Die Einladung von Oriah Mountain Dreamer - · PDF fileBuch »Die Einladung«...

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Buch

»Die Einladung« – das ist nicht nur ein wundervolles Prosagedicht,das von der wahren Aufgabe des Lebens erzählt. Es ist vor allem eineAufforderung, dieses Leben anzunehmen und sich seiner Bestim-mung hinzugeben. Sich dem Schmerz und dem Leiden zu öffnen und

sich kompromisslos der Freude und Schönheit zuzuwenden.In ihrem Buch erzählt Oriah Mountain Dreamer, wie sie zu diesemGedicht, das in seiner Kraft und Einfachheit die Herzen zahlloserMenschen berührte, inspiriert wurde und welche Bedeutung es fürihr Leben besitzt. Ihr reicher Schatz an Erfahrungen und Lebens-weisheiten sowie ihre Meditationstexte laden den Leser ein, ihremWeg zu folgen und sich mit ganzer Leidenschaft auf das Abenteuer

Leben einzulassen.

Autorin

Oriah Mountain Dreamer lebt in Toronto und leitet Workshops,zeremonielle Sitzungen und Meditationen in Nordamerika.

Oriah Mountain Dreamer

DIE EINLADUNGAus dem Amerikanischen

von Ulla Rahn-Huber

Für Catherine

Die amerikanische Originalausgabe erschien 1999 unter dem Titel »The Invitation«

bei HarperSanFrancisco, a division of HarperCollins Publishers Inc.

Verlagsgruppe Random House FSC-DEU-0100

Das für dieses Buch verwendete FSC-zertifizierte PapierMünchen Super liefert Mochenwangen.

5. AuflageVollständige Taschenbuchausgabe Mai 2000

© 2000 der deutschsprachigen AusgabeWilhelm Goldmann Verlag, München

in der Verlagsgruppe Random House GmbH© 1999 der Originalausgabe Oriah Mountain Dreamer

Published by arrangement with HarperCollins Publishers Inc.Umschlaggestaltung: Design Team München

Umschlagfoto: Design Team MünchenRedaktion: Bettina Traub

WL · Herstellung: Stefan HansenSatz: Uhl+Massopust, Aalen

Druck und Bindung: GGP Media GmbH, PößneckPrinted in Germany

ISBN 978-3-442-21566-9

www.arkana-verlag.de

SGS-COC-1940

Inhalt �

7 Die Einladung9 Die Einladung annehmen

26 Die Sehnsucht40 Die Angst54 Das Leid70 Die Freude84 Verrat

100 Schönheit115 Unzulänglichkeit130 Verpflichtung146 Das Feuer161 Seelennahrung177 Die Heimkehr190 Danksagungen

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Es interessiert mich nicht, womit du dein Geld verdienst.Ich will wissen, wonach du dich sehnst und ob du dieErfüllung deines Herzenswunsches zu träumen wagst. Esinteressiert mich nicht, wie alt du bist. Ich will wissen, obdu es riskierst, dich zum Narren zu machen, auf deiner Su-che nach Liebe, nach deinem Traum, nach dem Abenteuerdes Lebens.

Es interessiert mich nicht, welche Planeten ein Quadratzu deinem Mond bilden. Ich will wissen, ob du deinemLeid auf den Grund gegangen bist und ob dich die Unge-rechtigkeiten des Lebens geöffnet haben, oder du dich kleinmachst und verschließt, um dich vor neuen Verletzungenzu schützen. Ich will wissen, ob du Schmerz – meinen oderdeinen eigenen – ertragen kannst, ohne ihn zu verstecken,zu bemänteln oder zu lindern.

Ich will wissen, ob du Freude – meine oder deine eigene –aushalten, dich hemmungslos dem Tanz hingeben und jedeFaser deines Körpers von Ekstase erbeben lassen kannst,ohne an Vorsicht und Vernunft zu appellieren oder an dieBegrenztheit des Menschseins zu denken.

Es interessiert mich nicht, ob das, was du mir erzählst,wahr ist. Ich will wissen, ob du andere enttäuschen kannst,

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um dir selbst treu zu bleiben; ob du den Vorwurf des Ver-rats ertragen kannst, um deine eigene Seele nicht zu ver-raten; ob du treulos sein kannst, um vertrauenswürdig zubleiben.

