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Gedenkstätte Patricia Birkenfeld, Regine Gabriel, Christian Zeuch Die Euthanasie Gedenkstätte Hadamar – Materialsammlung Eigenständiger Rundgang für SchülerInnen aller Schulformen Abb. 1

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Gedenkstätte

Patricia Birkenfeld, Regine Gabriel, Christian Zeuch

Die Euthanasie Gedenkstätte Hadamar –MaterialsammlungEigenständiger Rundgang für SchülerInnen aller Schulformen

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Patricia Birkenfeld, Regine Gabriel, Christian Zeuch Die Euthanasie Gedenkstätte Hadamar – MaterialsammlungEigenständiger Rundgang für SchülerInnen aller Schulformen

Herausgeber:Gedenkstätte HadamarLWV-Hessen, Mönchberg 8, 65589 Hadamar

Stand: Juli 2016

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Vorwort

Die pädagogische Arbeit der Gedenkstätte Hadamar ist seit Jahrzehnten gekenn-zeichnet durch den festen Bestandteil eines begleiteten Besuchs durch die Mitar-beiterInnen der Gedenkstätte. Es ist uns wichtig, durch den besonderen Stellen-wert dieses Gedenkstättenbesuchs, die Chancen der Vermittlung, die Lehrende von außen mitbringen, zu nutzen. Auf diesem Weg sind vielfältige methodische Zugänge möglich.

Die außerordentlich große Nachfrage an Besuchsterminen führt nun allerdings dazu, dass wir im Einzelfall von unserem Prinzip „keinen Gruppenbesuch ohne Begleitung“ vorübergehend Abschied nehmen müssen.Um LehrerInnen dennoch eine inhaltliche Sicherheit für einen Besuch ohne Füh-rung durch die Gedenkstätten-MitarbeiterInnen zu geben, stellen wir im Folgen-den verschiedene Materialien und Arbeitsanregungen vor. Es ist unerlässlich, dass ein Besuch der Gedenkstätte Hadamar mit wenigsten 2-3 Unterrichtsstunden vorbereitet wird. Der anschließende eigenständige Besuch vor Ort nimmt dann einen Zeitraum von 1,5 – 2 Zeitstunden in Anspruch. Es ist nach unserer Erfahrung unbedingt notwendig, dass ein solcher Besuch im Unterricht mit wenigstens 1 Unterrichtsstunde nachbereitet wird.Die vorliegenden Materialien können als PDF-Dateien heruntergeladen oder als Arbeitsheft käuflich erworben werden. Für die Vorbereitung weisen wir in der Literaturliste nochmals auf weiterführende Schriften hin.

Bevor Sie allerdings Ihre Gruppe ohne Begleitung von unserer Seite anmelden können, sollten Sie an einer Schulung teilgenommen haben. Wir bieten zweimal im Jahr eine Schulung für LehrerInnen an, die Sie fit machen wollen für einen eigenständigen Besuch mit Ihrer Klasse. Diese Schulungstermine sind auf unse-rer Homepage einzusehen. Eine Anmeldung ist erforderlich. Ein Unkostenbeitrag wird erhoben. Aktuelle Schulungstermine finden Sie auf unserer Homepage:www.gedenkstaette-hadamar.de

Patricia Birkenfeld, Regine Gabriel, Christian Zeuch, Dezember 2013

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Teil 1Materialien für die begleitende LehrkraftIn diesem Teil finden Sie vertiefende Informationen zu den Stationen des Rundgangs, die Sie für die eigene Vorberei-tung und zur Gestaltung vorbereitender Unterrichtsstunden nutzen können.

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Eugenisches Denken vor 1933 und die Anfänge der NS- Rassenideologie

Die Zunahme der in Anstalten verwahrten Geisteskranken hatte seit dem Ende des 19. Jahrhunderts unterschiedliche Politiker und Wissenschaftler beschäftigt. Die große Zahl psychisch Kranker und geistig behinderter Menschen geriet in den Blickwinkel sozialreformerischer Debatten. Beson-ders besorgniserregend erschien die Unübersehbarkeit der verschiedenen Gruppen von sogenannten „asozialen“ und „unproduktiven“ Menschen in einer Zeit, in der Arbeitskräfte für die anwachsende Industrie und den parallel dazu ent-stehenden Dienstleistungsbereich gebraucht wurden. Die wissenschaftliche Welt befand sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts in der Phase der biologischen Weltdeutung. Die Übertragung biologischer Modelle auf gesellschaftliche Phänomene war die Grundlage des sogenannten „Sozial-darwinismus“. Die Theorie Darwins von der natürlichen Auslese der Arten wurde auf menschliche Gesellschaften übertragen. Sie basierte auf der Entdeckung der Abstam-mungslehre durch Charles Darwin 1859. Die Idee der Züch-tung des idealen Menschen durch Auslese und damit die Lösung der sozialen Probleme manifestierte sich. Das dar-winsche Selektionsprinzip „Höherentwicklung der Individuen durch Auslese“ wurde auf die aktuellen gesellschaftlichen Krisen übertragen. Der „Kampf ums Dasein“ und das „Über-leben der Tüchtigsten“ waren neue Schlagwörter und politi-sche Parolen. Die Entdeckung der Vererbungsgesetze durch Gregor Mendel kam hinzu. Es entwickelte sich die „Eugenik“, deren Ziel es war, durch Auslese die Erbmasse der mensch-lichen Rassen zu verbessern. Etwa gleichzeitig setzte sich auch die von dem Franzosen Arthur Gobineau entwickelte Rassentheorie in Deutschland durch, in der die Menschen in höher- und minderwertige Rassen eingestuft wurden. In dieser Rassentheorie vereinten sich sozialdarwinistische und rassistische Elemente – das Ziel war die Menschenzüchtung. Aus „Eugenik“ und Rassentheorie entwickelte sich Ende des 19. Jahrhunderts die Rassenhygiene.Unter diesen Bedingungen institutionalisierte sich in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts die Rassenhygiene in Deutschland. Es wurde vom Staat eine gründliche Erhebung über die Volksgesundheit verlangt, denn die Zunahme der Selbstmorde, das familiäre Erlöschen der Fortpflanzungsfä-higkeit, die wachsende Zahl der in Anstalten verpflegten Irr-sinnigen und das rapide Sterben von Jugendlichen könne nur durch gezielte rassenhygienische Maßnahmen beendet und einer Entartung Einhalt geboten werden. Rassenhygieniker forderten die „Ausmerze, Ausjätung und Ausschaltung“ der Untüchtigen aus dem Leben der Rasse. Diese Vorstellungen der Rassenhygieniker von künstlicher Zuchtwahl, Ausmerze der Minderwertigen und Auslese verbreiteten sich mit zuneh-mender gesellschaftlicher Krise während der zwanziger Jah-re über die Universitäten hinaus und erreichten ein breites Publikum. Die Leitlinien der späteren NS-Gesundheitspolitik griffen auf diese Vorstellungen zurück.Das Buch „Die Freigabe der Vernichtung unwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form“ von dem Juristen Prof. Karl Binding und dem Psychiater Dr. Alfred Hoche löste 1920 eine Dis-kussion über die Tötung sogenannter Erbkranker aus, deren Folgen auch schon in vornationalsozialistischer Zeit die An-staltspsychiatrie und ihre Insassen belasten sollten. Die bei-den Autoren plädierten nicht nur für die Freigabe der Tötung unheilbar Kranker auf eigenes Verlangen, sondern auch für die Tötung „lebensunwerten Lebens“, sprachen von „Ballas-texistenzen“ und „Minderwertigen“ und meinten damit einen

Teil der in Anstaltspflege untergebrachten Geisteskranken. Sie scheuten sich auch nicht bei der Argumentation für die Tötungen darauf hinzuweisen, wie viel Geld die Geisteskran-ken-Fürsorge den Staat kostete. So führte die Frage nach der Finanzierung von Anstaltsun-terbringung zu der Forderung nach radikalerem Vorgehen gegen die „Minderwertigen“. Diese Forderungen wurden immer lauter, die Lebensbedingungen bestimmter Anstalts-insassen auf ein Mindestmaß zu reduzieren. Eine gefährliche Stimmungslage war entstanden. Während im Parteiprogramm der NSDAP unter der Rubrik Sozialpolitik keine gesundheitspolitischen Ziele formuliert worden waren, wurden sie in Adolf Hitlers „Mein Kampf“ für die chronisch und angeblich erbkranken Menschen sehr deutlich vorgestellt. Langfristiges Ziel der rassistisch aufge-ladenen NS-Gesundheitspolitik war die Herstellung eines „rassenreinen und rassentüchtigen arischen Volkskörpers“. Die ideologischen Wurzeln kamen, wie bereits dargelegt, aus dem Sozialdarwinismus, der Rassentheorie und der Rassenhygiene. Insbesondere die Rassenhygiene lieferte ab 1933 die „wissenschaftliche“ Basis, auf der die „auslesende“ und „ausmerzende“ NS-Gesundheitspolitik aufgebaut war. Diese Gesundheitspolitik stellte das bisher radikalste Pro-gramm zur Steuerung der Bevölkerungsentwicklung in der Geschichte dar und wurde bestimmend für die zwölf Jahre des „Dritten Reichs“. Sie diskriminierte psychisch Kranke und geistig Behinderte, Lebensschwache und sozial Schwache zu Menschen dritter Klasse, nahm ihnen erst das Recht auf Hei-rat und Kinder und zum Schluss das Leben. Zudem wurden die Kosten der Pflege angeblich erblich Kranker propagan-distisch dargestellt und schon im Schulunterricht behandelt, um in der breiten Bevölkerung Zustimmung zu gewinnen.

Vgl.: LWV (Hg.): Verlegt nach Hadamar. Die Geschichte einer NS-Euthanasie“-Anstalt. Begleitband zur Ausstellung. 3. Auf-lage. Kassel, 2002. S. 32-37.

Vgl.: Regine Gabriel/Bärbel Maul/Peter Sandner: Informa-tions- und Arbeitsmaterialien für den Unterricht zum Thema „Euthanasie“-Verbrechen im Nationalsozialismus, Redaktion: Bettina Winter/Hubert Hecker, hrsg. vom Landeswohlfahrts-verband Hessen (Unterrichtsmaterialien 1), 3. Aufl., 2005.

(Text erstellt von Patricia Birkenfeld)

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Zwangssterilisationen 1933 – 1945 aufgrund des „Erbgesundheitsgesetzes“

In den 1930er Jahren wurde die Rassenhygiene zu einer Leitwissenschaft im nationalsozialistischen Deutschland. Am 1. Januar 1934 trat das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ in Kraft. Es handelte sich bei diesem Gesetz z.T. um den preußischen Gesetzesentwurf von 1932, der aber in Inhalt und Ausführung radikalisiert worden war. Wichtigste Änderung gegenüber dem preußischen Gesetzesentwurf war die Einführung des Zwangs zur Sterilisation.Der Hadamarer Direktor Dr. Otto Henkel (1876-1956) be-tonte die aus seiner Sicht bestehende Notwendigkeit dieses 1934 in Kraft getretenen Zwangssterilisationsgesetzes: Man habe in der Anstalt Hadamar „in den letzten Jahren sehen können, wie verheerend erbkranker Nachwuchs auf das Volksganze gewirkt hat.“ Henkel schloss seinen Bericht mit dem programmatischen Schlusssatz: „Erster Grundsatz aller Rassenhygiene ist: Ausmerzung der Entarteten und Erhaltung und Förderung der Hochwertigen.“ Erbkrank war im Sinne dieses Zwangssterilisationsgesetzes, wer an folgenden Krankheiten litt:„1. angeborener Schwachsinn, 2. Schizophrenie, 3. zirkulä-rem (manisch-depressivem) Irresein, 4. erblichem Veitstanz (Huntingtonsche Chorea), 5. erblicher Blindheit, 6. erblicher Taubheit, 8. schwerer körperlicher Mißbildung“. Wer an „schwerem Al-koholismus“ litt, konnte ebenfalls zwangssterilisiert werden. Ab 1934 beteiligte die Landesheilanstalt Hadamar sich an der Umsetzung des Zwangssterilisationsgesetzes. Erbgesund-heitsgerichte, besetzt mit einem Juristen als Vorsitzendem und zwei Ärzten als Beisitzern, entschieden über Zwangs-sterilisationen. Durch das Gesetz erhielten die Anstaltsleiter der Heil- und Pflegeanstalten ausdrücklich die Berechtigung, Sterilisationsanträge zu stellen. 1935 wurden diese Anträ-ge offenbar so sehr zur Routinehandlung für die Direkto-ren, dass der Bezirksverband ihnen zur Arbeitserleichterung Formulare für die Antragstellung druckte. Die meisten Steri-lisationsanträge aus Hadamar wurden vor dem Erbgesund-heitsgericht in Frankfurt am Main entschieden. Dazu forderte das EGG die gesamte Krankengeschichte und ein Gutachten über die zu sterilisierende Person an. Zur Überprüfung des Geisteszustandes wurde ein Intelligenztest durchgeführt. Die Umsetzung der Zwangssterilisation der Hadamarer Patien-tinnen und Patienten geschah nicht in der Anstalt Hadamar selbst, sondern in der Regel in einer speziellen Operations-abteilung, die der Bezirksverband in seiner Anstalt Herborn eingerichtet hatte.Ein exemplarischer Blick auf das Jahr 1935 verdeutlicht den Umfang dieser Zwangsmaßnahme: In zwölf Monaten wur-den 171 Hadamarer Anstaltsinsassen (141Frauen und 30 Männer) durch Ärzte zwangsweise unfruchtbar gemacht. In den Jahren 1934 – 1945 sind in Deutschland etwa 400.000 Menschen zwangssterilisiert worden. Es traf vor al-lem entlassungsfähige „leichte Anstaltsfälle“, Hilfsschüler so-wie sozial Schwache und „Auffällige“ und damit in der Regel Menschen, die sich auf dem bürgerlichen Wege gegen die Sterilisation nicht wehren konnten. Die meisten Sterilisationsanträge wurden mit der sehr allge-meinen Diagnose „angeborener Schwachsinn“ und der sehr unsicheren „Schizophrenie“ begründet. Diese Diagnosen konnten besonders missbraucht werden, um Minderbega-bung und soziale Unangepasstheit sanktionieren zu können. Nur die vorhandene Akzeptanz für das Gesetz machte die schnelle Durchführung möglich. Die Durchführung der

Zwangssterilisierungen in dieser Größenordnung wäre ohne die Zuarbeit einer Vielzahl von Ärzten nicht denkbar gewe-sen.

Vgl.: Peter Sandner: Die Landesheilanstalt Hadamar 1933-1945 als Einrichtung des Bezirksverbands Nassau (Wiesba-den). In: Uta George, Georg Lilienthal, Volker Roelcke, Peter Sandner, Christina Vanja (Hg.): Heilstätte, Tötungsanstalt, Therapiezentrum Hadamar, Marburg 2006, S. 136 – 155.

Vgl.: Regine Gabriel/Bärbel Maul/Peter Sandner: Informa-tions- und Arbeitsmaterialien für den Unterricht zum Thema „Euthanasie“-Verbrechen im Nationalsozialismus, Redaktion: Bettina Winter/Hubert Hecker, hrsg. vom Landeswohlfahrts-verband Hessen (Unterrichtsmaterialien 1), 3. Aufl., 2005.

