Die Entdeckung des Geistes · 2013. 7. 18. · Bruno Snell, Die Entdeckung des Geistes...

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V&R ISBN Print: 978-3-525-25731-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-25731-0 © 2011, 1975, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen Bruno Snell, Die Entdeckung des Geistes

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  • V&R

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    Bruno Snell, Die Entdeckung des Geistes

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    Bruno Snell, Die Entdeckung des Geistes

  • Bruno Snell

    Die Entdeckung des Geistes Studien zur Entstehung

    des europäischen Denkens bei den Griechen

    9. Auflage

    Vandenhoeck & Ruprecht

    ISBN Print: 978-3-525-25731-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-25731-0© 2011, 1975, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen

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    ISBN 978-3-525-25731-9

    © 2009, 1975 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen Internet: www.v-r.de

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  • Inhalt

    Einführung 7

    I Die Auffassung des Menschen bei Homer 13 II Der Glaube an die olympischen Götter 30

    III Die Welt der Götter bei Hesiod 45 IV Das Erwachen der Persönlichkeit in der frühgriechischen Lyrik . . 56 V Pindars Hymnos auf Zeus 82

    VI Mythos und Wirklichkeit in der griechischen Tragödie 95 VII Aristophanes und die Ästhetik 111

    VIII Menschliches und göttliches Wissen 127 IX Zur Entstehung des geschichtlichen Bewußtseins 139 X Mahnung zur Tugend. Ein kurzes Kapitel aus der griechischen

    Ethik 151 XI Gleichnis, Vergleich, Metapher, Analogie. Der Weg vom mythi-

    schen zum logischen Denken 178 XII Die naturwissenschaftliche Begriffsbildung im Griechischen 205

    XIII Das Symbol des Weges 219 XIV Die Entdeckung der Menschlichkeit und unsere Stellung zu den

    Griechen 231 XV Über das Spielerische bei Kallimachos 244

    XVI Arkadien. Die Entdeckung einer geistigen Landschaft 257 XVII Theorie und Praxis 275

    XVIII Nachwort 1974 283

    ANHANG

    Anmerkungen 293 Indices 324

    I Namen und Begriffe 324 II Zitate 329

    III Griechische Wörter 333

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  • Einführung

    Unser europäisches Denken hebt an bei den Griechen, seitdem gilt es als die ein-zige Form des Denkens überhaupt. Zweifellos ist diese griechische Form des Denkens für uns Europäer verbindlich, und wenn wir damit Philosophie und Wissenschaft treiben, so löst es sich von allen geschichtlichen Bedingtheiten und zielt auf das Unbedingte und Beständige, auf die Wahrheit, ja, es zielt nicht nur darauf, sondern erreicht es auch, Beständiges, Unbedingtes und Wahres zu be-greifen. Und doch ist dieses Denken geschichtlich geworden, geworden sogar im echteren Sinne des Wortes, als man gemeinhin glaubt. Da wir dieses Den-ken als verbindlich zu nehmen gewohnt sind, deuten wir es naiv und selbst-verständlich auch hinein in andersartiges Denken. So sehr auch das wachsende geschichtliche Verständnis seit der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert die rationalistische Vorstellung von einem sich ewig gleichen „Geist" überwunden hat, so verschließt man sich immer noch dem Verständnis der Entstehung des griechischen Denkens dadurch, daß man die Zeugnisse des frühen Griechen-tums zu sehr an unseren modernen Vorstellungen mißt. Zumal da Ilias und Odyssee, die am Anfang alles Griechischen stehen, unmittelbar zu uns sprechen und uns stark anrühren, übersehen wir leicht, wie grundverschieden von dem uns Gewohnten bei Homer alles ist. Um in der Entwicklung des frühen Griechentums den Prozeß zu verfolgen, der das europäische Denken heraufführt, muß man das „Anheben" des Denkens bei den Griechen radikal verstehen: die Griechen haben nicht nur mit Hilfe eines schon vorweg gegebenen Denkens nur neue Gegenstände (etwa Wissen-schaft und Philosophie) gewonnen und alte Methoden (etwa ein logisches Ver-fahren) erweitert, sondern haben, was wir Denken nennen, erst geschaffen: der menschliche Geist als tätiger, suchender, forschender Geist ist von ihnen ent-deckt; eine neue Selbstauffassung des Menschen liegt dem zugrunde. Dieser Pro-zeß, die Entdeckung des Geistes, liegt uns in der Geschichte der griechischen Dichtung und Philosophie von Homer an vor Augen; die Dichtungen des Epos, der Lyrik, des Dramas, die Versuche, die Natur und das Wesen des Menschen rational zu begreifen, sind die Etappen auf diesem Wege. Das Entdecken des Geistes ist ein anderes, als wenn wir sagen, Kolumbus habe Amerika „entdeckt": Amerika existierte auch vor der Entdeckung, der europä-ische Geist aber ist erst geworden, indem er entdeckt wurde; er existiert im Be-wußtsein des Menschen von sich selbst. Trotzdem gebrauchen wir das Wort „entdecken" hier zu Recht. Der Geist wird nicht nur „erfunden", wie der Mensch sich ein Werkzeug zur Verbesserung seiner körperlichen Organe oder eine Methode erfindet, um bestimmten Problemen beizukommen. Er ist nichts,

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  • 8 Einführung

    das willkürlich ausgedacht wäre oder das man ausgestalten könnte, wie man Er-findungen ihrem Zweck besser anpaßt, ist überhaupt nicht wie eine Erfindung auf Zwecke ausgerichtet, ja, „war" sogar in bestimmtem Sinn, bevor er ent-deckt wurde: nur in anderer Form, nicht „als" Geist. Zwei terminologische Schwierigkeiten tun sich hier auf. Die eine geht auf ein philosophisches Problem: Wenn wir davon sprechen, daß die Griechen den Geist entdecken, und doch meinen, daß der Geist dadurch erst wird (grammatisch gesprochen: daß „Geist" nicht nur afflziertes, sondern auch effiziertes Objekt ist), so zeigt sich, daß es nur eine Metapher ist, die wir gebrauchen — aber es ist eine notwendige Metapher und der richtige sprachliche Ausdruck für das, was wir meinen; anders als metaphorisch können wir vom Geist nicht reden. Die gleiche Schwierigkeit bieten deswegen auch die anderen Ausdrücke, mit de-nen wir diesen Sachverhalt bezeichnen: sprechen wir von Selbst-Auffassung oder Selbst-Erkenntnis des Menschen, so ist mit „auffassen" und „erkennen" auch nicht das Gleiche gemeint, wie wenn wir sagen: ein Ding auffassen, oder: einen anderen Menschen erkennen, sondern bei der Selbst-Auffassung und Selbst-Erkenntnis, wie die Worte hier gebraucht sind, existiert das Selbst eben nur in dem Auffassen und durch das Erkennen1. Sagen wir, der Geist „offenbart sich", sehen wir also die-sen Prozeß nicht von der Seite des Menschen aus als Resultat seines eigenen Tuns, sondern als metaphysisches Geschehen, so bedeutet „er offenbart sich" nicht dasselbe, wie wenn wir sagen: „ein Mensch offenbart sich", indem er aus einer Verhüllung hervortritt: der Mensch ist vor der Enthüllung derselbe wie nachher, der Geist aber ist nur, sofern er sich offenbart, sofern er, gebunden an den Einzelnen, in die Erscheinung tritt. Auch wenn wir „Offenbarung" im religiösen Sinne nehmen, gilt das Gleiche: Eine Epiphanie des Gottes setzt vor-aus, daß der Gott existiert, auch ehe und ohne daß er sich offenbart. Der Geist aber offenbart „sich", indem er dadurch erst wird (sich „effiziert"), d. h. im Prozeß der Geschichte; nur in der Geschichte tritt der Geist hervor, ohne daß wir von seinem Sein außerhalb der Geschichte und außerhalb des Menschen et-was auszusagen vermöchten. Der Gott offenbart sich in einem Akt ganz, wäh-rend der Geist sich jeweils nur begrenzt, nur durch den Menschen, nur durch dessen jeweils persönliche Art kundtut. Wenn aber nach christlicher Auffassung der Gott Geist ist, wenn es damit schwer wird, Gott zu begreifen, so setzt das eine Vorstellung vom Geist voraus, die erst im Griechischen gewonnen ist.