Ich will wissen, ob du die Schönheit des Alltäglichen er-kennen kannst, selbst wenn sie nicht immer angenehm istund ob ihre Allgegenwärtigkeit die Quelle ist, aus der dudie Kraft zum Leben schöpfst.

Ich will wissen, ob du mit Unzulänglichkeit leben kannst– meiner und deiner eigenen – und immer noch am Seeuferstehst und der silbrigen Scheibe des Vollmonds ein unein-geschränktes »Ja!« zurufst.

Es interessiert mich nicht, wo du wohnst oder wie reichdu bist. Ich will wissen, ob du nach einer kummervolldurchwachten Nacht zermürbt und müde bis auf die Kno-chen aufstehen kannst, um das Notwendige zu tun, damitdeine Kinder versorgt sind.

Es interessiert mich nicht, wen du kennst oder wie duhierher gekommen bist. Ich will wissen, ob du inmitten desFeuers bei mir ausharren wirst, ohne zurückzuweichen.

Es interessiert mich nicht, wo oder was oder mit wem dustudiert hast. Ich will wissen, was dich von innen herausträgt, wenn alles andere wegbricht.

Ich will wissen, ob du mit dir selbst allein sein kannstund ob du den, der dir in solch einsamen Momenten dei-nes Lebens Gesellschaft leistet, wirklich magst.

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Die Einladung annehmen �

Bisweilen werden uns Augenblicke echter Gnade zuteil.Manchmal öffnet sich während meiner Meditation am

frühen Morgen etwas in mir und ich lasse Dinge los, vondenen ich noch nicht einmal wusste, dass ich an ihnen fest-hielt. In solchen Momenten spüre ich, wie all die Verhär-tungen in meinem Herzen und meinem Körper dem sanf-ten Strömen meines Atems nachgeben und ich bin vollerMitgefühl für jenen Teil von mir, der unablässig strebt, or-ganisiert, Probleme löst und das Morgen plant. Dann wirdmein Geist ganz still und folgt einfach meiner Atmung.Eine Woge des Vertrauens erfasst mich, ein Wissen, dass al-les, was zu tun ist, getan werden wird. Meine Schultern sin-ken herab, der kleine, doch wohl vertraute Schmerz in mei-ner Brust lässt nach und die Zeit scheint still zu stehen. Esgibt genug: genug Zeit, genug Energie, genug von allem,was notwendig ist. Auf einmal spüre ich in mir eine großezärtliche Liebe für mich und die Welt und ich weiß, dass ichdieser Zeit, diesen Menschen, dieser Erde und etwas ande-rem, das all dies durchdringt und doch größer ist, etwas,das uns alle trägt und erhält, angehöre. Ich möchte nir-gendwo anders sein. Ich bekenne mich zu mir selbst undder Welt und bin voller Mitgefühl.

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Dann erhebe ich mich von meinem Kissen und beginne inaller Ruhe meinen Tag. Beim Betreten des Badezimmers fälltmein Blick in den Spiegel und ich sehe, wie sich das verklärteLächeln auf meinem Gesicht schlagartig zu einer angewi-derten Grimasse verzieht, als kaltes Wasser durch die Soh-len meiner sauberen weißen Socken dringt. Aller Anscheinvon anmutiger Leichtigkeit zerbirst in dem schrillen Entset-zensschrei, den ich ausstoße, als ich sehe, wie meine heran-wachsenden Söhne nach ihrer morgendlichen Dusche dasBadezimmer hinterlassen haben: Wasserpfützen auf demFliesenboden; mehrere nasse Handtücher auf einem Haufenin der Ecke, andere so über die Handtuchstange gestopft,dass sie unmöglich noch vor dem Jahreswechsel trocknenkönnen; der Duschvorhang halb in, halb außerhalb derWanne, so verknautscht und verdreht, dass Schimmelpilzemöglichst optimale Wachstumsbedingungen vorfinden.