(Text zusammengestellt von Patricia Birkenfeld)

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Erste Mordphase (Januar 1941 - August 1941)

Die Vorbereitungen für die systematische Tötung von „le-bensunwertem Leben“ begannen im Sommer 1939. Um Patienten von Heil- und Pflegeanstalten zu selektieren und zu töten, wurde eine eigene Bürokratie aufgebaut. Zu ihren führenden Köpfen zählten unter anderem NSDAP-Reichslei-ter Philipp Bouhler und der Mediziner Karl Brandt, der Hitler in allen gesundheitspolitischen Fragen beriet. Die Mordzen-trale hatte ihren Sitz in Berlin, in der Tiergartenstraße 4. Sie wird daher seit den Nachkriegsprozessen, die zur Ahndung der „Euthanasie“-Verbrechen angestrengt wurden, als „T4“ bezeichnet.Während die „T4“-Zentrale die Erfassung der Psychiatriepati-enten im Herbst 1939 vorbereitete, unterzeichnete Hitler auf privatem Briefbogen im Oktober, rückdatiert auf den 1. Sep-tember, den Beginn des Krieges, eine allgemeine Tötungser-mächtigung:„Reichsleiter Bouhler und Dr. med. Brandt sind unter Ver-antwortung beauftragt, die Befugnisse namentlich zu bestim-mender Ärzte so zu erweitern, dass nach menschlichem Er-messen unheilbar Kranken bei kritischster Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann.“ Die „T4“- Zentrale war in vier Abteilungen gegliedert, die in der Öffentlichkeit wie selbstständige Institutionen handelten, damit die Kanzlei des Führers und die Medizinalabteilung des Reichsinnenministeriums nach außen hin nicht in Er-scheinung traten: „Die Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten“ verschickte Meldebogen, die von den An-stalten auszufüllen waren. Sie dienten zur Erfassung der zu tötenden Kranken. Auf diesem Wege beabsichtigte die „T4“, arbeitsunfähige, als unheilbar betrachtete und im Sinne der NS-Rassenideologie „minderwertige“ Patient/innen/en aus-zusondern. Eigens bestellte ärztliche „Gutachter“ entschie-den anhand der Meldebogen, ob der Patient getötet werden sollte oder ob er weiterleben durfte. Die „Gemeinnützige Krankentransport GmbH“ (Gekrat) erstellte anhand der begutachteten Meldebogen die Verlegungslisten und holte die Mordopfer mit ihren berüchtigten grauen Omnibussen ab. Die „Zentralverrechnungsstelle Heil- und Pflegeanstal-ten“ rechnete die Pflegekosten mit den Kostenträgern ab. Die „Gemeinnützige Stiftung für Anstaltspflege“ fungierte als Arbeitgeber für die rund 400 „T4“-Angestellten und schloss Mietverträge ab.Die „T4“-Zentrale errichtete insgesamt sechs Tötungsanstal-ten (Brandenburg, Grafeneck in Württemberg, Schloss Hart-heim bei Linz/Donau, Sonnenstein bei Pirna, Bernburg an der Saale und Hadamar bei Limburg), in denen die Patien-ten seit Januar 1940 durch Kohlenmonoxydgas erstickt und ihre Leichen anschließend sofort eingeäschert wurden. Jede dieser Gasmordanstalten hatte ihr regionales Einzugsgebiet. Hadamar wurde als letzte Tötungsanstalt eingerichtet. Im November und Dezember 1940 wurde die Tötungsanlage mit Gaskammer, Sektionsraum und zwei Verbrennungsöfen im Keller der neuen „T4“-Anstalt auf dem Mönchberg ein-gebaut. Jeder Gasmordanstalt waren so genannte „Zwischenan-stalten“ zugeordnet. Dies waren Heil- und Pflegeanstalten, welche die für den Tod bestimmten Patienten aus ihren Ur-sprungsanstalten für mehrere Wochen aufnahmen, bis sie in die jeweilige Tötungsanstalt weitertransportiert wurden. Das System der Zwischenanstalten sollte die Verlegungswe-ge der Mordopfer verschleiern helfen und die Organisation des Massenmordes effizienter gestalten. Hadamar waren

neun Zwischenanstalten zugeordnet: Eichberg, Herborn, Id-stein, Scheuern und Weilmünster in Hessen, Weinsberg und Wiesloch im heutigen Baden-Württemberg, Galkhausen im heutigen Nordrhein-Westfalen und Andernach im heutigen Rheinland-Pfalz. Die Gasmorde in Hadamar begannen am 13. Januar 1941. Sie liefen nach gleichem Schema ab. Mit maximal drei Ge-krat-Bussen, die in Hadamar stationiert waren, wurden die Patienten aus den Zwischenanstalten abgeholt. Nach ihrer Rückkehr nach Hadamar fuhren sie in eine hölzerne Bus-garage, die im Innenhof der Anstalt errichtet worden war. Die Patienten durften die Busse erst verlassen, wenn die Tore verschlossen waren. Sie sollten somit vor fremden Blicken abgeschirmt sein und keine Gelegenheit zur Flucht haben. Zwischen der Busgarage und dem gegenüberliegenden Sei-teneingang der Anstalt befand sich ein hölzerner gedeckter Schleusengang. Durch diesen wurden die Patienten in das Hauptgebäude geführt. Es wurde ein normaler Anstaltsbetrieb vorgetäuscht. In ei-nem großen Bettensaal mussten sich die Ankommenden ausziehen und bereithalten für die angebliche Aufnah-meuntersuchung. Zunächst wurde anhand der mitgeschick-ten Krankenakten eine Identitätskontrolle durchgeführt. Die anschließend einzeln vorgenommene Vorstellung beim Arzt diente dazu, aus einer in der „T4“-Zentrale zusammenge-stellten Liste eine angebliche Todesursache herauszusuchen, die nicht im Widerspruch stand zu den Befunden in der Kran-kenakte. Außerdem markierte der Arzt einen Patienten, wenn er Goldzähne trug oder einen wissenschaftlich interessan-ten Krankheitsfall darstellte. Nach der Anfertigung von drei Fotographien (Frontal- und Seitenaufnahme des Kopfes und eine Ganzkörperaufnahme) zu Dokumentationszwecken wurden die Patienten vom Pflegepersonal in den Keller ge-führt und geleitet sie in die als Duschraum getarnte Gaskam-mer. Dann ließ der Arzt das Kohlenmonoxydgas einströmen. Nachdem der Tod eingetreten war, zerrten die „Brenner“ die Leichen aus der Kammer und verbrannten sie in den beiden Krematorien, die im Nebenraum aufgestellt waren. Zuvor waren den gekennzeichneten Leichen die Goldzähne aus-gebrochen und die Gehirne entnommen worden. Somit wa-ren die Patienten noch am Tag ihrer Ankunft ermordet und ihre Leichen beseitigt worden. Insgesamt wurden so mehr als 10.000 Menschen ermordet.Am 24. August 1941 ließ Hitler die Gasmorde einstellen. Er reagierte damit auf die Predigt des Bischofs von Münster, Clemens August Graf von Galen, in der dieser drei Wochen vorher die „Euthanasie“ – Aktion öffentlich als Mord ange-prangert hatte. In der „T4“- Zentrale glaubte man zunächst an ein taktisches Manöver, um die Bevölkerung zu beruhi-gen. Erst als feststand, dass die Gasmorde nicht mehr auf-genommen würden, ordnete Berlin an, die Tötungsanlage in Hadamar abzubauen. Daraufhin wurden bis zum Som-mer 1942 die technischen Installationen für die Gaskammer entfernt, der Kamin für die Krematorien abgerissen und die beiden Verbrennungsöfen demontiert.

Vgl.: Georg Lilienthal: Gaskammer und Überdosis. Die Lan-desheilanstalt Hadamar als Mordzentrum (1941-1945). In: Uta George, Georg Lilienthal, Volker Roelcke, Peter Sandner, Christina Vanja (Hg.): Heilstätte, Tötungsanstalt, Therapie-zentrum Hadamar, Marburg 2006, S. 156-175.

(Text zusammengestellt von Patricia Birkenfeld)

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Zweite Mordphase (1942-1945)

Der Stop der Gasmorde im Sommer 1941 bedeutete nicht das Ende der „Euthanasie“-Morde, sondern einen Wechsel in der Verantwortlichkeit, der Organisation und der Tötungs-methode. Die Morde wurden nicht mehr von einer Reichs-zentrale und für jeden einzelnen Fall angeordnet, sondern Länder- oder Provinzialverwaltungen erteilten pauschale Tö-tungsermächtigungen. Selektion und Transport der Opfer in einzelne geographisch ausgewählte Tötungsanstalten wur-den nicht mehr zentral von Berlin aus für das gesamte Reich gesteuert. An ihre Stelle traten lokale und regionale Maß-nahmen, die unter Umständen dazu führten, dass in einem Verwaltungsbereich flächendeckend gemordet wurde, zum Beispiel in den Anstalten des Bezirksverbandes Nassau (Eich-berg, Hadamar, Idstein und Weilmünster). Die Planungen der Morde konnten aber auch über die Region ausgreifen und die „T4“ einbeziehen, z. B. als Koordinator von Patien-tentransporten von einem Reichsteil in den anderen. Schließlich wurde der Massenmord in der Gaskammer ab-gelöst durch den individualisierten, vom Täter eigenhändig ausgeführten Mord mit überdosierten Medikamenten, die in Tablettenform oder als Injektion verabreicht wurden. Er war der Schlusspunkt, wenn Hungerkost und vorenthaltene me-dizinische Versorgung nicht schnell genug zum Ziel geführt hatten. Für diese Form des Krankenmords in der zweiten Phase wurde der Begriff der „regionalen Euthanasie“ oder der „regionalisierten ‚Euthanasie‘“ geprägt.

Als feststand, dass die Gasmorde nicht mehr aufgenommen werden sollten, richtete man die Anstalt wieder zur Unter-bringung von 500 bis 600 Patient/inn/en her. Hadamar sollte wieder die Funktion einer zentralen Tötungsanstalt übernehmen, die nach Außen den Schein eines normalen Anstaltsbetriebs erwecken sollte.Nach einer Pause von einem Jahr wurden die gezielten Tö-tungen wieder aufgenommen. Der erste Transport kam am 13. August 1942 mit 53 Patienten aus Bremen. Der letzte traf mit 36 Patienten am 24. März 1945 in Hadamar ein, zwei Tage bevor amerikanische Truppen in Hadamar einmar-schierten. Insgesamt wurden in dieser Zeit 4.861 Patienten dorthin verlegt, von denen bis zum 26. März 1945 ca. 4.500 starben. Dies entspricht einer Sterblichkeit von 91 Prozent.“

Verantwortlich für die Durchführung der Morde waren der Verwaltungsinspektor Klein als faktischer Leiter der Anstalt und der Chefarzt Dr. Adolf Wahlmann, der zugleich der ein-zige Arzt war. Wahlmann hielt jeden Morgen mit der Ober-schwester Irmgard Huber und dem Oberpfleger Heinrich Ruoff eine Konferenz ab, in der die zu tötenden Patienten bestimmt wurden. Die Vorschläge stammten zum Teil vom Pflegepersonal. Die Namen der Mordopfer wurden auf ei-nen Zettel geschrieben, der den Nachtschwestern oder -pflegern übergeben wurde. Die Selektierten wurden in ein abgelegenes Zimmer verlegt, das unter den Patienten als „Sterbezimmer“ bekannt war. Sie erhielten am Abend die Medikamente (Luminal, Veronal, Trional) in tödlicher Über-dosis verabreicht, meist als Tabletten in Wasser oder Speisen aufgelöst. Falls am nächsten Morgen noch jemand lebte, erhielt er eine Morphium-Scopolamin-Spritze, die den Tod schnell herbeiführte. Ein aus Patienten unter der Leitung ei-nes Pflegers stehendes Kommando brachte dann die Leichen auf den Friedhof der Anstalt. Er wurde 1942 auf dem Mön-chberg eigens für die Mordopfer angelegt, um zu vermei-

den, dass die Vielzahl täglicher Bestattungen auf dem städ-tischen Friedhof Aufsehen erregte. Bis zu 20 Patienten waren an einem Tag zu beerdigen. Sie erhielten keine Einzelgräber, sondern wurden in einem Massengrab ohne Sarg verscharrt. Nur wenn trotz der kurzfristigen Benachrichtigung Angehö-rige anwesend waren, wurde eine Einzelbestattung in einem Klappsarg vorgenommen. Die Familien konnten die Leichen ihrer Verstorbenen auch in ihren Heimatort überführen oder zur Einäscherung ins Krematorium nach Wiesbaden schi-cken lassen. Beides kam aber nur selten vor.

Die Sterbefälle der zweiten Phase wurden nicht mehr in ei-nem eigenen Standesamt der Tötungsanstalt registriert und beurkundet, sondern im Standesamt der Stadt Hadamar. Die jetzt ausgestellten Sterbeurkunden enthielten anschei-nend nicht in demselben Ausmaße falsche Angaben wie bei den Gasmordopfern. Allerdings fehlte in ihnen der Hinweis auf die Todesursache. Im Gegensatz zu den Fällen deutscher Psychiatriepatienten wurden bei körperlich kranken Zwangs-arbeiter/inne/n falsche Sterbetage angegeben, manchmal waren sie um Monate später datiert. In den Sterberegistern wurden die Morde jedoch zum Teil nur stümperhaft ver-tuscht, wie das Beispiel der Zwangsarbeiterin Marija U. be-legt. Sie kam in einem Sammeltransport mit 96 deutschen Patienten aus dem Hilfskrankenhaus Hamburg-Langenhorn am 7. August 1943 nach Hadamar. Vier Tage später war sie tot. In der Kopie des Fragebogens für das Sterberegister der Stadt Hadamar ist als Todesursache für die 20-Jährige „Al-tersschwäche“ eingetragen. Auch wird die Frage nach Vater und Mutter mit „unbekannt“ beantwortet. Dabei stehen ihre Namen im Aufnahmeprotokoll von Langenhorn.

Gegenüber der Gasmordphase wurde ab 1942 der Kreis der zu Tötenden über psychisch Kranke und geistig Behin-derte hinaus auf andere Gruppen ausgedehnt. Unter den Opfern befinden sich:- mindestens 12 durch den Bombenkrieg verwirrte Einwoh-

ner aus Großstädten wie Frankfurt, Hamburg und Köln,- 39 Angehörige der Wehrmacht und zwei Angehörige der

Waffen-SS, die psychisch auffälliges Verhalten gezeigt hat-ten,

- 71 so genannte „kriminelle Geisteskranke“,- 40 Kinder und Jugendliche, deren Makel darin bestand,

dass sie von nationalsozialistisch eingestellten Lehrern und Jugendfürsorgern in Fürsorgeerziehung abgedrängt wor-den waren und ein Elternteil nach NS-Gesetzen jüdisch war,

- 600 bis 700 Zwangsarbeiter/innen, von denen mindestens 126 an psychiatrischen Erkrankungen litten und 583 kör-perlich (vorwiegend an Tuberkulose) erkrankt waren.

Georg Lilienthal: Gaskammer und Überdosis Die Landesheil-anstalt Hadamar als Mordzentrum (1941-45). In: Uta Geor-ge, Georg Lilienthal, Volker Roelcke, Peter Sandner, Christi-na Vanja (Hg.): Heilstätte, Tötungsanstalt, Therapiezentrum Hadamar, Marburg 2006,S.168-171

(Text zusammengestellt von Regine Gabriel)

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Die strafrechtliche Verfolgung der Hadamarer „Euthanasie“-Morde

In den Jahren 1945 bis 1948 fanden in Wiesbaden und Frankfurt drei Prozesse gegen Teile des Personals der Lan-desheilanstalt Hadamar wegen der dort verübten Verbre-chen im Rahmen des von den Nationalsozialisten euphe-mistisch „Euthanasie“- oder „Gnadentod“-Aktion genannten Mordprogramms statt.

