DIE ESTNISCHE SPRACHE TNISCHE SPRACH E R DIE ESTNISCHE … · Deutsch, Albanisch, Romani,...

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E ESTNISCHE SPRATNISCHE SPRACHE

DIE ESTNISCHE SPRDIE ESTNISCHE SPRACHE

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ISBN 9985-9341-9-9 / Veröffentlicht vom Estnischen Institut 2005 / Illustrationen: Jaagup Roomet / Design: Aadam Kaarma / LABOR

Kala on puu juures„Ein Fisch ist beim Baum“Wörtlich: „Ein Fisch ist inder Wurzel des Baumes“

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Die estnische SpracheUrmas Sutrop

Deutsch von Carsten Wilms

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Estnisch wird verwendet beim Militär... in der Luftfahrt... im Theater

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Die Vorfahren der Esten kamen vor 13.000Jahren an die Ostsee, als sich die Inland-Gletscher der letzten Eiszeit aus der Gegendzurückgezogen hatten, die man heute als Est-land bezeichnet. Die ersten Siedler, die denRentierherden folgten, kamen vom Süden, ausMitteleuropa. Obwohl der Wortschatz und dieGrammatik der Sprache, die von den Men-schen der damaligen Zeit gesprochen wurde,sich vollkommen verändert hat, kann man imheutigen Estnisch noch die Denkweise derJäger der Tundra von vor Tausenden von Jahr-en wahrnehmen.

Die Mehrheit der europäischen Sprachen ge-hört zur indogermanischen Sprachengruppe(zum Beispiel Spanisch, Polnisch, Litauisch,Deutsch, Albanisch, Romani, Griechisch oderWalisisch). Von den alten nicht indogermanis-chen Sprachen, die früher auf dem ganzenKontinent verbreitet waren, haben es nurwenige geschafft zu überleben: Baskisch inden Pyrenäen, die finnougrischen Sprachen inNord- und Mitteleuropa und die kaukasischenSprachen (zum Beispiel Georgisch) imsüdöstlichen Winkel Europas.

Die estnische Sprache gehört zur ostseefinnis-chen Gruppe der finnougrischen Sprachen. Sieist nicht mit den benachbarten indogermanis-chen Sprachen wie Russisch, Lettisch undSchwedisch verwandt. Finnisch, Ungarisch und

Estnisch sind die bekanntesten finno-ugrischen Sprachen; eher weniger bekanntsind folgende kleinere Sprachen der selbenSprachgruppe: Südestnisch, Wotisch, Livisch,Ingrisch, Wepsisch, Karelisch, Samisch, Ersja-nisch, Mokschanisch, Mari, Udmurtisch undKomi, die von Skandinavien bis Sibirien ge-sprochen werden.

Estnisch unterscheidet sich von seiner größtenverwandten Sprache, dem Finnischen, mindes-tens so sehr wie das Englische vom Friesis-chen. Der Abstand zwischen Estnisch und Un-garisch ist etwa so groß wie zwischen Deutschund Persisch.

Zusammen mit Isländisch ist Estnisch heuteeine der kleinsten Sprachen der Welt, die alleFunktionen erfüllt, damit ein unabhängigerStaat sprachlich „funktionieren“ kann. Der Un-terricht, sowohl an allgemeinbildendenSchulen wie auch in den Universitäten, findetauf Estnisch statt; sie ist die Sprache der mod-ernen Wissenschaft (Molekularbiologie, As-tronomie, Informatik, Semiotik usw.). Estnischwird in der Armee, im Theater, in der Luftfahrt,im Journalismus verwendet – in allen Lebens-gebieten. Estnisch ist in Estland alleinigeAmtssprache in allen Kommunalverwaltungenund bei staatlichen Institutionen. Seit dem1. Mai 2004 ist Estnisch gleichberechtigteAmtssprache der Europäischen Union.

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Die estnischeSprache

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Sprache und fortlebende TraditionSogar das gewöhnlichste Alltagsestnischenthält viele alte Ausdrücke, die wahrschein-lich bis zur Eiszeit zurückgehen.

Die Esten sagen külma käes, vihma käes, päike-se käes, tuule käes „in der Hand der Kälte, desRegens, der Sonne, des Windes“, oder ta sai ko-erte käest hammustada „er wurde von der Handder Hunde gebissen“, d.h. „er wurde von Hun-den gebissen“, oder ta sai nõgeste käestkõrvetada „er wurde von der Hand der Brenn-nesseln verbrannt“. Es ist ziemlich offensicht-lich, dass niemand mehr glaubt, der Wind, derRegen, Hunde oder Brennnesseln hätten Hän-de. Aber in früheren Zeiten wurden der Bewe-gung, die oft natürliche Phänomene personifi-zierte, besondere Kräfte zugesprochen – vonTieren und Pflanzen ganz zu schweigen. DieseKräfte, die manchmal die Kontrolle über dieMenschen ausübten, wurden durch eine Handsymbolisiert. Daher kann das heutige estnischeWort käskima „befehlen“ durch den Ausdruck„mit der Hand Anweisungen erteilen“ erklärtwerden, vgl. käsilane „der Handlanger“.

In allen oben erwähnten Ausdrücken kommt

„Hand“ in der Einzahl vor. Dies wird mit einerganzheitlichen Weltvorstellung unserer Vorfah-ren assoziiert. Alles bildete ein Ganzes, eine To-talität, ebenso die doppelten Körperteile, vondenen ausschließlich im Singular gesprochenwurde. Wenn jemand über eine einzige Handsprechen wollte, musste er pool kätt „eine hal-be Hand“ sagen. So kam die Teilung der ganz-heitlichen Welt in rechte und linke Hälften,rechte und linke Teile zustande.

Auch heute noch erklären die Esten räumlicheBeziehungen durch Körperteile, meist ohnedass es ihnen bewusst ist. Wenn sich eine Sa-che kõrval „neben“ etwas befindet, denkt derEste nicht mehr daran, dass er eigentlich sagt,etwas sei „an seinem Ohr“ (kõrv, kõrva bedeutetOhr, und die Endung –l entspricht etwa derdeutschen Präposition „an, auf“). Die estnischePostposition peal „auf“ bedeutet wörtlich „aufdem Kopf“ (pea „Kopf“ + -l); juures (juur, juure +-s was im heutigen Estnisch „in“ bedeutet aberfrüher auch für „bei“ stand) meint, dass etwasoder jemand nahe am juur, der „Wurzel“ desSprechers, ist, d.h. am Ort, wo er den Bodenberührt.

Ingel on päikese käes“Ein Engel ist in der Sonne.” Wörtlich: “Ein Engel istin der Hand der Sonne.”

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Estnisch wird heute von circa 1,1 MillionenMenschen in der ganzen Welt gesprochen. Et-wa 950.000 von ihnen leben in Estland. Etwasmehr als 150.000 sind über Schweden, Kanada,die USA, Russland, Australien, Finnland, Deut-schland und andere Länder verstreut.