Später, als ich nach der Putzaktion in der Küche sitze undmir eine Tasse Tee gönne, spricht mich mein jüngerer SohnNathan an. »Ich weiß, dass wir im Bad kein solches Chaoshinterlassen sollten, Mama«, meint er und versucht, mög-lichst vernünftig zu klingen. »Aber eigentlich ist es dochganz normal, wenn Jungen in unserem Alter nasse Hand-tücher auf dem Boden rumliegen lassen. Natürlich ist esnicht gut«, fügt er eilig hinzu, als ihn der durchdringendeBlick, den ich ihm über den Rand meiner Teetasse hinwegzuwerfe, trifft. »Aber wenn das das Schlimmste ist, was wirtun, dann brauchst du dir doch wirklich keine allzu großenSorgen zu machen, oder?«

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Ich fange unwillkürlich an zu lachen. Er hat natürlichRecht.

So ist die Welt, in der wir leben: Wir versuchen, unserBestes zu geben, in unserem Dasein einen Sinn zu findenund eins zu werden mit uns und dem, was größer ist, alswir selbst, und geraten dann durch unaufgeräumte Bade-zimmer, Verkehrsstaus und verbrannte Toasts völlig ausder Fassung. Ich habe kein Interesse an einer Spiritualität,in der für meine Menschlichkeit kein Platz ist. TraditionelleDogmen oder unqualifizierter New-Age-Optimismus ge-ben mir weder Trost noch Führung. Denn in all den klei-nen Prüfungen des Alltags stecken stärkere Paradoxa –Dinge, die vom Verstand her unvereinbar scheinen, dochan denen das Herz festhalten muss, wenn wir voll und ganzleben wollen: unsägliche Müdigkeit und kompromissloseHoffnung; zerschmetterter Glaube und unverbrüchlichesVertrauen; das scheinbar so widersprüchliche Streben nachpersönlicher Freiheit und einer tief empfundenen Loyalitätanderen Menschen gegenüber, die gleichzeitige Suche nachDistanz und Nähe; der Wunsch, die Welt so anzunehmen,wie sie ist und die Notwendigkeit, zu ändern, was wir anunserer Lebensweise als unrichtig erkannt haben.

Die Einladung ist eine Absichtserkärung, eine karto-grafische Bestandsaufnahme der Seelenlandschaft, derWunsch nach einem Leben voller Leidenschaft, in dem wiruns selbst ins Auge sehen und die Welt ringsum hautnah er-fahren. Dieses Buch führt dich auf eine Reise in ebenjeneLandschaft. Wollen wir gemeinsam dorthin reisen, so muss

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vorab einiges geklärt werden. Denn die Einladung einfachanzunehmen und Ja zu sagen, die Sehnsucht im Herzenoder den beschleunigten Pulsschlag zu spüren, der uns vor-wärts drängt, ist nicht dasselbe, wie tatsächlich auf dieReise zu gehen.

Ich will jeden Tag meines Daseins den innigen Kontaktzum Leben spüren. Ich habe den sehnlichsten Wunsch, jamanchmal Drang, die notwendigen Risiken einzugehen,um dem, was in mir und um mich herum geschieht, wirk-lich nahe zu sein. Und bisweilen habe ich Angst, dass es mirzu viel werden könnte; dass mir etwas fehlen oder ich keineVerbindung zu dem haben könnte, was mich wirklich da-bei sein lässt und die strahlende Schönheit und das mark-erweichende Leid des uneingeschränkten Lebens für michaushaltbar macht. In dem Wissen, wie erschreckend so-wohl das Schöne als auch der Schmerz sein können, gebeich jetzt, zu Beginn dieser Reise, drei Versprechen ab, vondenen jedes einzelne gleichzeitig auch eine Warnung bein-haltet.