Der Wiesbadener ProzessAm Anfang der strafrechtlichen Verfolgung der Anstaltsmor-de stand ein Prozess gegen sieben Angestellte vor einem amerikanischen Militärgericht in Wiesbaden vom 8. bis zum 15. Oktober 1945. Einziger Anklagepunkt war die Ermor-dung von über 400 polnischen und sowjetischen Zwangsar-beitern, die als Verstoß gegen das Völkerrecht („Violation of International Law“) angesehen wurde. Der Verwaltungslei-ter Alfons Klein und zwei Pfleger (Heinrich Ruoff und Philipp Blum, R.G.) wurden zum Tode verurteilt und ein halbes Jahr später hingerichtet, der Chefarzt Adolf Wahlmann erhielt lebenslängliche Haft, die anderen Angeklagten, darunter auch die Oberschwester Irmgard Huber, wurden zu Haft-strafen zwischen 25 und 35 Jahren verurteilt. Sieben weitere Schwestern und ein Kraftfahrer waren zwar festgenommen, jedoch nicht unter Anklage gestellt worden, obwohl sie zum Teil zugegeben hatten, deutsche Patienten getötet zu haben. […]

Die Hadamar-ProzesseWegen der in der Anstalt Hadamar begangenen Verbrechen wurden zwei Verfahren angestrengt. Das erste richtete sich gegen die beiden Ärzte Adolf Wahlmann und Bodo Gor-gass sowie 23 weitere Angeklagte, neben den zwei Ärzten elf Schwestern und Pfleger, zwei Angehörige des technischen und zehn Angestellte des Büropersonals. Die Anklageschrift lag bereits im August 1946 vor. Erst nachdem der Hauptan-geklagte Adolf Wahlmann und die Oberschwester Irmgard Huber, die sich in amerikanischer Haft befanden, im Dezem-ber 1946 von den Amerikanern ausgeliefert worden waren, konnte der Prozess am 24. Februar 1947 eröffnet werden.Adolf Wahlmann war im August 1942 als ärztlicher Leiter nach Hadamar gekommen und hatte jeden Morgen in Zu-sammenarbeit mit Oberschwester und Oberpfleger die zu tötenden Patienten ausgewählt. Eigenhändig hatte er, so das Gericht, keine Tötungen vorgenommen. Bodo Gorgass hatte am 18. Juni 1941 seinen Dienst in Hadamar angetreten. Nach Beendigung der ersten Phase der „T4“-Aktion im Au-gust 1941 war er auf eigenen Wunsch an die Front zurück-gekehrt. Von den elf angeklagten Schwestern und Pflegern hatten zehn schon vor 1939 in Anstalten der Provinz Hes-sen-Nassau gearbeitet, eine Schwester war aus Berlin ge-kommen. […]

Der SS-Mann Hubert Gomerski war 1941 zur „T4“ kom-mandiert und nach Hartheim, einer weiteren „T4“-Anstalt, abgeordnet worden, wo er als Leichenverbrenner tätig ge-wesen war. Schließlich kam er nach Hadamar, wo er, wie er selbst aussagte, nur den Ofen bedient hatte. Der zweite Angeklagte des technischen Personals hatte als Schlosser Ende 1940 an den Umbaumaßnahmen im Keller der Anstalt mitgewirkt.“ […]Das Verfahren endete nach 14 Verhandlungstagen am 26. März mit Todesurteilen gegen die Ärzte Gorgass und Wahl-mann, Haftstrafen für neun Angehörige des Pflegepersonals

und Freisprüchen für eine Schwester, einen Pfleger sowie das gesamte technische und das Büropersonal. [...]

Die UrteileZum objektiven Tatbestand stellte das Urteil fest, „dass der Angeklagte Gorgass in mindestens 1000 und der Angeklag-te Wahlmann in mindestens 900 Fällen bewusst Menschen getötet und hierbei als Täter gehandelt“ hätten. Auch das gesamte restliche angeklagte Personal habe „an der Durch-führung des so genannten ‚Euthanasie‘-Programms (...) in irgendeiner Weise mitgewirkt“. Im Unterschied zu den Ärzten allerdings wurde hier nicht Täterschaft angenommen, son-dern nur Beihilfe, da die Angeklagten die Tötungen nicht „als eigene gewollt“ und nach eigener unwiderlegbarer Aussage die Aktion „innerlich abgelehnt und nur widerstrebend mit-gearbeitet“ hätten. Trotzdem seien ihre jeweiligen Tatbeiträ-ge unverzichtbarer Teil der Tötungsaktion gewesen, denn die „T4“-Aktion sei, so die Richter, „wie eine Maschine, deren Einzelteile zwar selbständig sind, deren wohlgeordnetes Zu-sammenwirken jedoch notwendig ist.“[...] das Gericht [...] stellte fest, dass ein Zwang zur Teil-nahme an den Tötungen außer bei dem dienstverpflichte-ten Büropersonal nicht bestanden habe, vielmehr seien von vornherein Mitarbeiter ausgesucht worden, die eine „innere Bereitschaft“ mitgebracht hätten. Daneben ließen die Richter allenfalls noch einen Mangel an Mut oder einen „gewissen Untertanengeist“ gelten. […]

Die schließlich ausgesprochenen Strafen begründeten die Richter wie folgt. Gorgass und Wahlmann seien wegen Mor-des zum Tode zu verurteilen, da sie vorsätzlich und überlegt gehandelt hätten. Von den damals geltenden drei Mord-merkmalen des Paragrafen 211 Strafgesetzbuch, Heimtü-cke, niedere Beweggründe und Grausamkeit, wurde jedoch nur die Heimtücke anerkannt. Die „Aktion“ sei insgesamt auf „Unaufrichtigkeit, Verschlagenheit und Hinterhältigkeit“ aufgebaut gewesen, und Angehörige und Opfer seien „in schwerstem Maße getäuscht“ worden. Niedere Beweggrün-de hielten die Richter nicht für gegeben, obwohl sie die ,,absolute[n] Einmaligkeit“ der Verbrechen betonten, die „die Taten in ihrer ganzen Verwerflichkeit und das Ausmaß der Schuld in seinem wahren Umfang“ zeige. Das Gericht konnte aber weder bei Wahlmann noch bei Gorgass „sittlich verachtenswerte“ Vorstellungen oder Motive feststellen, die „verabscheuungswürdig“, „gemein“ oder „in besonderem Maße verwerflich“ seien. Vielmehr habe es sich bei beiden um eine „gewisse menschliche Schwäche“ und eine „gewisse Trägheit des Willens“ gehandelt. […]

Frühzeitige Entlassungen aus der HaftAlle in den beiden Hadamar-Prozessen Verurteilten kamen zwischen 1949 und 1958 wieder auf freien Fuß, entweder durch Begnadigung oder durch Aussetzung des Strafrests auf Bewährung. Die Umwandlung der Todesstrafen in le-benslange Haftstrafen wurde nach Inkrafttreten des Grund-gesetzes durch den Hessischen Ministerpräsidenten Christian Stock vorgenommen. Wahlmann war im Februar 1948 wie-der nach Landsberg überführt worden, um seine von dem amerikanischen Militärgericht ausgesprochene lebenslange Haftstrafe abzusitzen. Ein Antrag Wahlmanns im Jahr 1952, seine deutsche Strafe nach seiner Entlassung aus Landsberg aus gesundheitlichen Gründen wenigstens aufzuschieben,

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Die strafrechtliche Verfolgung der Hadamarer „Euthanasie“-Morde

wurde zunächst abgelehnt. Nach seiner Begnadigung und Entlassung aus amerikanischer Haft im Dezember 1952 wurde er in ein deutsches Gefängnis überführt, im Oktober 1953 jedoch entlassen, zum Teil wahrscheinlich im Zusam-menhang mit einem Erlass des Bundesjustizministers an alle Landesjustizminister, die Fälle doppelter Verurteilung durch amerikanische und deutsche Gerichte auf unbillige Härten zu überprüfen, zum Teil wohl aber auch wegen seines ho-hen Alters: Wahlmann war bei seiner Entlassung 77 Jahre alt. Bodo Gorgass kam im Januar 1958 auf freien Fuß. Da die Entlassung bei Teilen der Öffentlichkeit und der Presse ein sehr kritisches Echo fand, sah sich Ministerpräsident Ge-org-August Zinn genötigt, in einem offenen zwölfseitigen Brief sein Vorgehen zu rechtfertigen, indem er vor allem auf die bereits 1953 erfolgte Begnadigung des Eichberger Arztes Schmidt hinwies, die im Sinne der Gleichbehandlung auch die Begnadigung von Gorgass erforderlich gemacht habe.

Matthias Meusch: Die strafrechtliche Verfolgung der Hada-marer „Euthanasie“-Morde. In: Uta George, Georg Lilient-hal, Volker Roelcke, Peter Sandner, Christina Vanja (Hg.): Heilstätte, Tötungsanstalt, Therapiezentrum Hadamar, Mar-burg 2006, S. 305-318

(Text zusammengestellt von Regine Gabriel)

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Materialien für den eigenständigen Rundgang

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Entschädigung bzw. Wiedergutmachung?

1953 verabschiedete die BRD ein Entschädigungsgesetz auf Bundesebene, das 1965 mit dem Bundesentschädigungsge-setz-Schlussgesetz abgeschlossen wurde.Die Vorlage hierfür hatten die Alliierten 1949 erarbeitet. In allen besetzten Zonen sollte der Standard der US-Zone gel-ten, der folgende Formulierung vorsah:

„[...] Personen, die wegen ihrer politischen Überzeugung, ihrer „Rasse“, ihres Glaubens oder ihrer Weltanschauung verfolgt worden waren und hierdurch Schaden an Leben, Körper, Gesundheit, Freiheit, Eigentum, Vermögen oder an ihren wirtschaftlichen Fortkommen erlitten hatten, eine an-gemessene Entschädigung zu zahlen.“ (Surmann, 2006, S. 200)

In der Folge fanden heftige politische Auseinandersetzun-gen über die Frage, welche Personen unter das „typische“ NS-Unrecht fallen sollten, statt. Am Ende richtete sich das Bundesentschädigungsgesetzt (BEG) an der NS-Ideologie aus. Daher wurde nur der Personenkreis entschädigt, der aus politischen, „rassischen“ oder religiösen Gründen ver-folgt worden war.Viele Opfer blieben dadurch ausgeschlossen, wie die Opfer der Euthanasie und Zwangssterilisation. Der auch von der UNO 1949 kritisch diskutierte Begriff der „Rasse“, wurde in den Anfangsjahren der BRD nicht in Frage gestellt. Daher verwundert es nicht, dass nur der ethnische Rassismus von Bedeutung für die Entschädigungsleistungen war.Erst in den 1980er Jahren ließ sich langsam eine Haltungs-änderung an, die dann zu der Einrichtung eines sog. Härte-fonds führte, aus dem die Betroffenen eine Einmalzahlung von DM 5000 beantragen konnten.

1987 gründete sich der Bund der Euthanasiegeschädig-ten und Zwangssterilisierten (BEZ) deren Vorsitzende Klara Nowak bis 1999 war. Ihrem Engagement ist es u.a zu ver-danken, dass in der Zeit nach 1987 die öffentliche Debatte um die Entschädigung für die Opfer der NS-Euthanasie und Zwangssterilisation erneut entbrannte. Obwohl der Bun-destag 1988 eine Entschließung verabschiedete, in der auf Grund des Erbgesundheitsgesetztes durchgeführte Zwangs-sterilisationen „NS-Unrecht“ genannt wurden, wurden keine entschädigungsrelevanten Konsequenzen gezogen.

„Am 7. März 1988 kam es jedoch lediglich zu einer erneu-ten Überarbeitung der AKG Härterichtlinien, die für alle vom Entschädigungsrecht ausgeschlossenen NS-Opfern den Zugang zu den Härteleistungen und insbesondere den Be-zug von monatlichen Zahlungen erleichtere, sofern sie eine persönliche Notlage glaubhaft machen konnten.“ (Surmann 2006, S. 207 )[...] „2003 teilte die Bundesregierung mit, dass nach der 1980er Regelung 8805 Zwangssterilisierte bis 1988 und nach der Überarbeitung von 1988 bis 2002 4971 von ih-nen die Einmalzahlung vom 5000 Mark erhalten haben. Zusammen sind dies 13 776 Personen. Bis zum Jahr 2002 erhielten 1733 Personen laufende Leistungen. An 161 „Eut-hanasie“-Geschädigte wurde der Pauschalbetrag ausge-zahlt, an 20 von ihnen auch eine laufende Leistung. Dies ist angesichts der der Gesamtzahl der Opfer [ca. 360.000 Zwangssterilisierte und ca. 300.000 Euthanasieopfer (R.G.)] eine verschwindende geringe Minderheit.“ (Surmann 2006,

S. 208)

Dies begründete Klara Nowak 1995 folgendermaßen:„ In der Praxis haben sich die extrem einschränkenden Vo-raussetzungen der vorgenannten Bestimmungen fast immer als nicht nachweisbar erwiesen.“ (Surmann 2006, S.208)

Erst 2007 stellte der deutsche Bundestag endlich fest, dass das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses (Gz-VeN) gegen das Grundgesetz verstößt.Dennoch kam es erst 2011 zu einem fraktionsübergreifen-den Antrag, in dem die Bundesregierung aufgefordert wur-de, die monatlichen Leistungen für Zwangssterilisierte von 120 auf 291 Euro zu erhöhen. Der Leistungsbetrag orientiert sich an dem der jüdischen Opfer des NS, die Haft in einem Konzentrationslager oder Ghetto erleiden mussten und keine Entschädigung erhalten hatten.Dennoch ist das Problem bis heute (2013) nicht wirklich ge-löst:

„Entschädigung für NS-„Euthanasie”-Verbrechen? Für drei Personen…Ja, Sie haben richtig gelesen: Was letztes Jahr so breit und groß angekündigt wurde, nämlich dass auch Eut-hanasiegeschädigte Anspruch auf eine erhöhte monat-liche Rente von 291 Euro haben, ist auf ganzer Linie gescheitert. Exakt drei Personen haben Anspruch auf die erhöhte Rente aus einem solchen Titel. Dies erklärte die Bundesregierung in ihrer Antwort auf eine kleine Anfrage der Fraktion Die Linke im Bundestag. (Wir be-richteten). Damit ist klar, was die Einschränkung auf “tatsächliche” Euthanasieopfer bedeutet:Nur diejenigen, die wie durch ein Wunder im aller-letzten Moment buchstäblich kurz vor der Gaskam-mer weggeschickt wurden, bekommen die Rente. Schon Kinder, deren Eltern (oder ein Elternteil) Opfer der NS-Gesundheitspolitik wurden, und damit mitten im Krieg als (Halb-)-Waisen dastanden, haben keinen Anspruch auf irgendeine Form der Entschädigung. Die Bundesregierung begründet dies folgendermaßen:“Sie schließt es nicht aus, dass es bei dem angespro-chenen Personenkreis [d.s. Kinder von Euthanasie-opfern] zu Traumatisierungen gekommen ist. Über Nachteile in deren beruflichem oder wirtschaftlichem Fortkommen liegen ihr keine Feststellungen vor.”Wenn es noch irgendeines Beweises bedurft hätte, dass die Stimmen von Opfern der NS-Euthanasie vollkom-men marginalisiert waren (und sind) und auch die Pro-bleme und Schwierigkeiten von Angehörigen kaum an die Öffentlichkeit dringen, hier wäre er zu haben.Jeder, der einmal Menschen zugehört hat, die sich auf die Suche nach Spuren ihrer in den Tötungsanstalten ermordeten Großeltern, Großtanten etc. gemacht ha-ben, weiß gegenteiliges zu berichten. Dies alles vor einem gesellschaftlichen Hintergrund, in dem immer öfter auf das Schicksal von Kriegskindern und ihre viel-fältigen Traumatisierungen aufmerksam gemacht wird. Hier werden, wenn man es denn böse formulieren will, die Angehörigen von Euthanasieopfern das zweite Mal ausgeschlossen. Das erste Mal war vor 70 Jahren, und da hieß es noch Ausschluss aus der “Volksgemein-schaft”.

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Materialien für den eigenständigen Rundgang

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Entschädigung bzw. Wiedergutmachung?

Insgesamt wurden knapp 15.000 Menschen entschädigt, wenn man diese Begrifflichkeit denn gebrauchen will. Die-se Zahl könnte wesentlich höher sein, allein wurde den Opfern bereits 1961 jeglicher Entschädigungsanspruch verwehrt. Erst 1980 (Zwangssterilisierte) beziehungsweise 1988 (Euthanasiegeschädigte) wurde mit Zahlungen an die Opfer begonnen. Nicht unwesentlichen Anteil daran, dass die Zahlen so gering waren, hatten Sachverständige, die in der NS-Zeit oft genug ihr Scherflein zur “Vernichtung lebensunwerten Lebens” beitrugen.Erfreulich wenigstens, dass Ulla Jelpke, die innenpoli-tische Sprecherin der Linken im Bundestag, ankündigte, das Thema weiter zu verfolgen. Umso schmerzhafter aller-dings das allzu laute Schweigen der übrigen Parteien und sonstigen Zuständigen.“ (Gepostet am 21 März 2012 um 21:14) Blog Gedenkort T4

Vgl. Rolf Surrmann: Was ist typisches NS-Unrecht? Die ver-weigerte Entschädigung für Zwangssterilisierte und „Eut-hanasie“-Geschädigte. In: Margret Hamm (Hg.): Lebensun-wert zerstörte Leben. Zwangsterilisation und „Euthanasie“. Frankfurt/Main 2006, S. 198-211.

