Die „Epiballontes“ ale Erben im Gesetz von Gortyn

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Die „Epiballontes" ale Erben im Gesetz von Gortyn*) Das Gesetz von Gortyn ist eine sehr gut bekannte Inschrift, die im fünften Jahrhundert vor Christus in Kreta aufgezeichnet wurde. Sie wurde Ende des 19. Jahrhunderts von Frederick Halbherr gefunden. Obwohl der Text schon so lange bekannt ist, gibt es doch noch immer verschiedene Meinungen über viele Probleme, die er aufwirft. Ungeklärt ist unter anderem bis heute die Bedeutung verschiedener Begriffe des Textes aus dem Gebiet der Familienorganisation. So nehmen viele Gelehrte an, in Gortyn existierte nur die individuelle, monogame Kleinfamilie, während andere Wissenschaftler meinen, daß die große, patriarchalisch geprägte Familien- gemeinschaft (joint patriarchal family, communauté familiale) vorhanden war 1 ). Beide Meinungen könnten sich in der Deutung der Kategorie der epi- ballontes treffen. Epiballontes sind besonders interessant als Erben in der vierten Klasse der Intestaterbfolge. Im Hinblick auf die ersten drei Klassen der Intestaterbfolge in Gortyn ist der Text des Gesetzes völlig eindeutig (V 9—22): » « ε χ'άποϋάνει άνερ ε γυν- 10 ά, al μεν κ'ει τέκνα ε ές τε- κνδν τέκνα ε ές τούτον τέ- κνα, τούτος εκε\ν\ τα κρίμα- τα. palmula al όέ χα μετις ει τούτο- ν, ά^α^δελπιοι δέ το άπο&ανόν- 15 τος κεκς άόε[λ]πιδν τέκν- α ε ες τούτον τέκνα, τούτ- ος εκεν τα κρεματα.palmula al δέ κα μετις ει τούτον, άδενπιαί δ- ε το άπο&ανάντος κες ταντ- 20 αν τέκνα ε ές τ»ν τέκνόν τέ- κνα, τούτος εκεν τά κρέμα- τα. „Wenn ein Mann oder eine Frau stirbt, so sollen, wenn Kinder vorhanden sind oder Enkel oder Urenkel, diese das Vermögen erhalten. Wenn es aber solche nicht gibt, wohl aber Brüder des Verstorbenen und von Brüdern Kinder oder von diesen Kinder, so sollen diese das Vermögen haben. Wenn es aber solche nicht gibt, wohl aber Schwestern des Verstorbenen und von diesen Kinder oder von den Kindern Kinder, so sollen diese das Vermögen haben." 2 ) *) Für die allseitige Hilfe und nutzbringenden Rat hat der Verf. Herrn Prof. G. Thür zu danken; die deutsche Fassung hat dankenswerterweise Frau S. Koch, München, durchgesehen. 1 ) C. W. Westrup, Introduction to Early Roman Law, The Patriarchal Joint Family, II (1934), III (1939), I (1944); M. Gaudemet, Les communautés familiales (1963), 20. 2 ) Übersetzung (und alle weiteren Übersetzungen) nach J. Kohler —E. Zie- barth, Das Stadtrecht von Gortyn und seine Beziehungen zum gemeingriechi- schen Rechte (1912), 13. Brought to you by | Heinrich Heine Universität Düsseldorf Authenticated | 134.99.128.41 Download Date | 9/19/13 12:45 PM

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Die „Epiballontes" ale Erben im Gesetz von Gortyn*)

Das Gesetz von Gortyn ist eine sehr gut bekannte Inschrift, die im fünften Jahrhundert vor Christus in Kreta aufgezeichnet wurde. Sie wurde Ende des 19. Jahrhunderts von F r e d e r i c k H a l b h e r r gefunden. Obwohl der Text schon so lange bekannt ist, gibt es doch noch immer verschiedene Meinungen über viele Probleme, die er aufwirft.