    Mit den Wendungen Selbstoffenbarung oder Entdeckung des Geistes soll keine bestimmte metaphysische Grundposition bezogen und nichts über einen frei-schwebenden Geist außerhalb und vor der Geschichte ausgesagt werden. „Selbst-offenbarung" und „Entdeckung" des Geistes meinen hier nicht wesentlich von-einander Verschiedenes; vielleicht könnte man den ersten Ausdruck mit Vor-zug für die frühe Zeit verwenden, der Erkenntnisse in der Form mythischer oder dichterischer Intuition aufgehen, aber bei Philosophen und wissenschaftlichen Denkern eher vom „Entdecken" sprechen, jedoch streng ist diese Grenze nicht

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  • Einführung 9

    zu ziehen (s. Kap. XI). Zwei Gründe sprechen bei dieser geschichtlichen Be-trachtung für die zweite Wendung; es kommt hier nicht auf die Erleuchtung des Einzelnen an, sondern darauf, daß das Erkannte mitteilbar ist; denn für die Ge-schichte zählt nur, was auch Allgemeingut werden kann, und es wird sich zei-gen, daß vieles, das erst entdeckt werden mußte, schnell bis in die Umgangs-sprache drang. Umgekehrt sind Entdeckungen auch vergeßbar, und die Entdek-kungen in der Welt des Geistes bleiben dem Wissen nur gegenwärtig bei stän-diger reger Tätigkeit. Vieles ist z.B. während des Mittelalters in Vergessenheit geraten und hat neu entdeckt werden müssen, konnte nun allerdings mit Hilfe der Antike viel leichter entdeckt werden. Zweitens sprechen wir deswegen lie-ber von „Entdeckung" des Geistes als von „Selbstoffenbarung", weil, wie die einzelnen Phasen der Entwicklung zeigen werden, sich der Mensch nur durch Leid, Not und Mühe zum Begreifen des Geistes durchringt, nädei ixcrikx;, „durch Leiden Klugheit", gilt auch für die Menschheit, wenn auch in anderem Sinne als für den Einzelnen, der durch Schaden klug wird und sich vor neuem Leid hütet. Die Welt kann zwar klüger werden - nur gerade darin nicht, sich vor Leid zu schützen, womit sie sich zudem womöglich den Weg versperrte, noch klü-ger zu werden. Jedenfalls geht es nicht an, radikal die rationale Aufklärung von der religiösen Erleuchtung, die Belehrung von der Bekehrung zu trennen und die „Entdeckung des Geistes" nur als das Auffinden und Entwickeln von philosophischen und wissenschaftlichen Gedanken zu fassen. Vielmehr ist vieles, was die Griechen an Wesentlichem für das europäische Denken gewonnen haben, in Formen her-vorgetreten, die, wie sich zeigen wird, uns vertrauter zu sein pflegen aus der Sphäre des Religiösen als aus der Geistesgeschichte2. So ertönt die Mahnung zur Um-kehr, die Forderung, zum Eigentlichen und Wesentlichen zurückzukehren, ne-ben der Ermunterung, auf Neues aus zu sein; so kann der Ruf des Erweckens, der die Schlafenden, im Äußerlichen Befangenen aufrüttelt, fast prophetischen Ton. annehmen, wenn eine besondere Art der Erkenntnis und zumal eine neue Tiefe der geistigen Dimension es nahelegt. Aber trotzdem ist von all dem hier nur soweit die Rede, als es den kontinuierlichen Prozeß der Bewußtwerdung angeht, die sich in der Geschichte des Altertums verfolgen läßt. Die andere terminologische Schwierigkeit berührt eine geistesgeschichtliche Fra-ge: Wenn wir sagen, der Geist ist von den Griechen erst nach Homer entdeckt und ist dadurch geworden, so wissen wir, daß das, was wir Geist nennen, von Homer in anderer Form aufgefaßt wurde, daß „Geist" in bestimmtem Sinn auch schon für ihn da war, doch eben nicht „als" Geist. Das bedeutet, daß die Bezeichnung „Geist" die Interpretation (und zwar die treffende Interpretation, sonst könnten wir nicht von „Entdeckung" sprechen) von etwas ist, das vorher in anderer Form interpretiert wurde und deshalb auch in anderer Form existier-te (in welcher Form, wird die Erörterung über Homer zeigen). Dies „Etwas" ist aber unserer Sprache schlechthin unfaßbar, da jede Sprache mit ihren Worten schon eine eigene Interpretation gibt. Wer Gedanken erklären will, die in einer