(Text erstellt von Regine Gabriel)

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Materialien für den eigenständigen Rundgang

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Teil 2Materialien für SchülerInnenDie Materialien in diesem Teil sind zur Gestaltung des Rundgangs in der Gedenkstätte vorgesehen. Jedes Thema ist einer bestimmten Station zugeordnet und ist geeignet, in Form eines kurzen Referats im Verlauf des Rundgangs prä-sentiert zu werden.

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Materialien für den eigenständigen Rundgang

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Hinweis zur Arbeit mit den Materialien für SchülerInnen

VorbereitungDas Thema Eugenik sollte in der Schule ausführlich vorbereitet werden. Hierzu können Sie die entsprechenden Informationen aus Teil 1 verwenden.

Zuordnung der Themen zu Stationen des RundgangsStandort 1: Thema: ZwangssterilisationAusstellungsraum (Tafeln 15-18)

Standort 2:Thema: 1. Phase der Euthanasie-MordeKeller, Gang rechts neben dem Standort der Krematorien - es sollten zusätzlich ca. 15 Minuten Zeit für die eigenständige Erkundung der Kellerräume und Lesen der ausgestellten Biografien eingeplant werden

Standort 3:Thema: 2. Phase der Euthanasie-MordeFriedhof, links am Grab von Sofia Dalhoff

Standort 4:Thema: Prozesseerster Nebenraum in der Ausstellung (Tafeln 59-65)

Standort 5:Thema: Wiedergutmachungzweiter Nebenraum in der Ausstellung (Tafeln 66-72)

LinksAuf jedem Themenblatt finden sich Linktipps zur Weiterarbeit im Rahmen der Vor- oder Nachbereitung des Besuchs, die durchnummeriert sind. (Bsp.: Wikipedia „Zwangssterilisation“ 1a01). Um die Internetseiten aufzurufen, gehen Sie auf folgenden Link:

http://www.gedenkstaette-hadamar.de/links-materialpaket/

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Materialien für den eigenständigen Rundgang

InformationstextIn den 1930er Jahren wurde die Ras-senhygiene zu einer Leitwissenschaft im nationalsozialistischen Deutsch-land. Am 1. Januar 1934 trat das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ in Kraft. Erbkrank war im Sinne dieses Zwangssterilisations-gesetzes, wer an folgenden Krank-heiten litt:„1. angeborener Schwach-sinn, 2. Schizophrenie, 3. zirkulärem (manisch-depressivem) Irresein, 4. erblichem Veitstanz (Huntington-sche Chorea), 5. erblicher Blindheit, 6. erblicher Taubheit, 8. schwerer körperlicher Mißbildung“. Wer an „schwerem Alkoholismus“ litt, konnte ebenfalls zwangssterilisiert werden. Ab 1934 beteiligte die Landesheilan-stalt Hadamar sich an der Umsetzung des Zwangssterilisationsgesetzes. Erbgesundheitsgerichte, besetzt mit einem Juristen als Vorsitzendem und zwei Ärzten als Beisitzern, entschie-den, wer zwangssterilisiert werden sollte. Durch das Gesetz erhielten die Anstaltsleiter der Heil- und Pfle-geanstalten ausdrücklich die Berech-tigung, Sterilisationsanträge zu stel-len. Die meisten Sterilisationsanträge aus Hadamar wurden vor dem Erb-gesundheitsgericht in Frankfurt am Main entschieden. Dazu forderte das EGG die gesamte Krankengeschichte und ein Gutachten über die zu ste-rilisierende Person an. Zur Überprü-fung des Geisteszustandes wurde ein Intelligenztest durchgeführt. Die Umsetzung der Zwangssterilisation der Hadamarer Patientinnen und Pa-tienten geschah nicht in der Anstalt Hadamar selbst, sondern in der Re-

gel in einer speziellen Operations-abteilung, die der Bezirksverband in seiner Anstalt Herborn eingerichtet hatte.Ein exemplarischer Blick auf das Jahr 1935 verdeutlicht den Umfang dieser Zwangsmaßnahme: In zwölf Monaten wurden 171 Hadamarer Anstaltsinsassen (141 Frauen und 30 Männer) durch Ärzte zwangsweise unfruchtbar gemacht. In den Jahren 1934 – 1945 sind in Deutschland etwa 400.000 Men-schen zwangssterilisiert worden. Es traf vor allem entlassungsfähige „leichte Anstaltsfälle“, Hilfsschüler so-wie sozial Schwache und „Auffällige“ und damit in der Regel Menschen, die sich auf dem bürgerlichen Wege gegen die Sterilisation nicht wehren konnten. Die meisten Sterilisationsanträge wurden mit der sehr allgemeinen Di-agnose „angeborener Schwachsinn“ und der sehr unsicheren „Schizo-phrenie“ begründet. Diese Diagno-sen konnten besonders missbraucht werden, um Minderbegabung und soziale Unangepasstheit sanktionie-ren zu können. Nur die vorhandene Akzeptanz für das Gesetz machte die schnelle Durchführung möglich. Die Durch-führung der Zwangssterilisierungen in dieser Größenordnung wäre ohne die Zuarbeit einer Vielzahl von Ärzten nicht denkbar gewesen.

Zwangssterilisationen und das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“

AufgabenIn der Gedenkstätte1. Beschreibe den Ablauf des Verfahrens (Informationstext und Tafel 15 und

16).2. Stelle Bezüge zwischen den Inhalten des Gesetzes und der Propaganda

her (Tafel 11 und 12).3. Gibt es regionale Bezüge zwischen deinem Heimatort und den Zwangs-

sterilisationen im Regierungsbezirk Wiesbaden (Tafel 16)?

Zur Weiterarbeit4. Informiere dich über die Krankheiten aus dem Gesetz.5. Recherchiere im Internet, unter welchen Bedingungen Sterilisationen nach

dem Krieg durchgeführt wurden (siehe Linktipps).

LinktippsWikipedia „Zwanssterilisationen“

Þ 1a01

Sterilisationen im Bürgerlichen Gesetzbuch

Þ 1a02

Stichworte Ö »Gesetz zur Verhütung

erbkranken Nachwuchses«

Ö ab 1.1.1934 in Kraft

Ö 8 Krankheitsbilder und schwerer Alkoholismus

Ö u.a. „angeborener Schwachsinn“

Ö 400.000 Menschen wurden Opfer

Ö zwei Drittel waren Frauen

Ö „Erbgesundheitsgerichte“ entscheiden

Ö breite Akzeptanz

Bild zum Nachdenken

Tafel 12

Station 1a

Quelle 1: Sandner 2006 Gabriel 2005

Abb

. 2

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Materialien für den eigenständigen Rundgang

Opfer-Biographie Anna V.Anna V. wurde 1916 in Mühlheim an der Ruhr geboren und kam schon mit einem Jahr in ein Waisenhaus in Essen. Ihre schulische Entwicklung verlief normal, und nach mehrmali-gem Wechsel des Heimes nahm die wiederverheiratete Mutter das junge Mädchen kurz bei sich auf. Als sie sich mit Jungen traf und Diebstähle beging, wurde 1933 Fürsorgeerzie-hung angeordnet. Versuche, Anna V. als Dienstmädchen in Stellung zu geben, scheiterten. Anna V. wurde in der Fürsorgeakte als „mürrisch, un-zugänglich und haltlos“ bezeichnet. Zudem hatte sie geschlechtlichen Verkehr mit Männern. Mit Erreichen des 21. Lebensjahres endete für sie die Fürsorgeerziehung, und sie wur-de nach Hadamar verlegt. Aus dem Fürsorgezögling wurde dadurch eine Kranke. Der Arzt in Hadamar diag-nostizierte bei dem bis dahin „ver-haltensauffälligen“ Mädchen bei der Aufnahme am 4. September 1937 „angeborenen Schwachsinn“. Einen Monat später stellte die Anstalt den Antrag auf Sterilisation, der jedoch vom Erbgesundheitsgericht Frankfurt im November abgelehnt wurde. Be-gründet wurde die Ablehnung damit, daß Anna V. bei der persönlichen Prüfung vor Gericht ausreichende intellektuelle Leistungen gezeigt hat-te. Das Gericht sagte ausdrücklich: „Eine Feststellung dahin, dass sie an einem Erbleiden im Sinne von 1, Zif-fer 2, 1 des angezogenen Gesetzes leide, erschien auch bei Berücksich-tigung der Tatsache, dass sie bisher im Leben versagt hat, nicht möglich.“

Damit gab sich aber die Anstaltslei-tung nicht zufrieden und legte ge-gen den ablehnenden Beschluß des Erbgesundheitsgerichtes Frankfurt im Dezember 1937 Beschwerde ein. Die inzwischen schwangere Anna V. mußte deshalb im März nochmals vor dem Erbgesundheitsgericht er-scheinen. Bei gleichem Vorsitzenden, aber anderen Ärzten wurde am 18. März 1938 beschlossen, Anna V. un-fruchtbar zu machen. Die Begrün-dung lautete nun: „Mit Rücksicht auf die starke erbliche Belastung und auf das soziale und sittliche Versagen der Anna V. muss ihre intellektuelle Min-derleistung, wie sie sich aufgrund der heutigen eingehenden Untersuchung darstellt, als ausreichend angesehen werden, um die Annahme eines erb-bedingten anlagemäßigen Schwach-sinns zu begründen. Nach den Erfah-rungen der ärztlichen Wissenschaft ist mit grosser Wahrscheinlichkeit zu erwarten, dass die Nachkommen der Anna V. an schweren geistigen Erb-schäden leiden werden.“ Anna V. war wegen ihrer sozialen Unangepaßtheit mit der Zwangssterilisation „bestraft“ worden. Am 15. April 1938 brachte Anna V. ein Mädchen zur Welt, das sofort in Fürsorge gegeben wurde. Im Mai kam Anna V. zur Sterilisati-on in die Landesheilanstalt Herborn, anschließend in Familienpflege nach Faulbach bei Hadamar. Als Anna V. im September 1938 entwich, wurde sie nachträglich aus der Anstalt ent-lassen.

Zwangssterilisationen und das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“

AufgabenIn der Gedenkstätte1. Beschreibe Annas Schicksal in eigenen Worten.2. Überlege, wie es Anna ergangen wäre, wenn sie in unserer Zeit geboren

wäre.

Zur Weiterarbeit3. Informiere dich, wie zwangsweise sterilisierte Menschen nach dem Krieg

entschädigt worden sind (siehe Linktipp).

Foto

Anna V.(geboren 1916 in Mühlheim a. d. R.)

LinktippsArbeitsgemeinschaft Bund der „Euthanasie“-Geschädigten und Zwangssterilisierten

Þ 1b01

Station 1b

Quelle 2: Winter 2002

Abb

. 3

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Materialien für den eigenständigen Rundgang

Bild zum Nachdenken

LinktippsLernen aus der Geschichte

Þ 2a01

Gedenkort T4 Þ 2a02

AufgabenIn der Gedenkstätte1. Finde heraus, wie der Ablauf für die Patientinnen und Patienten in der

Anstalt Hadamar war. (Tafel 26)

Zur Weiterarbeit2. Welche weiteren Informationen zur ersten Mordphase findest du auf den

Internetseiten (siehe Linktipps)?

InformationstextDie Vorbereitungen für die systemati-sche Tötung von „lebensunwertem Le-ben“ begannen im Sommer 1939. Um Patienten von Heil- und Pflegeanstal-ten zu selektieren und zu töten, wurde eine eigene Bürokratie aufgebaut. Die Mordzentrale hatte ihren Sitz in Berlin, in der Tiergartenstraße 4.Während die „T4“-Zentrale die Er-fassung der Psychiatriepatienten im Herbst 1939 vorbereitete, unterzeich-nete Hitler auf privatem Briefbogen im Oktober, rückdatiert auf den 1. Sep-tember, den Beginn des Krieges, eine allgemeine Tötungsermächtigung:„Reichsleiter Bouhler und Dr. med.Brandt sind unter Verantwortung be-auftragt, die Befugnisse namentlich zu bestimmender Ärzte so zu erweitern, dass nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischster Be-urteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann.“Die „T4“-Zentrale errichtete insgesamt sechs Tötungsanstalten (Brandenburg, Grafeneck in Württemberg, Schloss Hartheim bei Linz/Donau, Sonnen-stein bei Pirna, Bernburg an der Saale und Hadamar bei Limburg), in denen die Patienten seit Januar 1940 durch Kohlenmonoxydgas erstickt und ihre Leichen anschließend sofort eingeä-schert wurden. Hadamar wurde als letzte Tötungsanstalt eingerichtet. Im November und Dezember 1940 wur-de die Tötungsanlage mit Gaskammer, Sektionsraum und zwei Verbrennungs-öfen im Keller der neuen „T4“-Anstalt auf dem Mönchberg eingebaut. Jeder Gasmordanstalt waren so ge-nannte „Zwischenanstalten“ zugeord-

net. Dies waren normale Heil- und Pflegeanstalten, welche die für den Tod bestimmten Patienten aus ihren Ursprungsanstalten für mehrere Wo-chen aufnahmen, bis sie in die jewei-lige Tötungsanstalt weitertransportiert wurden. Das System der Zwischenan-stalten sollte die Verlegungswege der Mordopfer verschleiern helfen und die Organisation des Massenmordes effizienter gestalten. Hadamar waren neun Zwischenanstalten zugeordnet: Eichberg, Herborn, Idstein, Scheuern und Weilmünster in Hessen, Weins-berg und Wiesloch im heutigen Ba-den-Württemberg, Galkhausen im heutigen Nordrhein-Westfalen und An-dernach im heutigen Rheinland-Pfalz. Die Gasmorde in Hadamar begannen am 13. Januar 1941. Mit maximal drei Gekrat-Bussen, die in Hadamar sta-tioniert waren, wurden die Patienten aus den Zwischenanstalten abgeholt. Die Patienten wurden vom Pflegeper-sonal in den Keller geführt und in die als Duschraum getarnte Gaskammer geleitet. Alle Leichen wurden anschlie-ßend in den eigens erbauten Kremat-orien verbrannt. Am Tag ihrer Ankunft wurden die Patienten ermordet und ihre Leichen beseitigt. So wurden über 10.000 Menschen ermordet. Am 24. August 1941 ließ Hitler die Gasmorde einstellen. Bis zum Sommer 1942 wur-den die technischen Installationen für die Gaskammer entfernt, der Kamin für die Krematorien abgerissen und die beiden Verbrennungsöfen demontiert.

Stichworte Ö Beginn der Gasmorde

im November 1940 in Grafeneck

Ö Beginn der Gasmorde in Hadamar am 13. Januar 1941

Ö Organisation der Euthanasie über die T4 in Berlin

Ö Zwischenanstalten

Ö über 10.000 Opfer, die in Hadamar ermordet wurden

Ö insgesamt ca. 72.000 Euthansieopfer in den sechs Tötungsanstalten

Erste Mordphase (Januar 1941 - August 1941)

Tafel 25

Station 2a

Quelle 3: Lilienthal 2006

Abb

. 4

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Gedenkstätte

Materialien für den eigenständigen Rundgang

LinktippsGedenkstätte Bernburg

Þ 2b01

Gedenkstätten Brandenburg/Havel

Þ 2b02

Gedenkstätte Grafeneck Þ 2b03

Gedenkstätte Pirna-Sonnenstein Þ 2b04

Gedenkstätte Hartheim Þ 2b05

AufgabenIn der Gedenkstätte1. Welche Dokumente könnt ihr in der Ausstellung finden, die den Leidens-

weg von Ernst U. beschreiben? (Tafel 29)

Zur Weiterarbeit2. Wie konnten Angehörige nach dem Krieg Informationen über das tat-

sächliche Schicksal der Kranken erhalten?3. Informiere dich über die anderen Tötungsanstalten (siehe Linktipps).

Station 2b

Erste Mordphase (Januar 1941 - August 1941)

Opfer-Biographie Ernst U.Ernst U. wurde am 2. August 1899 in Gelsenkirchen geboren. Nach der Volksschule erlernte er das Bäckerhand-werk. 1923 heiratete er. Ernst U. wurde Vater von insgesamt sechs Kindern.

