DIE GEHEIM E K1 DER DDR

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WOLFGANG MITTMANN CURT KLAUSMANN DIE GEHEIME K1 DER DDR AUTHENTISCHE KRIMINALFÄLLE DAS NEUE BERLIN

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WOLFGANG MITTMANN CURT KLAUSMANN

DIE GEHEIME K1 DER DDR

AUTHENTISCHE KRIMINALFÄLLE

DAS NEUE BERLIN

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ISBN 978-3-360-02177-9

© der Originalausgabe: 2006 Militzke Verlag, LeipzigAlle Rechte vorbehalten.

© dieser Ausgabe: 2014 Verlag Das Neue Berlin, BerlinUmschlaggestaltung: Buchgut, Berlin

unter Verwendung eines Motivs von iStockphotoDruck und Bindung: Multiprint, Bulgarien

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INHALT

Vorwort

Kennwort »POKAL«

Deckname »URNE«

Archivkennung »FEUER«

Signatur »FELGE«

Operativplan »LEINE«

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VORWORT

»In großen Städten wird kein Criminal-Polizeibeamter prac-tisch etwas Tüchtiges leisten können, ohne daß er zuweilen Vigilanten braucht. Dieselben bilden ein nothwendiges, lei-der unentbehrliches Uebel«, schrieb Dr. Wilhelm Stieber, Königlicher Kriminalpolizeidirektor beim Polizeipräsidium zu Berlin, im »Practischen Lehrbuch der Criminal-Polizei«, das erschien. »Eine unbedachte oder vertrauliche Aeu-ßerung des Verbrechers zum Vigilanten selbst, oder in dessen Gegenwart zu anderen Genossen, bringt den untersuchen-den Beamten weiter, als mehrwöchentliches Inquiriren und als die Fabrikation haushoher Actenstücke.«

Vigilanten oder verdeckte Ermittler gehören weltweit zur allgemeinen Methodik kriminalpolizeilicher Untersuchun-gen, ganz gleich, welche Bezeichnungen man den Akteuren gibt, ob »Geheime Informanten«, »Informelle Mitarbeiter«, »V-Leute«, »Konfidenten«, »Polizeispitzel« oder »Zuträger«. Auch in der DDR gab es sie auf der Grundlage des hier herr-schenden politischen Rechtsverständnisses.

Am . August hatte Marschall Sokolowskij als Obers-ter Chef der Sowjetischen Militärverwaltung in Deutschland den Befehl Nr. unterzeichnet, der auf den Kontrollrats-direktiven Nr. und Nr. fußte. Der Befehl übertrug den deutschen Verwaltungsbehörden in der Sowjetischen Besat-zungszone die Pflicht, untergetauchte Kriegsverbrecher, Na-zi-Aktivisten und Wirtschaftssaboteure aufzuspüren, um sie einer gerechten Bestrafung zuzuführen. Zur Durchführung dieser Aufgaben wurde im Polizeibereich ein Arbeitsgebiet K geschaffen, das von Anfang an auf die Methoden der Kon-spiration und der verdeckten Ermittlungen setzte.

Im Februar wurde die inzwischen als politische Poli-

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zei funktionierende K aus der Kriminalpolizei herausgelöst. Ihre bewährtesten Mitarbeiter bildeten das personelle Reser-voir für das Ministerium für Staatssicherheit (MfS).

In den Struktureinheiten der Kriminalpolizei, vor allem in den Dezernaten B und C, die den Kampf gegen Wirtschafts-verbrechen, Raub, Mord, Erpressung und gewerbsmäßige Unzucht zu führen hatten, setzte sich bald die Erkenntnis durch, dass man auf die Methoden der konspirativen Ermitt-lungen dauerhaft nicht verzichten kann. Der Befehl / des Innenministers Karl Maron über die »Anwerbung und den Einsatz ›Geheimer Informatoren‹ der Kriminalpolizei« setzte einer wildwuchernden Praxis ein Ende. wurden die mit der Führung von »Geheimen Informatoren« beauftragten Kriminalisten in »Operativ-Gruppen« zusammengefasst. Die Bildung dieser Struktureinheit gilt als die eigentliche Ge-burtsstunde des Arbeitsgebietes K, wenngleich diese offi-zielle Bezeichnung erst mit dem Befehl Nr. / des Innenministers Dickel »Über die Aufgaben und Arbeitsorga-nisation der Kriminalpolizei« eingeführt worden war.

