Die EU auf der Suche nach Legitimation · riums bis zum Zweiten W eltkrieg die R egel und nicht die...

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Meinung und Debatte 15.01.13 / Nr. 11 / Seite 19 / Teil 01 NZZ AG Die EU auf der Suche nach Legitimation Zur Bewahrung des Friedens ist die EU nicht mehr so wichtig wie einst. Auch andere Begründungen, warum die Union vertieft werden sollte, haben an Gewicht verloren. Mehr Demokratie wäre ein Mittel, um dem Verlust an Glaubwürdigkeit zu begegnen. Von Lars Brozus Krieg ist in der Mitte Europas undenkbar gewor- den – eine bemerkenswerte Entwicklung für einen Kontinent, auf dem gewaltsame Auseinander- setzungen seit dem Zerfall des Römischen Impe- riums bis zum Zweiten Weltkrieg die Regel und nicht die Ausnahme waren. Die Verleihung des Friedensnobelpreises an die EU honoriert diesen Fortschritt. Aber gerade weil Krieg undenkbar ge- worden ist, reicht eine friedenspolitische Begrün- dung für eine überzeugende Legitimation einer «immer engeren Union» allein nicht mehr aus. Ein zweiter Legitimationsstrang basiert auf dem Versprechen, die wirtschaftliche Prosperität Euro- pas dauerhaft zu gewährleisten. Der Anspruch der EU richtet sich demnach darauf, die Union «globa- lisierungsfest» zu machen, damit die Bürgerinnen und Bürger vor den negativen Auswirkungen des weltweiten Wettbewerbs geschützt werden und ihre wirtschaftliche und soziale Teilhabe bewahrt bleibt. Als Voraussetzung dafür wird die kontinu- ierliche Integration der EU angesehen, die allein das Gewicht des Kontinents in einer Welt aufrecht- erhalten könne, die zunehmend von aussereuro- päischen Mächten geprägt sei. Schutz gegen die Globalisierung? Mit diesem Argument wird die von der EU und ihren Mitgliedstaaten vorangetriebene Globalisie- rungspolitik – die Entgrenzung ökonomischer Pro- duktionsprozesse und Handelsbeziehungen – ge- rechtfertigt. So soll Deregulierung auf nationaler Ebene über Regulierung auf europäischer Ebene aufgefangen werden. Wirksame Regulierung auf EU-Ebene aber setzt die Vertiefung der Integra- tion voraus. In dieser Logik muss der ökonomi- schen Integration, die im Euro ihren Ausdruck fin- det, die politische Integration folgen. Das Legitimationspotenzial dieser Begründung stösst indes ebenfalls an Grenzen. So wird die logi- sche Konsequenz der «immer engeren Union» von der britischen Regierung hinterfragt, die argumen- tiert, dass mehr Integration die falsche Antwort auf die Globalisierung sei. Dabei beruft sie sich auf die historische Erfahrung Europas, die durch den Wettbewerb der Staaten um die beste Lösung poli- tischer, ökonomischer und sozialer Probleme ge- prägt gewesen sei. Erst Vielfalt und Variabilität hätten die jahrhundertelange europäische Vor- machtstellung ermöglicht. Entsprechend solle sich die EU in ökonomischer Hinsicht auf den gemein- samen Markt und in politischer Hinsicht auf ihre Erweiterung beschränken, da beides zusammen für friedliche Beziehungen der Mitgliedstaaten unter- einander ausreichend sei. London übersetzt diese Position gegenwärtig in die politische Praxis und lässt eine umfassende Evaluation von Kosten und Nutzen der EU-Mitgliedschaft durchführen. Die schwindende Überzeugungskraft der Be- hauptung von der notwendigen Integration hängt aber noch viel mehr mit der konkreten Erfahrung vieler Bürgerinnen und Bürger zusammen, die in den letzten Jahren erleben mussten, wie wenig die Schutzvorkehrungen der EU ihre wirtschaftliche und soziale Teilhabe tatsächlich sichern konnten. Prompt wächst die politische Unzufriedenheit an- gesichts unwirksamer Partizipationsmöglichkeiten auf der nationalen Ebene, die in den Augen der Be- troffenen nichts wirklich Relevantes zu entschei- den hat. Von den wichtigen politischen Entschei- dungsprozessen, die vor allem in Berlin und Brüs- sel vermutet werden, sind sie indes ausgeschlossen – die grenzüberschreitende Teilnahme an Wahlen zu nationalen Parlamenten ist schliesslich nicht vorgesehen. Das Europäische Parlament agiert mangels Legitimation und Kompetenzen nicht auf Augenhöhe mit den Staats- und Regierungschefs. Diese Konstellation bedeutet ein doppeltes Demokratiedefizit: Defizitär sind die in ihrer realen Wirkung beschränkten Mitbestimmungs- möglichkeiten auf nationaler Ebene, defizitär ist aber auch die Relevanz des gemeinsamen Par- laments. Was fehlt, ist ein demokratisch legiti- mierter und gleichzeitig effektiver Supranatio- nalismus. Wer an der politischen Idee der EU – die im Kern besagt, dass das Ganze mehr sein soll als die Summe seiner Teile – festhalten will, muss in dieser Situation zusätzliche Legitimationsquel- len erschliessen. Wirtschaftliche und soziale Teil- habe fallen als Basis dafür auf absehbare Zeit aus, wenn man nicht den Weg der Transferunion be- schreiten will. In politischer Hinsicht gibt es aller- dings erheblichen Spielraum für eine Demokrati- sierung der EU. Demokratiepolitische Grund- sätze wie etwa der der proportionalen Repräsen- tation in den Brüsseler Institutionen müssten kon- sequent Anwendung finden. Konkret könnten beispielsweise die mitgliedstaatlichen Stimm- rechte und Mandatszahlen an die jeweilige Bevöl- kerungsstärke angeglichen werden. Gegenwärtig gilt hier das Prinzip der degressiven Proportio- nalität, das kleinere Mitgliedstaaten gegenüber grösseren besserstellt. Grenzüberschreitende Mitwirkung Zum Tragen kommen sollte dann aber auch ein weiterer demokratiepolitischer Grundsatz, nach dem die Betroffenen an der Entscheidungsfindung zu beteiligen sind. Hier geht es also darum, die Möglichkeiten grenzüberschreitender Mitwirkung am politischen Prozess zu verbessern. In der Summe läuft dies auf ein im Sinne der proportiona- len Repräsentation reformiertes Europäisches Par- lament hinaus, das über erheblich ausgeweitete