1929 begab sich Ernst U. erstmals freiwillig in ein Krankenhaus. Ab 1933 war er dauerhaft in der Anstalt Bed-burg untergebracht, wahrscheinlich mit der Diagnose Schizophrenie. Am 8. März 1940 wurde Ernst U. in die Landesheilanstalt Weilmünster verlegt. Von Weilmünster gelangte er in einem Transport mit 62 weiteren Patienten am 13. März 1941 nach Hadamar und wurde noch am selben Tag in der Gaskammer der Tötungsanstalt er-mordet.

Auszug aus dem Schreiben der Lan-desheil- und Pflegeanstalt Hadamar vom 25. März 1941:

Sehr geehrte Frau U.!Am 13. März 1941 wurde [...] Ihr Mann, Herr Ernst U. in unsere An-stalt verlegt. [...] Zu unserem Bedauern müssen wir Ihnen nun mitteilen, dass der Pati-ent plötzlich und unerwartet am 24. März 1941 an einer akuten Hirn-hautentzündung verstorben ist.Da Ihr Mann an einer schweren, geistigen unheilbaren Erkrankung l[i]tt, müssen Sie seinen Tod als eine Erlösung auffassen. [...]

Täter-Biographie Hans-Bodo GorgassHans-Bodo Gorgass, geb. 1909 in Leipzig, war ab 1933 SA- und ab 1937 NSDAP-Mitglied.

Ab Juni 1941 arbeitete er als zweiter Arzt in der Anstalt Hadamar. Zuvor sammelte er in anderen „T4“-Anstal-ten Erfahrungen. In Hadamar über-nahm er zum größten Teil die letzte „Untersuchung“ der Opfer und drehte danach im Nebenraum der Gaskam-mer den Gashahn auf.

1947 wurde Gorgass zum Tode verur-teilt, 1949 wurde die Strafe in lebens-länglich umgewandelt, 1956 erneut in 15 Jahre abgeändert. Weihnach-ten 1958 wurde er schließlich beg-nadigt. Nach seiner Freilassung lebte

Gorgass in Bielefeld und war in der Pharmabranche tätig. Er verstarb am 25.06.1992.

Aussagen im Rahmen des Prozesses:

„Mir oblag lediglich die Durchfüh-rung der Tötung”. „Die meisten Kranken gingen da friedlich hinein. Ich stand am Hebel. [...] Nach 5-10 Minuten waren sie tot“. „Ich bin der Überzeugung, dass dieses [gemeint ist das Leben von ‚Geisteskranken’] im wahrsten Sinne ein lebens-unwertes Leben, für die Kranken selbst eine schwere Last darstellt. Dass die Erlösung von diesem Lei-den eine Gnade bedeutet.“

Ernst U.(02.08.1899 - 13.03.1941)

Hans-Bodo Gorgass(19.06.1909 - 25.06.1992)

Abb

. 6

Abb

. 5

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Gedenkstätte

Materialien für den eigenständigen Rundgang

Bild zum Nachdenken

LinktippsTopografie des Nationalsozia-lismus in Hessen – Sachbegriff „Euthanasie“

Þ 3a01

Geschichte des Landeswohl-fahrtsverbandes Hessen

Þ 3a02

AufgabenIn der Gedenkstätte1. Informiert euch über die unterschiedlichen Opfergruppen der Zweiten

Mordphase (Tafeln 44-47).2. Notiert eure Gedanken zum Gruppenfoto der Täter (Tafel 49).

Zur Weiterarbeit3. Informiere dich mit Hilfe der Linktipps, ob auch an Orten in deiner Umge-

bung Anstalten an den „Euthanasie“-Morden beteiligt waren.

Stichworte Ö Beginn im August 1942

Ö neue Tötungsmethode

Ö Erweiterung der Opfergruppen

Ö andere Organisation

Ö ca. 4500 Opfer

Ö Massengrab auf dem Friedhof

Tafel 49

InformationstextDer Stopp der Gasmorde im Sommer 1941 bedeutete nicht das Ende der „Euthanasie“-Morde, sondern einen Wechsel in der Verantwortlichkeit, der Organisation und der Tötungsmethode.Selektion und Transport der Opfer in die Tötungsanstalten wurden nicht mehr zentral von Berlin aus für das gesam-te Reich gesteuert. An ihre Stelle traten lokale und regionale Maßnahmen, die unter Umständen dazu führten, dass in einem Verwaltungsbereich flächende-ckend gemordet wurde, zum Beispiel in den Anstalten des Bezirksverbandes, zu dem auch Hadamar gehörte. Die Planungen der Morde konnten aber auch über die Region ausgreifen und die „T4“ einbeziehen, z. B. als Koor-dinator von Patiententransporten von einem Reichsteil in den anderen. In diesen Fällen kristallisierten sich wieder überregionale Mordzentren heraus. Schließlich wurde der arbeitsteilige und damit in der Verantwortung aufgesplit-terte Massenmord in der Gaskammer abgelöst durch den individualisierten, vom Täter eigenhändig ausgeführten Mord mit überdosierten Medikamen-ten, die in Tablettenform oder als In-jektion verabreicht wurden. Er war der Schlusspunkt, wenn Hungerkost und vorenthaltene medizinische Versorgung nicht schnell genug zum Ziel geführt hatten. Als feststand, dass die Gas-morde nicht mehr aufgenommen wer-den sollten, wurden die Umbauten für die Zwecke der „T4“-Tötungsanstalt im Frühsommer 1942 vertragsgemäß zu-rück gebaut. Während man die Anstalt wieder zur Unterbringung von 500 bis 600 Patient/inn/en herrichtete, fiel die Entscheidung, dass Hadamar wieder die Funktion einer zentralen Tötungs-

anstalt übernehmen sollte. Dabei sollte sie nach Außen den Schein eines nor-malen Anstaltsbetriebs erwecken.Nach einer Pause von einem Jahr wur-den die gezielten Tötungen wieder auf-genommen. Insgesamt wurden in die-ser Zeit 4861 Patienten nach Hadamar verlegt, von denen bis zum 26. März 1945 ca. 4500 starben. Dies entspricht einer Sterblichkeit von 91 Prozent. Verantwortlich für die Durchführung der Morde waren der Verwaltungsinspektor Alfons Klein und Chefarzt Dr. Adolf Wahlmann, der zugleich der einzige Arzt war. Wahlmann hielt jeden Morgen mit Oberschwester Irmgard Huber und Oberpfleger Heinrich Ruoff eine Konfe-renz ab, in der die zu tötenden Patien-ten bestimmt wurden. Die Vorschläge stammten zum Teil vom Pflegeperso-nal. Die Namen der Mordopfer wurden auf einen Zettel geschrieben, der den Nachtschwestern oder -pflegern über-geben wurde. Die Selektierten wurden in ein abgelegenes Zimmer verlegt, das unter den Patienten als „Sterbezimmer“ bekannt war. Sie erhielten am Abend die Medikamente in tödlicher Überdo-sis verabreicht, meist als Tabletten in Wasser oder Speisen aufgelöst. Falls am nächsten Morgen noch jemand leb-te, erhielt er eine Spritze, die den Tod schnell herbeiführte.Ein aus Patienten unter der Leitung eines Pflegers stehendes Komman-do brachte dann die Leichen auf den Friedhof der Anstalt. Bis zu 20 Patienten waren an einem Tag zu beerdigen. Sie erhielten keine Einzelgräber, sondern wurden in einem Massengrab ohne Sarg verscharrt.

Station 3a

Zweite Mordphase (1942-1945)

Quelle 4: Lilienthal 2006

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Gedenkstätte

Materialien für den eigenständigen Rundgang

LinktippsZitate von Martin Niemöller

Þ 3b01

AufgabenIn der Gedenkstätte1. Der Friedhof wurde 1964 umgestaltet. Vergleicht sein heutiges Aussehen

mit dem Foto auf Tafel 43.2. Schreibt auf, welche Bedeutung die Inschrift des Denkmals auf dem Fried-

hof für euch hat.

Zur Weiterarbeit3. Bei der Einweihung des neugestalteten Friedhofs hielt Martin Niemöller

eine Rede. Informiert euch über seine Person und diskutiert sein bekann-testes Zitat „Als die Nazis die Kommunisten holten...“ (siehe Linktipp).

Adolf Wahlmann(10.12.1876 - 6.10.1961)

Täter-Biographie Adolf WahlmannAdolf Wahlmann, geb. 1876 in Ehren-breitstein, studierte nach dem Abitur Medizin. 1905 erhielt er seine Aner-kennung als Facharzt für Psychiatrie. Wahlmann trat am 1. April 1933 der NSDAP und am 9. November 1934 der SS bei.

Von 1908 bis 1911 und von 1933 bis 1936 war er bereits als Psychiater in Hadamar tätig. Aufgrund des kriegs-bedingten Ärztemangels wurde Wahl-mann aus dem Ruhestand reaktiviert und 1942 erneut nach Hadamar ver-setzt. Als Chefarzt hielt er jeden Mor-gen mit der Oberschwester Huber und dem Oberpfleger Ruoff eine Bespre-chung ab, bei der abgestimmt wur-de, welche Patienten zu töten waren.

Darüber hinaus machte Wahlmann falsche Eintragungen in den Kranken-akten, um die Morde zu verschleiern.

1947 wurde Wahlmann wegen Mor-des zum Tode verurteilt. Das Urteil wurde nachträglich in eine lebens-längliche Haftstrafe umgewandelt. 1953 wurde er begnadigt. Wahlmann starb am 6. Oktober 1961.

Grabkreuz Sophia Dalhoff(13.12.1885 - 08.04.1945)

Opfer-Biographie Sophia DalhoffSophia Dalhoff wurde am 13. Dezem-ber 1885 im Kreis Steinfurt geboren. Von Mai bis Anfang August 1939 war sie in der psychiatrischen Abteilung in Münster untergebracht. Im März 1942 wurde sie dort erneut aufgenommen. Die Diagnose lautete „manischer Er-regungszustand“. Am 27. März 1942 kam sie nach Marienthal und von dort am 21. April 1942 in die Provinzial-heilanstalt Münster. Am 23. April war „dürftiger Ernährungszustand“ in der Akte vermerkt worden. Vom 1. Sep-tember bis 22. Dezember 1942 lebte sie aufgrund der Initiative ihres Soh-nes wieder zuhause, wurde aber am 22. Dezember 1942 erneut in Müns-ter eingeliefert. Ihr Sohn und ihr Mann schickten ihr viele Päckchen. Am 30.

Juni 1943 wurde sie nach Weilmüns-ter verlegt. Dort blieb sie fast zwei Jah-re. Am 23. März 1945 kam sie nach Hadamar und verstarb dort wenige Tage später, am 8. April 1945.

Ihr Sohn Erich wollte die sterblichen Überreste nach dem Krieg überführen lassen. Dies wurde ihm aber nicht ge-währt. Er ließ ein Holzkreuz anfertigen und auf dem Grab 486 aufstellen. Dieses Grab hatte man ihm als Ort der Beisetzung angegeben. Dort steht es bis heute. Es ist das einzige persön-liche „Denkmal“ für eine verstorbene Patientin, das sich auf dem Friedhof befindet.

Station 3b

Zweite Mordphase (1942-1945)

Quelle 5: George 2006

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Gedenkstätte

Materialien für den eigenständigen Rundgang

Bild zum Nachdenken

LinktippsUSHMM: The Hadamar Trial

Þ 4a01

Tafel 61

AufgabenIn der Gedenkstätte1. Überprüfe und ergänze die Informationen in der Ausstellung (Tafel 59-

65).

Zur Weiterarbeit2. Informiere dich zu den Einzelheiten des „Hadamar Trial“ (siehe Linktipp).

Stichworte Ö Befreiung Hadamars durch

amerikanische Truppen am 26. März 1945

Ö 1945 erster Prozess vor dem amerikanischen Militärgericht

Ö 1947 zweiter Prozess vor dem Landgericht Frankfurt/Main

Ö 1949-1958: Begnadigungen aller Verurteilten oder Aussetzung des Rests der Strafe auf Bewährung

Station 4a

InformationstextNach dem am 26. März 1945 die Amerikaner Hadamar befreiten, kam es vor dem amerikanischen Militär-gericht in Wiesbaden zu einem ers-ten Prozess. Angeklagt wurden u.a.: der Verwaltungsleiter Alfons Klein, die Pfleger Heinrich Ruoff und Phil-ipp Blum, die Krankenschwester Irm-gard Huber und der Chefarzt Adolf Wahlmann. Sie wurden angeklagt wegen der Ermordung ausländischer ZwangsarbeiterInnen. Die Amerikaner verurteilten Klein, Ruoff und Blum zum Tode und vollstreckten das Urteil in Butzbach.Huber wurde zu einer Haft-strafe von 25 Jahren verurteilt, Wahl-mann zu lebenslänglicher Haft.

Im Februar 1947 fand ein weiterer Prozess vor dem Landgericht Frank-furt/Main statt. Nachdem Huber und Wahlmann von den Amerikanern ausgeliefert worden waren, erhob das Gericht nun auch Anklage gegen Bodo Gorgass und weitere Personen. Sowohl Wahlmann als auch Gorgass wurden zum Tode verurteilt. Die Haft-zeiten für die anderen Angeklagten beliefen sich auf höchstens acht Jahre. Alle Verurteilten kamen zwischen 1949 und 1958 wieder auf freien Fuß, durch Begnadigung oder Ausset-zung des Rests der Strafe auf Bewäh-rung. Die Todesstrafen für Wahlmann und Gorgass wurden in lebenslange Haftstrafen verändert, nachdem das Grundgesetzt 1949 in Kraft trat, das keine Todesstrafen vorsah.

Die Hadamar-Prozesse

Quelle 6: Meusch 2006

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Gedenkstätte

Materialien für den eigenständigen Rundgang

Foto

LinktippsSpätere Karrieren der Täter

Þ 4b01

Beispiel Joseph Mengele Þ 4b02

AufgabenIn der Gedenkstätte1. Vergleiche die Biografien von anderen Täterinnen und Tätern mit der von

Hubert Gomerski (Tafel 34).

Zur Weiterarbeit2. Welche Karrieren konnten Täterinnen und Täter nach 1945 machen (sie-

he Linktipps)?

Die Hadamar-Prozesse

Station 4b

Hubert Gomerski(11.11.1911 - 28.12.1999)

Täter-Biographie Hubert Gomerski„Geboren wurde Hubert Gomerski am 11. November 1911 in Schweinheim bei Aschaffenburg. Nach der Volksschu-le begann er eine Lehre als Eisendreher, die er 1927 abschloss. 1931 trat er in die NSDAP ein, 1934 in die Allgemei-ne SS. Nach Kriegsbeginn wurde der 28-jährige im November 1939 zur Waf-fen-SS eingezogen und mit der 8. SS-To-tenkopfstandarte in Krakau stationiert, aber schon im Januar 1940 zur Poli-zeireserve nach Berlin abkommandiert. Dort wurde er wenige Monate später in die „Euthanasie“-Zentrale bestellt, wur-de dort für die Mordaktion rekrutiert und zum Schweigen verpflichtet. Die erste Station seiner Tätigkeit im Rahmen der „Euthanasie“-Morde war die Tötungs-anstalt Hartheim bei Linz. Nachdem er dort zunächst mit Büroarbeiten befasst war, wurde Hubert Gomerski zur Lei-chenverbrennung herangezogen. Die so genannten „Brenner“ arbeiteten di-rekt bei den Gaskammern. Nach dem eigentlichen Tötungsvorgang hatten sie die Leichen aus der Gaskammer zu zerren und in den Verbrennungsö-fen einzuäschern. Sie bekamen dafür neben ihren sonstigen Sonderzulagen auch tägliche Extrarationen Schnaps. Anfangs rief seine Tätigkeit als „Bren-ner“ bei ihm Ekel hervor, führte zu Übel-keit und Schlaflosigkeit. Es folgte seine Versetzung in die „Euthanasie“-Anstalt Hadamar. Anfangs arbeitete er dort als Schlosser in der Werkstatt, stand jedoch schon bald wieder zum Koksschaufeln an den Verbrennungsöfen. Im April 1942 kam er in das Vernichtungslager Sobibor, das damals noch im Aufbau begriffen war und wo er bis zur Auflö-sung des Lagers im Oktober 1943 blieb. Hier wurde er Weihnachten 1942 zum

SS-Unterscharführer befördert. Bei der Ankunft von Deportationszügen leitete er mittels einer Lorenbahn den Trans-port von Kranken und Gebrechlichen, die nicht zu Fuß zu den Gaskammern getrieben werden konnten. Unter den Häftlingen war Gomerski als äußerst brutaler und besonders gefährlicher SS-Mann gefürchtet, der zahlreiche Menschen wahllos erschoss oder durch grausame Handlungen ermordete. Nach Kriegsende zunächst wegen seiner Zugehörigkeit zur SS in einem alliierten Internierungslager inhaftiert, kam Hu-bert Gomerski im Zuge strafrechtlicher Ermittlungen gegen das ehemalige Per-sonal der Tötungsanstalt Hadamar im November 1946 in Untersuchungshaft. In dem anschließenden Prozess vor dem Landgericht Frankfurt am Main wur-de Gomerski am 21. März 1947 »aus Mangel an Beweisen« vom Vorwurf des Mordes oder der Beihilfe zum Mord freigesprochen und im Juli aus der Haft entlassen. Wenig später folgte ein wei-teres Gerichtsverfahren gegen ihn, dies-mal wegen der in Sobibor begangenen Verbrechen. Am 25. August 1950 wurde er „wegen Mordes in einer unbestimm-ten Anzahl von Fällen“ zu lebenslängli-chem Zuchthaus verurteilt. 1972 wurde er aus der Haft entlassen und der Pro-zess aufgrund eines Revisionsverfahrens wieder aufgenommen, das Urteil gegen Gomerski im Jahr 1977 auf 15 Jahre Haft reduziert. Eine erneute Wiederauf-nahme des Verfahrens wurde aufgrund von Verhandlungsunfähigkeit 1981 vor-läufig und 1984 endgültig beendet. Go-merski lebte bis zu seinem Tod am 28. Dezember 1999 in Frankfurt am Main.“

Quelle 7: gedenkort-t4 2013

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Gedenkstätte

Materialien für den eigenständigen Rundgang

Bild zum Nachdenken

Station 5a

AufgabenIn der Gedenkstätte1. Lies die Lebensgeschichten in der Ausstellung. Mit welchen Schwierigkei-

ten hatten die Opfer nach dem Krieg zu kämpfen (Tafeln 66-69)?