Ungeklärt ist unter anderem bis heute die Bedeutung verschiedener Begriffe des Textes aus dem Gebiet der Familienorganisation. So nehmen viele Gelehrte an, in Gortyn existierte nur die individuelle, monogame Kleinfamilie, während andere Wissenschaftler meinen, daß die große, patriarchalisch geprägte Familien-gemeinschaft (joint patriarchal family, communauté familiale) vorhanden war1). Beide Meinungen könnten sich in der Deutung der Kategorie der epi-ballontes treffen.

Epiballontes sind besonders interessant als Erben in der vierten Klasse der Intestaterbfolge. Im Hinblick auf die ersten drei Klassen der Intestaterbfolge in Gortyn ist der Text des Gesetzes völlig eindeutig (V 9—22):

» «

ε χ'άποϋάνει άνερ ε γυν-10 ά, al μεν κ'ει τέκνα ε ές τε-

κνδν τέκνα ε ές τούτον τέ-κνα, τούτος εκε\ν\ τα κρίμα-τα. palmula al όέ χα μετις ει τούτο-ν, ά^α^δελπιοι δέ το άπο&ανόν-

15 τος κεκς άόε[λ]πιδν τέκν-α ε ες τούτον τέκνα, τούτ-ος εκεν τα κρεματα.palmula al δέ κα μετις ει τούτον, άδενπιαί δ-ε το άπο&ανάντος κες ταντ-

20 αν τέκνα ε ές τ»ν τέκνόν τέ-κνα, τούτος εκεν τά κρέμα-τα.

„Wenn ein Mann oder eine Frau stirbt, so sollen, wenn Kinder vorhanden sind oder Enkel oder Urenkel, diese das Vermögen erhalten. Wenn es aber solche nicht gibt, wohl aber Brüder des Verstorbenen und von Brüdern Kinder oder von diesen Kinder, so sollen diese das Vermögen haben. Wenn es aber solche nicht gibt, wohl aber Schwestern des Verstorbenen und von diesen Kinder oder von den Kindern Kinder, so sollen diese das Vermögen haben."2)

*) Für die allseitige Hilfe und nutzbringenden Rat hat der Verf. Herrn Prof. G. T h ü r zu danken; die deutsche Fassung hat dankenswerterweise Frau S. K o c h , München, durchgesehen.

1) C. W. W e s t r u p , Introduction to Early Roman Law, The Patriarchal Joint Family, I I (1934), I I I (1939), I (1944); M. G a u d e m e t , Les communautés familiales (1963), 20.

2) Übersetzung (und alle weiteren Übersetzungen) nach J . K o h l e r —E. Zie-b a r t h , Das Stadtrecht von Gortyn und seine Beziehungen zum gemeingriechi-schen Rechte (1912), 13.

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Wie auch in anderen Teilen Griechenlands gehören also auch in Gortyn zu der ersten Klasse der Intestaterbfolge die Kinder des Erblassers sowie die Kindeskinder, zusammen mit den adoptierten Söhnen und Erbtöchtern (wenn keine Söhne vorhanden sind). In der zweiten Klasse befinden sich Brüder des de cuius und deren Abkömmlinge, ähnlich den Regelungen in Sparta und Lokris, sowie nach der Gesetzgebung Solons. Die dritte Klasse der Intestaterbfolge schließlich bilden die Schwestern des de cuius und ihre Abkömmlinge. Schwierig zu deuten sind jedoch die folgenden Zeilen (V 22—25):

ai δέ κα μετις ει τούτον, οϊς κ'επιβάλλει οπό κ ει τα κρ-εματα, τούτος άναιλεύ&α-ι.

„Wenn es solche nicht gibt, so sollen die, welchen es zukommt, von woher auch ihre Verwandtschaft stammt, das Vermögen übernehmen". G u a r d u c c i über-setzt: Horum vero si nemo exstet, ,epiballontes' unde sint bona, isti suscipiunto3). Die epiballontes bilden somit die vierte Klasse der gesetzlichen Erbfolge.

1. Wer sind epiballontes'! Dieser Terminus kommt im Gesetz insgesamt 28mal vor, doch wird seine Bedeutung nicht an einer einzigen Stelle erklärt. Der einzige Schluß, den man dabei mit Sicherheit ziehen kann, ist, daß es sich um einen Personenkreis handelt, der den Gortynem sehr gut bekannt war, wahr-scheinlich aus langer Tradition. Deswegen bestand für den Gesetzgeber kein Bedürfnis, die epiballontes näher zu erklären.