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  • 10 Einführung

    anderen Sprache niedergelegt sind, wird feststellen: das fremde Wort bedeutet dies im Deutschen — und bedeutet es auch wieder nicht. Solch Dilemma wird desto größer Je fremder uns dip andere Sprache und je weiter daher unser Ab stand von ihrem Geist ist. Wenn wir dann in unserer Sprache das Fremde er-klären wollen (und das ist die Aufgabe des Philologen), bleibt uns, wenn wir nicht in vages Gerede verfallen wollen, nichts anderes, als zunächst gewisserma-ßen Annäherungswerte im Deutschen zu geben und dann abzustreichen, was von den im Deutschen gegebenen Vorstellungen dem Fremden nicht entspricht. Nur dies negative Verfahren kann die Grenzen des Fremden festlegen. Dahin-ter steht allerdings die Überzeugung, daß dies Fremde uns trotz allem verständ-lich ist, das heißt, daß wir das so Ausgegrenzte doch mit lebendigem Sinn er-füllen, obwohl wir diesen Sinn nicht mit unserer Sprache greifen können. Zu-mal, wenn es sich um Griechisches handelt, brauchen wir in diesem Punkt nicht allzu skeptisch zu sein: handelt es sich da doch um unsere eigene geistige Vergangenheit, und das Folgende wird vielleicht zeigen, daß das, was zunächst in seiner radikalen Fremdheit aufgewiesen wird, sehr natürlich ist, einfacher je-denfalls als die komplizierten modernen Vorstellungen, und daß wir nicht nur durch eine Erinnerung an ihm teilnehmen können, sondern dadurch, daß diese Möglichkeiten in uns aufgehoben sind und wir in ihnen die Fäden unseres viel-fach verwobenen Denkens erkennen können. Wenn im Folgenden etwa behauptet wird, die homerischen Menschen hätten keinen Geist, keine Seele und infolgedessen auch sehr viel anderes noch nicht gekannt, ist also nicht gemeint, die homerischen Menschen hätten sich noch nicht freuen oder nicht an etwas denken können und so fort, was absurd wäre; nur wird dergleichen eben nicht als Aktion des Geistes oder der Seele interpre-tiert: in dem Sinn gab es noch keinen Geist und keine Seele. Das bedeutet wei-terhin, daß der Frühzeit das Bewußtsein vom „Charakter" des einzelnen Men-schen fehlt. Auch hier soll natürlich nicht geleugnet werden, daß feste Kontu-ren die großen Gestalten der homerischen Gedichte umschließen. Aber die groß-artigen und typischen Reaktionsweisen werden nicht als „Charakter" in ihrer willensmäßigen und geistigen Einheit explizit gefaßt, eben nicht als persönlicher Geist und als persönliche Seele. Natürlich war „etwas" da, das an der Stelle dessen stand, was die späteren Grie-chen als Geist oder Seele auffaßten — in dem Sinn hatten die homerischen Grie-chen natürlich Geist und Seele —,nur wäre es verwaschenes, unprägnantes Gere-de, wenn man ihnen deswegen Geist und Seele zuspräche: denn Geist, Seele usw. „sind" nur im Selbstbewußtsein. Die terminologische Sauberkeit ist in die-sen Fragen noch bedeutsamer als gemeinhin in philologischen Erörterungen: die Erfahrung zeigt, wie leicht hier der greulichste Wirrwarr entsteht. Will man das spezifisch Europäische in der Entwicklung des griechischen Den-kens aufweisen, braucht man es nicht etwa gegen das Orientalische abzusetzen. So sicher die Griechen viele Vorstellungen und Motive den alten Kulturen des

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  • Einführung 11

    Ostens entnommen haben, gerade in dem hier zur Rede Stehenden sind sie zweifellos unabhängig vom Orient. Durch Homer lernen wir die früheuropäische Gedankenwelt in so ausführlichen Gedichten kennen, daß wir den Mut haben dür-fen, auch Schlüsse ex silentio zu ziehen; wenn bei Homer Dinge nicht vorkommen, die wir nach unserem modernen Denken ohne weiteres erwarten, so ist zu ver-muten, daß er sie noch nicht gekannt hat, zumal wenn verschiedene solcher „Lücken" innerlich zusammenhängen, und wenn dem hinwieder ein uns zu-nächst befremdliches Mehr gegenübersteht, das sich mit den Lücken zu einer systematischen Einheit zusammenschließt. Schritt für Schritt, geradezu in syste-matischer Ordnung tritt zudem im Lauf der griechischen Entwicklung das her-vor, was zur europäischen Auffassung von Geist und Seele und das heißt zu-gleich zur europäischen Philosophie, Wissenschaft, Moral und — späterhin — Re-ligion geführt hat. Die Bedeutung des Griechentums wird hier auf anderen Wegen gesucht, als die der Klassizismus gegangen ist: Nicht einem vollkommenen, d.h. geschichtslosen Menschentum, sondern gerade der Geschichtlichkeit dessen, was die Griechen geleistet haben, wollen wir nachspüren. Solche historische Betrachtung führt nicht notwendig zu einer Relativierung der Werte: es läßt sich durchaus sagen, ob eine Zeit Großes oder Kleines, in die Tiefe Gehendes oder Oberflächliches, für die Zukunft Bedeutsames oder Kurz- Wirkendes in die Welt gebracht hat. Ist doch Geschichte kein unendliches Wogen und Fließen - es gibt nur begrenz-te Möglichkeiten des Geistigen und dementsprechend nur wenige Punkte, an de-nen wesentlich Neues hervortritt. Ein Naturforscher oder ein Philologe mag seine neuen Erkenntnisse in Ruhe und Beschaulichkeit gewinnen — die Entdeckungen der Griechen, von denen hier die Rede ist, greifen das Wesen des Menschen an und treten hervor als ge-staltete Erlebnisse. Die Leidenschaft, mit der sie durchbrechen, ist nicht nur et-was Persönliches, das beliebige Formen annehmen könnte; als geschichtlicher Durchbruch eines neuen Selbstbewußtseins des Geistes ist sie gebunden einer-seits an die Formen, in denen der Geist sich selbst begreifen kann. Die Darstel-lung wird zeigen, daß bestimmte geistige Urphänomene in immer abgewandel-ter Form sich dem Bewußtsein aufdrängen und dem Wissen des Menschen um sich selbst jeweils sein Gepräge geben. Das Geschichtliche und das Systema-tische an diesem Prozeß müßte in einer Geistesgeschichte, wie sie hier gemeint ist, in gleicher Weise deutlich werden. Der Darstellung erwachsen daraus frei-lich Schwierigkeiten: man kann nicht gleichzeitig zwei Dinge aufweisen, ein System an der Geschichte und die Geschichte bestimmter sich zum System zu-sammenschließender Motive. So ist die Form von Essays die angemessenste, wo-bei bald das eine, bald das andere Interesse vorwiegt. Das Systematische wird vor allem im XII. Kapitel hervortreten, während ich es in den Kapiteln I-DC, die das Geschichtliche ins Licht rücken sollen, absichtlich zurückgedrängt habe3. Um die entscheidenden Züge an der geistigen Entwicklung Griechenlands klar aufzuweisen, habe ich mich tunlichst auf wenige Textstellen beschränkt, die

    ISBN Print: 978-3-525-25731-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-25731-0© 2011, 1975, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen

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  • 12 Einführung

    zum Teil in dem wechselnden Zusammenhang immer aufs neue erscheinen, und habe versucht, die bedeutsamsten Etappen in möglichst helles Licht zu setzen. Ausgangspunkt ist natürlich, wie Homer den Menschen auffaßt. Da Homer die uns entfernteste und fremdeste Stufe des Griechentums ist, war es nötig — und dadurch fällt die erste der folgenden Studien etwas aus dem Rahmen der übri-gen - , um dies Fremde und Anfängliche darzulegen, einige Begriffe des früh-griechischen Denkens und das heißt: einige Wörter der homerischen Sprache zu erklären. Bei einigen kniffligen Fragen der Wortbedeutung drängt sich hier das Fach-Philologische stärker als in den späteren Stücken vor. Das Kapitel über die olympischen Götter zeigt, wie die homerische Religion gleichsam der erste Ent-wurf ist für das neue geistige Gebäude, das die Griechen aufgeführt haben. Der geschichtliche Aufbau wird zunächst an den entscheidenden Leistungen der großen Dichtung gezeigt: an Hesiod, an der Entstehung der Lyrik, an dem Be-ginn der Tragödie und am Übergang von der Tragödie zur Philosophie (die Kri-tik des Komödiendichters Aristophanes an dem letzten Tragiker Euripides erhellt die Bedeutung dieses Übergangs). Die nächsten Beiträge über menschliches und göttliches Wissen, über das geschichtliche Bewußtsein, über die Mahnung zur Tu-gend, über die Vergleiche, über das Symbol des Weges und über die naturwissen-schaftliche Begriffsbildung verfolgen, wie die philosophische Betrachtung des Menschen und der Natur sich bei den Griechen entfaltet. Die Skizzen über die „Menschlichkeit" und über Kallimachos rühren die Frage auf, wie das geistig Erworbene zum „Bildungsgut" wird. Das Kapitel über Arkadien zeigt am Bei-spiel der vergilischen Eklogen, wie das Griechische hat umgeformt werden müs-sen, um europäisch zu werden; das letzte geht auf bestimmte Grundtendenzen der griechischen Entwicklung ein, die auch für die Situation unserer Zeit ak-tuell sind.