Die ersten Versuche, die estnische Sprache wis-senschaftlich zu beschreiben, wurden imfrühen 17. Jahrhundert unternommen. 1803wurde ein Lektorat für estnische Sprache ander damals deutschsprachigen Universität vonTartu (Dorpat) eingerichtet, die 1632gegründet worden war. Mit der Verbreitungder Ideen der Aufklärung wuchs das Interesseder deutschbaltischen Estophilen an der ein-heimischen Sprache und Kultur. Im Laufe des19. Jahrhunderts fingen die ersten gebildetenEsten an, gelehrte Untersuchungen über ihreMuttersprache zu verfassen. Der erste promov-ierte Wissenschaftler estnischer Herkunft, dersich mit den finnougrischen Sprachen bes-chäftigte, war Mihkel Veske, der in den 70erJahren des 19. Jahrhunderts seine Forschun-gen betrieb; der estnische Schriftstellerver-band, der 1871 gegründet wurde, setzte sichzum Ziel, die Alltagssprache zu standardisier-en.

1919 wurde eine Professur für estnischeSprache an der Universität Tartu eingerichtet,an der im selben Jahr Estnisch Unterrich-tssprache wurde. Derzeit wird estnischeSprachforschung am Institut für EstnischeSprache in Tallinn, an der Universität Tartu, ander Universität Tallinn, am Estnischen Humani-tarinstitut und an verschiedenen Forschung-seinrichtungen in der ganzen Welt betrieben.

Erste Versuche, dieestnische Sprache zubeschreiben...

Die Beziehungen zwischen Sprachen kann man oftan den Ähnlichkeiten der Zahlwörtern erkennen:

Ungarisch Finnisch Estnisch Lettisch Russisch Deutsch

1 egy yksi üks viens odin eins2 ketto kaksi kaks divi dva zwei3 három kolme kolm tris tri drei4 négy neljä neli cetri cetyre vier5 öt viisi viis pieci pjat‘ fünf6 hat kuusi kuus sesi sest‘ sechs7 hét seitsemän seitse septini sem‘ sieben8 nyolc kahdeksan kaheksa astoni vosem‘ acht9 kilenc yhdeksän üheksa devini devjat‘ neun10 tíz kymmenen kümme desmit desjat‘ zehn

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Eine große Anzahl von Sprachforschern hängtnicht mehr der Theorie eines Sprachenbaumsan, die noch vor etwa einem Jahrzehnt weitge-hende Anerkennung gefunden hatte. Nachdieser Theorie haben sich alle finnougrischenSprachen, ähnlich den indogermanischen undanderen Sprachen, aus einer Ursprache en-twickelt. In der Folge hatte man zahlreicheZweifel an einer Vielzahl von Vermutungengeäußert, wann es zu Veränderungen im vor-schriftlichen Estnisch gekommen war undwann sich die charakteristischen Merkmale des

Estnischen ausgebildet hatten. Heute zweifeltman an der Verlässlichkeit vieler Hypothesenüber die Entwicklung der estnischen Sprachevon der frühesten Entwicklungsstufe bis ins 13.Jahrhundert.

Einig ist man sich jedoch, dass das alte Estnischdurch verschiedene germanische, baltischeund altslawische Sprachen beeinflusst wurde.Dies kann durch die vielen Lehnwörter undverschiedene Änderungen in der Aussprachenachgewiesen werden.

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Finnougrische und Samojedische Sprachen

Udmurtisch

Chantisch

Mansisch

Ischorisch

Wotisch

Ersjanisch und MokschanischKarelisch

Samisch

Finisch

Estnisch

Livisch Ungarisch

Südestnisch

Wepsisch

Nenets

Komi

Permisch-Komi

Mari Enzisch

Selkupisch

Nganasanisch

Geschichte

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die durch eine größere Zahl schriftlicherQuellen dokumentiert ist, begann im 13. Jahr-hundert. Zu dieser Zeit erreichten deutscheund skandinavische Kreuzfahrer Estland, einesder letzten heidnischen Länder in Europa. DieKreuzfahrer, die gegen die Esten zogen, wur-den im frühen 13. Jahrhundert im lateinischenHeinrici Chronicon Livoniae beschrieben, dieschon Worte und Satzbruchstücke auf Estnischenthält.

Auch zahlreiche estnische Eigennamen undOrtsnamen stammen aus dem 13. Jahrhundert.So erwähnt bereits das dänische Steuerverze-ichnis, Liber Census Daniae, das 1219/20 erstelltwurde, ca. 500 Ortsnamen aus Nordestland.450 davon haben sich bis in unsere Tage erh-alten und bieten ein umfassendes urkundli-ches Vergleichsmaterial zur Erforschung dersprachlichen Veränderungen.

Als Folge der Kreuzzüge ließen sich der vorne-hmlich niederdeutsche Adel und Bürger auf

Der älteste erhaltene Nachweis eines estnis-chen Wortes stammt aus dem 8. Jahrhundert n.Chr.: in seiner Kosmographie erwähnte der Gei-stliche Aeticus Ister eine Insel namens Taracon-ta (Tharaconta), die wahrscheinlich ganz Est-land oder die größte estnische Insel Saaremaameint. Die Beschreibung Estlands als Insel istnicht so ungewöhnlich, wie man annehmenkönnte. Man muss bedenken, dass noch im 11.Jahrhundert der norddeutsche Chronist Adamvon Bremen der Ansicht war, Estland und Skan-dinavien seien Teile eines großen Archipels. Ta-raconta kann als Taara + kond interpretiertwerden. Taara war eine der wichtigsten Got-theiten der alten Esten; das Affix kond bezeich-net im Estnischen eine Gemeinschaft von Men-schen, z. B. perekond „Familie“, sugukond„Sippe“, oder eine räumliche Einheit, z. B. maa-kond „Bezirk“, kihelkond „Kirchspiel“. Daherkönnte sich Taraconta sehr einfach auf die Es-ten als Anhänger des Gottes Taara beziehen.

Die Entwicklungsstufe der estnischen Sprache,

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Ein wackeliger Stammbaum der finnougrischen Sprachen

SAM

ISC

H

ISC

HO

RIS

CH

W

EPSI

SCH

K

AR

ELIS

CH

FIN

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WOTISCH LIVISCH ESTNISCH ERSJANISCH MOKSCHANISCH MARIK

OM

I UD

MU

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H U

NG

AR

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CH

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H

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dem Gebiet Alt-Livlands nieder, das dasheutige Estland und Lettland umfasste. Ob-wohl die Herrscher während der 700-jährigenausländischen Besetzung wechselten – z. B.Dänemark, Polen, Schweden und Russland –hatten das Niederdeutsche und das Hochdeut-sche sowie der örtliche deutschbaltische Diale-kt, der sich aus ihnen entwickelte, den stärks-ten Einfluss auf die estnische Sprache.

Der erste zusammenhängende estnische Text,die Kullamaa Handschrift, ist bis heute erhaltengeblieben. Sie stammt aus den Jahren 1524-1528. Der katholische Text enthält zwei Gebete– das Vaterunser und das Ave Maria – sowiedas Glaubensbekenntnis. Als die ReformationNordeuropa erschütterte und im frühen 16.Jahrhundert Estland erreichte, ergab sich fürPredigten eine noch größere Notwendigkeit,religiöse Texte ins Nord- und Südestnische zuübersetzen.