Die Etymologie des Wortes gibt keinen Aufschluß darüber, auf welchen Personenkreis sich dieser Terminus bezieht. Wörtlich sind die epiballontes „die-jenigen, denen etwas gehört" und auch „diejenigen, denen es zukommt, etwas zu tun", d. h. die Berechtigten oder die Verpflichteten4). Die Etymologie kann in diesem Fall nur zeigen, daß dieser Terminus aufgrund seiner doppelten Bedeu-tung im Gesetz von Gortyn an verschiedenen Stellen auch unterschiedliche Bedeutungen gehabt haben muß. Das heißt, er wurde immer dann benutzt, wenn man diejenigen bezeichnen wollte, die ein Recht, eine Befugnis hatten, oder eine Verpflichtung. Das Gesetz sagt nicht, wer im konkreten Fall der epiballon ist; das war offenbar jedem bekannt.

Dieser Terminus wird im Gesetz am häufigsten dann benutzt, wenn die Be-treffenden „das Recht haben", sich mit der Erbtochter zu verheiraten (so gibt es allein in Col. VIII sechs Beispiele: 9, 28, 35, 36, 39, 47—48). Er wird auch für diejenigen benutzt, die „das Recht haben", Zeugnis abzulegen (IX 34). Natürlich wird dieser Terminus auch dann benutzt, wenn man diejenigen bezeichnen will, die das Recht auf eine Erbschaft haben. Offensichtlich betrifft er aber nicht

3) M. G u a r d u c c i , Inscriptiones Creticae, opera et Consilio Friderici Halb-herr collectae, IV, Tituli Gortynii (1950), 143. Ob οίς κ' επιβάλλει mit επιβάλ-λοντες korrespondieren kann, s. auch H . Van E f f e n t e r r e , Les «epibal-lontes », Studi in onore di A. Biscardi, I I I (1982), 460.

4) S. dazu F . B ü c h e l e r —E. Z i t e l m a n n , Das Recht von Gortyn (1885), 62 und H . J . W o l f f , SZ 87 (1970), 425.

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S. Avramovic, Epiballontes als Erben 365

einmal in diesem Fall stets den gleichen Personenkreis, wie in unserer Stelle V 22—25 über die Intestaterbfolge. Denn in X I 6 — 10 heißt es:

„Falls aber der Adoptierte ohne Hinterlassung von ehelichen Kindern stirbt, soll das Vermögen an die Verwandten (epiballontans) des Adoptivvaters zurück-fallen".

Der Terminus epiballontes s teht hier als Synonym für die gesamte Erbfolge; es handelt sich selbstverständlich nicht um das Erbrecht in der vierten Klasse der Intestaterbfolge. Das kann man auch aus anderen Stellen des Gesetzes sehen (ζ. Β. VI I 9—10; X 18; X I 33). Eine gute Illustration ist auch V 28—34:

„Wenn aber von den Berechtigten (epiballontes) die einen das Vermögen teilen wollen, die anderen nicht, so soll der Richter verfügen, daß das ganze Vermögen denen zukommen soll, welche teilen wollen, bis die Teilung erfolgt."

Es ist offensichtlich, daß sich diese Stelle, in der es um Vermögensteilung geht, nicht nur auf die epiballontes aus der vierten Klasse der Intestaterbfolge bezieht, sondern auf epiballontes-Erhen im allgemeinen (Kinder, Brüder, Schwestern des de cuius und deren Abkömmlinge).

Folglich ha te s , wie schon W o l f f und V a n E f f e n t e r r e bemerkten,6) den An-schein, daß das Wort epiballontes nur ein sehr formaler terminus technicus ist. Das Gesetz benutzt dieses Wort, um einen Personenkreis zu bezeichnen, der ein subjektives Recht hat , ein „Recht auf etwas", was oft auch eine Verpflichtung mit einschließt, einen Personenkreis also, der allen bekannt ist, entweder aus dem Gesetz selbst oder aus dem Gewohnheitsrecht. Daraus folgt, daß man eine ein-heitliche Bedeutung nicht finden und auch einen genauen Verwandtenkreis, den dieses Wort bezeichnet, nicht festlegen kann.