    Diese Studien, entstanden im Lauf vieler Jahre zumeist in der Form von Vor-trägen und zum Teü zunächst einzeln veröffentlicht, waren doch von vornher-ein bestimmt, zusammen zu erscheinen. Im einzelnen ist sehr viel geändert, zu-mal in dem ältesten Stück (Kap. XII); im wesentlichen neu geschrieben ist für die 4. Auflage (1975) das IX. Kapitel über die Entstehung des geschichtlichen Bewußtseins4und das XIII. über das Symbol des Weges; ein Epilog versucht, auf einige Punkte der Diskussion einzugehen, die sich an die früheren Auflagen ge-knüpft hat. Auch die Anmerkungen nehmen oft (wiewohl unzulänglich) auf neuere Literatur Bezug. Gestrichen habe ich das XVIII. Kapitel („Wissenschaft und Dogmatik") und das XIX. („Geistesgeschichte als Wissenschaft"). - Die fünfte Auflage ist im Wesentlichen ein anastatischer Neudruck, wo ich nur eini-ges bessern konnte, wenn sich die Länge der Zeilen nicht änderte. Immerhin ließ sich eine Fülle von Druckfehlern beseitigen - dank der Hilfe meiner Toch-ter Cornelia Sperlich und der von Herrn Euagoras Kyriakides.

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  • I

    Die Auffassung des Menschen bei Homer

    Es gilt als unumstößlicher Grundsatz aller homerischen Worterklärung sich zu hüten, homerische Wörter vom klassischen Griechisch her zu interpretieren, sich, um die homerische Sprache zu verstehen, nicht vom Gebrauch der späteren Zeit beeinflussen zu lassen1; von diesem Grundsatz erhoffen wir uns sogar neuen Lohn. Homer nur aus ihm selbst erklären, verspricht, daß man die Dichtung le-bendiger und ursprünglicher versteht, daß man homerischen Wörtern, wenn man ihren Sinn genauer faßt, in ihrem Zusammenhang plötzlich den alten Glanz wie-dergibt. Der Phüologe kann da auch heute noch an vielen Stellen wie der Re-staurator eines alten Bildes die dunkle Schicht von Staub und Firnis entfernen, die die Zeiten darüber gezogen haben, und so den Farben die Leuchtkraft ihrer Schöpferstunde zurückgeben. Je weiter wir die Wortbedeutungen bei Homer abrücken von denen der klassi-schen Zeit, desto greifbarer wird der Unterschied der Zeiten, und wir verstehen die geistige Entwicklung der Griechen und ihre Leistung. Aber zu diesen beiden Interessen, dem interpretatorisch-ästhetischen an Prägnanz und Schönheit der Sprache und dem historischen an der Geistesgeschichte, tritt noch ein beson-deres geradezu phüosophisches. In Griechenland sind Vorstellungen vom Menschen und von seinem wachen und klaren Denken entstanden, die die weitere europäische Entwicklung bestimmt haben; was etwa im 5. Jhdt. erreicht ist, sind wir geneigt, als zeitlos gültig zu nehmen. Wie weit Homer davon entfernt ist, zeigt seine Sprache. Längst ist be-obachtet, daß in einer verhältnismäßig primitiven Sprache die Abstraktion un-entwickelt ist, daß dafür aber im Konkret-Sinnlichen eine Fülle der Bezeichnun-gen vorhanden ist, die eine entwickelte Sprache fremdartig anmutet. Homer benutzt zum Beispiel eine Fülle von Verben, die das Sehen bezeichnen: öpäv, LSeiv, \evooeivy peu>, #eöa#cu, aK€7rrea#at, Öooeo&cu, SepSiXkeiv, 5ep-neodai, itamTaivew?Davon sind im späteren Griechisch mehrere ausgestorben, jedenfalls in der Prosa, d. h. in der lebendigen Rede, nämlich depiceodai, Xei)a-oea>3, Öooeodcu, irairTalveiP. Dagegen treten nur zwei Wörter nach Homer neu auf: ßXeneiv und decopelv. An den verschwundenen Wörtern zeigt sich, welche Bedürfnisse die alte Sprache hatte, die von der jüngeren nicht mehr geteilt wur-den, bepueodai ist: einen bestimmten Blick haben, dpäaov, die Schlange, de-ren Name von depueodca, abgeleitet ist, heißt so, weil sie einen besonders un-heimlichen „Blick" hat. Sie heißt die „Blickende", nicht weil sie besonders gut

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  • 14 I Die Auffassung des Menschen bei Homer

    sehen kann, weil bei ihr das Sehen besonders gut funktioniert, sondern weil man an ihr ein Blicken wahrnimmt. Dementsprechend bezeichnet bei Homer öepfceatfai nicht so sehr die Funktion des Auges, sondern das Strahlen des Au-ges, das ein anderer wahrnimmt. Es wird gesagt von der Gorgo, die furchtbar blickt, vom wütenden Eber, der „Feuer" blickt (irvp hpddkßoioi beboptccbs). Es ist eine ausdrucksvolle Gebärde des Blickens; manche Homerstelle erhält ihre eigentümliche Schönheit, wenn man diesen Sinn bedenkt, Od. 5,84 =158 heißt es von Odysseus: növrop €7r* ärpvyeTOP bepatoKero bcucpva Xeißcov. beptceoüai ist „mit einem bestimmten Ausdruck blicken", und aus dem Zusammenhang er-gibt sich, daß das hier der sehnsuchtsvolle Blick ist, den der fern seiner Heimat Weilende über das Meer sendet. Wenn wir den Gehalt des einen Wortes bepicio-K€TO ausschöpfen wollen (das Iterative ist dabei auch noch wiederzugeben), müs-sen wir geschwätzig und sentimental werden: „immerfort blickte er sehnsüch-tig ..." oder: „sein gebannter Blick wanderte immerfort hinaus" über das Meer, - das etwa liegt in dem einen Wort bepKeoKero. Das Verb gibt ein anschauli-ches BÜd einer bestimmten Art des Blickens, wie etwa im Deutschen die Worte „glotzen" oder „starren" eine Art des Sehens (nun allerdings eine andere Art) bezeichnen. Es kann auch vom Adler heißen: Ö%ÜTCLTOV bepKerai, er blickt sehr scharf, aber auch dabei wird nicht so sehr an die Tätigkeit des Auges gedacht, woran wir denken, wenn wir sagen „scharf blicken", „scharf auf etwas hinse-hen", sondern gedacht ist an die Strahlen des Auges, die durchdringend sind wie etwa Sonnenstrahlen, die bei Homer ebenfalls „scharf* heißen, weü sie wie eine scharfe Waffe durch alles hindurchdringen4, bepueoüai wird dann auch mit äußerem Objekt gebraucht, dann bedeutet das Präsens etwa: sein Blick ruht auf etwas, und der Aorist: sein Blick fällt auf etwas, richtet sich auf etwas, er wirft jemandem einen Blick zu. Vor allem die Komposita von bepiceo&ai zeigen das. II. 16,10 sagt Achill zu Patroklos: Du weinst wie ein kleines Mädchen, das von seiner Mutter auf den Arm genommen sein will, baKpvoeooa be ßiv iroTvbepKe-rat, &pp* bv£\r\Tax. Weinend „blickt" es zur Mutter, damit die es aufnimmt. Mit dem deutschen „Blicken" können wir das gut wiedergeben (blicken bedeutet ursprünglich strahlen, das Wort ist verwandt mit Blitz, blaken). Aber das deut-sche Blicken hat einen weiteren Bezirk, wie griechisch ßkenew, das in der spä-teren Prosa das Feld von bepueo&ai okkupiert hat. Jedenfalls wird in dem ho-merischen bepueo&ai nicht das Sehen von seinem eigentlichen Zweck aus gefaßt, als die eigentümliche Tätigkeit des Auges, bestimmte sinnliche Eindrücke dem Menschen zu vermitteln5.