Die Aufgabenstellung für das Arbeitsgebiet K (auf der Ebene der Bezirke Dezernat I, in den Kreisen Kommissa-riat I) lässt sich an deren Struktur ablesen:

– Referat I/: Wirtschaftskriminalität;– Referat I/: Allgemeine Kriminalität mit den Arbeitsgrup-

pen für schwere Straftaten, Jugendkriminalität, Grenze, Religionsgemeinschaften (ausgenommen katho lische, evangelische und Zeugen Jehovas, weil diese Domäne des MfS waren);

– Referat I/: Untersuchungshaftanstalten und Strafvollzug;– Dienststelle I/U: Observation von Personen und Objekten.

Die kriminalistische Methodik im Arbeitsgebiet K war auf die konspirative Zusammenarbeit mit »Kriminalpolizeili-chen Kontaktpersonen« (KK) und »Inoffiziellen Kriminal-polizeilichen Mitarbeitern« (IKM) zugeschnitten. Letztere wurden unter Decknamen geführt. Darüber hinaus gab

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es verschiedene Schattierungen von IKM zur Lösung von Spe zial aufgaben. Manche wurden mit Scheinarbeitsverhält-nissen abgesichert, andere erhielten Behördenausweise zur Abdeckung ihrer Legenden. Etwa ein Drittel aller IKM re-krutierte man aus Kreisen der Rechtsbrecher, Rückfälligen, Asozialen und kriminell Gefährdeten, oder es handelte sich um Personen mit ständigen Verbindungen in solche Kreise. Gegen Ende des Jahres wurden im Arbeitsgebiet K re-publikweit noch IKM geführt.

Eine Anwerbung erfolgte »auf der Grundlage der poli-tisch-ideologischen Überzeugung und unter Ausnutzung anderer Motive, wie materielle Interessiertheit oder Wieder-gutmachungsstreben«. Die Polizei bei der Bekämpfung der Kriminalität zu unterstützen, galt in der DDR-Gesellschaft als politisch wertfrei und besaß eine gewisse Akzeptanz. In-sofern erlebten die meisten IKM ihre Anwerbung auch nicht als ehrenrührig.

Es versteht sich, dass die konspirative Arbeit höchster Ge-heimhaltung unterlag. Selbst zu anderen Struktureinheiten der Kriminalpolizei hielt man Abstand, schottete sich auch räumlich ab, was den Anlass zu mancherlei Gerüchten und Vermutungen gab. Kriminalisten des Arbeitsgebietes K besaßen keine Befugnis, strafprozessuale Maßnahmen, wie Durchsuchungen, Beschlagnahmungen, Zeugen- und Be-schuldigtenvernehmungen durchzuführen.

Versuche, das Arbeitsgebiet K als politische Polizei zu diffamieren, gehen an der Wahrheit vorbei. Dass durch ihre Mitarbeiter auch Republikfluchten verhindert und »Perso-nen mit Ausreiseanträgen« unter Kontrolle gehalten wur-den, ist nicht zu bestreiten. Dennoch war es keine spezifische Aufgabe für die K. Der »Schutz der Staatsgrenze der DDR« und die »Zurückdrängung der zunehmenden Flut von An-tragstellern« galten als gesamtgesellschaftliche Forderung der SED-Führung, der sich alle staatlichen Organe zu stellen hatten. Eine Gleichstellung des Arbeitsgebietes K mit dem MfS ist nur in Bezug auf die Anwendung von Mitteln und Methoden der inoffiziellen Arbeit möglich.