2. Weil die epiballontes in unterschiedlichen Bedeutungen vorkommen, kann man die Frage, wer die epiballontes in der vierten Klasse der Intestat-erbfolge sind, nicht nach sprachlichen, sondern nur nach sachlichen Kriterien zu lösen versuchen. I n der Literatur gibt es dazu immer noch eine Reihe gegen-sätzlicher Meinungen.

Κ oh i e r sagt, daß die epiballontes weitere Agnaten seien, ähnlich dem agnatus proximus nach dem Recht der XII-Tafeln; L i p s i u s will in den epiballontes nicht nur Verwandte eingeschlossen sehen, sondern auch alle Mitglieder der Phyle, während G u a r d u c c i , aufgrund einer Analogie zum XII-Tafel-Gesetz, meint, daß es sich um die Gentilen handle6). D e S a n c t i s ist der Meinung, daß zur vierten Klasse der Intestaterbfolge alle weiteren Verwandten auf der Vaterseite zählten7). Die sowjetische Wissenschaftlerin K o l o b o v a ist der Ansicht, daß es sich um die weiteren Verwandten des Vaters handle, aber es könnten auch Ver-wandte der Mutter sein. Nach ihrer Meinung umfassen die epiballontes eine Gruppe von Verwandten entweder väterlicher- oder mütterlicherseits, oder aber von beiden Seiten8). K a z a m a n o v a sagt aufgrund des Vergleiches mit dem

5) W o l f f , a. a. O., 426; V a n E f f e n t e r r e , a. a. O., 462. e) K o h l e r — Z i e b a r t h , a . a . O . , 65; H . L i p s i u s , Zum Recht von Gortyn

Abh. d. kgl. sächs. Ges. d. Wiss., Phil.-hist. Kl. 27 (1909); G u a r d u c c i , a. a. O., 160.

7) G . D e S a n c t i s , Storia dei Greci (1939), 507. β) Κ . Μ. K o l o b o v a , Vojkej na Krite, Vestnik drevnei istorii 2 (1957), 34.

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athenischen Recht, daß die vierte Klasse der Intestaterbfolge in Gortyn die Onkel väterlicherseits (und die Söhne der Onkel) und die Tanten väterlicherseits (und die Söhne der Tanten), wie auch die Onkel mütterlicherseits (und die Söhne dieser Onkel) und die Tanten mütterlicherseits (und die Söhne dieser Tanten) seien9). Schließlich ist W i l l e t t s der Meinung, daß in der vierten Klasse Ver-wandte vorkommen, die nicht Mitglieder des oihos sind, aber dem gleichen Stamm (clan) angehören wie diese Mitglieder10). Von Übereinstimmung ist man also ziemlich weit entfernt. Außerdem kann keine dieser Hypothesen die Frage nach den Kriterien und dem Mechanismus der Vermögensaufteilung z w i s c h e n den epiballontes zufriedenstellend lösen.

Der auf die oben zitierte Stelle (V 9—25) folgende Text des Gesetzes kompli-ziert das Problem noch mehr, weil er die Möglichkeit einer zweifachen Inter-pretation gibt, je nachdem, wo man das Komma setzt. Der Originaltext enthält selbstverständlich keine Kommata. In der jüngsten Edition setzt W i l l e t t s das Komma folgendermaßen:

al δε με εΐεν επιβάλλοντε-ς, τάς fοικίας οΐτινές κ' ϊδντι ό κλάρος, τοντονς ε-κεν τα κρεματα. (V 25—28)

Diese Deutung und Lesung ist weithin akzeptiert. Das Komma steht hinter dem Wort επιβάλλοντες, so daß diese (epiballontes) die vierte Klasse in der In-testaterbfolge bilden, wobei die fünfte Klasse τάς fοικίας οϊτινές κ ϊδντι ό κλάρος sind11). Die zweite Lösung wird selten vertreten. Die Versetzung des Kommas hinter das Wort f·οικίας bewirkt, daß die vierte Klasse in der Intestaterbfolge die επιβάλλοντες τάς fοικίας sind, und die fünfte οϊτινες κ ϊδντι ό κλάρος12).