Erstens: Die in der Einladung angesprochenen Situatio-nen sind nicht metaphorisch gemeint. Wenn ich sage: »Ichwill wissen, ob du nach einer kummervoll durchwachtenNacht zermürbt und müde bis auf die Knochen aufstehenkannst, um das Notwendige zu tun, damit deine Kinderversorgt sind«, dann frage ich damit nicht nach deinenguten Absichten oder danach, ob du dir jemanden leistenkannst, der sich an deiner Stelle um deine Schützlinge küm-mert. Ich will vielmehr erfahren, ob du wirklich aufstehen

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kannst, wenn sich alles in dir dagegen wehrt, unter derBettdecke hervorzukriechen. Ich will hören, ob du all diekleinen, irdischen und doch so notwendigen Dinge erledi-gen kannst, ob du auch dann noch geben kannst, was zugeben ist, wenn du meinst, die Grenze des Gebens längstüberschritten zu haben. Wenn ich dich frage, ob du mit dirallein sein kannst, dann möchte ich nicht ergründen, ob dudem Gedanken ans Alleinsein etwas abzugewinnen ver-magst, sondern ob du tatsächlich länger als ein paar Stun-den mit dir allein zubringen kannst, ohne den Fernseheroder das Radio einzuschalten, nach dem Telefonhörer odereiner Zeitschrift zu greifen; ob du wirklich in deiner eige-nen Gesellschaft zur Ruhe kommen und mit dir in Friedenleben kannst.

Die erste Warnung birgt nun auch das erste Versprechen:Sollte es diesem Buch tatsächlich gelingen, dich in die vonder Einladung vorgezeichnete Landschaft zu entführen, sowirst du die Sehnsucht, die Sorge, die Freude, den Mut undden Frieden tatsächlich erfahren und nicht nur darüberlesen…

Die autobiographischen Geschichten, die ich hier er-zähle, sind für sich selbst betrachtet nicht sonderlich be-deutsam. Jeder von uns hat tausende von Geschichten zuerzählen und in meinem Leben gibt es nicht mehr oderweniger davon als in jedem anderen auch. Doch mit Be-dacht gewählte Geschichten, die im Erzähler wie im Lesergleichermaßen ganz bestimmte Bilder auslösen, könnenuns Wege in unsere innere Landschaft erschließen und uns

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vor Augen führen, welcher Sinn manchmal in winzigenNichtigkeiten unseres Lebens verborgen liegt – ein Sinn,der durch das Erzählen und bewusste Nachdenken ansTageslicht befördert wird. Ich verspreche dir, dass ich nichtvorgeben werde, etwas zu wissen, was ich nicht selbst er-fahren habe. Andererseits werde ich auch nicht versuchen,um der Nettigkeit und des lieben Friedens willen Ignoranzvorzutäuschen, wenn ich tatsächlich etwas weiß.

Dies führt mich zu der zweiten Warnung, die wiederumein Versprechen enthält: Die Auswirkungen von Momen-ten tiefer Nähe zu sich selbst, zu anderen Menschen oderder Welt ringsum sind völlig unvorhersehbar. Wenn wir ler-nen, unsere Freude und unser Leid, unsere Sehnsüchte undWünsche wirklich zuzulassen, wird unser Selbst und dieWelt Schicht um Schicht freigelegt und enthüllt. Niemandkann im Voraus wissen, was dabei zum Vorschein kommtoder zu welchen Handlungen wir dadurch inspiriert odergedrängt werden. Ich habe in meinen Seminaren erlebt,wie Teilnehmer, die unmittelbar davor standen, endlich aufeiner tieferen Ebene mit ihren Gefühlen in Kontakt zu kom-men, auf einmal den Wind der Veränderung spürten undaus Furcht vor möglichen Konsequenzen für ihr Leben un-vermittelt die Flucht vor dem antraten, wonach sie sich solange gesehnt hatten: einer tieferen Verbundenheit zwi-schen dem Selbst und dem Geist. Ist ein Teil unseres Lebensauf Lügen gegründet oder auch auf Wahrheiten, die – wiegut gemeint oder unbewusst sie auch ursprünglich seinmochten – auf einmal nicht mehr tragfähig sind, so kön-

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nen die durch Kontaktaufnahme zu unserem inneren We-senskern erforderlichen Veränderungen äußerst bedrohlichwirken. Wir können nicht im Voraus sagen, welche As-pekte des sorgfältig errichteten Gebäudes unseres Selbstweiterhin Bestand haben – ja, ob sie nicht samt und son-ders hinfällig werden. Diese Tatsache birgt zugleich einegute und eine schlechte Nachricht: Wenn du dich auf dieReise machst, ist echte Veränderung möglich und unver-meidbar, sie ist aber gleichzeitig vom gegenwärtigen Stand-punkt aus völlig unvorhersehbar.