Zur Weiterarbeit2. Informiere dich über die Entwicklungsgeschichte der Entschädigungen für

die Euthanasieopfer (siehe Linktipps).

LinktippsBund der „Euthanasie“-Geschä-digten und Zwangssterilisierten BEZ

Þ 5a01

Kleine Bundestagsanfrage Die Linke

Þ 5a02

Zusammenfassung Þ 5a03

Stichworte Ö 1965: Das Bundes-

entschädigungsgesetz (BEG) tritt endgültig in Kraft ohne die Opfergruppe der Euthansiegeschädigten und Zwangssterilisierten

Ö 1980: Härtefond und Einmalzahlung

Ö 1987: Gründung des Bundes der Euthanasiegeschädigten und Zwangssterilisierten (BEZ)

Ö 2007: Das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses verstößt gegen das Grundgesetz

Entschädigung

InformationstextFolgende Meldung wurde am 21. März 2012 auf http://blog.gedenkort-t4.eu veröffentlicht:„Entschädigung für NS-”Euthanas-ie”-Verbrechen? Für drei Personen…Ja, Sie haben richtig gelesen: Was letz-tes Jahr so breit und groß angekündigt wurde, nämlich dass auch Euthanasie-geschädigte Anspruch auf eine erhöhte monatliche Rente von 291 Euro haben, ist auf ganzer Linie gescheitert. Exakt drei Personen haben Anspruch auf die erhöhte Rente aus einem solchen Titel. Dies erklärte die Bundesregierung in ihrer Antwort auf eine kleine Anfrage der Fraktion Die Linke im Bundestag. (Wir berichteten). Damit ist klar, was die Einschränkung auf “tatsächliche” Euthanasieopfer bedeutet:Nur diejenigen, die wie durch ein Wun-der im allerletzten Moment buchstäb-lich kurz vor der Gaskammer wegge-schickt wurden, bekommen die Rente. Schon Kinder, deren Eltern (oder ein El-ternteil) Opfer der NS-Gesundheitspo-litik wurden, und damit mitten im Krieg als (Halb-)Waisen dastanden, haben keinen Anspruch auf irgendeine Form der Entschädigung. Die Bundesregie-rung begründet dies folgendermaßen:“Sie schließt es nicht aus, dass es bei dem angesprochenen Personenkreis [d.s. Kinder von Euthanasieopfern] zu Traumatisierungen gekommen ist. Über Nachteile in deren beruflichem oder wirtschaftlichem Fortkommen lie-gen ihr keine Feststellungen vor.”Wenn es noch irgendeines Beweises bedurft hätte, dass die Stimmen von Opfern der NS-Euthanasie vollkom-men marginalisiert waren (und sind) und auch die Probleme und Schwierig-keiten von Angehörigen kaum an die

Öffentlichkeit dringen, hier wäre er zu haben.Jeder, der einmal Menschen zuge-hört hat, die sich auf die Suche nach Spuren ihrer in den Tötungsanstalten ermordeten Großeltern, Großtanten etc. gemacht haben, weiß gegentei-liges zu berichten. Dies alles vor ei-nem gesellschaftlichen Hintergrund, in dem immer öfter auf das Schicksal von Kriegskindern und ihre vielfältigen Traumatisierungen aufmerksam ge-macht wird. Hier werden, wenn man es denn böse formulieren will, die An-gehörigen von Euthanasieopfern das zweite Mal ausgeschlossen. Das erste Mal war vor 70 Jahren, und da hieß es noch Ausschluss aus der “Volksge-meinschaft”.Insgesamt wurden knapp 15.000 Men-schen entschädigt, wenn man diese Be-grifflichkeit denn gebrauchen will. Die-se Zahl könnte wesentlich höher sein, allein wurde den Opfern bereits 1961 jeglicher Entschädigungsanspruch ver-wehrt. Erst 1980 (Zwangssterilisierte) beziehungsweise 1988 (Euthanasie-geschädigte) wurde mit Zahlungen an die Opfer begonnen. Nicht unwesent-lichen Anteil daran, dass die Zahlen so gering waren, hatten Sachverständige, die in der NS-Zeit oft genug ihr Scher-flein zur “Vernichtung lebensunwerten Lebens” beitrugen.Erfreulich wenigstens, dass Ulla Jel-pke, die innenpolitische Sprecherin der Linken im Bundestag, ankündigte, das Thema weiter zu verfolgen. Umso schmerzhafter allerdings das allzu lau-te Schweigen der übrigen Parteien und sonstigen Zuständigen.“

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Ruth Preissler, Joseph Muscha Müller,

Hans Heissenberg, Martha E.

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Gedenkstätte

Materialien für den eigenständigen Rundgang

Foto

LinktippsArbeitsgemeinschaft Bund der „Euthanasie“-Geschädigten und Zwangssterilisierten

Þ 5b01

AufgabenIn der Gedenkstätte1. In welchem Zusammenhang wird Klara Nowak in der Ausstellung ge-

nannt? (Tafel 66-69)2. Welche Bedeutung für die Opfer der Euthanasie und Zwangssterilisation

kommt ihr zu (siehe Linktipp)?

Station 5b

Entschädigung

Opfer-Biographie Klara NowakKlara Nowak wurde im März 1922 in Berlin-Buchholz als älteste von drei Kin-dern geboren. Im April 1922 wurde sie in der evangelischen Kirche in Ber-lin-Niederschönhausen getauft.Ihr Vater war gelernter Kunst- und Landschaftsgärtner, doch die während der Weltwirtschaftskrise in Not gerate-ne Familie musste 1929 die Gärtnerei aufgeben. In ihren selbstverfassten Le-bensberichten beschreibt sie die Trauer, dass sie nicht dort bleiben konnten. Sie zogen in eine kleine 2-Zimmer-Hinter-hofwohnung in Berlin, in die keine Son-ne schien. Der Vater versuchte, die Not der Familie durch Sammeln von Holz, Pilzen und Beeren zu lindern. Nachdem der Vater in die Partei eingetreten war, erhielt er eine Arbeit als Gärtner. Es war aus ihren Dokumenten nicht zu erfah-ren, welche Partei es ist. Vermutlich ist es die NSDAP gewesen. Durch die Ar-beit des Vaters auf dem Reichssportfeld hatte die Familie dann ein bescheidenes Einkommen. Für Klara Nowak war der Aufenthalt ihres Bruders in der Heil-und Pflegeanstalt Eickelborn der Beginn ih-res eigenen Leidensweges. Sie vermutet, dass sie von einer Krankenschwester denunziert wurde, der sie, im Vertrauen auf Verständnis, von ihrem Bruder er-zählt hat und auch von ihrem Wunsch, Krankenschwester zu werden.Sie kam selbst zweimal in die Psychia-trie. Das erste Mal, wie sie berichtete, nach einem Sturz, das zweite Mal, als sie ihren inzwischen wieder in Berlin wohnenden Bruder, der in der Charité behandelt wurde, besuchen wollte. Die Entwürdigungen, die sie dort erlebte, sowie ihre kurze Zeit später erfolgte Zwangssterilisation, haben sie für immer traumatisiert.

Nach der Sterilisation, bis zum Kriegs-ende, schlug sie sich mit verschiedenen Arbeiten durch. Mit Unterbrechungen arbeitete Klara Nowak als Buchbinde-reiarbeiterin und später als Kontoris-tin im Scherl-Verlag in Berlin. Im Jahr 1942 war sie im Arbeitsdienst im Kreis Meseritz und kehrte dann wieder in den Verlag zurück. Von 1944 bis Kriegsende war sie in einem Berliner Kriegslazarett dienstverpflichtet. Und dann am 8. Mai 1945 — das Ende des Faschismus. Ber-lin zerbombt. Der Vater tot, beide Brüder tot. Klara flüchtet mit ihrer Mutter nach Halberstadt.In den fünfziger Jahren konnte sie dann endlich Krankenschwester werden. Erst in der DDR und später in der Bundes-republik Deutschland. 1974 war ihr Be-rufsleben zu Ende. Die Verstümmelung ihres Körpers und die immer wiederkeh-renden körperlichen Leiden, Folgeschä-den dieser Verletzungen, ließen sie zur Frührentnerin werden.1987 hat sie, mit einigen anderen Be-troffenen, und mit der Unterstützung von Prof. Dr. Dr. Klaus Dörner, den Bund der „Euthanasie“-Geschädigten und Zwangssterilisierten gegründet.Das große Verdienst von Klara Nowak war es, dass sie als betroffene Frau das lange Schweigen der Opfer gebrochen hat und seit der Zeit um die gesellschaft-liche Rehabilitierung der Opfer kämpfte.Die Gründung der Opferorganisation der Zwangssterilisierten und „Euthana-sie“-Geschädigten war ihr Lebenswerk, und es scheint ihr Wunsch gewesen zu sein, dass wir sie nur durch diese Akti-vitäten als Mensch kennenlernen sollen und so ihr Lebenswerk würdigen.

Quelle 8: Hamm 2006

Klara Nowak(geb. 1922 - gest. 14.12.2003)

Abb

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Gedenkstätte

Materialien für den eigenständigen Rundgang

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Teil 3Materialien für besondere BerufsgruppenIn diesem Teil finden Sie ergänzende Materialien mit Schwerpunkten, die für einzelne Berufsgruppen von Interesse sind.

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Materialien für den eigenständigen Rundgang

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Gedenkstätte

Materialien für den eigenständigen Rundgang

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Die Beteiligung von Schwestern und Pflegern an den Morden in Hadamar - Seite 1

Die Entwicklung der Krankenpflege im ausgehenden Kaiserreich und der Weimarer RepublikIm 19. Jahrhundert wurde die Pflege der gebrechlichen und kranken Menschen von Frauen geprägt. Diese unverheira-teten Frauen wurden in Orden und Mutterhäusern gemein-sam untergebracht und widmeten ihr Leben den Kranken. Die Krankenschwester sollte sich zu ihrem Tun berufen fühlen und als Frau und Christin handeln. Emotionale Qualitäten, die vermeintlich weiblich waren (Verständnis, Wärme, Ge-duld etc.) rückten unversehens in den Mittelpunkt pflegeri-scher Tätigkeit.Infolge sozialer und politischer Veränderungen des 19. Jahr-hunderts wurden Krankenhäuser zusehends zu Zentren der medizinischen Diagnostik. Die Monopolstellung der Kirche schwand unter dem wachsenden Einfluss der Ärzte spürbar. Die Mediziner wollten ein Pflegepersonal, das ihnen zuar-beitete und dabei aber eine unselbstständigere Position ein-nahm als die Schwestern, die zuvor eine höhere Eigenverant-wortung in den Krankenhäusern hatten. Die Krankenpflege musste sich mit dem, was die Medizin ihr übrig ließ, zufrie-den geben. Sie sollte sich vorwiegend um die Grundpflege der PatientInnen, die Umsetzung ärztlicher Anweisungen, die Patientenbeobachtung und die für den Therapieprozess unverzichtbare menschliche Zuwendung kümmern. Wissen-schaftlichkeit blieb somit der medizinischen Disziplin vorbe-halten, wodurch die im Bereich der Krankenpflege Tätigen die Gelegenheit zur eigenständigen Entwicklung der Fähig-keiten ihres Berufes versäumten. Zudem herrschten Uneinig-keiten, Abgrenzungen und gegenseitige Anschuldigungen zwischen dem proletarischen (gewerkschaftsnahe Lohnwär-ter und Lohnwärterinnen) und dem bürgerlichen Flügel (Be-rufsorganisation der Krankenpflegerinnen Deutschlands). Dies hemmte den Professionalisierungsprozess gegen die re-ligiös motivierte Krankenpflege und überließ ihn der Fremd-bestimmung - besonders durch die Medizin. Um die Jahrhundertwende entwickelte sich langsam die frei-berufliche Krankenpflege und zu Beginn des 20. Jahrhun-derts hatte sich die Krankenpflege als Beruf im ausgehenden Kaiserreich und der Weimarer Republik etabliert. Ihrer so-zialen Herkunft nach stammten die Schwestern und Pfleger überwiegend aus der Arbeiterklasse oder aus der Schicht der selbstständigen Kleineigentümer in Handel, Handwerk und Landwirtschaft. Unter dem Krankenpflegepersonal be-fand sich auch eine Gruppe von Frauen aus gehobenen Schichten, die allerdings quantitativ klein war. Auch viele „gescheiterte Existenzen“ ergriffen den Beruf des Kranken-pflegers, wie zum Beispiel arbeitslose Männer, die den Beruf als Durchgangsberuf ansahen, wenn sie sonst keine Arbeit hatten. Die Schwerpunkte der Ausbildungsinhalte waren vorwiegend naturwissenschaftlich. Die im heutigen Sprachgebrauch als „psychosozial“ bezeichnete Seite der krankenpflegerischen Tätigkeit fand keine Beachtung, sie blieb dem Zufall und persönlichem Engagement der Schwestern und Pfleger über-lassen. Der Krankenpflege gelang es nicht, den leidenden Menschen in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen zu stellen und so versäumte sie es, eine Grundlage zur Missbilligung menschenverachtender Ideologien zu schaffen. Von einem einheitlichen sozialen Ansehen des Krankenpfle-gepersonals kann nicht gesprochen werden. Pfleger und Schwestern, die z.B. im Bereich der Psychiatrie tätig waren, genossen in den Augen der Öffentlichkeit ein äußerst ge-

ringes Ansehen, was in Zusammenhang mit dem von ihnen betreuten Personenkreis gesehen werden kann. Da es sich hierbei um arme, rechtlose, kranke, verstörte und sozial des-integrierte Menschen handelte, färbte deren gesellschaftli-che Ächtung auch auf jene ab, die sich beruflich mit ihnen befassten.