    Das Gleiche gilt von einem anderen der genannten Verben, die in der späteren Sprache verschwunden sind. nanTaiveiv ist auch ein „Blicken", ein „Umsich-blicken", ein suchendes, vorsichtiges oder ängstliches. Es bezeichnet also wie bepueodat eine Geste des Sehens, hat nicht seinen Mittelpunkt in der Funk-tion des Sehens als solcher. Charakteristischer Weise kommen diese beiden Wör-ter (Ausnahme ist nur eine späte Stelle mit bepueodai)6 nicht in der ersten Per-son vor; man beobachtet das bepueoüai und nanTaivecv am anderen eher, als

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  • I Die Auffassung des Menschen bei Homer 15

    daß man sich selbst es vollführen fühlt. Anders ist es mit Xevooco. Etymologisch gehört es zu Xew

  • 16 I Die Auffassung des Menschen bei Homer

    Die Verben der Frühzeit bilden sich also stärker nach anschaulichen Modi des Sehens, während später die eigentliche Funktion des Sehens ausschließlicher her-vortritt. Die Arten des Sehens werden dann durch adverbiale Zusätze bezeichnet, Tia-nraiveiv wird etwa umschrieben durch TrepißXeneiv, „herum"-blicken (Ety-mol. Magnum) usw. Selbstverständlich dienten auch den homerischen Menschen die Augen wesent-lich zum „Sehen", das heißt, optische Wahrnehmungen zu machen; aber eben dies, was wir mit Recht als die eigentliche Funktion, als das „Sachliche" des Sehens auffassen, war ihnen offenbar nicht das Wesentliche — ja, wenn sie kein Wort dafür hatten, existierte es für ihr Bewußtsein nicht. In diesem Sinne kann man also sagen, daß sie ein Sehen noch nicht kannten oder, um es vollends paradox und provozierend zu formulieren und damit das hier vorliegende Pro-blem ganz scharf ins Auge zu fassen, daß sie noch nicht sehen konnten.

    Von diesen Überlegungen führt es zunächst ab, wenn wir fragen, wie Homer Körper und Geist bezeichnet. Schon Aristarch bemerkt, daß das Wort ocbp.a (Soma), das später „Leib" ist, bei Homer nie auf den lebenden Menschen bezo-gen9 wird: es bedeutet die Leiche. Aber wie bezeichnet Homer „Körper" oder „Leib"? Aristarch10 hat gemeint, öe/ua«; (Demas) wäre bei Homer der lebendige Körper. Das stimmt für bestimmte Fälle. „Sein Körper war klein" heißt home-risch /zucpcfc f\v Öe/Ltac, „sein Körper glich dem eines Gottes" heißt öe/xas ä&a-väTOioiv öjuoibc f\v. Aber Demas ist nur ein kümmerlicher Ersatz für „Körper": das Wort kommt nur im Akkusativ der Beziehung vor. Es bedeutet „an Bau", „an Gestalt" und ist dadurch auf wenige Wendungen beschränkt, wie: klein oder groß sein, jemandem gleichen usw. Doch insofern hat Aristarch recht: un-ter den Wörtern Homers entspricht dem späteren Soma noch am besten das Wort Demas11. Homer hat freilich noch andere Wörter, um das zu bezeichnen, was wir Körper oder die Griechen des 5. Jhdt. Soma nennen. Wenn wir sagen „sein Körper wurde matt", so heißt das, ins Homerische übertragen, \ekvvro yvia, oder „er zittert am ganzen Leib" yvia Tpoßeoprai', oder aber, wenn es auf deutsch heißt „der Schweiß brach aus dem Körper", sagt Homer iöpox; en neXecop eppeev, oder „sein Leib wurde mit Kraft erfüllt", so drückt das Homer aus: -nkriofev 6' dpa oi txeXe evrös äkcff. Da treten, wo wir nach unserem Sprachgefühl einen Singular erwarten, Plurale auf. Statt „Körper" heißt es „Glieder"; Gyia sind die Glieder, sofern sie durch Gelenke bewegt werden12, Melea die Glieder, sofern sie durch Muskeln Kraft haben. Es gibt in solchem Zusammenhang bei Homer außerdem die Wörter ä\pea und petfca, aber die können wir hier beiseite lassen: atyea steht nur zweimal in der Odyssee für yvia\ pe&ea ist in dieser Bedeutung überhaupt ein Mißverständnis, wie sich noch zeigen wird (s. S. 20). Wenn wir das Spiel fortsetzen, einmal nicht Homer in unsere Sprache zu über-tragen, sondern unsere Sprache in die homerische, stoßen wir auf noch andere Möglichkeiten, das Wort „Körper" wiederzugeben. Wie sollen wir übersetzen

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  • I Die Auffassung des Menschen bei Homer 17

    „er wusch sich seinen Leib"? Homer sagt: xpöa vftero. Oder wie heißt auf ho-merisch: „das Schwert drang in seinen Körper"? Da benutzt Homer wieder das Wort XPW (Chrös): %iyo