Die dritte Warnung beinhaltet ihrerseits ein Verspre-chen: Kein Teil der Reise ist umsonst. Wenn du erst einmalin dir jenen Hunger nach etwas anderem als dem Weiter-machen wie bisher verspürst und auch nur einen Vorge-schmack auf die Möglichkeit bekommen hast, den wahrenSinn deines Lebens zu erkennen, dann wirst du im Rahmendeiner Alltagsroutine keine rechte Zufriedenheit mehr fin-den können. Es gibt keinen Weg zurück. Was einmal ge-lernt ist, bleibt unwiderruflich haften. Die Weisheit, zu derwir in Momenten echter innerer Verbundenheit vordrin-gen, erfüllt die Seele mit dem Wissen darum, wer und waswir sind. Sie transformiert uns.

Ich kann nicht versprechen, dass die Reise immer einfachsein wird. Wenn wir uns dem Leben öffnen und uns auf dieWelt einlassen, ist das kein selektiver Prozess. Weigern wiruns, jene Orte in uns und anderen aufzusuchen, an denenwir Leid und Unsicherheiten begegnen, werden wir auchAugenblicke der Freude und des Überschwangs nie wirk-

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lich auskosten können. Sind wir hingegen für Freud undLeid gleichermaßen offen, wächst unsere Fähigkeit, unsselbst und die Welt ringsum ins Herz zu schließen.

Ich weiß, dass dies möglich ist – aus eigener Erfahrungund weil ich miterlebt habe, wie es anderen gelang, zuebenjenen Momenten der Nähe vorzudringen, auf die inder Einladung angespielt wird. Ich weiß um die Möglich-keit, Schmerz auszuhalten, ohne ihn zu verstecken, zu be-mänteln oder zu lindern; sich mit Freude im Tanz zu ver-lieren und sich voll und ganz der Ekstase hinzugeben, mitFehlschlägen zu leben, die Schönheit zu sehen, dem Feuerstandzuhalten… Ich habe das alles selbst erlebt, ohne es zubereuen, und dabei tiefes Vertrauen in den menschlichenGeist gewonnen. Meine Erfahrungen haben in mir eineunendliche Liebe zu dem Mut geweckt, der in unser allerHerzen steckt – in meinem wie dem deinen; ein Mut, dernicht unterzukriegen ist und sich zeigt, wann immer es da-rauf ankommt, selbst wenn eine Sache für den menschli-chen Verstand auch noch so unerträglich oder schlichtwegunmöglich erscheinen mag.

Wir haben das Potenzial. Und stehen wir uns gegenseitigbei, so wird es einfacher. Als ich meinen ersten Sohn zurWelt brachte, versuchte mein Partner, der genauso unerfah-ren war wie ich und angesichts der Heftigkeit von sechzehnStunden andauernden Wehen wohl auch ebenso erledigt,mich zu beruhigen. Alles sei in Ordnung, meinte er und mirkönne nichts geschehen. Hin- und hergerissen zwischen derAngst vor dem, was noch auf mich zukommen würde und

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dem Schmerz des Augenblicks, war ich sicherlich nicht son-derlich gut zu sprechen. »Woher willst du das wissen?«,fuhr ich ihn an und wir beide warfen der Hebamme einenfragenden Blick zu. Als sie uns versicherte, dass alles gut seiund uns beide an das korrekte Atmen erinnerte, glaubtenwir ihr. Sie wusste es. Sie hatte diese Situation schon vieleMale erlebt. Es war ihr auf Erfahrung gegründetes Wissen,auf das wir vertrauten.