Arbeitswelt der KrankenpflegeFormaljuristisch war die Arbeitswelt des Krankenpflege-personals zu dieser Zeit beinahe ungeregelt. Da es kaum gesetzliche Grundlagen gab, waren die Arbeitsbedingun-gen des Pflegepersonals verheerend. Das Personal war z.B. übermäßig langen Arbeitszeiten, fehlenden Regenerations-zeiten, ungenügender Bezahlung und katastrophalen Wohn-verhältnissen ausgesetzt. Ihre eigene Gesundheit litt eben-falls. Daher war es nicht verwunderlich, dass unter diesen Bedingungen die Krankenpflege kein attraktiver Beruf war und chronischer Personalmangel vorherrschte. In der Weimarer Republik erkämpfte die Arbeiterbewegung auch für die Krankenpflege Verbesserungen, die nicht ge-schmälert werden sollten. Dennoch stieß der Nationalsozia-lismus auf eine Berufsgruppe, deren Forderungen nach einer menschlichen Patientenversorgung bereits vor 1933 durch die jahrelange Gewöhnung an schlechte Arbeitsbedingun-gen und die damit verbundenen Kürzungen in der Kranken-betreuung schwächer wurden. Eine vehemente Zurückwei-sung der faschistischen Sozial- und Gesundheitspolitik war somit von Seiten des Pflegepersonals nicht zu erwarten.

KrankenpflegeorganisationenIm Jahr 1924 gab es über fünfzig bestehende unterschied-liche Organisationen des Krankenpflegepersonals. Einen starken Zulauf hatten Organisationen der caritativen Kran-kenpflege (katholische Ordensschwestern, evangelische Diakonissen, Rot-Kreuz-Schwestern und Johanniterinnen), nach Schätzungen gehörten ihnen 47.000 Krankenpflege-rinnen an. (Das männliche Pflegepersonal blieb in diesen Zahlen offensichtlich unberücksichtigt.)Verbände, die auf weltlicher oder halb-weltlicher Grundla-ge arbeiteten (Berufsorganisation der Krankenpflegerinnen, Gewerkschaften, staatliche und städtische Verbände, evan-gelische Diakonievereine, Verband katholisch-weltlicher Krankenpflegerinnen und Fachverbände), konnten nicht mehr als 10% (ca. 7000) der deutschen Krankenschwestern an sich binden. Gründe hierfür waren z.B. fehlendes Klas-senbewusstsein und das häufige Verbot von Anstaltsleitun-gen beruflichen Organisationen beizutreten. Es entstanden dem organisierten Teil der Belegschaft zum Teil erhebliche Nachteile, dies betraf vor allem die gewerkschaftlichen oder gewerkschaftsnahen Verbände. Daraus lässt sich folgern, dass die zunächst unvermeidbare gegenseitige Abgrenzung der unterschiedlichen Krankenpflegeorganisationen lang-fristig das Zustandekommen einer einheitlichen und durch-setzungsfähigen Interessensvertretung verhinderte. Einerseits ergaben sich damit Nachteile für die konkreten Arbeitsbe-dingungen des Pflegepersonals zu der damaligen Zeit, der gewerkschaftliche Kampf um geregelte Arbeitszeiten und angemessene Entlohnung war schwierig. Andererseits und weniger offensichtlich war aber die „potentielle Anfälligkeit eines gewerkschaftlich unterentwickelten Sektors für antide-mokratische Strömungen“ (Wettlaufer, S. 288). Die national-sozialistische Vereinnahmung der Krankenpflege könnte im

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Gedenkstätte

Materialien für den eigenständigen Rundgang

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Die Beteiligung von Schwestern und Pflegern an den Morden in Hadamar - Seite 2

Wesentlichen durch das Fehlen oder Schwächen einer stark organisierten Arbeiterbewegung erfolgt sein.

Krankenpflege und NationalsozialismusNach Errichtung des nationalsozialistischen Staates begann die Umorganisierung des Gesundheitswesens im Deutschen Reich. Die zuvor freien Verbände wurden weitgehend ins System integriert und gleichgeschaltet. Ziel war es, die Kran-kenpflege, die bis dahin in mehreren zersplitterten Verbän-den organisiert war, unter NS-Regie zusammenzufassen. Die „Nationalsozialistische Volkswohlfahrt“ (NSV), die 1932 als NS-Parteiverband gegründet worden war, wurde Dachor-ganisation des Gesundheitswesens. Es war nun nicht mehr das Wohl des Individuums entscheidend, sondern das der Gemeinschaft.

Ausbildung des Pflegepersonals Die NSV richtete Schwesternschulen ein, die eine Kranken-pflegeausbildung im „nationalsozialistischen Geiste“ leisten sollten. Weltanschaulicher Unterricht und fachliche Schu-lung, geprägt von nationalsozialistischem Gedankengut, wurden miteinander verbunden. So nahm die „Erb- und Ras-senpflege“ im Fachunterricht einen dementsprechend hohen Stellenwert ein. Die Pflegekräfte besaßen großes Vertrauen innerhalb der Bevölkerung und kamen mit allen Schich-ten in Kontakt, daher sollte diese Offenheit gegenüber den Schwestern und Pflegern propagandistisch genutzt werden. Der Fortpflanzungswillen der „hochwertigen Volksgenossen“ wurde gestärkt, während der „Minderwertige“ dazu überre-det wurde, sich in sein Schicksal zu fügen. Die Zwangsste-rilisation brachte man den Betroffenen mit dem Argument näher, dass sie sich als besonders verantwortungsbewusste und wertvolle Mitglieder der Volksgemeinschaft erwiesen.Die Ausbildung beim angehenden Pflegepersonal der Psych-iatrie zielte darauf ab, eine innere Einstellung hervorzubrin-gen, die dem psychisch Kranken „rassische Minderwertig-keit“ und „ökonomische Nutzlosigkeit“ unterstellte. In der Art und Weise wie Krankenpfleger/innen nach 1933 qualifiziert wurden, war schon latent die Missachtung der Persönlich-keitsrechte psychisch kranker Menschen und damit das spä-tere Einverständnis bzw. die Bereitschaft an ihrer Ermordung angelegt.

Das Hadamarer Pflegepersonal in der Zeit zwischen 1941 und 1945Der Personenkreis, der während der zwei Mordphasen in Hadamar beschäftigt war, wurde zur Durchführung der „Ak-tion T4“ eingestellt und setzte sich aus zwei Gruppen zusam-men. Das sogenannte „Berliner“ Personal trat Ende 1939 der „Gemeinnützigen Stiftung für Anstaltspflege“ bei, wur-de dienstverpflichtet und erwarb bereits in Grafeneck 1940 eine entsprechende Mordpraxis. Aus Schilderungen dieses Pflegepersonals geht hervor, dass sie in Berlin eingehend über das Tötungsprogramm informiert wurden, um sie zur Mitarbeit zu bewegen. Je mehr man auf die Mitwirkung der Betroffenen, wie z.B. Gutachter und Ärzte, angewiesen war, desto umfassender informierte man sie über das geplante Vorhaben, ging auf mögliche Bedenken ein und „akzeptierte nötigenfalls auch eine ablehnende Antwort“ (Wettlaufer, S. 296). Wie die Entscheidung auch ausfiel, das Personal wurde anschließend durch einen Eid zum Stillschweigen verpflich-tet. Die andere Gruppe bestand aus Schwestern und Pflegern

der Landesheilanstalt Hadamar, die bereits vor 1940 in der Landesheilanstalt Hadamar pflegerisch tätig waren und der Berliner Zentralorganisation (T4) vom Bezirksverband Hes-sen-Nassau zur Verfügung gestellt wurden. Sie wurden vom leitenden Verwaltungsbeamten Alfons Klein und dem Wies-badener Anstaltsdezernenten Bernotat ebenfalls durch Eid zum Stillschweigen verpflichtet. Ihnen wurde für den Fall der Nichteinhaltung mit KZ-Haft oder der Todesstrafe gedroht. Es zeigt sich, dass unabhängig vom Ort der Anwerbung - Berlin oder Hadamar - bei der Zusammensetzung des Mord-personals auf kontinuierliche Psychiatrieerfahrung, politische Loyalität und hohe Anpassungsbereitschaft Wert gelegt wurde. Menschen mit sadistischen Persönlichkeitsstrukturen nahm man nicht vorsätzlich im Kreis des Mordkaders auf, derartige Verhaltensweisen wurden im Einzelfall dennoch gefördert oder toleriert, aber ihr Fehlen hätte den Ablauf des Mordprogrammes nicht beeinflusst.

Die erste Mordphase in Hadamar (1941)Das Pflegepersonal hatte in der ersten Mordphase verschie-dene Aufgaben. Eine wesentliche Aufgabe war die Beglei-tung der Bustransporte von den Zwischenanstalten in die Tötungsanstalt. Nach der Ankunft in Hadamar begleitete das Pflegepersonal die Opfer in den Auskleide-, Büro-, Arzt-, Foto- und Warteraum und schließlich in die Gaskammer. Einzelne Schwestern wurden in der Küche oder in der Wasch-küche beschäftigt. Bei der Sortierung und Verwaltung der den Ermordeten abgenommenen Wertgegenständen und Kleidungsstücke kamen ebenfalls Pflegekräfte zum Einsatz.Hinsichtlich der von Schwestern verrichteten Arbeiten erga-ben sich im Vergleich zu den Beschäftigungen der männ-lichen Pfleger keine bedeutsamen Unterschiede. Männer und Frauen begleiteten die Opfer sowohl beim Transport als auch in den Foto- und Gaskammervorraum. Nach dem Ende der ersten Mordphase im August 1941 gin-gen einige Mitarbeiter zur Berliner Zentrale zurück, einige wechselten in die Anstalten Bernburg und Eichberg oder man setzte sie zu anderen anfallenden Arbeiten der „Aktion T4“ ein. Das in Hadamar verbliebende Personal erledigte Büro-, Haus- und Gartenarbeiten. Anfang des Jahres 1942 meldete sich ein Teil der Belegschaft, auch Schwestern und Pfleger, an die russische Ostfront.

Die zweite Mordphase in Hadamar (1942-1945)Im Frühjahr 1942 wurde die Anstalt Hadamar zur Wieder-aufnahme von Patienten und Patientinnen eingerichtet. Das in Hadamar verbliebene Pflegepersonal wurde anfangs durch Schwestern aus Berlin verstärkt. Landesrat Bernotat, Verwaltungsleiter Klein und einige Abgesandte der Berliner T4-Zentrale setzten das Personal über die Wiederaufnahme des Massenmords und das veränderte Tötungsverfahren in Kenntnis. Nun führten die Schwestern und Pfleger die Tötun-gen eigenhändig aus und nahmen darüber hinaus Einfluss auf den Tötungszeitpunkt. Das neue Tötungsverfahren beinhaltete eine unmittelbarere Tatbeteiligung und führte möglicherweise dazu, dass einigen Pflegekräften das Morden schwerer fiel. Ein Beleg hierfür ist die Aussage einer Schwester: „Ich merkte, daß ich nun un-mittelbar töten sollte… Es dauerte lange Zeit, bis ich mich dazu durchgerungen hatte, den bestimmten Kranken die Ta-bletten zu geben“ (Wettlaufer, S.300).

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Das Verhältnis des Pflegepersonals in Hadamar zu den ÄrztenDas Verhältnis zwischen der Ärzteschaft und dem Pflegeper-sonal war traditionell durch Unterordnung bestimmt. Das zu dieser Rollenverteilung passende berufliche Selbstverständnis wird in den Prozessaussagen vieler Hadamarer Schwestern deutlich: „Wir hatten ja keine Verantwortung, alles machten die Ärzte“ (Wettlaufer, 307). Hinzu kam eine uneingeschränkte Ehrfurcht und ein nicht zu erschütterndes Vertrauen des Pflegepersonals in die fachli-che Kompetenz und den medizinischen Ethos ihrer ärztlichen Vorgesetzten.

Das Schuldbewusstsein der Täter/innenAnhand von Prozessaussagen lässt sich feststellen, dass es insbesondere bei den Frauen durchaus gewisse Bedenken gegen das Morden gab. Es ist allerdings fraglich, ob diese Einwände wirklich existierten oder es sich hierbei vielleicht um eine Verteidigungsstrategie vor Gericht handelte. Bei allen Tätern findet man eine ausgeprägte und unreflek-tierte Gehorsamshaltung, die durch die patriarchalisch-au-toritären Strukturen der psychiatrischen Anstalten und durch gesellschaftliche Formen autoritärer Erziehung vermittelt und tradiert wurde. Den betroffenen Personen wurden im Rah-men ihrer familiären und schulischen Erziehung eindringlich das sofortige Befolgen von Anweisungen der Eltern, vor al-lem des Vaters, sowie des Lehrers beigebracht. Dabei hatten Mädchen sich nicht nur klar definierten Autoritätspersonen, sondern dem Manne schlechthin zu unterwerfen. Es ist nicht verwunderlich, dass sie hinsichtlich doppelter Zwänge Ent-scheidungsschwäche, Passivität und Angst vor Verantwor-tung und Widerspruch entwickelten. Bei der Gruppe der Pfleger trug die Teilnahme am 1. Welt-krieg zweifelsfrei zu einer weiteren Verinnerlichung und Ak-zeptanz starrer Befehlsstrukturen bei.

SchlussAbschließend bleibt zu erwähnen, dass sich viele Täter und Täterinnen vor Gericht auf die „eigene „untergeordnete“ Rolle beriefen und auf die Verantwortlichkeit des nächst-höheren Befehlsgebers verwiesen“. Bei der Urteilsfindung 1947/48 erkannten die Richter den Einwand des fehlenden Unrechtsbewusstseins, des Rechtsirrtums, des tatsächlichen oder vermeintlichen Befehlsnotstands nicht an. Die Ange-klagten seien zwar zur strengen Verschwiegenheit verpflich-tet gewesen, vereidigt und mit schweren Strafen bedroht worden - wenn man dagegen verstoßen hätte - aber von Befehlsnotstand zu sprechen, würde nicht zutreffen. Anträge auf Arbeitsplatzwechsel, so die Richter, seien, wenn nicht aus anderen Gründen Bruch der Verschwiegenheit zu befürchten war, nicht abgelehnt worden, wie einige Beispiele belegten. Wer ausscheiden wollte, sei vielleicht auf die allgemein be-stehende Arbeitspflicht hingewiesen, aber nicht bedroht wor-den. „Nur wer durch aktives Handeln die Fortsetzung der Morde behindert hätte, habe mit Bestrafung rechnen müs-sen“, so die Richter.

Die Beteiligung von Schwestern und Pflegern an den Morden in Hadamar - Seite 3

Antje Wettlaufer: Die Beteiligung von Schwestern und Pfle-gern an den Morden in Hadamar. In: Dorothee Roer/Dieter Henkel (Hrsg.): Psychiatrie im Faschismus. Die Anstalt Hada-mar 1933-1945, Frankfurt am Main 1996, S. 283-330.

Reader zum Thema „Krankenpflege“ zusammengestellt v. Peter Sandner, unter Einbeziehung einer Arbeit von Bärbel Maul, April 1992, S. 1 – 11.

http://www.geschichte-der-pflege.info/datenbanken/who-was-who/92206-biographie, Stand: 20.05.2015.

