollte ich?»Möchten Sie zur Piazza San Marco?«, fragte er jetzt in

langsamem Englisch mit einem starken, italienischen Akzent.Er war es offensichtlich gewohnt, mit orientierungslosen Tou-risten zu sprechen, deren Zungen völlig verknotet waren.

»Nein.« Ich schüttelte meinen Kopf. »Ospedale.« So. Jetztwar die Entscheidung gefallen. Ich würde zur Krankenhaus-haltestelle fahren, genau wie geplant.

Er nickte und warf mir ein Lächeln zu. »Gut. Sie nehmendiese Boot.« Er winkte mich an Bord und schob dann das Me-tallgatter zur Seite, bis es in die Halterung einrastete. Mitgeübter Hand löste er das dicke Tau, das das Boot mit demPier verband.

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Der Fährmann setzte die Fähre mit einem lauten Röhrendes Motors zurück und drehte das Boot dann auf der Stelle.Der Wind wurde stärker. Jetzt fühlte es sich an, als ob kleineEiszapfen mit den spitzen Enden zuerst gegen mein Gesichtgeblasen würden. Bevor ich zu einer Statue erfrieren konnte,kletterte ich die wenigen Stufen in den beheizten Innenraumhinab und fiel auf einen der orangenen Plastiksitze.

Es war einfach, die Einwohner von den Touristen zu un-terscheiden: Die Touristen hatten ihre Nasen tief in Reisefüh-rern versenkt oder fotografierten wie wild aus dem Fenster,während die Einwohner nur gelangweilt schauten.

Als ich schließlich an der Haltestelle Ospedale von der Fährestieg, sank meine Laune noch ein Stückchen tiefer. Vor mirwar nichts als eine riesige, zerbröckelnde Wand, die entlangdes Weges verlief und hinter sich das relativ moderne Kran-kenhaus verbarg. Mit modern meine ich, dass es weniger alshundert Jahre alt war. Ich schaute mich um, um mich zu ori-entieren. Hinter mir, umgeben von Wasser, das trotz desgrauen Wetters in einem schwachen Türkis schimmerte, lagdie Isola di San Michele, die Friedhofsinsel mit ihren weltbe-kannten Mauern. Kein sehr fröhlicher Anblick für die Leute,die Weihnachten im Krankenhaus verbringen mussten.

Zu meiner Rechten überspannte eine Brücke einen Kanalund zu meiner Linken schien die Wand in einer Sackgasse zuenden, wie so oft in Venedig. Aber ich hatte die Karte vormeinem Abflug studiert und wusste es besser. In der Hoff-nung, dass ich alles richtig gelesen hatte, ging ich nach linksund zog meinen Koffer über die unebenen Pflastersteine hin-ter mir her, bis ich zu einem Gittertor mit einem Vorhänge-schloss kam. Erst als ich direkt davorstand, konnte ich zumeiner Rechten einen schmalen Weg zwischen zwei hohen,krummen Wänden sehen. Auf dem engen Pfad würden kaumzwei Leute aneinander vorbei passen und weiter hinten schien

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er sich an diesem trüben Dezembertag gänzlich in Dunkelheitzu verlieren. Was für ein willkommen heißender Anblick. Ichschob den sarkastischen Gedanken zur Seite und stürzte michin die Gasse. Venedig ist eine sichere Stadt, sagte ich mir selbst.Total sicher. Das hatte Guido jedenfalls ständig gesagt. Ichhoffte nur, dass sich das die letzten zehn Jahre nicht geänderthatte. In diesem Moment vermisste ich Guido und sein Bootschmerzlich.

Langsam wanderte ich tiefer in das Labyrinth, das Venedigausmacht. Dieser Teil der Stadt lag nicht im Zentrum desTourismus und die Läden waren relativ leer. Ich sah einigeLeute, die mit Briefumschlägen und kleinen Geschenken inden Händen von Laden zu Laden eilten und ihre Mitbringselmit fröhlichen Grüßen und besten Wünschen – tanti auguri– für die Feiertage übergaben.

Zum ersten Mal erfasste auch mich eine festliche Stimmungund plötzlich fühlte ich mich nicht mehr so dumm mit meinerspontanen Entscheidung, diese Reise anzutreten. Venedighatte mich schon immer verzaubert – und zu meiner Über-raschung war der Zauber ungebrochen.

Mehrmals bog ich rechts ab, dann links, und zwei piazzeund drei Brücken später kam ich ans Ziel: Campo Santa MariaFormosa. Es war einer der größeren Plätze in Venedig, in densieben Wege mündeten, doch durch die massive Kirche, dieauf der westlichen Seite stand und dem Platz ihren Namengegeben hatte, wirkte alles viel kleiner.

Die Schönheit der Kirche und ihres Glockenturms berühr-ten mich heute nicht. Ich stand mit dem Rücken zu ihnen,mein Blick wie gebannt auf die andere Seite des Platzes ge-richtet, wo verschnörkelte Buchstaben den Eingang zu demmir wohlbekannten Palazzo aus dem dreizehnten Jahrhun-dert dekorierten: Palazzo di Ventura. Guidos Hotel.

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Die Fassade des Hotels war mit hellen Weihnachtslichter-ketten dekoriert, die sich sanft im Wind bewegten, als ob siezu einer geheimen Musik tanzten. Sie hingen in vertikalenReihen direkt unter den schmalen, hohen Fenstern, zehn,zwanzig, nein, vermutlich mehr Stränge pro Fenster und jederso lang wie mein Arm – wie erleuchtete Flaggen mit magischerAusstrahlung.

Ich ließ meinen Koffer fallen und starrte auf die beidenEingangstüren, die, wie ich wusste, einen Halbkreis formtenund beide in die Eingangshalle führten. Ich stellte mir vor, wieich hineinging, genauso, wie ich es damals so oft getan hatte,aber meine Füße wollten mir nicht gehorchen. Ich konnte dasHotel ohne Guidos Gegenwart nicht ertragen. Konnte dieVergangenheit nicht ertragen, konnte seinen Tod nicht ertra-gen, konnte die große Leere, die sich tief in mir ausgebreitethatte, nicht ertragen.

Mein Hals zog sich zu und das Glücksgefühl, das eben nochin mir aufgekeimt war, verflog. Was jetzt, Lolly? fragte michmeine innere Stimme höhnisch. Was sollte diese Reise ins Nir-gendwo, nur, weil du ein paar komische Gefühle am erstenDezember hattest? Hast du nicht doch vielleicht nur etwas Fal-sches gegessen?

Mein Herz sank – und plötzlich gefror es komplett. DennGuido kam aus dem Hotel und ging quer über den Platz direktauf mich zu.

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