Die ersten estnischen Grammatiken undWörterbücher wurden im 17. Jahrhundertzusammengestellt. Seit dieser Zeit hat sicheine umfassende estnische Literatur zur estnis-chen Sprache tradiert.

Während der Zeit des nationalen Erwachens inder Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelte sichdas Estnische weiter, von einem gesprochenenIdiom der Bauern zu einer Kultursprache. Est-nisch wurde in Literatur und Wissenschaft ver-wendet, und die ersten muttersprachlichenAbhandlungen wurden veröffentlicht. 1884publizierte Karl August Hermann die erste est-nische Grammatik in estnischer Sprache; siespielte eine bedeutende Rolle bei der Verein-heitlichung der Sprache.

Zur selben Zeit, im späten 19. Jahrhundert, be-gann sich die einheimische estnische Bev-ölkerung mit dem Namen eesti zu bezeichnen,was vermutlich dem Schwedischen oder Deut-schen im 17. Jahrhundert entlehnt wurde. Biszu dieser Zeit nannte sich die Mehrheit der Es-ten – der Bauernstand – maarahvas „Landvolk“und ihre Mundart maakeel „Landessprache“.

Während der ersten Jahrzehnte des 20. Jahr-hunderts setzte sich die gebildete estnischeOberschicht bewusst das Ziel, Estnisch zu einereuropäischen Kultursprache zu entwickeln.Wesentlicher Anteil daran gebührt JohannesAavik, der versuchte, die Literatursprache re-icher und schöner zu machen. Er stützte sich

auf Material aus dem Finnischen und aus est-nischen Dialekten, prägte aber auch neu ge-schaffene Wörter und Ausdrücke. Eine andereRichtung, die gleichfalls für die Innovation derSprache bedeutend war, wurde von JohannesVoldemar Veski verkörpert. Er konzentriertesich auf die Schaffung normativer Formen unddie Erweiterung des Wortschatzes. In dieserZeit entstanden Tausende von Ausdrücken inden Wissenschaften und allen anderen Gebi-eten des Lebens.

Während des 20. Jahrhunderts spieltennormierende Wörterbücher eine wichtige Rollebei der Schaffung einer vereinheitlichtenSprache. Das erste normierende und ordnendeWörterbuch des Estnischen erschien 1918.

Während der Jahre der sowjetischen Beset-zung (1940-1941 und 1944-1991) wurden dieStandardisierung der Sprache und die strengeBefolgung ihrer Regeln zu einer Art des nation-alen Widerstandes. Dies war ein Weg, der Sow-jetideologie zu widerstreben, die durch dierussische Sprache versinnbildlicht wurde. DieSprache blieb eines der mächtigsten Symboleder estnischen Identität. Weder das wissen-schaftliche Studium des Estnischen noch derGebrauch der estnischen Sprache in den meis-ten Bereichen des öffentlichen Lebens war vonden sowjetischen Behörden verboten. Diesmachte es den Esten und ihrer Sprache als Volkmöglich, sowohl die Russifizierung als auchden massiven Zuzug russischsprachiger Bürgerzu überleben.

In den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts wurdedie Einstellung gegenüber Sprachnormenentspannter; verschiedene Soziolekte und einegrößere sprachliche Vielfalt fanden wiederAnerkennung.

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Johannes Aavik hat versucht,die Literatursprache reicher

und schöner zu machen

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Der bislang einzige Versuch, die nordestnischeSprache zu rekonstruieren, wurde von Alo Raunund Andrus Saareste vorgelegt. Heute betrach-ten Experten ähnliche Rekonstruktionen als zuabhängig von der Theorie des Sprachenbaumsund das rekonstruierte Estnisch als zu nahe amFinnischen, um wissenschaftlichen Ansprüchenstandhalten zu können.

Wie in der Sprache von Võru (Werro) wird derglottale Verschluss in Rekonstruktionen durchein q angezeigt. „Es war einmal ein alter, ehrli-cher Mann, der hatte eine sehr böse Frau, dieschimpfte und fluchte vom frühen Morgen biszum späten Abend, und schlug ihren armenMann...“

Vor dem 13. Jahrhundert:Kõrdan oli ühdellä vanhalla auvoisalla meehelläülin kurja nainõn, ken soimasi, kirosi, tervehenpitkän päivän varhaisesta hoomikkostahiljaisennik õhtagonnik niinkä peksi vaivaistameestänsäq...

13. Jahrhundert:Kordan oli ühdelä vanhala auvosala mehelä ülinkurja nainõn, ken sõimas, kiros terveen pitkänpäivän, varasõsta hoommikkosta hiljaisenniqõhtooniq niinkä peksi vaivasta meestäsäq...

16. JahrhundertKoora oli ühel vanal auosal mehel väen kaaskuri naine, ke sõimas, kiros terven pitkanpäivan, varasest hommikost hiliseni õhtoni ningpeks vaivast meestäsä...

17.-18. JahrhhundertKoora oli ühel vanal auusal mehel väega kurivaine, kes sõimas ja kiros terve pitka päiva,varasest ommikost ilise õhtoni ning peks vaistmeest...

20. JahrhundertKord oli ühel vanal ausal mehel väga kuri naine,kes sõimas ja kirus terve pitka päeva, varasesthommikust hilise õhtuni ning peksis oma vaestmeest...

Rekonstruktionder estnischenSprache

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Das Standard-Estnisch wurde aus den Dialek-ten von zwei früheren Stammessprachen ge-bildet – Nord- und Südestnisch. Die Unter-schiede zwischen diesen Proto-Sprachenspiegeln sich sowohl in der Phonetik als auchin der Grammatik wider.

Man kann die Dialekte Mulgi (1), Tartu (2) undVõru-Setu (3) im Südestnischen klar unter-schieden. Zum Gebiet der nordestnischen

Sprache gehören die Dialekte in der nordöstli-chen Küstengegend (4), die östlichen (5), mit-telestnischen (6), westlichen (7) sowie die insu-laren Dialekte (8).