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Front 11.06.12 / Nr. 133 / Seite 1 / Teil 01

# NZZ AG

BÖRSEN UND MÄRKTE

Investoren wetten auf LockerungenInvestoren in den USA bringen sichzurzeit in Position, um von einer wei-teren quantitativen geldpolitischenLockerung zu profitieren.

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Meinung und Debatte 15.01.13 / Nr. 11 / Seite 19 / Teil 01

! NZZ AG

Die EU auf der Suche nachLegitimation

Zur Bewahrung des Friedens ist die EU nicht mehr so wichtig wie einst. Auch andereBegründungen, warum die Union vertieft werden sollte, haben an Gewicht verloren.Mehr Demokratie wäre ein Mittel, um dem Verlust an Glaubwürdigkeit zu begegnen.

Von Lars Brozus

Krieg ist in der Mitte Europas undenkbar gewor-den – eine bemerkenswerte Entwicklung für einenKontinent, auf dem gewaltsame Auseinander-setzungen seit dem Zerfall des Römischen Impe-riums bis zum Zweiten Weltkrieg die Regel undnicht die Ausnahme waren. Die Verleihung desFriedensnobelpreises an die EU honoriert diesenFortschritt. Aber gerade weil Krieg undenkbar ge-worden ist, reicht eine friedenspolitische Begrün-dung für eine überzeugende Legitimation einer«immer engeren Union» allein nicht mehr aus.

Ein zweiter Legitimationsstrang basiert auf demVersprechen, die wirtschaftliche Prosperität Euro-pas dauerhaft zu gewährleisten. Der Anspruch derEU richtet sich demnach darauf, die Union «globa-lisierungsfest» zu machen, damit die Bürgerinnenund Bürger vor den negativen Auswirkungen desweltweiten Wettbewerbs geschützt werden undihre wirtschaftliche und soziale Teilhabe bewahrtbleibt. Als Voraussetzung dafür wird die kontinu-ierliche Integration der EU angesehen, die alleindas Gewicht des Kontinents in einer Welt aufrecht-erhalten könne, die zunehmend von aussereuro-päischen Mächten geprägt sei.

Schutz gegen die Globalisierung?

Mit diesem Argument wird die von der EU undihren Mitgliedstaaten vorangetriebene Globalisie-rungspolitik – die Entgrenzung ökonomischer Pro-duktionsprozesse und Handelsbeziehungen – ge-rechtfertigt. So soll Deregulierung auf nationalerEbene über Regulierung auf europäischer Ebeneaufgefangen werden. Wirksame Regulierung aufEU-Ebene aber setzt die Vertiefung der Integra-tion voraus. In dieser Logik muss der ökonomi-schen Integration, die im Euro ihren Ausdruck fin-det, die politische Integration folgen.