Wenn wir die zweite Möglichkeit in Betracht ziehen, könnte man diese Stelle als „epiballontes (d. h. die, die das Recht haben) aus dem Hause" oder noch besser (im Genetiv) „epiballontes des Hauses" übersetzen. Darum sagt K o h l e r , daß die epiballontes „weitere Agnaten" seien, „ganz ähnlich wie nach dem Rechte der XI I Tafeln: proximus agnatus familiam habeto"13). Auch P a o l i ist der Meinung, epiballontes seien „gli agnati più prossimi"14). G u a r d u c c i akzeptiert diese philologische Möglichkeit auch, aber sie sieht nicht ein, daß der Begriff der oikia den Personenkreis verkleinern sollte ; sie vergrößert ihn sogar bis zu den gentiles (und wird deswegen von Kol ob ova und L ö t z e zu Recht kritisiert)15).

9) L . N . K a z a m a n o v a , Nekatorie voprosi socialno-ekonomiceskogo stroja kritskih polisov, Vestnik drevnei istorii 3 (1957), 49.

10) R . W i l l e t t s , The Law Code of Gortyn (1967), 12: "Epiballontes were kinsmen who, though not members of the oikos itself, belonged to the same clan as those members".

11) D . C o m p a r e t t i , L e leggi di Gortyna e le altre iscrizioni archaiche edite ed illustrate (1894); R . D a r e s t e , La loi de Gortyne, RHD 10 (1886); B ü c h e l e r — Z i t e l m a n n , a . a . O . ; C. D. B u c k , The Greek Dialekts (1955); K o l o b o v a , a. a. 0 . ; W i l l e t t s , a. a. O.

12) K ö h l e r — Z i e b a r t h , a . a . O . ; G u a r d u c c i , a . a . O . ; R . Meiggs — D. Lewi s , A Selection of Greek Historical Inscriptions (1969), 95.

13) K ö h l e r — Z i e b a r t h , a. a. 0., 65. " ) U . E . P a o l i , L'antico diritto di Gortina, Altri Studi (1976), 497. 15) K o l o b o v a , a. a. 0., 28; D. L o t z e , Zu den woikees von Gortyn, Klio 40

(1962), 34.

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S. Avramovic, Epiballontes als Erben 367

3. Der erste Ansatzpunkt für meine eigene Deutung der epiballontes liegt in der Lösung, die Worte έπιβάλλοντες τάς f.οικίας zu verbinden. Doch muß man darüber hinaus noch berücksichtigen, daß hier f·οικία (att . οίχία) das Haus im w e i t e r e n Sinne bezeichnet; nämlich die vielen verschiedenen Elemente kollektiver und agnatischer Bindungen, die Gortyn in Gestalt von άγέλη, ανδρεία und besonders der εταιρεία kennt, was sich auch in der wirtschaftlichen Bedeutung des βοιχέος als Patriarchalsklaven widerspiegelt. Besonders die Argumente W e s t r u p s und G a u d e m e t s 1 6 ) ermutigen mich zu dem Schluß, daß die ίοικία in Gortyn neben der Kleinfamilie auch noch die große, patriarchale Familie bezeichnet; ähnlich dem consortium im alten Rom verstehen auch W e s t r u p , G a u d e m e t u n d S t o j ö e v i c diese Institution1 7). Zum Vergleich kann man auch „das Haus" in der alten südslavischen Bedeutung heranziehen, das ebenfalls als Familien- oder Hausgemeinschaft (kuca, zadruga) zu verstehen ist : als eine Familiengemeinde mit gemeinsamer Wirtschaft und gemeinsamem Besitz18). Die ersten Seiten der „Politik" des Aristoteles könnten die Bedeutung des Terminus οίκος in solch einem weiten Sinn zeigen18). Diese Hausgemeinschaft war in erster Linie eine Wirtschafts- und Arbeitsgemeinschaft.