In diesem Fall geht es auch um eine Art Geburt, nämlichdarum, einen innigeren Kontakt zu uns selbst und der Weltringsum ans Licht zu bringen. Ich bin dabei die Hebamme,die schon bei vielen Geburten zugegen war und auch selbstschon Kinder geboren hat. Wann immer es schwierig wird,werde ich dich an das erinnern, was du eigentlich schonweißt: dass du es schaffen kannst; dass der Mut zum Vo-ranschreiten daraus erwächst, den Wunsch größer als dieAngst werden zu lassen; dass du aus deiner Sehnsucht nachuneingeschränkter Lebendigkeit und deinem Willen, dichmit nichts Geringerem zufrieden zu geben, Kraft schöpfenkannst. Ich werde dich nicht hängen lassen, wenn esschwierig wird, sondern dich dorthin führen, wo das At-men wieder leichter fällt. Ab und zu werde ich dir Gebeteund Meditationen anbieten, die du nutzen kannst, um aus-zuruhen und körperlich wie seelisch wieder zu Kräften zukommen.

Wir sind nicht allein in unserem Bestreben, uns voll undganz für unsere Lebendigkeit zu öffnen. Wenn ich im ech-ten Kontakt zu mir selbst und der Welt ringsum stehe, in

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jedem Augenblick mit meiner Aufmerksamkeit präsent binund nicht vor der Wahrheit zurückweiche, dann spüre icheine Gegenwärtigkeit, die über die meine hinausgeht, diemich hält, während ich den Augenblick halte. Diese Gegen-wärtigkeit, dieses große Mysterium, das so viele verschie-dene Namen hat – Gott, der Große Geist, Allah, die GroßeMutter – erhebt mich, erfüllt mich mit einer grenzenlosenRuhe und einem sicheren Gefühl für die Verbundenheit al-len Lebens. Ich glaube an dieses Mysterium und seine man-nigfache Art, uns zu tragen und zu nähren.

Bevor wir uns gemeinsam auf die Reise machen, hast duein Recht darauf zu erfahren, welches meine Motive sind,warum ich danach strebe, in inniger Nähe zu mir selbst undder Welt zu leben. Die zutreffendste Antwort auf dieseFrage ist zugleich die allereinfachste: weil ich muss. Ichwerde von einem unersättlichen Hunger der Seele ge-trieben, von einer Sehnsucht nach uneingeschränkter Le-bendigkeit, die mich nicht ruhen lässt. Und ich weiß, dassdamit weder endlose Mühen und Anstrengungen nochHöchstleistungen oder die Forderung nach dem Konsummöglichst vieler verschiedener Dinge oder einem Maxi-mum an Erfahrungen verbunden sind. Es bedeutet viel-mehr, jeden Bissen zu schmecken, jeden Atemzug zuspüren, jedem Lied zu lauschen, mit Wachheit und Auf-merksamkeit dabei zu sein, wie sich jeder einzelne Momententfaltet.

Voll und ganz in der Gegenwart zu sein, heißt nicht, diezukünftigen Konsequenzen unseres Tuns außer Acht zu

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lassen. Wenn wir Menschen in den westlichen Industriena-tionen, in denen ein Großteil des politischen und wirt-schaftlichen Machtpotenzials konzentriert ist, es schaffenwollen, die notwendigen Veränderungen herbeizuführen,damit auch unsere Enkelkinder noch auf diesem Planetenleben können, dann müssen wir lernen, in unserem eigenenLeben aus dem Vollen zu schöpfen und die Verbundenheitvon Geist und Materie bewusst zu erfahren. Ich sucheWeisheit in einer Lebensform, in der Kontemplation undHandlung Hand in Hand gehen. Echte Kontemplation –wirkliches Gegenwärtigsein im Angesicht der Freuden undLeiden meines eigenen Herzens und der Welt – veranlasstmich zu achtsamem und leidenschaftlichem Handeln.