Verschiedene Register können in der estni-schen Hochsprache unterschieden werden; dieim Allgemeinen gesprochene Sprache unter-scheidet sich sehr stark von der geschriebenenSprache. Zusätzlich zu den regionalen Varian-

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Hiiumaa

Saaremaa

Muhumaa

Vigala

Harju-Risti

Kuusalu

Vaivara

Kodavere

Karksi

4

3

2

7

1

568

88

Dialekte undSchichten derestnischen Sprache

Estnische Dialekte

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Unsere Nachtigall ist dieses Jahr anderswo hingezogen

Hiiumaa: Meide ööbik aa seaesta maeale läin

Saaremaa: Meite ööbik oo siasta mäale läind

Muhumaa: Meite üöbik uo sieoasta mõjale läin

Läänemaa: Meite ärjälend oo tänäkond maale läin

Vigala: Mede künnilind uu tänabö maeale läind

Kihnu: Mede künniljõnd ond tänävasta maalõ läin

Harju-Risti: Mete üöbik oo tänabu maeal läin

Kuusalu: Meie üöbik on tänävu muuale mend

Järvamaa: Me õitselind on tänavu maale läind

Nördliches Virumaa: Meie kirikiut one tänävu mojale lähänd

Vaivara: Mei sisokaine ono (olo) tänä vuo mojale mennö

Kodavere: Meie sisask one tänävuade mõjale lähnud

Karksi: Mee kiriküüt’ om täo muial lännü

Südliches Tartumaa: Meie tsisask om tinavu muiale lännu

Võrumaa: Mii sisask um timahavva muialõ lännüq

Setomaa: Mii sisas’k om timahavva muialõ l’änüq

Standard-Estnisch: Meie ööbik on tänavu mujale läinud

ten, die durch den dialektalen Hintergrund zu-stande kommen, hängt die gesprochene Spra-che von der Bildung und dem sozialen Standdes Sprechers ab. Die Zahl der estnischerSoziolekte ist dennoch sehr viel geringer alsbei großen europäischen Sprachen. Die belieb-testen Arten von Slang sind jene der Schulkin-der und in den verschiedenen Hochschulen.Computer und das Internet haben eine neueArt von Englisch geprägter Umgangssprachegeschaffen. Der Knastjargon lehnt sich weitge-hend an das Russische an.

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Estnische Dialekte

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Võro kiil (die Sprache von Võru)

Die Sprache von Võru ist historisch gesehen einDialekt der südestnischen Sprache. Verglichenmit anderen südestnischen Dialekten (Tartuund Mulgi) hat sie ihre charakteristischen Be-sonderheiten bewahrt und ist am weitestenvon der heutigen estnischen Schriftspracheentfernt.

Dank der Tätigkeit des Võru Instituts und Som-meruniversitäten für die Sprache und Kulturvon Võru wurde die Sprache in unseren Tagennormiert. Die frühere südestnische Schriftspra-che, die noch bis zum Beginn des 20. Jahrhun-derts Chancen hatte, zur Norm der estnischenSchriftsprache zu werden, fußte auf dem Tartu-er Dialekt. Die Sprache von Võru unterscheidetsich vom Standard-Estnischen durch ihre Aus-sprache, Wortfolge, Syntax und denWortschatz. Man nimmt an, dass einige mor-

phologische Besonderheiten der Sprache vonVõru sehr alt sind. Zum Beispiel kann die 3. Per-son Singular Indikativ entweder mit oder ohnePersonalendung geschrieben werden, z. B. and„er, sie, es gibt“ ohne Endung oder alternativmit einer s-Endung, kirotas „er, sie, es schreibt“;im Standard-Estnischen annab bzw. kirjutab.Unter den ostseefinnischen Sprachen findetman eine solche doppelte Verbkonjugationnur in der Sprache von Võru, im Setukesischenund im Karelischen.

Ein weiterer wesentlicher Unterschied zwi-schen dem Standard-Estnischen und der Spra-che von Võru ist die Vokalharmonie. Es gibt ei-ne allgemeine Regel in den ostseefinnischenSprachen, wonach einem vorderen Vokal in derersten Silbe (z. B. ä, ö, ü) nur vordere Vokale inden nachfolgenden Silben folgen können; einhinterer Vokal in der ersten Silbe (a, o, u) ziehthingegen hintere Vokale nach sich. Bei derMehrzahl der nordestnischen Dialekte und imStandard-Estnischen gibt es keine Vokalharmo-nie, wohl aber in der Sprache von Võru; vergl.küla „Dorf“ im Standard-Estnischen mit külä inder Sprache von Võru.

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Einen weiteren Unterschied kann man bei Ver-neinungen feststellen. In der Sprache von Võrufolgt die Verneinungspartikel oft dem Verb, imStandard-Estnischen steht sie immer davor.

Estnisch Võro Bedeutung

külas külän im Dorf

metsas mõtsah im Wald

Im Standard-Estnischen wird die Partikel ei so-wohl bei der Verneinung im Präsenz als auch inder Vergangenheit verwendet, z. B. ei kirjuta„er, sie, es schreibt nicht“, ei kirjutanud „er, sie,es schrieb nicht“; in Südestland wird beidesdurch verschiedene Partikel ausgedrückt, z. B.bei den Präsenzformen ei kirota oder kirota aiqund den Vergangenheitsformen es kirota oderkirota es.

Der Inessiv-Fall hat in der Sprache von Võru ei-ne n- oder h-Endung (fast außer Gebrauch), imStandard-Estnischen eine s-Endung.

Estnisch Võro Bedeutung

punane verrev rot

vend veli Bruder

soe lämmi warm

õde sõssar‘ Schwester

uus vahtsõnõ neu

pruut mõrsja Braut

rääkima kõnõlõma sprechen

koer pini Hund

pesema mõskma waschen

hunt susi Wolf

surema kuulma sterben

sõstar hõrak Strömung

kask kõiv Birke

nutma ikma weinen

oder kesv‘ Gerste

Unterschiede im Wortschatz zwischen Stan-dard-Estnisch und der Sprache von Võru sind inder Alltagssprache deutlich erkennbar:

Der Nominativ Plural wird in der Sprache vonVõru durch einen glottalen Verschluss (Knack-laut) gebildet (angezeigt durch den Buchsta-ben q), im Standard-Estnischen mit Hilfe des t-Lauts (d geschrieben).

Der glottale Verschluss macht das gesproche-ne Südestnisch ruckartig gegenüber der eher„gleichförmigen“ Sprache Nordestlands, be-sonders im Vergleich zum „singenden“ insula-ren Dialekt der westestnischen Schären.

Estnisch Võro Bedeutung

külad küläq Dörfer

metsad mõtsaq WälderEstnisch Võro Bedeutung

sa ei anna saq anna eiq du gibst nicht

ma ei tule maq tulõ õiq ich komme nicht

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Estnische Gebärdensprache

Eine interessante Untersprache des Estnischenist die estnische Gebärdensprache. Sie wirdvon ca. 2000 gehörlosen Menschen verwendet,für die sie die primäre Sprache und dashauptsächliche Mittel der Verständigung ist.

Die estnische Gebärdensprache (EGS) unter-scheidet sich von andere Gebärdensprachenim Wesentlichen durch die Gebärden und we-niger durch die grammatische Struktur (z. B.das Zeichen für Schmerz in der estnischen undamerikanischen Gebärdensprache [1 und 2]).Aber viele Gebärden in verschiedenen Gebär-densprachen ähneln einander. Diese Art derÄhnlichkeit lässt eine Botschaft unter Umstän-den für Hörgeschädigte verschiedener Natio-nalitäten verständlich werden und erleichtertdie Kommunikation zwischen ihnen.