Deshalb besteht die Möglichkeit, in Gortyn die έπιβάλλοντες τάς fοικίας der vierten Klasse der Intestaterbfolge als „epiballontes aus dem große Hause" zu deuten oder als „die, die Recht aus der Hausgemeinschaft haben". Diese näheren oder entfernteren Verwandten väterlicher- oder mütterlicherseits haben bereits zu Lebzeiten des de cuius mit ihm im gleichen Haus gelebt und gearbeitet, sie waren als Hausgenossen Mitglieder einer Lebens-, Eigentums- und Arbeits-gemeinschaft. Sie lebten und arbeiteten gleichberechtigt und unabhängig vom Grad ihrer Verwandtschaft in einer « communauté de travail ». Sie wurden zur Familie gezählt und als Erben betrachtet , wenn keine Kinder, Brüder und Schwestern des de cuius oder Abkömmlinge von diesen vorhanden waren. Es ist

16) W e s t r u p , a. a. 0 . , I I 9 und passim; G a u d e m e t , a. a. 0 . , 60. 17) W e s t r u p , a . a . O . ; G a u d e m e t , a . a . O . ; D . S t o j ö e v i c , Adgnatus

proximus, Mélanges H. Lévy-Bruhl (1959), 275; D e r s . , La fonction du tes tament « calatis comitiis », Synteleia V. Arangio-Ruiz (1964), 245; D e r s . , Gens, con-sortium, familia' , Studi in onore di E . Volterra, I (1969), 432.

18) Der Personenkreis in der Hausgemeinschaft der Südslaven (in Serbien, aber besonders in Montenegro und Kroatien) konnte z. B. auch die außerehe-lichen Kinder, Duzbrüder, Schwiegereltern, Schwager und Schwägerin, Witwe und sogar die abhängigen Knechte umfassen — also alle legitim in die Haus-gemeinschaft Aufgenommenen. Wir haben dort die Regel, daß die letzte Person einer Großfamilie, die in dieser Familie lebte, die Verpflichtung hat , die Familie fortzuführen, s. dazu A . S h e k , Allgemeines Gesetzbuch über Vermögen für das Fürs tenthum Montenegro (1893), Artikel 707: „Bleibt in einer Kuca nur ein Hausgenosse des männlichen oder weiblichen Geschlechts übrig, so ist Kuca dennoch die bisherige Rechtsfähigkeit anerkannt" . Diese Person konnte ein ent-fernter Verwandter sein oder (in Serbien und Kroatien) ein anderes Mitglied der Gemeinschaft, ohne Rücksicht auf die Verwandtschaft . S. dazu A . I l i c , Sistem prava u kucnoj zajednici u Crnoj Gori (1936), 31; M. F i l i p o v i c , Nesrodnièka i predvojena zadruga (1945), 20; V . B o g i s i c , Izabrana déla i Opsti imovinski zakonik za Crnu Goru, ed. J . D a n i l o v i c (1986), 228.

19) Arist. Polit. 1252 b ; vgl. W e s t r u p , a. a. O., 8. Die Diskussion über diesen Text dauert an, s. dazu E . K a r a b e l i a s , Le contenu de l'oikos en droit grec ancien, Gedächtnisschrift G. A. Petropoulos (1984), 443.

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3 6 8 Miszellen

also ein Personenkreis, der vor Erlaß des Gesetzes nach altem Gewohnheitsrecht ungeteilt „erben" konnte; diese Regelung war wohl noch immer bekannt und mußte deshalb vom Gesetzgeber nicht näher erklärt werden.

Die alte Form und das überkommene Verständnis der Hausgemeinschaft sind mit der Entwicklung des Privateigentums und der Aufspaltung der Großfamilien den neuen kognatischen Begriffen über die Verwandtschaftsnähe gewichen, aber nicht notwendigerweise ganz verschwunden. Die letztlich siegreichen kognatischen Begriffe kommen in den ersten drei Klassen der Intestaterbfolge zur Anwendung, während in der vierten die alten Vorstellungen geblieben sind.