Ich biete dir hier kein Tauschgeschäft an. Der Mut zumLeben im Augenblick lässt sich nicht gegen eine Immunitätvor dem Leid des Lebens eintauschen. Wir mögen so tun,als wüssten wir das, doch wir leben in einer Gesellschaft,die sich weitgehend am Geschäftemachen orientiert. VonKindesbeinen an ist uns der Glaube eingeimpft worden,dass sich aus allem ein Geschäft machen lässt, dass immernoch ein Handel drin ist; bis wir schließlich daran glauben,dass wir unseren Lohn schon bekommen werden, wenn wirnur das Richtige tun, wenn wir nur gut, intelligent, auf-richtig oder fleißig genug sind. Das Lied hat viele Strophen:Wenn du deine Sünden bereust und dir künftig nichts mehrzu Schulden kommen lässt, kommst du in den Himmel.Wenn du jeden Tag übst, auf deine Ernährung achtest, deininneres Kind heilst, all deine emotionalen Probleme löst,

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dir über deine Absichten klar wirst, mit der Welt ringsumin Einklang bist, deine Affirmationen aufsagst, die Stimmedeines höheren Selbst (er)hörst, dann wirst du mit strot-zender Gesundheit, reichlichem Wohlstand, liebevollenBeziehungen und innerem Frieden belohnt – mit anderenWorten: Du kommst in den Himmel!

Wir alle wissen, dass sich unser Handeln und Denkenauf die Qualität unseres Lebens auswirkt. Viele Dinge lie-gen eindeutig an uns selbst. Viele andere aber nicht. Ichkann keinen Beweis dafür finden, dass das Universum aufeinem einfachen, an persönlichen Verdiensten orientiertenSystem von Ursache und Wirkung basiert. Auch gutenMenschen passieren schlimme Dinge – andauernd. Finan-zieller Erfolg stellt sich auch bei solchen Menschen ein, dieihre Arbeit nicht lieben oder den Schaden, den sie dem Pla-neten oder anderen damit zufügen, nicht sehen wollen oderkönnen. Krankheit und Unglück suchen auch jene heim,die ihren Herzenswünschen folgen. Viele große Künstlerlebten und leben in Armut. Großartige Lehrer fanden undfinden keine Beachtung.

Meine Einladung, meine Aufforderung an dich lautet,eine Reise zu unternehmen, die dich in innigeren Kontaktmit dir selbst und der Welt ringsum bringen kann, ohnedass irgendeine Form von Sicherheit oder Lohn, der überden Wert des reinen Dabeiseins und Mitmachens hinaus-ginge, versprochen würde. Um dir den Weg zu erleichtern,findest du am Ende eines jeden Kapitels eine Meditation.Dabei handelt es sich nicht um eine Art Heilmittel, die alles

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Schwere oder Traurige aus unserem Leben und unseremAlltag vertreibt. Es sind vielmehr Übungen, die mir selbstund den Teilnehmern meiner Kurse geholfen haben, sich zuentfalten und einen tieferen Kontakt zu sich selbst und derWelt zu finden. Du kannst die Texte entweder langsam aufBand sprechen und anschließend abspielen oder aber sie dirvon einer Freundin/einem Freund laut vorlesen lassen.

Ein hautnah gelebtes Leben muss nicht unbedingt einfa-cher sein. Doch es ist voller, reicher und in jeder Hinsichtoffener: für die Verworrenheit wie für die Erkenntnis, fürdie Begeisterung wie für die Langeweile, für den Schattenwie für das Licht. Und irgendwie macht mir die wachsendeFähigkeit, bei alledem präsent zu sein, die Last leichter er-träglich. Sie erlaubt mir, in jedem einzelnen Augenblickmehr zu geben und zu empfangen; oft hilft sie mir auch da-bei, meinen Sinn für Humor zu entdecken, wenn ich micheinmal allzu ernst nehme, und lachen zu können, wenn diegetragene Ruhe des meditativen Augenblicks durch das ir-dische Gefühl von kaltem Wasser, das durch meine Sockendringt, wie eine Seifenblase zerplatzt.

Ich habe Die Einladung geschrieben, als ich einmalspätabends von einer Party nach Hause kam. Ich war ge-nervt und enttäuscht von einem Abend, auf dem es nichtsals den üblichen Smalltalk gegeben hatte. Innerlich aufge-wühlt, setzte ich mich im Dunklen an meinen Schreibtischund lauschte, wie nach und nach die Geräusche der Groß-stadt verebbten und es ruhig wurde. Eine Straßenlaternewarf ihr fahles Licht in den Raum, und als alles ganz still

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war, griff ich nach einem Stift und schrieb auf – ganz so wieich es bei einem Seminar von David Whyte gelernt hatte –,was ich den Menschen an jenem Abend eigentlich hattesagen wollen.