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Die in diesem Buch dargestellten Kriminalfälle fallen nicht immer in die Kategorie des Spektakulären, doch sie vermitteln einen Einblick in die Arbeitsweise der geheimen K in der DDR. Tatorte sind die sächsische Messemetropole Leipzig und eine Kreisstadt im ehemaligen Bezirk Leipzig.

Der Dank der Autoren gebührt der Behörde der Bundes-beauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (Außenstelle Leipzig), insbesondere Herrn Dr. Markus Anhalt, Frau Christine Enderlein vom Sächsischen Staatsarchiv Leipzig sowie allen ehemaligen Kri-minalisten, die sich für Interviews zur Verfügung gestellt ha-ben. Die Namen von Tätern, Opfern und Zeugen wurden aus naheliegenden Gründen geändert.

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KENNWORT »POKAL«

Freitag, der . Mai . Zwei Tage vor den Kommunal-wahlen in der DDR. Wie nicht anders zu erwarten, wür-den sie mit einer Wahlbeteiligung von , Prozent und , Prozent aller gültigen Stimmen für die Kandidaten der Nationalen Front über die Bühne gehen. Den drei Frauen der Reinigungskolonne, die seit Uhr in den Räumen des Grassimuseums putzten, waren die bevorstehenden Wahlen ziemlich gleichgültig. Jeder in der DDR wusste, wohin der Bürger, der nicht auffallen wollte, sein Kreuzchen zu machen hatte. Die Ankündigung der Regierung unter dem Minister-präsidenten Horst Sindermann, die Löhne und Gehälter der unteren Einkommensgruppen ab Januar kommenden Jahres zu erhöhen, fand da schon eher ihr Interesse. Während die Frauen die Flure und Treppen fegten, an gerahmten Bildern und unter Glas stehenden Ausstellungsstücken vorüber, an Fenstern entlang und über gebohnertes Parkett wischten, malten sie sich wortreich aus, was sie von den erwarteten Mehreinkünften für ihre Familien kaufen wollten.

Um : Uhr hatten die Putzfrauen das erste Stockwerk im rechten Gebäudeflügel erreicht. Hier lagen die Ausstellungs-räume des Museums für kunstgewerbliches Handwerk. Erna Bräunig, die, wie so oft, das Wort führte, verstummte mitten im Satz. Die Hände um den Besenstiel geklammert, rief sie: »Du liebe Güte! Da ist doch was passiert!«

Vor der zweiflügeligen Zugangstür, die ins Museum führte, lagen mehrere Glasscherben. Die linke untere Teil-scheibe war zerstört, das metallene Ziergitter deformiert und nach oben gebogen. In der Tür gähnte eine Öffnung von einem knappen Quadratmeter. Die Frauen hätten ohne wei-teres hindurchkriechen können.

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»Mach schon, Charlotte, schließ die Tür auf!«, drängte Erna ihre Kollegin. Während der Arbeit steckten die Schlüs-sel zum jeweiligen Museumstrakt in der Kittelschürze der Vorarbeiterin.

Charlotte Brand öffnete vorsichtig die Tür. Die drei Frauen spähten in den Ausstellungsraum Nr. . Von den zehn vorhandenen Glasvitrinen waren zwei zerschlagen. Unzählige Glassplitter bedeckten den Fußboden. Dort, wo kunstvoll gefertigtes Tafelgeschirr aus Silber und goldene Löffel ausge-stellt gewesen waren, prangten nun Lücken in der Auslage. Ein Teil der wertvollen Exponate war verschwunden.

»Is ja ’ne schöne Scheiße!«, kommentierte die dritte Putz-frau den Zustand des Raumes. »Wie soll’n mer das nu wieder sauber kriegen?«

»Hast du keine anderen Sorgen?«, blaffte Erna. »Das is ’n Museumsraub, wie er im Buche steht! Hier muss schleunigst die Polizei her!«