Diese Schlußfolgerungen ermutigen zu der Annahme, daß das Gesetz von Gortyn ein ähnliches prozessuales Mittel fü r die Teilung der Familie vorsieht wie die actio familiae eriscundae in den X I I Tafeln und auch das Gewohnheitsrecht der Südslaven für die Auflösung einer „joint undivided family"20). Der Text lautet :

al δέ κ' oi επιβάλλοντες ol μεν λεΐ-

20 δντι όατε&ΰαι τα κρέματ-α, ο'ι δε μ S, δικάκααι τον δι· καστάν επί τοϊλ λείονσι <5-ατεΜαι ε μεν τά κρεματα π-άντα πρίν κα δάττονται. (V 28—34)

„Wenn aber von den Berechtigten die einen das Vermögen teilen wollen, die anderen nicht, so soll der Richter verfügen, daß das ganze Vermögen denen zu-kommen soll, welche teilen wollen, bis die Teilung erfolgt."

Das ist ein hinreichendes Indiz dafür, daß der Spaltungsprozeß der Familien in der Zeit, als das Gesetz aufgezeichnet wurde, sehr aktuell war. Es ist eine neue Situation, in der die Auflösung der Familie verlangt wurde. Das konnte offenbar Konflikte hervorrufen. Deswegen löst der Gesetzgeber den Konfl ikt zugunsten derer, welche die Aufspaltung herbeizuführen suchen — ebenso wie der Gesetz-geber in Serbien, aber erst im 19. Jahrhundert 8 1) .

Diese Hypothese löst auch das Problem der Aufteilung des ererbten Vermögens unter mehrere epiballontes, eine Frage, die von keiner der anderen Theorien be-antwortet wird. Ich meine, daß der nicht sehr hoch entwickelten gortynischen Gesellschaft der Aufbau eines präzisen Mechanismus für die komplizierte Teilung unter sehr entfernten Verwandten fremd war22). Für die entfernteren Ver-wandten, väterlicher- oder mütterlicherseits, die mit dem de cuius gemeinsam gelebt und gewirtschaftet haben, t r a t keine Änderung ein. Sie (oder gar nur ein Verwandter) setzten den Familienkult sowie die vermögensrechtlichen Bezie-hungen und die Benutzung des Maros o h n e T e i l u n g als Gemeinschaft weiter for t , im Hinblick darauf, daß sie als Mitglieder derselben Hausgemeinschaft

20) XII -Tab . V 10; vgl. a. Allgemeines Gesetzbuch über Vermögen fü r das Fürs ten thum Montenegro, Artikel 687 und 769.

21) Die Artikel 507—529 des serbischen Bürgerlichen Gesetzbuchs aus dem Jah r 1884 (es gibt davon keine vollständige deutsche Übersetzung).

22) w i r erinnern uns, welche Probleme ζ. B. der Erbfall des Hagnias in dem weit höher entwickelten athenischen Recht aufwarf, in dem entferntere Ver-wandte konkurrierten.

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S. Avramovic, Epiballontes als Erben 369

dieses Vermögen auch bisher schon benutzt und zu seiner Erhaltung beigetragen hatten.

Diese Annahme wird bestätigt durch einige Formulierungen des Gesetzes (V 9—28; s. den oben wiedergegebenen Text):

a) Die Einleitungsformel für die zweite bis vierte Klasse der Erbfolge heißt αί δε χα μετις ει τούτον (V 13—14; 17—18; 22); für die fünfte lesen wir, auf die epiballontes der vierten Klasse bezogen, al δε με εΐεν (V 25).

b) Nur die Formulierung für die vierte Erbenklasse ist allgemein gefaßt und eröffnet mehrere Deutungsmöglichkeiten: οίς κ επιβάλλει οπό κ' ει τά κρεματα (V 23—24); wieder gibt es mehrere verschiedene Übersetzungen23). Es ist wenig glaubhaft, daß irgendein entfernter Verwandtschaftsgrad allgemein so bekannt war, daß der Gesetzgeber kein Bedürfnis hatte, diesen Personenkreis weiter zu präzisieren, wie er das für die ersten drei Klassen tat. Mit dieser Formu-lierung konnte der Gesetzgeber jedoch alle überlebenden Mitglieder einer Haus-gemeinschaft meinen, die das Vermögen auch bisher schon besessen hatten. Diese Annahme läßt sich — im Gegensatz zu den bisherigen Übersetzungen — auch aus dem Wortlaut der Bestimmung begründen24).