  • 18 I Die Auffassung des Menschen bei Homer

    sich deutlich voneinander ab; die Gelenke werden besonders dünn gebüdet, die fleischigen Teile als übertrieben fleischig hervorgehoben. Die frühgriechische Zeichnung erfaßt die Beweglichkeit des Menschen, die Kinderzeichnung seine Kompaktheit. Wie ernst dies homerische Vokabular zu nehmen ist, zeigt sich darin, daß die beiden Arten von „Gliedern" verschieden funktionieren: Melea oder Gyia werden durch verschiedene Kräfte belebt16. Daß die frühen Griechen weder in der Sprache noch in der bildenden Kunst den Körper in seiner Einheit erfassen, zeigt das Gleiche wie die Verben des Se-hens: Die frühen Verben des Sehens fassen die Tätigkeit von ihren anschauli-chen Modi aus, von den damit verbundenen Gebärden oder Gefühlen, während die spätere Sprache die eigentliche Funktion dieser Tätigkeit selbst stärker in den Mittelpunkt der Wortbedeutung rückt. Die Sprache zielt offenbar immer mehr auf die Sache selbst, nur ist diese Sache selbst eine Funktion, die weder anschaulich noch als solche mit bestimmten eindeutigen Gemütsbewegungen verbunden ist. Sobald sie aber einmal erkannt und benannt ist, existiert sie und das Bewußtsein von ihrer Existenz wird schnell allgemeiner Besitz. Beim Kör-per ist es anscheinend so: dem Sprecher der früheren Zeit genügt es, wenn je-mand ihm gegenübertritt, ihn mit Namen zu nennen: das ist Achill, oder zu sa-gen: das ist ein Mensch. Eine nähere Beschreibung bezeichnet zunächst das An-schauliche: das Nebeneinander der Glieder; der funktioneile Zusammenhang drängt sich erst später als etwas Wesentliches auf. Dabei ist auch hier die Funk-tion etwas Tatsächliches, aber dieses Sachliche ist nicht so anschaulich gegeben und stellt sich offenbar auch dem eigenen Empfinden nicht als das Erste dar. Sobald aber diese verdeckte Einheit ent-deckt wird, ist sie unmittelbar einsich-tig-Dies Tatsächliche existiert für den Menschen erst, sofern es „gesehen" wird, so-fern es gewußt, durch ein Wort bezeichnet und damit gedacht wird. Selbstver-ständlich haben die homerischen Menschen einen Körper gehabt wie die späte-ren Griechen auch, aber sie wußten ihn nicht „als" Körper, sondern nur als Summe von Gliedern. Man kann also auch sagen, die homerischen Griechen hat-ten noch keinen Körper im prägnanten Sinn des Wortes: Körper (Soma) ist eine spätere Interpretation dessen, was ursprünglich als Melea oder Gyia aufgefaßt wur-de, als „Glieder", — wie denn tatsächlich Homer immer wieder von den hurtigen Beinen, den sich regenden Knien und den kräftigen Armen spricht: diese Glie-der sind ihm das Lebendige und in die Augen Fallende17. Entsprechendes gilt im Bereich von Geist und Seele, denn Geist-Körper, Leib-Seele sind Gegensatz-Begriffe, von denen jeder durch sein Oppositum bestimmt ist. Wo es keine Vorstellung vom Leib gibt, kann es auch keine von der Seele geben und umgekehrt. So hat denn Homer auch für „Seele" oder „Geist" kein eigentliches Wort, \jjvxn (Psyche), das Wort für Seele im späteren Griechisch, hat mit der denkenden, fühlenden Seele ursprünglich nichts zu tun. Bei Homer ist Psyche nur die Seele, insofern sie den Menschen „beseelt", d. h. am Leben hält.

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  • I Die Auffassung des Menschen bei Homer 19

    Auch hier scheint zunächst eine Lücke in der homerischen Sprache zu sein, die aber, genau wie im Bereich des „Körpers", andere Wörter ausfüllen, die zwar nicht denselben Mittelpunkt wie die modernen Ausdrücke haben, aber doch de-ren Gebiet bedecken. Für das Gebiet der Seele sind das hauptsächlich die Wör-ter \jjvxn (Psyche), #i>juö, „hau-chen", zusammen und bedeutet den Lebensodem, und so geht die Psyche aus dem Munde fort (das Entweichen durch die Wunde ist offenbar etwas Sekun-däres). Dieser Lebensodem ist gewissermaßen ein halb gegenständliches Organ, das, solange der Mensch lebt, in ihm ist. Aber wo diese Psyche sitzt und wie sie wirkt, darüber hören wir nichts, können also auch nichts darüber wissen. Bei dem Wort Psyche denkt Homer zunächst an die „Totenseele", so daß er wohl einmal sagt: in ihm ist nur eine Psyche, er ist sterblich (II. 21,569), aber das Wort vermeidet, wenn er sagen will, „solange noch der Lebensodem im Men-schen bleibt"; da heißt es II. 10,89: etc o K äuriiri ev orrideooi ixevxi Kai ßoi $i\a yovvaf öpdbpji „solange der Atem in der Brust bleibt und meine Knie sich regen". Da spricht er vom „Atem", aber das Verbum „bleibt" zeigt, daß die Vorstellung von der Psyche hineinspielt, und das ist eben die Vorstellung vom Lebensatem. Es bleiben als Bezeichnungen des Geistes bei Homer dvßö

  • 20 I Die Auffassung des Menschen bei Homer

    Melea verläßt. Damit ist aber nicht gesagt, daß der Thymos nach dem Tode fort-existierte; es heißt einfach: was die Knochen und Glieder in Bewegung setzte, ging fort. Schwieriger sind einige Stellen, wo anscheinend Thymos und Psyche nicht un-terschieden sind. II. 22,67 heißt es: eirei ne w ö£eî aX/ccp n)i//ac rje ßaXcbv pedecov e/c dvtxöv eXi?rai, „wenn jemand mit dem Erz treffend den Thymos aus den pedr\ (Rethe) nimmt". Hier wird man Rethe nicht anders als „Glieder" auffassen können, so daß man die gleiche Vorstellung bekommt, wie in dem eben zitierten Vers, daß der Thymos aus den Gliedern geht, und das ist schon die antike Erklärung19. Doch geraten wir in Schwierigkeiten mit den anderen Stellen, an denen das Wort Rethe bei Homer vorkommt: II. 16,856 = 22,362 4*vxn 5' €K peüeoiv ma-[ien\ 'Aiöoaöe ßeßrpiet, die „Psyche flog aber aus den Rethe und ging zum Ha-des". Das ist singulär20. Sonst verläßt die Psyche den Körper durch den Mund (II. 9,409) oder auch durch die Wunde (II. 14,518, vgl. 16,505), und das setzt voraus, daß die Psyche aus einer Öffnung des Körpers hinausschlüpft. Demge-genüber ist der Satz: „aus den Gliedern flog die Seele und ging in den Hades" nicht nur viel unanschaulicher, sondern setzt auch voraus, daß die Seele in den Gliedern gesessen hätte, wovon sonst nirgends die Rede ist. Nun ist aber das Wort Rethos im Äolischen lebendig geblieben - dort aber bedeutet es durch-aus nicht „Glied"; daran erinnern schon die Scholien zu dem zuerst angeführ-ten Vers21, und daraus ist zu schließen, daß bei Sappho oder Alkaios Rethos die Bedeutung „Gesicht" hatte22. Aus der äolischen Lyrik haben Sophokles Anti-gone 529, Euripides Herakles 1204 und Theokrit 29,16 das Wort Rethos in der Bedeutung ,,Gesicht" übernommen. Daraus hat schon Dionysios Thrax, wie uns das genannte Scholion weiter belehrt, den Schluß gezogen, daß auch bei Homer Rethos das Gesicht bedeutet23; doch hat man dann im Altertum eingewandt, daß bei Homer die Psyche auch durch die Wunde den Körper verlassen kann. So einfaöh ist die Schwierigkeit auch nicht zu lösen. Denn D. 22,68 steht, wie gesagt, daß der Thymos aus den Rethe geht, - das müssen die Mele sein, denn wenn wir Thymos richtig als „Regung" erklärt haben, so kann die wohl aus den beweglichen Gliedern, aber nicht aus dem Gesicht oder gar aus dem Mund fortgehen. II. 16,856 dagegen ist von der Psyche die Rede: da erwarten wir tat-sächlich, daß sie durch den Mund den Menschen verläßt24. Alles erledigt sich auf das einfachste, sowie wir nach dem Alter dieser Iliasstellen fragen. II. 22,68 ist zweifellos ganz jung, - wie E. Kapp mir gezeigt hat, sogar abhängig von Tyrtaios25. Das hat also jemand gedichtet, der das äolische Wort Rethos nicht kannte und auch sonst die homerische Sprache nicht mehr recht verstand. Er sah nebeneinander Ilias-Stellen wie 13,671 „der Thymos ging schnell aus den Gliedern" (Melea) und 16,856 „die Psyche flog aus den Rethe und ging zum Hades" und setzte danach Thymos = Psyche und Melea = Rethe, und nach Stel-len wie 5,317 /X77 uc . . . xaXKÖJ> evi orrfteoai ßdkcbu ea dvfjov eÄTjrcu, bildete er dann seinen Vers: tnel Ke rt