Gleichzeitig ist der Einfluss der vor Ort gespro-chenen Sprache auf die EGS (wie bei allen Ge-bärdensprachen) groß. Zum Beispiel werden

einige Gebärden durch Bilder ausgedrückt, diemit den Fingern gebildet werden und dasÄquivalent des ersten Buchstabens des estni-schen Wortes darstellen (z. B. das Gebärdenzei-chen für restoran „Restaurant“ [3]) oder durcheine Methode, die die Art des mündlichen Aus-drucks bezeichnet (z. B. die Gebärde für mahl„Saft“ [ausgesprochen machll], die auf den star-ken Luftstrom bei der Aspiration des estni-schen h Bezug nimmt).

In ihrer Entwicklungsphase stand die estnischeGebärdensprache vor allem unter dem Einflussder russischen und finnischen Gebärdenspra-che (z. B. hat sich ein estnisches Gebärdenzei-chen für „Schmetterling“ aus der finnische Ge-bärde „Vogel“ entwickelt [5 und 7].

Als ursprünglichste unter den „Dialekten“ derestnische Gebärdensprache wird die in Pärnuverwendete Form angesehen.

Schmerz [1]

Restaurant [3]

taub

unterschreiben

Vogel (finnische GS) [5]

Schmetterling [7]

Schmerz (amerikanische GS) [2]

Saft [4]

lieben [6]

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Die estnische Schriftsprache hat sich in ihrergesamten Geschichte immer des lateinischenAlphabets und seiner Varianten bedient. Dasestnische Alphabet besteht aus 32 Buchsta-ben:

halten können. Buchstaben mit diakritischenZeichen (õ, ä, ö, ü) kennzeichnen eigenständi-ge Phoneme der estnischen Sprache. Die Tildeauf dem Phonem õ bezeichnet keine Nasalie-rung wie im Portugiesischen oder Palatalisie-rung wie im Spanischen; õ beschreibt ein ei-genständiges Vokalphonem.

Die Aussprache der estnischen Schriftspracheist relativ einfach, z. B. ist die Orthographieweitgehend phonetisch. Andererseits unter-scheidet die Schreibung gewöhnlich nicht zwi-schen der 2. und 3. Quantität, und auch die Pa-latalisierung wird nicht angezeigt.

Die estnische Sprache hat einige Traditionalis-men beibehalten – so werden einige geschrie-bene Formen noch benutzt, obwohl die meis-ten Sprecher sie anders aussprechen. DieMehrheit der Esten lässt in der Aussprache et-waa den Anfangslaut h weg, z. B. sagt man allobune anstatt hall hobune „ein graues Pferd“.

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A B (C) D E (F)G H I J K L MN O P (Q) R SZ Z T U V (W)Õ Ä Ö Ü (X) (Y)Einige Buchstaben (c, f, x, y) kommen nur infremdsprachigen Wörtern oder ausländischenEigennamen vor, die auch andere auf dem La-teinischen beruhende Zeichen (z. B. ø, å, ) ent-

Alphabet,Rechtschreibung,Aussprache

all obune und hall hobune

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Die ersten zusammenhängenden estnischenTexte stammen aus dem 16. Jahrhundert. Daserste Buch, das einen Text in Estnisch enthielt,wurde 1525 veröffentlicht. Es ist nicht erhaltengeblieben. Elf fragmentarische Seiten aus Lu-thers 1535 erschienenem Katechismus wurdengefunden, die von dem deutschen Pastor Si-mon Wanradt geschrieben und von dem estni-schen Geistlichen Johan Koell übersetzt wor-den waren. Das 17. Jahrhundert erlebte bereitsd i e Ve rö f fe n t l i c h u n g ve r s c h i e d e n e rHandbücher der estnischen Sprache (inDeutsch und Latein), zusammen mit deutsch-estnischen Wörterbüchern. Das erste dieser Arterschien 1637. Der Autor war ebenfalls eindeutscher Pastor – Heinrich Stahl.

Bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts kämpftenzwei Sprachversionen um den Status des Stan-dard-Estnischen: die nördlichen Sprache (Tal-linn) und die südliche (Tartu). Das Neue Testa-ment wurde 1686 im Tartuer Dialekt desSüdestnischen veröffentlicht. 1739 erschiendie erste vollständige Bibel-Übersetzung inestnischer Sprache. Da sie in der nördlichenSprache geschrieben war, gewann diese Formdes Estnischen ihre vorherrschende Stellung.Ein weiterer Grund für den Niedergang dersüdestnischen Sprache war der Brand Tartus,des Zentrums Südestlands, und die Deportati-on der Bevölkerung nach Russland 1708, als imGroßen Nordischen Krieg Russland und Schwe-den gegeneinander kämpften. Am Ende des19. Jahrhunderts war das Südestnische alsSchriftsprache praktisch verschwunden. Erstdie 1990er Jahre erlebten eine Wiederbele-bung der südestnischen Schriftsprache, dies-mal gestützt auf den Dialekt von Võru.

Bis zum Ende des 17. Jahrhunderts stand dieSchriftsprache unter dem starken Einfluss desDeutschen. Deutsche Entlehnungen wurdenoft unverändert im Wortschatz, der Struktur

u n d d e r P h r a s e o l o gi e ve r we n d e t ,hauptsächlich in religiösen Texten, die vondeutschen Geistlichen in einem Estnisch ge-schrieben wurden, das sich von der eigentlichgesprochenen Sprache unterschied. Die Recht-schreibung war uneinheitlich und bedientesich Elementen der lateinischen, niederdeut-schen und hochdeutschen Schreibweise.Während der Gegenreformation im frühen 17.Jahrhundert wurde eine auf dem Polnischenbasierende Schreibung in Südestland verwen-det.

Johan Hornung und Bengt Gottfried Forseliuswaren im späten 17. Jahrhundert die wesentli-chen Urheber einer Reform der estnischenSchriftsprache. Einige deutsche Konstruktio-nen wurden aufgegeben und ein strenges Sys-tem der Rechtschreibung angenommen, dasallerdings noch immer auf der deutschen Or-thographie beruhte.

Eine neue Reformwelle mit dem Ziel der Popu-larisierung der estnischen Schriftsprache ent-stand in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.1818 führte Otto Wilhelm Masing ein zusätzli-ches Graphem õ ein, um das Vokalphonemzwischen ö und o zu bezeichnen. In der Mittedes 19. Jahrhunderts erarbeitete Eduard Ah-rens eine neue, auf dem Finnischen basierendeRechtschreibung, die sich in den letzten Jahr-zehnten des 19. Jahrhunderts durchsetzte undheute noch benutzt wird.