Unterleutnant der Kriminalpolizei Robert Kunz und Krimi-nalhauptwachtmeister Nerger von der . Diensthabenden Gruppe der Abteilung Kriminalpolizei, die für die Aufnahme neuer Kriminaldelikte verantwortlich waren, bereiteten sich auf das Ende ihrer Nachtschicht vor. Die neuartige Organi-sationsform großstädtischer Polizeiarbeit, die den bisherigen Kriminaldauerdienst ersetzte, hatte sich als höchst effektiv erwiesen. Während der Unterleutnant die letzten Einträge im Tätigkeitsnachweis ergänzte und Nerger seine Eintragun-gen im Fahrtenbuch abschloss, knarrte es gegen : Uhr im Lautsprecher der Wechselsprechanlage. Beide Männern ahnten sogleich, dass das Ende ihrer Schicht in weite Ferne gerückt war. Der Operative Diensthabende des Kreisamtes teilte mit: »Ihr müsst noch einen Einsatz fahren, Robert! Einbruch im Grassimuseum. Der Abschnittsbevollmächtigte (ABV) ist schon vor Ort, hat die Tatortsicherung übernom-men! Leitungsdienst ist verständigt. Ich schicke noch einen Fährtenhundeführer!«

»Verstanden. Wir rücken aus!«

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Die Kriminalisten stiegen in den Barkas B . Mit Blau-licht und Martinshorn bahnten sie sich den Weg durch den morgendlichen Großstadtverkehr. Eine Viertelstunde später erreichten sie den Haupteingang des Museums am Johan-nisplatz. Die Säulen der Toreinfahrt erinnerten Kunz ein we-nig an die Festungsbauten vergangener Zeiten. Dabei war das Museum erst nach zweijähriger Bauzeit eröffnet worden. Derzeit beherbergte der Gebäudekomplex das Mu-seum für Völkerkunde, das Musikinstrumentenmuseum und das Museum für kunstgewerbliches Handwerk. Hinter dem zweiten Quergebäude schloss sich der Alte Johannisfriedhof an, nunmehr eine städtische Parkanlage.

Im Innenhof fanden sie noch einen Parkplatz. Die Anzahl der abgestellten Fahrzeuge ließ Schlimmes für die Spuren-sicherung befürchten. Als sie die breite Treppe des Querge-bäudes erklommen, begegneten ihnen eifrig diskutierende Personengruppen. Jeder, der in dem Gebäudekomplex aus irgendwelchen Gründen zu tun hatte, schien nur herbei-geeilt zu sein, um den anderen im Wege zu stehen und die gewagtesten Vermutungen zu äußern. Nerger, der den Koffer der Fotoausrüstung schleppte, atmete erst auf, als er sah, wie

Haupteingang des Grassimuseums am Johannisplatz

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eisern der ABV die Tür zum Museum für kunstgewerbliches Handwerk von Neugierigen freihielt.

»Was sind das alles für Leute hier?«, stieß Unterleutnant Kunz verärgert hervor.

»Mitarbeiter des Geographischen Instituts. Gehören zur Akademie der Wissenschaften.« Der ABV deutete mit dem Kopf auf eine geöffnete Tür in der nördlichen Wand. »Ist an-geblich der einzige Zugang zu ihren Arbeitsräumen.«

Bevor Nerger sein Fotostativ aufbaute, warfen die Krimi-nalisten einen Blick in die fünf Räume, die zum Museum für kunstgewerbliches Handwerk gehörten. Skulpturen, ei-senbeschlagene Truhen, Sitzmöbel und gläserne Vitrinen füllten die Ausstellungsflächen. Teppichläufer im Mittel-gang. Braun gebohnerter Steinholzfußboden, auf dem zahl-reiche Schuhsohlenabdrücke zu erkennen waren. Scherben und Glassplitter lagen herum. Insgesamt fünf Vitrinen waren zerstört worden. Anhand der kleinen Schildchen, die jedes Ausstellungsstück bezeichneten, würde man die Anzahl und Art der geraubten Kunstgegenstände rasch ermitteln können. Doch schon jetzt war den beiden Kriminalisten klar, welch immenser Wert dem Täter oder den Tätern in die Hände gefallen war.