(Text zusammengestellt von Patricia Birkenfeld)

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Aussagen im Rahmen des Frankfurter Hadamar Prozesses von 1947„Ich hatte die Vertretung von Schwester Käthe H., wenn die Nachtwache hatte oder frei hatte. Dann sagte sie mir, als sie das erstemal frei hatte, daß ich das tun müßte, jetzt. Ich habe es getan.“

„Was ich getan habe? Die Schwester Käthe hat mir gesagt, wie es zu tun wäre, daß die Kranken in der Abendstunde, entweder vor dem Abendessen oder nach dem Abendessen. Damals, 1943, waren die Tabletten noch besser, daß die Kranken 8 – 10 Tabletten Veronal oder Trional bekämen und am anderen Morgen, im Falle sie nicht gestorben wären, eine Injektion bekommen würden von 1 ccm, höchstens 2 ccm. Das habe ich gemacht, die Tabletten und die Injektion, ja.“

„Was in meinem Inneren vorgegangen ist? Ich habe erstens als den Auftrag erkannt, den ich zu erfüllen habe, und daß ich doch dagegen auch nicht an kann.“

„Eine Möglichkeit eine andere Arbeit in der Anstalt zu machen, wenn ich mit diesen Tötungen nichts zu tun hatte? Nein, die anderen Betriebe waren alle besetzt…. Eine untergeordnete Tätigkeit? Die Waschküche war besetzt und der Nähsaal, da konnte ich auch nicht hin. In die Küche konnte ich nicht, weil ich das nicht kann, das wäre mir zu schwer gewesen.“

„Vor meinem Gewissen Gedanken gemacht? Oh ja, das habe ich, aber da war es zu spät.“

Täterinnen-Biographie Margarete BorkowskiMargarete (“Gretel“) Borkowski wur-de am 10.10.1884 in Königsberg/Ostpreußen geboren. Sie war ausge-bildete Fürsorgeerziehungsschwester und arbeitete in diesem Beruf ca. 15 Jahre in Berlin, Frankfurt an der Oder und in Brandenburg.Ab April 1924 trat sie dem BV (Be-zirksverband) Nassau bei und war als Schwester in der Landesheilanstalt Hadamar für das sogenannte “Psy-chopathinnenheim“ tätig. Nach Aus-bruch des Krieges versetzte man Mar-garete Borkowski am 01.10.1939 in die Landesheilanstalt Herborn. Zeit-weise arbeitete sie auch in der HEA (Heil- und Erziehungsanstalt) Kal-menhof und in der Landesheilanstalt Weilmünster. Von dort aus wurde sie am 25.01.1943 in die Landesheilan-stalt Hadamar versetzt. Sie half so-wohl beim Verabreichen von Medi-kamenten in tödlicher Überdosis als auch beim Injizieren von Giftspritzen an die Patienten und Patientinnen. Am 07.07.1945 wurde Margarete Borowski aus dem Dienst entlassen und durch die US-Militärpolizei bis Oktober 1945 inhaftiert. Im ameri-kanischen Hadamar-Prozess, der zu diesem Zeitpunkt in Wiesbaden statt-fand, war sie Zeugin. Am 14.02.1946 lag gegen sie erneut ein Haftbefehl vor, sie wurde entweder in Hadamar oder Limburg festgenommen und kam erneut in Untersuchungshaft in Limburg. Am 02.02.1946 war die

Anklageerhebung im Hadamar-Pro-zess in Frankfurt und am 26.03.1947 verurteilte man Margarete Borkowski zu 2 ½ Jahren Zuchthaus. Das Urteil wurde zunächst nicht rechtskräftig und bevor es zu einer Entscheidung im Revisionsverfahren kam, verstarb sie 1948.

Peter Sandner: Verwaltung des Kran-kenmordes. Der Bezirksverband Nassau im Nationalsozialismus, (= Historische Schriftenreihe des Lan-deswohlfahrtsverbandes Hessen, Hochschulschriften Bd..2), S. 726 - 727. HHStA WI, Abt. 461, Nr. 32061, Ver-nehmung Margarete Borkowski, S. 8 und 10, Verhandlung 1947.

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Aussagen im Rahmen des Frankfurter Hadamar Prozesses von 1947„Das Gewissen geschlagen? Das schon. Aber es hatte doch alles gar keinen Zweck, mich darüber zu äußern, denn wo gab es für einen Pfleger eine Stelle, wo er sich bescheren konnte?! Bei Herrn Klein konnten wir uns nicht beschweren. Der hat uns gesagt: wenn Euch das nicht paßt, dann komm Ihr eben zum Militär oder dergl..“

„(Auf Vorhalt.) Das wäre nicht schlimm gewesen. Ich war ja froh, als im Oktober der Gestellungsbefehl kam und ich zum Militär schließlich wieder käme. Das wäre für mich – (Vorhalt.) Dann habe ich mir wieder gesagt: der Arzt, der die Anordnungen gibt als Vorgesetzter, der trägt die Verantwortung. Denn es wird wohl jedem von den Pflegern und Pflegerinnen bekannt sein, daß es bei den Schulungen immer geheißen hat: den Anordnungen des Arztes ist unbedingt Folge zu leisten als Vorgesetzter. Weigert sich ein Pfleger, oder führt er irrtümlicherweise etwas Falsches aus, so wird der betreffende Pfleger als unbrauchbar bezeichnet. Das waren so ungefähr die Redensarten der Ärzte bei den Schulun-gen. Und der Arzt als Vorgesetzter, dem mußte man doch eben Folge leisten. Es wurde uns auch immer befohlen und es wurde immer gesagt, daß derjenige, der befiehlt, daß der auch die Verantwortung trägt.“

„Für richtig gehalten, daß man Geisteskranke in dem Zustand nicht mehr weiter ernährt? Ja, Gedanken habe ich mir schon gemacht. Aber die Patienten, die man hatte, die waren körperlich so schlecht, daß sie manchmal überhaupt nicht mehr stehen konnten, daß sie zum großen Teil verhungert sind. Und da war es doch eine Wohltat von meiner Auffassung aus, daß solche Leute möglichst schnell starben.“

„Daß sie fast verhungert waren? Diese schlechte Ernährung. Die Leute bekamen weiter nichts wie Wassersuppe, wie auch gestern schon Dr. Wahlmann sagte: Brennnesselsuppe und dergleichen.“

Täter-Biographie Paul ReuterPaul Reuter wurde am 18.06.1907 in Wolfenhausen bei Weilmünster gebo-ren. Er erlernte den Beruf des Gärt-ners. Von Juni bis Dezember 1930 war er Mitglied der NSDAP, ab 1933 trat er erneut der NSDAP bei (Mitglieds-nummer: 262.532) und wurde spä-ter Blockleiter. 1935 gehörte er auch der SA (Sturmabteilung) und der DAF (Deutsche Arbeitsfront) an. Ab Juni 1936 kam Paul Reuter zum BV (Bezirks-verband Nassau) als Lernpfleger in die LHA (Landesheilanstalt) Weilmünster und arbeitete zeitweise auch in der LHA Herborn. In Weilmünster bestand er die Abschlussprüfung als Pfleger und wurde 1939, rückwirkend für 1938, als „alter Kämpfer“ verbeamtet und blieb dort. Von Juni bis Oktober 1940 leistete Reuter den Kriegsdienst bei der Wehr-macht und er erhielt im Oktober 1940 eine UK-Stellung (Unabkömmlichkeits-stellung) für die LHA Weilmünster.Am 28.07.1941 versetzte man Paul Reuter in die LHA Hadamar, wo er sich an den „T4“-Aktionen beteiligte. Da die erste Mordphase am 24. August 1941 endete, war die „T4“ bestrebt, vorü-bergehende Einsatzmöglichkeiten für das Personal zu finden. Dazu gehörte der so genannte „Osteinsatz“, an dem auch Paul Reuter teilnahm. Die „T4“ or-ganisierte vermutlich die Rettung und den Rücktransport verwundeter Solda-ten im Gebiet von Minsk. So brachen über 20 Mitarbeiter/innen aus Hada-mar freiwillig auf, um sich an der Akti-

on zu beteiligen. Nach dem Ende die-ses „Osteinsatzes“ in Minsk kehrten sie im März 1942 nach Hadamar zurück. Zwischen Dezember 1941 und Juni 1942 wurde ein großer Teil des Hada-marer Personals zur Überbrückung auch in andere Anstalten, wie z.B. nach Eichberg oder Weilmünster, ge-schickt. Paul Reuter arbeitete daher vor und nach dem „Osteinsatz“ in der LHA Eichberg. Ab August 1942 war er wieder in der LHA Hadamar tätig, wurde im Febru-ar 1943 zur Wehrmacht eingezogen und diente bis Kriegsende. Seit dem 7. März 1946 saß Paul Reuter in Un-tersuchungshaft und nachdem man im April 1946 Anklage gegen ihn erhoben hatte, verurteilte ihn das Landgericht Frankfurt am Main im März 1947 im Hadamar-Prozess wegen Beilhilfe zum Mord zu 4½ Jahren Zuchthaus. Am 20.Oktober 1948 erfolgte die Verurteilung von Paul Reuter in der 2. Instanz durch das Oberlandesgericht (OLG) in Frankfurt am Main. Das Straf-maß wurde beibehalten, aber man sprach ihn statt „Beihilfe zum Mord in einer unbestimmten Anzahl von Fällen“ wegen „Mordes in 10 Fällen und wegen Beihilfe zum Mord in einer unbestimm-ten Anzahl von Fällen“ für schuldig.Es ist nicht bekannt, ob Paul Reuter nach Verbüßung der Haftstrafte noch einmal beruflich in der Pflege arbeitete. Er starb am 22. Januar 1995 in Weil-münster im Alter von 87 Jahren.

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Literaturverzeichnis

QuellennachweisQuelle 1: Informationstext ZwangssterilisationenRegine Gabriel/Bärbel Maul/Peter Sandner: Informations- und Arbeitsmaterialien für den Unterricht zum Thema „Eut-hanasie“-Verbrechen im Nationalsozialismus, Redaktion: Bettina Winter/Hubert Hecker, hrsg. vom Landeswohlfahrts-verband Hessen (Unterrichtsmaterialien 1), 3. Aufl., 2005.

Peter Sandner: Die Landesheilanstalt Hadamar 1933 – 1945 als Einrichtung des Bezirksverbandes Nassau (Wiesba-den. In: Uta George, Georg Lilienthal, Volker Roelcke, Peter Sandner, Christina Vanja (Hg.): Heilstätte, Tötungsanstalt, Therapiezentrum Hadamar. Marburg 2006, S. 136 – 155. (gekürzt/bearbeitet von P. Birkenfeld)

Quelle 2: Biographie Anna V.LWV (Hg.): Verlegt nach Hadamar. Die Geschichte einer NS-Euthanasie“-Anstalt. Begleitband zur Ausstellung. 3. Auf-lage. Kassel, 2002.

Quelle 3: Informationstext Erste PhaseGeorg Lilienthal: Gaskammer und Überdosis. Die Landesheilanstalt Hadamar als Mordzentrum (1941 – 1945). In: Uta George, Georg Lilienthal, Volker Roelcke, Peter Sandner, Christina Vanja (Hg.): Heilstätte, Tötungsanstalt, Thera-piezentrum Hadamar. Marburg 2006, S.156 - 175. (gekürzt/bearbeitet von R. Gabriel)

Quelle 4: Informationstext Zweite MordphaseGeorg Lilienthal: Gaskammer und Überdosis. Die Landesheilanstalt Hadamar als Mordzentrum (1941 – 1945). In: Uta George, Georg Lilienthal, Volker Roelcke, Peter Sandner, Christina Vanja (Hg.): Heilstätte, Tötungsanstalt, Thera-piezentrum Hadamar. Marburg 2006, S.156 - 175. (gekürzt/bearbeitet von R. Gabriel)

Quelle 5: Biographie Sophia DalhoffUta George: „Erholte sich nicht mehr. Heute exitus an Marasmus senilis. Die Opfer der Jahre 1942 – 1945 in Hada-mar. In: Uta George, Georg Lilienthal, Volker Roelcke, Peter Sandner, Christina Vanja (Hg.): Heilstätte, Tötungsanstalt, Therapiezentrum Hadamar. Marburg 2006, S.246-248. (gekürzt/bearbeitet von R. Gabriel)

Quelle 6: Informationstext ProzesseMatthias Meusch: Die strafrechtliche Verfolgung der Hadamarer „Euthanasie“-Morde. In: Uta George, Georg Lili-enthal, Volker Roelcke, Peter Sandner, Christina Vanja (Hg.): Heilstätte, Tötungsanstalt, Therapiezentrum Hadamar. Marburg 2006, S.305-326. (gekürzt/bearbeitet von R. Gabriel)

Quelle 7: Biographie Hubert Gomerskihttp://www.gedenkort-t4.eu/de/vergangenheit/gomerski-hubert, Stand: 13.01.14. (gekürzt/bearbeitet von P. Birken-feld)

Quelle 8: Biographie Klara Nowak Margret Hamm: Lebensgeschichten – Klara Nowak. In: Margret Hamm (Hg.): Lebensunwert zerstörte Leben. – Zwangs-sterilisation und „Euthanasie“, Frankfurt/M. 2006, S. 57-58.

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Literaturverzeichnis

Bildnachweis1) LWV (Hg.): Verlegt nach Hadamar. Die Geschichte einer NS-Euthanasie“-Anstalt. Begleitband zur Ausstellung. 3.

Auflage. Kassel, 2002, S. 96.2) a.a.O.: S. 413) a.a.O.: S. 514) a.a.O.: S. 885) a.a.O.: S. 1076) Uta George/Georg Lilienthal/Volker Roelcke/Peter Sandner/Christina Vanja (Hg.): Heilstätte, Tötungsanstalt, The-

rapiezentrum Hadamar. Marburg 2006, S.2777) LWV (Hg.): Verlegt nach Hadamar. Die Geschichte einer NS-Euthanasie“-Anstalt. Begleitband zur Ausstellung. 3.

Auflage. Kassel, 2002, S. 151.8) Grabkreuz Sophia Dalhoff auf dem Friedhof der Gedenkstätte Hadamar (Uta George)9) http://de.wikipedia.org/wiki/Adolf_Wahlmann, Stand: 13.01.2014.10) LWV (Hg.): Verlegt nach Hadamar. Die Geschichte einer NS-Euthanasie“-Anstalt. Begleitband zur Ausstellung. 3.

Auflage. Kassel, 2002, S. 16711) http://www.gedenkort-t4.eu/de/vergangenheit/gomerski-hubert, Stand: 13.01.2014.12) Margret Hamm (Hg.): Lebensunwert zerstörte Leben. – Zwangssterilisation und „Euthanasie“, Frankfurt/M. 2006,

S. 60, 48, 31, 28.13) a.a.O.: S. 57 und Einweihung der Gedenkglocke 13. Juni 1991 (Gedenkstätte Hadamar)

Verwendete LiteraturRegine Gabriel/Bärbel Maul/Peter Sandner: Informations- und Arbeitsmaterialien für den Unterricht zum Thema „Eut-hanasie“-Verbrechen im Nationalsozialismus, Redaktion: Bettina Winter/Hubert Hecker, hrsg. vom Landeswohlfahrts-verband Hessen (Unterrichtsmaterialien 1), 3. Aufl., 2005.

Uta George/Georg Lilienthal/Volker Roelcke/Peter Sandner/Christina Vanja (Hg.): Heilstätte, Tötungsanstalt, Therapie-zentrum Hadamar. Marburg 2006, S.246-248.

Kerstin Griese in Zusammenarbeit mit Regine Gabriel und Angela Genger: Opfer von Zwangssterilisation und NS- „Euthanasie“ in der Rheinprovinz. Eine didaktische Arbeitshilfe mit Dokumenten, Bildern und Texten für Schule und Bildungsarbeit. Düsseldorf 2001.

Margret Hamm (Hg.): Lebensunwert zerstörte Leben. – Zwangssterilisation und „Euthanasie“, Frankfurt/M. 2006.

Kommentar zur Strafverfolgung. 15. Wahlperiode Hessischer Landtag Drucksache 15/1001, 07.02.2000.

LWV (Hg.): Verlegt nach Hadamar. Die Geschichte einer NS-Euthanasie“-Anstalt. Begleitband zur Ausstellung. 3. Auf-lage. Kassel, 2002.

Entschädigung für NS-“Euthanasie“-Verbrechen? Für drei Personen, Blog Gedenkort T4, 21. März 2012 (http://blog.gedenkort-t4.eu/2012/03/21/entschadigung-fur-ns-euthanasie-verbrechen-fur-drei-personen/, Stand 13.01.2014)

Rolf Surmann: Was ist typisches NS-Unrecht? Die verweigerte Entschädigung für Zwangssterilisierte und „Euthanas-ie“-Geschädigte. In: Margret Hamm (Hg.): Lebensunwert zerstörte Leben. Zwangsterilisation und „Euthanasie“. Frank-furt/Main 2006, S. 198-212.

Zusätzliche Literatur erhältlich in der Gedenkstätte Hadamar:Arbeitskreis zur Erforschung der nationalsozialistischen „Euthanasie“ und Zwangssterilisation (Hg.): Tödliches Mit-leid. NS-„Euthanasie“ und Gegenwart. Fachtagung vom 24.bis 26. November 2006 im Deutschen Hygiene-Museum, Münster 2007.

Regine Gabriel: Kinder als Besucherinnen und Besucher in der Gedenkstätte Hadamar – Ein Informations- und Mate-rialheft, Gedenkstätte Hadamar 2002.

Uta George: Kollektive Erinnerung bei Menschen mit geistiger Behinderung. Das kulturelle Gedächtnis des national-sozialistischen Behinderten- und Krankenmordes in Hadamar. Eine erinnerungssoziologische Studie, Bad Heilbrunn 2008.

Dorothee Roer/Dieter Henkel (Hg.): Psychiatrie im Faschismus. Die Anstalt Hadamar 1933-1945, Frankfurt/Main 2003.

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