Das Legitimationspotenzial dieser Begründungstösst indes ebenfalls an Grenzen. So wird die logi-sche Konsequenz der «immer engeren Union» vonder britischen Regierung hinterfragt, die argumen-tiert, dass mehr Integration die falsche Antwort aufdie Globalisierung sei. Dabei beruft sie sich auf diehistorische Erfahrung Europas, die durch denWettbewerb der Staaten um die beste Lösung poli-tischer, ökonomischer und sozialer Probleme ge-prägt gewesen sei. Erst Vielfalt und Variabilitäthätten die jahrhundertelange europäische Vor-machtstellung ermöglicht. Entsprechend solle sichdie EU in ökonomischer Hinsicht auf den gemein-samen Markt und in politischer Hinsicht auf ihreErweiterung beschränken, da beides zusammen fürfriedliche Beziehungen der Mitgliedstaaten unter-einander ausreichend sei. London übersetzt diesePosition gegenwärtig in die politische Praxis undlässt eine umfassende Evaluation von Kosten und

Nutzen der EU-Mitgliedschaft durchführen.Die schwindende Überzeugungskraft der Be-

hauptung von der notwendigen Integration hängtaber noch viel mehr mit der konkreten Erfahrungvieler Bürgerinnen und Bürger zusammen, die inden letzten Jahren erleben mussten, wie wenig dieSchutzvorkehrungen der EU ihre wirtschaftlicheund soziale Teilhabe tatsächlich sichern konnten.Prompt wächst die politische Unzufriedenheit an-gesichts unwirksamer Partizipationsmöglichkeitenauf der nationalen Ebene, die in den Augen der Be-troffenen nichts wirklich Relevantes zu entschei-den hat. Von den wichtigen politischen Entschei-dungsprozessen, die vor allem in Berlin und Brüs-sel vermutet werden, sind sie indes ausgeschlossen– die grenzüberschreitende Teilnahme an Wahlenzu nationalen Parlamenten ist schliesslich nichtvorgesehen. Das Europäische Parlament agiertmangels Legitimation und Kompetenzen nicht aufAugenhöhe mit den Staats- und Regierungschefs.

Diese Konstellation bedeutet ein doppeltesDemokratiedefizit: Defizitär sind die in ihrerrealen Wirkung beschränkten Mitbestimmungs-möglichkeiten auf nationaler Ebene, defizitär istaber auch die Relevanz des gemeinsamen Par-laments. Was fehlt, ist ein demokratisch legiti-mierter und gleichzeitig effektiver Supranatio-nalismus. Wer an der politischen Idee der EU –die im Kern besagt, dass das Ganze mehr sein sollals die Summe seiner Teile – festhalten will, mussin dieser Situation zusätzliche Legitimationsquel-len erschliessen. Wirtschaftliche und soziale Teil-habe fallen als Basis dafür auf absehbare Zeit aus,wenn man nicht den Weg der Transferunion be-schreiten will. In politischer Hinsicht gibt es aller-dings erheblichen Spielraum für eine Demokrati-sierung der EU. Demokratiepolitische Grund-sätze wie etwa der der proportionalen Repräsen-tation in den Brüsseler Institutionen müssten kon-sequent Anwendung finden. Konkret könntenbeispielsweise die mitgliedstaatlichen Stimm-rechte und Mandatszahlen an die jeweilige Bevöl-kerungsstärke angeglichen werden. Gegenwärtiggilt hier das Prinzip der degressiven Proportio-nalität, das kleinere Mitgliedstaaten gegenübergrösseren besserstellt.

Grenzüberschreitende Mitwirkung

Zum Tragen kommen sollte dann aber auch einweiterer demokratiepolitischer Grundsatz, nachdem die Betroffenen an der Entscheidungsfindungzu beteiligen sind. Hier geht es also darum, dieMöglichkeiten grenzüberschreitender Mitwirkungam politischen Prozess zu verbessern. In derSumme läuft dies auf ein im Sinne der proportiona-len Repräsentation reformiertes Europäisches Par-lament hinaus, das über erheblich ausgeweitete

Page 2: Die EU auf der Suche nach Legitimation · riums bis zum Zweiten W eltkrieg die R egel und nicht die A usnahme war en. Die V erleihung des F riedensnobelpr eises an die EU honoriert

Front 11.06.12 / Nr. 133 / Seite 1 / Teil 01

# NZZ AG

BÖRSEN UND MÄRKTE

Investoren wetten auf LockerungenInvestoren in den USA bringen sichzurzeit in Position, um von einer wei-teren quantitativen geldpolitischenLockerung zu profitieren.

Seite 21

Meinung und Debatte 15.01.13 / Nr. 11 / Seite 19 / Teil 02

! NZZ AG

Rechte der Beteiligung nicht nur an den Entschei-dungen der EU, sondern auch an denen der Mit-gliedsländer verfügen sollte. Eine Entwicklung derEU auf der Grundlage effektiver demokratischerSelbstbestimmung könnte ihre Legitimität jenseitsder friedenspolitischen oder substanzloser sozio-ökonomischer Begründungen sichern helfen. Ge-rade die Befürworter einer stärkeren Integrationsollten sich mit dieser Option auseinandersetzen... . . .. . . .. . . .. . . .. . . .. . . .. . . .. . . .. . . .. . . .. . . .. . . .. . . .. . . .. . . .. . . .. . . .. . . .. . . .. . . .. . . .. . . .. . . .. . . .. . . .. .

Lars Brozus forscht bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) inBerlin über die EU.