Über ein Telefon im Vestibül setzte der Unterleutnant eine Übersichtsmeldung an den Operativen Diensthabenden ab. Zwar war das eine notwendige Maßnahme, um weitere Ein-satzkräfte heranzuführen, doch Kunz wusste auch, das da-mit eine ständige Einmischung von Vorgesetzten bis hin zur Ebene der Bezirksbehörde folgen würde. Er hatte Einsätze erlebt, bei denen die Zahl der »Bestimmer« die Anzahl der erforderlichen Ermittler bei weitem überstieg.

Als Kunz den Hörer auflegte, traf der Fährtenhundeführer ein. Sie besprachen kurz die Situation, dann legte Haupt-wachtmeister Budert seinem Hund Carlo das Suchgeschirr um. Als Ansatzpunkt wählten sie das Terrain vor der Vitrine im Raum . Carlo schnüffelte eine Weile und folgte dann der Fährte, die Nase kurz über dem Boden, durch die Räume und ins Treppenhaus hinab. Im Parterre wandte er sich

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Die von der Ermittlungsgruppe angefertigte Tatortskizze

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dem linken Gebäudeteil zu und verharrte kurz vor einer ge-schlossenen Tür, die sich als Seitenausgang zum Täubchen-weg herausstellte, nachdem Budert sie geöffnet hatte. Spätere Untersuchungen der Kriminaltechniker ergaben, dass die mit Basküle verschlüssen gesicherte Tür von innen geöffnet worden war.

Carlo lief ins Freie, hielt sich rechts auf dem Bürgersteig, folgte der Fährte weitere vierzig Meter längs der Friedhofs-mauer, überquerte die Fahrbahn und stoppte dann vor einem Gebüsch. Schade, die Spur, die Carlo erstaunlich sicher aus-gearbeitet hatte, war an dieser Stelle zu Ende. Die Schluss-folgerung, dass der oder die Täter ein Fahrzeug bestiegen hatten, war daher äußerst wahrscheinlich.

Standscheinwerfer tauchten die Ausstellungsräume in grelles Kunstlicht. Für den ersten Moment erweckte die Szenerie den Eindruck, als würde eine neue Folge für die Fernsehserie »Polizeiruf « gedreht. Ein Trassologe (Spurensicherungs-experte) vom Dezernat Kriminaltechnik der Bezirksbehörde kniete auf dem Fußboden und sicherte die Schuhabdruck-spuren mit dunkler Transparentfolie. Ein zweiter Spezialist hielt seine Lupe gegen das aufgebogene Ziergitter. Um die winzigen Faserspuren zu fixieren, die wahrscheinlich von der Bekleidung des Täters stammten, klebte er das Gitter mit durchsichtigem Klebeband ab. Ein später angefertigtes Gut-achten des Kriminalistischen Institutes in Berlin ergab, dass es sich um Fasern von einer braunen Kordhose handelte. Der Daktyloskop (Fingerabdruckexperte) suchte, mit Argentorat-pulver und einem Haarpinsel bewaffnet, nach Fingerspuren. Und ein vierter Mann hatte Latexhandschuhe übergezogen, um sterile Tücher über Türklinken, Fensterriegel und einige große Glasscherben, die der Täter berührt haben musste, zu wickeln. Grundlage für die seltsam anmutende Suche und Sicherung von »Geruchsspuren« war die Erkenntnis, dass jeder Mensch seinen spezifischen Geruchskomplex besitzt und diesen unwillkürlich an allen Stellen hinterlässt, wo er Kontakt mit Gegenständen, Möbeln oder anderen Berüh-

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rungspunkten hat. Nach geraumer Zeit, wenn die Tücher die Gerüche aufgesogen hatten, nahm man sie mit Hilfe einer Pinzette ab und konservierte sie in sterilen Gläsern. Speziell ausgebildete Polizeihunde waren durchaus in der Lage, mit diesen Proben verdächtige Personen zu identifizieren. Odo-rologische Spuren waren zwar keine Beweismittel, dennoch galten sie als wertvolle Hilfe für den Untersuchungsführer. Sie trugen hinweisenden Charakter, der das Bündeln aller Ermittlungslinien ermöglichte. Hatten sie ihren Zweck er-füllt, waren sie spätestens nach Abschluss des gerichtlichen Verfahrens der Vernichtung zuzuführen. In den Wendejah-ren / geriet die Methode allerdings in Misskredit. Bei