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Die Geschichte derestnischenSchriftsprache

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Ein geängstetes, zerschlagenes Herz wirst du, Gott, nicht verachten

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Die estnische Sprache ist reich an Vokalen: dasVerhältnis zwischen Vokalen und Konsonantenliegt im Estnischen bei 45:55; die 26 estnischenPhoneme enthalten 9 Vokale: u, o, a, õ, ü, ö, ä,e, i (die Bewohner des westlichen Teils dergrößten Insel Saaremaa verwenden nur 8 Vo-kale und ersetzen õ durch ö. Die Sprecher vonVõru im Südosten haben zehn, da sie zwei un-terschiedliche õ benutzen). Ganze 36 Diphton-ge können aus den Vokalen gebildet werden,was zu interessanten Kombinationen führt(z. B. das zusammengesetzte Wort kõueöö-aimdus „die Vorahnung einer Gewitternacht“).Auch Vokale und Diphtonge können für sich al-lein bedeutungstragend sein: öö „Nacht“, õu„Hof“, ei „nein“. Einige estnische Kompositakönnen sogar vierfache Vokalkombinationenaufweisen, zum Beispiel kuuuurijate tööööjäääärel „eine Arbeitsnacht von Mondforschernam Eisrand“. Die estnische Sprache vermeidet

Konsonantenhäufungen, besonders am Wort-anfang. Diese kamen meist durch Lehnwörterins Estnische, z. B. tross „Seil“, kross „Groschen“usw. Das spätere Verschwinden von Vokalen imWortinneren – Synkope – führte zu zahlreichenKonsonantenhäufungen, sogar in eigentlichestnischen Wörtern. Konsonantengruppen be-stehen meist aus zwei Konsonanten, aber imWort vintsklema „sich winden“ stehen zum Bei-spiel fünf Konsonanten hintereinander.

Bis auf wenige Ausnahmen liegt die Hauptbe-tonung in estnischen Wörtern auf der erstenSilbe, die häufige Nebenbetonung auf ungera-den, nicht am Wortende stehenden Silben.

Klang

Kommentar:

Schreibung:

I — Verwendung fremder Buchstabenkaktipextut; vergleiche II, III pekstud, puruksI, II — das Vokalphonem õ wird durch öwiedergegeben— errapölkma, röhhutud, vergleiche III põlgaI, II — die Kürze des Vokals wird durch dendarauffolgenden Doppelkonsonanten angezeigtsüddame, süddant; vergleiche III südant

Grammatik:

, II — Verwendung des unbestimmten ArtikelsÖhe (...) süddame, üht (...) süddant; vergleiche III südantI deutsche Futur-Form saht (...) (mitte)errapölkma; vergleiche II, III (ei) laida,(ei) põlgaI — deutsche Form der Verneinung durch bejahteVerbform mit VerneinungspartikelSaht (...) mitte errapölkma; II – doppelte Verneinungmit Verneinungspartikel ei laida (...) mitte;Vergleiche III — ei põlgaI — falscher Objektkasus (Genitiv anstatt Partitiv) öhe(...) süddame;Vergleich II, III — üht (...) süddant, südant

Ein Beispiel:

Psalm 51:19b(nach Lutherbibel, Standardausgabe)

Ein geängstetes, zerschlagenesHerz wirst du, Gott, nichtverachten

I (1638)öhe ahastut nink katkipextutsüddame saht sinna Jummalmitte errapölgkma

II (1739)üht röhhutud ja russuks pekstudsüddant ei laida sa mitte,Jummal

III (1997)murtud ja purukslöödud südantei põlga Jumal

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Der Wortschatz des Standard-Estnischen istziemlich reich, denn er umfasst sowohl Wörterder nördlichen als auch der südlichen Dialekt-gebiete. Das Vokabular wird darüber hinausdurch häufige Wortbildungen mittels verschie-dener Affixe angereichert.

Ableitungen des Verbs nägema „zu sehen“ sindzum Beispiel: nägu „Gesicht“, nägematu„unsichtbar“, nägemine „Sehkraft“, nägemus„Vision“, nägemuslik „seherisch“, nägevus „Sicht“,nägija „Seher“, nägupidi „vom Sehen her (ken-nen)“, nägus „hübsch“, näht „Symptom“, nähta-matu „unsichtbar“, nähtav „sichtbar“, nähtaval„in Sicht“, nähtavalt „offensichtlich“, nähtavasti„anscheinend“, nähtavus „Sichtbarkeit“, nähtus„Erscheinung“, nähtu „das Gesehene“, nähtuma„ersichtlich sein“ usw.

Wortschatz

Der estnische Wortschatz besteht aus einhei-mischen estnischen Wörter und Lehnwörtern.Da die estnische Sprache viele Möglichkeitenfür Ableitungen eröffnet, wäre es richtiger, voneinheimischen Stämmen und entlehntenStämmen zu sprechen. Estnische Stämme sinddiejenigen, die die Sprache mit anderen finno-ugrischen Sprachen gemein hat oder die nurfür das Estnische typisch sind. Nach Meinungder Sprachwissenschaftler liegt das Verhältniszwischen estnischen und entlehnten Stämmenbei ca. 50:50.

Wenn man die internationalen Wörter mit grie-chischen und lateinischen Stämmen abzieht,beträgt der Anteil der estnischen Stämme so-gar zwei Drittel.

nägus „hübsch“

nähtamatu „unsichtbar“

nägu „Gesicht“

näotu “unansehnlich”

nähtav „sichtbar“

nägemine „Sehkraft“ nägemus „Vision“

nägupidi „vom Sehen her“

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Die Herkunft derLehnwörter im Estnischen(nach Huno Rätsep)

Estnisch wurde im Laufe seiner Geschichtelexikalisch auch z.B. durch das Französischeund in jüngerer Zeit durch das Englische

beeinflusst. Die Wörter haben sich oft soangepasst, dass ihr Ursprung nicht mehrabgeleitet werden kann:

Die Mehrzahl der russischen Entlehnungen ist

Jahrhunderte alt; nur wenige stammen aus der

Zeit der 50-jährigen sowjetischen Besetzung.

Frühe baltische Entlehnungen94-156 Stämme (seit dem 2.Jahrtausend v. Chr.)

Niederdeutsche Entlehnungen771-850 (seit dem 13.Jahrhundert)

Russische Entlehnungen 315-362Stämme (seit dem 14.Jahrhundert)

Frühe germanischeEntlehnungen 269-397 Stämme(bis ins 13. Jahrhundert)

Schwedische Entlehnungen105-148 Stämme (seit demspäten 13. Jahrhundert)

Hochdeutsche Entlehnungen486-520 Stämme (seit der Mittedes 16. Jahrhundert)

Niederdeutsch: Hochdeutsch:

schole > kool „Schule“ schleifen > lihvima

d k > tiik „Teich“ Schinken > sink

schüren > küürima „schrubben“ Zichorie > sigur

Slawisch / Russisch: Schwedisch:

gramota > raamat „Buch“ ost > juust „Käse“

okno > aken „Fenster“ flicka > plika „Mädchen“

kapusta > kapsas „Kohl“ tomte > tont „Gespenst“

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Die estnische Sprache wird durch diefolgenden Merkmale charakterisiert:

eine große Zahl von Fällen – 14 produktive Kasus;

kein grammatisches Geschlecht, weder bei den Substantiven noch bei den Personal-pronomina. Da das Personalpronomen te-ma sowohl einen Mann als auch eine Frau bezeichnen kann (gelegentlich sogar eine Sache), steht der Este nicht vor den Proble-men der Political correctness wie diejeni-

gen, der eine indogermanische Sprache sprechen;

keine Artikel (weder bestimmte noch un-bestimmte);

Unterscheidung von drei Quantitäten (Län-gen), sowohl bei den Vokalen als auch bei den Konsonanten. Die 2. und 3. Quantität wird in der geschriebenen Sprache nicht unterschieden; in diesem Fall werden die Bedeutung und die Aussprache des Wortesdurch den Kontext deutlich.