Als ich fertig war, saß ich im Zwielicht und las der schla-fenden Stadt meine Worte vor. Ich hörte, wie ich meineSehnsucht in die Welt hinausrief. Und in der darauf fol-genden Stille vernahm ich die Stimme der Welt, die sichmanchmal spätabends bei mir meldet, und sie fordertemich auf, diese Sehnsucht nie wieder in Vergessenheit ge-raten zu lassen.

Wenn ich mir vorstelle, wie ich eines Tages als alte FrauRückschau auf mein Leben halten werde, gibt es nur eineFrage, die mir tatsächlich wichtig erscheint: Habe ich auchwirklich geliebt? Es gibt tausende von Arten, andere Men-schen und die Welt zu lieben – mit unserer Berührung, un-seren Worten, unserem Schweigen, unserer Arbeit, unsererAnwesenheit. Ich will wirklich lieben. Das ist meine Sehn-sucht. Ich will die Welt durch meine Art zu leben lieben,durch meine Art, mich Tag für Tag auf mich selbst undandere einzulassen. Ich will meine Fähigkeit verbessern,der Wahrheit immer und in jedem Augenblick ins Augezu schauen und mich dem, was ich weiß – ob süß, ob bit-ter –, zu stellen. Ich will mir stets der immensen Lücken be-wusst sein, die es in meinem Wissen gibt. Sie sind es, diemich auf den Weg bringen. Ich möchte auf keine andereWeise leben.

Und manchmal überlasse ich mich dem Gedanken, dass

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wir mit jedem Moment, in dem wir durch unser So-Seinund im Hier-und-Jetzt-Sein wirklich lieben, dem heiligenMysterium, das uns alle trägt, etwas Wichtiges zurückge-ben können.

Meditation für Anfänger

Setze oder lege dich bequem hin und richte deine Aufmerk-samkeit auf deine Atmung. Beobachte, wie der Atem indich ein- und wieder ausströmt, und lass mit jedem Aus-atmen Anspannung los. Bleib zwölf Atemzüge lang bei dei-ner Atmung und spüre einfach nur, wie sich dein Körpermit jedem Atemzug hebt und senkt.

Jetzt richte deine Aufmerksamkeit auf etwas, was in dei-nem Leben im Moment fehlt. Suche etwas ganz Bestimm-tes und Konkretes aus und stell dir in allen Einzelheiten vor,was es sein soll, wie es aussieht, wie es sich anfühlt. Viel-leicht vermisst du die Meditation oder ein tägliches kör-perliches Training. Oder du willst etwas Neues lernen oderetwas Kreatives tun – Tanzen, Malen, Schreiben, Singen.Mag sein, dass du auch nur geduldiger mit den Menschensein willst, die du liebst. Wähle das aus, was für dichstimmt.

Dann stell dir vor, wie du mit dieser Tätigkeit beginnst.Male dir aus, was in deinen Gedanken, deinem Körper, dei-nen Emotionen vorgehen muss, damit du bestmöglich fürden Anfang vorbereitet bist. Was müsstest du denken, wie

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UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE

Oriah Mountain Dreamer

Die Einladung

DEUTSCHE ERSTAUSGABE

Taschenbuch, Broschur, 192 Seiten, 12,5 x 18,3 cmISBN: 978-3-442-21566-9

Goldmann

Erscheinungstermin: Mai 2000

Seit Monaten macht das Prosagedicht "Die Einladung" in den USA Furore. Endlich ist es auchden deutschen Lesern zugänglich. Oriah Mountain Dreamer verbindet ihre einzigartige Botschaftmit persönlichen Lebenserinnerungen. Voll mitreißender Darstellungskraft entwirft sie einepoetische Lebensphilosophie der Leidenschaft, ruft dazu auf, dieses Leben anzunehmen, sichdem Schmerz und dem Leiden zu öffnen und sich kompromißlos der Freude und Schönheitzuzuwenden.