  • I Die Auffassung des Menschen bei Homer 21

    fe'XrjTai. Nach dem homerischen Sprachgebrauch ist das aber Unsinn . Auch sonst finden sich Spuren davon, daß die Vorstellungen von Thymos und Psyche leicht durcheinander geraten: II. 7,131 heißt es: dvpdp änd ßeXecov SVPCU döfxop 'Aiöos eioco, „der Thymos ging von den Melea in den Hades". Schon längst hat man gesehen27, daß es den homerischen Vorstellungen widerspricht, daß der Thymos in den Hades geht. Der Vers ist kontaminiert aus 13,671f.: com de üviios $X€T anö ßeXecov und 3,322: TÖP ö(k änoyüißepop dvpai boiiop 'AiSos ei'oco. Es wäre möglich, daß diese Kontamination wieder von einem spä-teren Dichter stammt, der die homerische Sprache nicht kannte. Möglich ist auch, daß ein Rhapsode kontaminiert hat, der, wie das im mündlichen Vortrag so geht, in seinem Gedächtnis Versteile durcheinanderbrachte. Dann müßten wir den Vers emendieren, und tatsächlich läßt sich mit einem anderen Versteil aus Homer alles leicht in Ordnung bringen: Aus 16,856 = 22,362 haben wir als gut und sinnvoll kennengelernt: \Isvxn 8' CK pedecop 7rra/xew? 'Ä(5öa5e ßeßr\Kei. Danach kann man 7,131 herstellen: tyvxQP en pedeoop SVPOI Söfxop 'AiÖos el'oco. Es bleiben allerdings doch einige Stellen, wo der Thymos die To-tenseele ist, und wo es heißt, daß der Thymos beim Tode davonflog28, aber da handelt es sich jedesmal um den Tod eines Tieres - eines Pferdes (II. 16,469), eines Hirsches (Od. 10,163), eines Ebers (Od. 19,454) und einer Taube (II. 23,880). Diese Vorstellung ist zweifellos abgeleitet: Beim Menschen fliegt die Psyche fort, — aber einem Tier mochte man offenbar keine Psyche zuschreiben; so wurde für sie ein Thymos erfunden, der sie im Tod verläßt. Nahegelegt war das durch die Stellen, wo beim Menschen der Thymos die Glieder (Melea) oder Knochen verläßt. Ihrerseits werden diese Stellen, wo vom Thymos der Tiere ge-sprochen wird, dazu beigetragen haben, die Verwirrung zwischen den Begriffen Thymos und Psyche zu erhöhen. Aber daß die Wendung „der Thymos flog fort" viermal, also verhältnismäßig häufig vorkommt, aber immer auf Tiere, und zwar immer andere, angewandt, zeigt, daß in der früheren Zeit die beiden Worte noch nicht promiscue gebraucht wurden.

    Also sind Psyche und Thymos, zum mindesten in der frühen Zeit, deutlich ge-geneinander abzusetzen. Nicht ganz so scharf läßt sich die Grenze zwischen Thy-mos und Nöos ziehen. Wenn, wie gesagt, Thymos das geistig-seelische Organ ist, das Regungen, Reaktionen verursacht, Nöos dagegen dasjenige, das Vorstellun-gen aufnimmt, so umfaßt Nöos im allgemeinen mehr das Intellektuelle, Thymos mehr das Emotionale. Aber es gibt manche Überschneidungen. Im Deutschen z. B. fassen wir den Kopf als Sitz des Denkens, das Herz als Sitz des Fühlens, und doch können wir sagen: er trägt Gedanken an seine Geliebte im Herzen -da ist das Herz Sitz der Gedanken, aber die knüpfen sich eben an die Liebe — oder umgekehrt: er hat nichts als Rache im Kopf — da ist dann gemeint: Ge-danken an Rache. Das sind also nur scheinbare Ausnahmen; immerhin können fast gleichbedeutende Wendungen nebeneinanderstehen: „er hat Rache im Her-zen" oder „er hat Rache im Kopf. Genau so steht es mit Thymos = Regung, Nöos = Vorstellung: die Ausnahmen, die man gegen diese Gleichungen vorbrin-

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  • 22 I Die Auffassung des Menschen bei Homer

    gen kann, sind scheinbar; trotzdem läßt sich Thymos nicht gleich sauber von Nöos trennen wie von Psyche. Dafür ein paar Beispiele. Freude sitzt gewöhnlich im Thymos. Aber Od. 8,78 heißt es: Agamemnon xaP€ voco, als Achill und Odysseus sich um ihre Vorzüge stritten. Agamemnon hat nun aber seine Freude nicht daran, daß die zwei tüchtigsten Helden sich zanken — das wäre sonderbar —, sondern ihm fällt ein, daß Apoll ihm geweissagt hat, Troja würde erobert werden, wenn die besten Helden sich stritten. Er freut sich also, da er daran denkt29. Weiter: Im allgemeinen setzt der Thymos den Menschen in Tätigkeit. II. 14,6lf. sagt aber Nestor: ruieis de

  • I Die Auffassung des Menschen bei Homer 23

    aiei re Atöc Kpeioocov vöos f?e irep ävhpüv „Immer ist der Nöos des Zeus kräf-tiger als der der Menschen". Nöos ist gleichsam ein geistiges Auge, das klar sieht33. Homer sagt II. 24,294 arnös ev öyddhßoiot vor\oa