c) Für die ersten drei Klassen der Intestaterbfolge lautet die Regel, mit welcher das Recht auf die Erbschaft festgestellt wird, einfach: τούτος εκεν τά κρεματα (V 13—14; 16—17; 21—22). Sie ist leicht zu übersetzen: „so sollen diese das Vermögen haben". Aber in der vierten Klasse heißt es in bezug auf die epiballontes ganz anders: τούτος άναιλΐ&&αι (V 24—25), was man übersetzen kann: „sollen sie es übernehmen" ( B ü c h e l e r , K o h l e r ) oder „sollen sie es auf-nehmen" oder gar „sollen sie es wiedernehmen"25).

Der Gesetzgeber wechselt also ganz klar die Formulierung. Dies ta t er natürlich nicht aus stilistischen Gründen, sondern weil sich im rechtlichen Sinn, bei der Berufung zur Erbschaft, etwas geändert hat. Es ist möglich, daß dabei die

23) Übersetzung nach B ü c h e l e r , a. a. O., 26: „so sollen die welchen angehört woher es sei, das Vermögen, diese es übernehmen"; nach K o h l e r — Z i e b a r t h , a. a. O., 13: „so sollen die, welchen es zukommt, von woher auch ihre Verwandt-schaft stammt, das Vermögen übernehmen"; nach G u a r d u c c i , a . a . O . , 143: «epiballontes unde sint bona, isti suscipiunto »; nach B u c k , a. a. O., 137: "to whom it falls according to the source of the property"; nach W i l l e t t s , a. a. 0. , 43: "they are to take it up, to whom it may fall as source of the property"; zu zitieren ist auch ein sehr passender Vorschlag von Van E f f e n t e r r e , a. a. O., 460: «à qui cela s'impose en fonction de la situation (? ou de l'origine?) des biens ».

24) Ich übersetze: „so sollen die, welchen es zusteht, woher er ( = der de cuius) ist ( = aus seiner Familie), das Vermögen übernehmen" oder freier: „welche das Recht über das Vermögen ursprünglich haben, sollen es aufnehmen".

25) Das Verb άναιλίΜίαι (die dorische Form) kommt von αναλαμβάνω und hat die Grundbedeutung „wieder nehmen". Das Wort άναιλλε&&αι kommt im Gesetz von Gortyn sonst noch fünfmal vor (VII 10; X 40, 44; XI 4; XI 34) und be-zeichnet Situationen, in denen nicht nur Rechte übernommen werden, sondern auch Pflichten. Insbesondere wird es dreimal (X 40; 44; XI 4) für das Erbrecht des Adoptierten benützt — also für Personen, die auf künstliche Weise Teil der Familie geworden sind, Personen die eigentlich entferntere Verwandte sind oder gar keine Verwandte sein müssen, aber die in Gemeinschaft mit dem de cuius lebten.

2 4 Zeitschrift für Rechtsgeschichte. CVII. Rom. Abt. Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 134.99.128.41

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ältere Auffassung zum Ausdruck kam, nach der diejenigen, welche zusammen lebten und arbeiteten, am gesamten Vermögen und der gesamten ßοικία teil-hatten. Sie „erben" es deswegen in anderer Weise und aus einem anderen Rechts-grund, durch „( Wieder) Ansichnehmen", als die Mitglieder der ersten drei Klassen, welche als Agnaten oder Kognaten erben, sie „haben".

Die epibattontes aus der vierten Klasse der Intestaterbfolge lebten höchst-wahrscheinlich wie zuvor weiter in der gleichen Familiengemeinschaft ohne Teilung als Hausgenossen zusammen. Es war die letzte Chance für das Weiter-bestehen des oilcos. Sie führten also die Existenz des Hauses fort, wenn der de cuius keine Kinder, Brüder, Schwestern samt deren Nachkommen hatte.

Belgrad S ima A v r a m o v i c

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