Diese Art des 3-Quantitäten-Systems wurdelange als einzigartig estnisch angesehen.Kürzlich haben jedoch Wissenschaftler ähnli-che Phänomene in einigen norddeutschen Di-alekten entdeckt. Man vermutet, dass sich das

3-Quantitäten-System im Estnischen und inden deutschen Dialekten gleichzeitig entwi-ckelt hat. Deutsch und Estnisch gehörten Jahr-hunderte lang dem selben Kulturraum an, derdurch die Hanse geprägt wurde.

koll „Gespenst“ kolli saba „der Schwanz eines Gespenst“ kardab kolli „fürchtet das Gespenst“

Vokal in der 1. Quantität V koli Trödel, Kram, PlunderVokal in der 2. Quantität V: kooli Genitiv von kool „Schule“Vokal in der 3. Quantität V:: kooli Partitiv von kool „Schule“

Konsonant in der 1. Quantität K koli Trödel, Kram, PlunderKonsonant in der 2. Quantität K: kolli Genitiv von koll „Gespenst“Konsonant in der 3. Quantität K:: kolli Partitiv von koll „Gespenst“

Eigenheitender estnischenSprache

Das System der drei Quantitätenist ein Schreckgespenst für jeden,der Estnisch lernt

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Die wichtigste Art, im Estnischen Wörter zu bil-den, ist die Anfügung abgeleiteter Affixe anden Stamm. Estnisch hat etwa hundert abge-

leitete Affixe, von denen fast alle (es gibt zweiAusnahmen: eba- und mitte-, "nicht-, un-") Suf-fixe sind.

Estnisch bezeichnet man morphologisch alsagglutinierende („anhängende“) Sprache. Deragglutinierende Charakter einer Sprache istdurch die Tatsache gekennzeichnet, dass dieMorpheme, die die grammatische Informationtragen, an die Wortstämme angehängt werdenund jedes dieser Morpheme nur eine Bedeu-tung hat. In Wirklichkeit entfernt sich das Estni-sche aber immer mehr von der Agglutinationhin zu einer verstärkten Flexion, bei der jedes

Morphem mehrere grammatische Bedeutun-gen tragen kann. Estnisch unterscheidet sichvon seinem nächsten Nachbarn – dem Finni-schen (das agglutinierend ist) – durch zahlrei-che Eigenheiten. Einige Wissenschaftler habensogar behauptet, dass das Lettische, eine indo-germanische Sprache und daher nicht ver-wandt mit dem Estnischen, typologisch demEstnischen näher stünde als das Finnische.

Täppidega lipsud sobivad erandlikele teatrijuhtidelegi(Gepunktete Krawatten stehen sogar außergewöhnlichen Theaterdirektoren)

täppi-de-ga „Punkt“ – Plural Komitativ (= mit)lipsu-d „Krawatte“ – Plural (mit dem deutschen Wort „Schlips“ verwandt)sobi-vad „passend“ – 3. Person Plural (-vad < va-d Partizip Präsenz Aktiv Plural)erandlike-le „außergewöhnlich“ Allativ Plural (= wohin)

erand-lik -> außergewöhnlich (-lik ist als Morphem dem Deutschen entlehnt, vgl. Neuhochdeutsch –lich)

era „außer“

erand „Ausnahme“

Sprachgeschichtlich kann der Satz auch folgendermaßen analysiert werden:

Era-nd-like-le teatri-juhti-de-le-gi „Theater“ – Genitiv – “Leiter” [d.h. Direktor] –Plural Allativ (= wohin) – Betonungspartikel (= sogar, auch, ebenfalls)

Der typische estnische Satz

Morphologie undWortbildung

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Estnisch ist eine Sprache mit vielen Kasus (Fäl-len), es werden 14 produktive Kasus verwen-det. Zum Vergleich: Russisch hat sechs,Deutsch vier und Englisch nur zwei Kasus. Die

Bedeutungen, die im Estnischen durch Fallen-dungen vermittelt wird, werden im Deutschenwie in den meisten anderen Sprachen durchPräpositionen zum Ausdruck gebracht.

Trotz der großen Zahl von Fällen fehlt der est-nischen Sprache der normale Objektfall, derAkkusativ, wie ihn die meisten indogermani-schen Sprachen kennen. Das direkte Objektwird im Estnischen im Singular entwederdurch den Nominativ, den Genitiv oder denPartitiv, im Plural ausschließlich durch den No-

minativ oder den Partitiv ausgedrückt. Die Ver-wendung des Genitiv Singular oder des Nomi-nativ Plural als Objektkasus drückt die Totalitätund Vollendetheit der Handlung aus, die aufdas Objekt gerichtet ist. Der Gebrauch des Par-titiv drückt die Partialität oder Unvollendetheitder Handlung aus.

Kasus

Estnische KasusFall Bedeutung

Grammatische Kasus1. Nominativ ilus tüdruk ein schönes Mädchen, das schöne Mädchen2. Genitiv ilusa tüdruku eines schönen Mädchens, ein schönes Mädchen

(als Voll-Objekt)3. Partitiv ilusa-t tüdruku-t ein schönes Mädchen (als Teil-Objekt)

Semantische KasusInnere Lokalkasus

4. Illativ ilusa-sse maja-sse in ein schönes Haus5. Inessiv ilusa-s maja-s in einem schönen Haus6. Elativ ilusa-st maja-st aus einem schönen Haus

Äußere Lokalkasus7. Allativ ilusa-le maja-le zu einem schönen Haus, an ein schönes Haus8. Adessiv ilusa-l maja-l auf einem schönen Haus, an einem schönen Haus9. Ablativ ilusa-lt maja-lt von einem schönen Haus

weitere Kasus10. Translativ ilusa-ks tüdruku-ks (Verwandlung) zu einem schönen Mädchen11. Terminativ ilusa tüdruku-ni bis zu einem schönen Mädchen12. Essiv ilusa tüdruku-na als schönes Mädchen13. Abessiv ilusa tüdruku-ta ohne ein schönes Mädchen14. Komitativ ilusa tüdruku-ga mit einem schönen Mädchen

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lammas „Shchaf”

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Das Objekt im Nominativ wird zum Beispielbeim Imperativ verwendet:

Während bei den semantischen Kasus jederFall durch eine eigene Endung gekennzeichnetist, haben bei den grammatischen Fällen derNominativ und der Genitiv, manchmal auchder Partitiv, keine Kasus-Endung. Gelegentlichist die Form für alle drei Fälle im Singular gleichund sie unterscheiden sich nur im Plural:

Die Fallendungen bei den semantischen Kasussind im Singular und Plural die selben, der Plu-ral wird durch Suffixe gekennzeichnet:

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lamba „vom Schaf”

Peeter, ehita laev (Nominativ,Vollobjekt)!