Die wertvollsten der gestohlenen Exponate aus dem Leipziger Ratsschatz

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der Auflösung des MfS stieß man in dessen Dienststellen auf umfangreiche Sammlungen von Geruchskonserven, die un-ter Umgehung der für die Volkspolizei geltenden Weisungen nicht vernichtet worden waren. Hohnlachend präsentierte man sie der Öffentlichkeit mit der Bemerkung, Mielke habe »jeden Furz der DDR-Bürger« für die Ewigkeit archiviert.

Oberstleutnant Wendler, der Stellvertreter des Chefs der Kriminalpolizei im Bezirk Leipzig, zog sich mit den Einsatz-leitern in eine Sitzecke des Foyers zurück. »Gibt es Klarheit über den Tathergang und die Anzahl der Täter?«, wollte er von den Männern wissen.

»Wir haben eine Unmenge von Fingerspuren, aber auch einzelne Abdrücke von Handschuhen und das Sohlenmuster eines Turnschuhs gefunden. Noch lässt sich nichts zuordnen, aber, wie es scheint, müssen wir mit einem Einzeltäter rech-nen, der in Handschuhen gearbeitet hat.«

»Wo und wie ist er eingestiegen?«»Überhaupt nicht. Der hat sich gestern Abend einschlie-

ßen lassen. Hinter einem Wandvorhang oder abgestellten Möbelstücken versteckt. Sein Abgang erfolgte über die von innen zu öffnende Seitentür zum Täubchenweg.«

»Gibt es hier keine Alarmanlage?«»Nur die Feuermeldeeinrichtung im Erdgeschoss. Dort ist

ein Kabelstrang durchgeschnitten. Wahrscheinlich hielt der Täter sie für die Sicherungsanlage.«

»Feuermelder?« Der Oberstleutnant schüttelte den Kopf. »Das ist ja kindisch! So kann man doch keine Kunstschätze sichern! Gibt es denn keinen Wächter, der Nachtdienst hatte?«

Dr. Heinrich, den man als fachkundigen Museumsvertre-ter in die Runde berufen hatte, bekam einen roten Kopf. »Für den Aufsichtsdienst stehen nur Frauen zur Verfügung. Die kann ich nachts nicht einsetzen. Ich habe beim Rat der Stadt in der Abteilung Kultur wiederholt und sehr nachdrück-lich um Aufstockung unseres Personaletats gebeten. Man hat mich immer nur vertröstet«, monierte er. »In unserer Stadt ist für alles Geld da, nur nicht für die Museen.«

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Museen gab es in der DDR, darüber hinaus eine Viel-zahl von Kirchen und Kulturhäusern, in denen weitere Kunst-schätze ausgestellt waren. Kunstraub als eine spezifische Form der Kriminalität besaß hierzulande Seltenheitswert. Als Ende der er Jahre der Kunstmarkt in Frankreich, Italien, Eng-land, der BRD und vor allem in den USA eine Renaissance erlebte, tauchten auch die ersten Presseschlagzeilen über spek-takuläre Kunstauktionen in Paris, London oder Genf auf. Eine breite Öffentlichkeit erfuhr von Millionenbeträgen, die für einzelne Bilder, Plastiken und sakrale Kunstgegenstände gezahlt wurden. Der Stellenwert der Kunst stieg auf dem in-ternationalen Markt und erweckte zugleich im organisierten Verbrechen das Begehren nach ihr. Zwar war die DDR für die kriminellen Kreise Westeuropas, die sich auf Kunstdiebstahl spezialisiert hatten, im Wesentlichen verschlossen, dennoch gab es den einen oder anderen DDR-Bürger, der glaubte, durch Verkauf gestohlener Kunstgegenstände an ausländische Touristen oder einheimische Sammler den großen Schnitt machen zu können. Begünstigt wurde ihr Handeln durch die �ese: »In unserer Republik sind wir es nicht gewöhnt, die wertvollsten Exponate eines Museums in Tresoren oder Safes zu verstecken. Die Kunst gehört allen, und jedermann möge sich an ihr erfreuen können.« Notwendige Sicherheitsmaß-nahmen wurden sträflich vernachlässigt. Angesichts wach-sender Sparzwänge im DDR-Staatshaushalt gab man sich lieber der Illusion hin, die geschlossene Grenze mache es nicht erforderlich, teure und aufwendige Sicherungstechnik zu installieren. Insider wussten allerdings sehr genau, dass der einzige kompetente Betrieb für Sicherungstechnik in der DDR auf Jahre hinaus mit der Produktion von Alarmanlagen für die Staatsgrenze ausgelastet war.