  • 24 I Die Auffassung des Menschen bei Homer

    dem dient die Verschränkung der Begriffe POOS, irpöyptov, #u/X(fc dazu, das Ein-heitlich-Geistige herauszuarbeiten. Der Thymös, der den Menschen in Tätigkeit setzt, ist bei Homer nicht so sehr ein Organ der Aktion als der Reaktion. Wenn jemand mrä dvpbv etwas emp-findet, können wir Thymos mit $,Seele" übersetzen. Es kann dann auch die Funktion bezeichnen, da übersetzen wir dann vielleicht „Wille"37 oder „Cha-rakter", — und sogar die Einzelfunktionen, und damit geht das Wort wieder über das hinaus, was unsere Worte „Seele" oder „Geist" vermögen. Am deut-lichsten ist das Od. 9,302, wo Odysseus sagt: erepos de ße üvßds epvuev, „Ein anderer Thymos hielt mich zurück" — da ist Thymos die einzelne Regung. Odysseus reagiert nicht eindeutig auf die schwierige Situation, in der er sich be-findet, sondern zweifach: zunächst zieht es ihn hierhin, dann wieder zurück38. Man könnte meinen, Thymos und Nöos seien nichts anderes als etwa die Seelentei-le, von denen Piaton spricht. Aber diese setzen das Ganze der Seele voraus, das Homer eben nicht kennt39. Thymos, Nöos wie Psyche sind getrennte Organe, wenn wir so sagen dürfen, die jeweils ihre besondere Funktion haben. Diese See-lenorgane unterscheiden sich nicht prinzipiell von den Körperorganen. Den Be-deutungswandel vom Organ zur Funktion bis zur Einzelfunktion gibt es auch bei den Bezeichnungen von Körperorganen. Wir sagen: etwas mit andern Augen ansehen, wo dann „Auge" nicht Organ ist, denn der Satz heißt natürlich nicht, daß man sich andere Augen eingesetzt hat, sondern „Auge" ist hier „Funktion des Auges", „Sehen", und wir meinen „mit anderem Blick", „mit anderer An-schauung etwas sehen". Ähnlich ist der erepos #ujU(fc bei Homer zu verstehen. Die beiden eben zitierten Wendungen mit Nöos gehen allerdings in bedeutsamer Weise darüber hinaus, da die Bedeutung von Nöos schon hinüberspielt von der Funktion zum Resultat des voelv. vöov äßeivova vvqoei können wir allenfalls noch übersetzen: „er wird eine bessere Vorstellung denken", aber Vorstellung ist dann rticht mehr das Sich-Vorstellen, sondern das Vorgestellte. Ebenso ist es bei der Wendung TOVTOV eßovkevoas vöov. Immerhin ist es wichtig, daß Nöos an diesen beiden Stellen, und es sind die einzigen bei Homer, wo die Bedeu-tung „Gedanke" (y&qßd) anzusetzen ist, als inneres Objekt zu voelv und ßov-Xevetv erscheint: So sehr ist hier noch die actio verbi zu voelv, also die Funk-tion, zu fühlen. Absichtlich vermeide ich, den naheliegenden Unterschied von „konkret" und „abstrakt" in diese Untersuchung hineinzubringen, denn er ist selbst fragwür-dig; fruchtbar wird sich auch weiterhin der Unterschied von Organ40 und Funk-tion erweisen. Man soll z. B. nicht meinen, Thymos hätte deswegen bei Homer schon eine „abstrakte" Bedeutung, weil einmal die Bildung ä&vßos vorkommt. Man müßte dann behaupten, auch „Herz" oder „Kopf' seien Abstrakta, da man sagen kann: jemand ist herzlos, oder: er hat den Kopf verloren. Wenn ich sage: jemand hat einen guten Kopf, und meine sein Denken, oder: jemand hat ein weiches Herz, und meine sein Empfinden, so steht die Bezeichnung des Organs für die der Funktion. „Herzlos", „kopflos", ädvnos bezeichnen das Fehlen der

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  • I Die Auffassung des Menschen bei Homer 25

    Funktion. Der „metaphorische" Gebrauch der Organbezeichnung, den man als Abstraktion bezeichnen könnte, hat seinen Platz auch in der primitiven Sprache: gerade das ursprüngliche Sprechen faßt das Organ nicht als tot und dinghaft, sondern als Träger seiner Funktion. Mit den Begriffen „Organ" und „Funktion" die Seelenvorstellungen Homers be-schreiben zu wollen, führt allerdings in terminologische Schwierigkeiten, auf die jeder notwendig stößt, der mit den Termini der eigenen Sprache fremde Eigen-tümlichkeiten beschreiben will (s. o. S. 10f.). Wenn ich sage: der Thymos ist ein Seelen-Organ, er ist das Organ seelischer Regung, so gerate ich in Wendun-gen, die eine contradictio in adjecto enthalten, denn für unser Bewußtsein ver-tragen sich die Vorstellung von Seele und Organ nicht miteinander. Wollte ich genau sprechen, müßte ich sagen: das, was wir als Seele interpretieren, inter-pretiert der homerische Mensch so, daß drei Wesenheiten dort sind, die er nach Analogie von körperlichen Organen deutet. Die Umschreibungen für Psyche, Nöos und Thymos als „Organe" des Lebens, des Vorstellens und der geistigen Regung sind also Abbreviaturen, Ungenauigkeiten, Unzulänglichkeiten, die sich daraus ergeben, daß die Vorstellung von „Seele" (aber auch von „Körper", wie wir gesehen haben) nur in der Interpretation durch die Sprache gegeben ist; ver-schiedene Sprachen können in der Interpretation weit voneinander abweichen.

    Die Zeugnisse für den Gebrauch der Wörter Soma und Psyche aus der Zeit zwi-schen Homer und dem 5. Jhdt. reichen nicht aus, um im einzelnen zu verfol-gen, wie sich die neuen Bedeutungen „Leib" und „Seele" entwickelt haben41. Offenbar sind sie als Komplementär-Begriffe zueinander entstanden, und die Entwicklung des Wortes Psyche wird dabei vorangegangen sein, zumal wohl Vor-stellungen von der Unsterblichkeit der Seele eingewirkt haben. Wenn gerade die Bezeichnung für die Tatenseele zur Bezeichnung der Gesamtseele wurde und die für die Leiche zu der des lebendigen Körpers, so sprach man offenbar dem, was dem lebenden Menschen Regungen, Empfindungen und Gedanken gab, eine Fortexistenz in der Psyche zu42. Das setzt ein Bewußtsein davon voraus, daß der lebende Mensch etwas Seelisches oder Geistiges hätte, ohne daß man dies zunächst mit einem bestimmten umfassenden Wort bezeichnen konnte. Tat-sächlich werden wir diesen Zustand in der frühen Lyrik treffen. Als Gegensatz zu dieser \jjvxn war das acöjua beim Toten gegeben, und fast selbstverständlich gebrauchte man dies Wort dann auch für den Lebenden als Gegensatz zur \pvxn-

    Doch wie immer dieser Prozeß im einzelnen verlaufen sein mag — mit dieser Unterscheidung von Körper und Seele ist etwas „entdeckt", das sich als so evi-dent dem Bewußtsein aufdrängt, daß man es von nun an immer als selbstver-ständlich existierend nahm, so sehr auch das Verhältnis des Leibs zur Seele oder auch das Wesen der Seele Gegenstand stets neuer Fragen war. Die neue Auffassung von der Seele trägt als erster Heraklit vor. Er nennt die Seele des lebenden Menschen Psyche; der Mensch besteht ihm aus Leib und Seele, und die Seele bekommt Qualitäten, die sich prinzipiell von denen des

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