Peter, bau (ein) Schiff!

aber:

Peeter, ehita laeva (Partitiv, Teilobjekt)!Peter, bau (das) Schiff (weiter)!

Daher bedeutet der Satz

dass Peter ein Gedicht geschrieben hat, vondem nicht bekannt ist, ob er es vollendet hat.

Dagegen beschreibt

eine vollendete Handlung, bei der das Gedichtzu Ende geschrieben wurde.

In einem verneinenden Satz erlaubt die estni-sche Sprache dagegen nur den Partitiv als Ob-jektkasus (Teilobjekt):

Peeter kirjutas luuletust(Partitiv und Teilobjekt)

Peter schrieb (ein) Gedicht

Singular PluralNominativ maja m a j a - dGenitiv maja maja-dePartitiv maja maja-sid

Allativ Singularilusa-le tüdruku-le(„an ein schönes Mädchen“)

Allativ Pluralilusa-te-le tüdruku-te-le(„an schöne Mädchen“)

maja („Haus“)

Peeter kirjutas luuletuse(Genitiv und Vollobjekt)

Peter schrieb (ein) Gedicht

Peeter ei mõistnud seent (Teilobjekt)Peter verstand nicht den Pilz

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Im Estnischen unterscheidet man Präsenz, Im-perfekt, Perfekt und Plusquamperfekt. In dergesprochenen Sprache und in den Zeitungenkommt auch die analytische Futur-Konstruktion mit saama vor. Diese wird nachdem Vorbild des deutschen werden-Futurs ge-bildet: das flektierte Verb saama „bekommen,werden“ + das Supinum eines beliebigen an-deren Verbs, z. B. olema „sein“ -> saab olema„wird sein“, tulema „kommen“ -> saab tulema„wird kommen“ usw.

Verben werden im Aktiv und Passiv konjugiert.Sie kommen im Indikativ, Imperativ, Konjunktivoder in der indirekten Rede vor. Ein Verb kannentweder in bejahender oder verneinenderForm stehen.

Da die Konjugationsendung des Verbs klar diePerson kenntlich macht, brauchen die Perso-nalpronomina im allgemeinen nicht verwen-det werden, außer in der dritten Person desVerb olema (”zu sein”).

Verb

Person Singular Plural

1. (ma) armasta-n „ich liebe” (me) armasta-me „wir lieben”

2. (sa) armasta-d „du liebst” (te) armasta-te „ihr liebt”

3. (ta) armasta-b „er, sie, es liebt” (nad) armasta-va-d „sie lieben”

Peeter ei mõistnud seentPeter verstand den Piltz nicht

Nominativ Genitiv (Stamm)

uba „Bohne“ oapidu „Fest“ peolammas „Schaf“ lambamees „Mann“ mehenaine „Frau“ naise

Die Deklination hängt nicht von der Wortart ab– Substantive und Adjektive werden gleich de-kliniert. Gleichzeitig kongruiert der Numerusdes Adjektivs immer mit dem des Hauptworts.Die Deklination stimmt mit dem Hauptwort inzehn der 14 produktiven Fälle überein.

Wegen des Phonemwechsels (Stufenwechsel)ist der Stamm des Wortes manchmalgegenüber dem Nominativ, wie er inWörterbüchern angegeben ist, schwer zu er-kennen, z.B.:

Peter verstand den Piltz nicht

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In estnischen Wörterbüchern werden die Ver-ben sowohl im Infinitiv als auch im Supinumaufgelistet. Beim Verb „lieben“ lautet das Supi-num z. B. armasta-ma, der Infinitiv armasta-da.

Das Supinum war ursprünglich das Verbalsub-stantiv im Illativ; es hat seinen nominalen Cha-rakter bis heute erhalten. Es ist daher möglich,andere Kasusformen mit dem Supinum zusam-men zu bringen, z. B. Inessiv armastama-s„während des Liebens“, Elativ armastama-st„aus dem Lieben heraus“ und Abessiv armasta-ma-ta „ohne zu lieben“. Das Supinum, das im-mer auf –ma endet, wird zusammen mit Ver-

ben wie pidama „müssen“, hakkama„anfangen“ und minema „gehen“ verwendet(etwa ma pean minema „ich muss gehen“).

Der Infinitiv hat einen eher partitiven Charak-ter und wird bei anderen Gelegenheiten ver-wendet, etwa mit Verben wie tahtma „wollen“und võima „können“ (z. B. ma tahan teada „ichwill wissen“). Die regelmäßigen Infinitiv-Endungen sind –da und –ta.

Im Gegensatz zu den meisten indogermani-schen Sprachen und ähnlich wie andere finno-ugrische Sprachen benutzt das Estnische rela-tiv viele Postpositionen. Zum Beispiel sagt einEste anstatt all laua „unter dem Tisch“ laua all„dem Tisch unter“. Es gibt jedoch eine wach-sende Tendenz, Postpositionen im modernenEstnisch durch Präpositionen zu ersetzen, z. B.wird der Ausdruck teed mööda „des Wegsentlang“ immer mehr durch mööda teed„entlang des Wegs“ ersetzt. Kennzeichnend fürdas Estnische ist auch die relativ freie Wortstel-lung. Ein Satz kann ziemlich einfach umgebautwerden, ohne dass er grammatikalisch falschwird. In vielen anderen Sprache, so auch imDeutschen, wäre dies fast unmöglich. DerGrund für diesen Unterschied liegt darin, dassdas grammatische Verhältnis zwischen denWörtern durch Fallendungen angezeigt wird,im Deutschen hingegen, wo es keine solcheVielzahl und Eindeutigkeit von Fallendungengibt, durch die Stellung der Wörter zueinander.Wenn grammatische Verhältnisse durch Suffixeangezeigt werden, ist die Position von Wörternim Satz nicht mehr wichtig. Wenn aber keineFallendungen vorhanden sind, ist die Wortstel-lung die einzige Möglichkeit, um diese Bezie-hungen auszudrücken.

Syntax

Wie in den meisten europäischen Sprachen hatein typischer bejahender estnischer Satz dieStruktur SPO: Subjekt – Prädikat – Objekt:

Mari armastas PeetritMaria liebte Peter

Nominativ Partitiv (Partialobjekt,Nominativ: Peeter)

Subjekt Verb Objekt

In vielen Fällen aber, besonders in lyrischerSprache, kann die Wortstellung oft anders sein:

„Man sah oft Sterne am Himmel“

Tihti taevas tähti nähtiOft im-Himmel Sterne sah-man

Dieser Satz aus vier Wörtern kann auf 24 ver-schiedene Arten geschrieben werden, und derSinn ist immer noch verständlich:

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Tihti taevas tähti nähtiTihti taevas nähti tähtiTihti tähti taevas nähtiTihti tähti nähti taevasTihti nähti taevas tähtiTihti nähti tähti taevas

etc., etc.

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