Oberstleutnant Wendler beschloss, den Disput an die-ser Stelle nicht weiter zu vertiefen. »Haben Sie schon einen Überblick, was gestohlen wurde, Herr Doktor?«

Dr. Heinrich seufzte. »Bei unseren Kunstgegenständen handelt es sich um seltene Kostbarkeiten der Goldschmie-dekunst aus dem . und . Jahrhundert, die eng mit der

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Geschichte der Stadt Leipzig verbunden sind. Einige gehören zum Leipziger Ratsschatz. Soweit ich das bisher übersehe, fehlen Exponate, darunter so einmalige Arbeiten wie die silbervergoldete Prunkkanne von Andreas Kauxdorf aus dem Jahre oder der niederländische Nautiluspokal von . Die Ringe, das Geschmeide, Tafelbesteck! Mein Gott, welch unersetzlicher Verlust!«

»Lässt sich der Schaden finanziell beziffern?«Die sachliche Frage versetzte Dr. Heinrich erneut in Erre-

gung. »Der ideelle Kunstwert ist weitaus höher einzuschätzen als der rein materielle Schaden«, rief er genervt. »Sie können gut und gern von einer halben Million Mark ausgehen!«

Mark der DDR standen dann tatsächlich auf der Diebesgutliste, die Müller einige Tage darauf den Experten der Kriminalpolizei aushändigte.

Die Bezirksbehörde bildete eine Sonderkommission zur Auf-klärung des Verbrechens. Spezialisten aus allen Fachdezerna-ten wurden auf den Fall angesetzt. Hinzu kamen die Berater aus dem Innenministerium in Berlin. Zeitweilig zählte die Kommission bis zu hundert Mann in ihren Reihen. Obwohl man damit rechnen musste, dass sich die geraubten Kunstge-genstände bereits außer Landes befanden, waren die Grenz-kontrollorgane informiert. Grenzer und Zöllner schauten intensiver hin, was die Abfertigungen – sehr zum Unwillen vieler Transitreisender – merklich verzögerte.

Als man im engeren Kreis der Ermittler über die Auffäl-ligkeiten des Einbruchs sprach, sagte ein Hauptmann: »Der Kerl hat Ortskenntnis bewiesen! Das steht für mich fest!«

»Dazu gehört nicht viel in einem Museum«, kam Wider-spruch auf. »Jeder Mensch kann hier herein. Und wenn je-mand ein paar Tage lang den Kunstfreund mimt, hat er alles gesehen und ausgespäht, was er für den Bruch wissen muss.«

»Wenn er besonders häufig kam, müsste sich das Aufsichts-personal an ihn erinnern können. Vielleicht hat er Gespräche geführt, die Frauen geschickt ausgehorcht, zum Beispiel wie das Wachsystem funktioniert?«

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Sämtliche Befragungen in dieser Richtung liefen ins Leere. Noch scheute man sich, die Angestellten des Geographischen Instituts ins Augen zu fassen. Dafür erhielten Leipzigs Ein-brecher, die zur Tatzeit auf freiem Fuße waren, Besuch von der Kriminalpolizei.

Auch die Mitarbeiter des Arbeitsgebiet K wurden mobili-siert. Ein Fernschreiben an alle Dienststellen forderte:

betreff: fs der bdvp leipzig abt. k nr. / vom . . zur aufklaerung des einbruchdiebstahls in der nacht vom ./. . (ca. : – : uhr) im grassi-museum leipzig sind durch die leiter der kommissariate/sachgebiete folgende masznahmen zu veranlassen:. alibi-ueberpruefung (. . – . . ) von einschlaegig wegen

kunstdieb-, hehlerei und spekulation mit antiquitaeten sowie von schmuck- und edelmetalldiebstaehlen durch das ag er-faszten bzw. in operativer bearbeitung befindlichen personen.

. geeignete sm, die in dieser richtung verbindungen und moeglichkeiten haben, sind in den einbruchsdiebstahl ein-zuweisen, zielgerichtete auftraege zu erteilen bzw. abzuschoe-pfen.

dabei sind besonders eventuelle aufkaeufer, wie private gold-schmiede u. ae. personen zu beachten.

sm, die einsatzmoeglichkeiten in leipzig und speziell zum ein-bruchsobjekt grassi-museum haben, sind nach absprache mit dem leiter dez. der abt. k der bdvp leipzig sofort zum einsatz zu bringen.

. alle diesbezueglichen hinweise sind sofort per snd dem dez. der abt. k der bdvp leipzig zu übersenden.

Oberleutnant Manfred Albrecht gehörte zum »Urgestein« der K in Leipzig. Der Fünfzigjährige war mittelgroß, schlank und hatte volles, dunkles Haar. Die angegrauten Schläfen standen ihm blendend. Wer dem Oberleutnant zum ersten Mal begegnete, konnte ihn glatt für einen seriösen Künstler oder einen Heiratsschwindler halten. Albrecht galt als Rou-tinier, dem man gern die Ausbildung junger Kriminalisten

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im Arbeitsgebiet K überließ. Sein Spezialgebiet waren die Damen und Herren des »horizontalen Gewerbes« in Leipzig. Prostitution war in der DDR zwar offiziell verboten, dennoch wusste die Obrigkeit sehr genau, was die Stadt Leipzig den internationalen Gästen der Herbst- und Frühjahrsmessen an Vergnügungen schuldig war. Nicht nur die Kriminalpolizei warf ihre Netze im schwülen Licht des Leipziger Nachtlebens aus, auch das MfS fischte fleißig im Trüben.

Nachdem Albrecht das Fernschreiben gelesen hatte, be-gann er, seine inoffiziellen Quellen aufzusuchen. Einige er-reichte er telefonisch an ihren Arbeitsstellen – häufig han-delte es sich dabei um Gaststätten, Hotelbars oder profane Imbissstuben. Andere bestellte er zum Gespräch ins Treff-quartier.

Eine der Damen, die er unter dem Decknamen IKMR »Ilse Hammer« führte, arbeitete im Restaurant »Zoogast-stätte«. Ab ihrem sechsten Lebensjahr war die junge Frau in einem Kinderheim aufgewachsen. Sie war ein folgsames Kind gewesen, das nie auffallen wollte. Willig fügte sie sich in die Heimhierarchie ein. Nach der Entlassung erhielt sie eine Lehrstelle in der Gastronomie. Der Beruf gefiel ihr. Es be-reitete ihr Spaß, durchs Restaurant zu sausen, um die Gäste zufriedenzustellen, auch in dem Wissen, dass unzählige Män-neraugen verlangende Blicke auf ihre Körperrundungen und den superkurzen Minirock warfen. An ihren freien Abenden besuchte sie häufig die »Grüne Schenke«. Dann verwandelte sie sich in eine wilde Rock-and-Roll-Tänzerin, ließ sich von jungen Burschen umschwärmen und zierte sich auf dem Heimweg nur selten, wenn die Kavaliere auf intime Zärtlich-keiten aus waren. Die wahre Liebe, die sie angeblich suchte, fand sie nicht, dafür eine fast triebhafte Lust am Sex.

Als es eines Abends in der »Zoogaststätte« zu einer tätli-chen Auseinandersetzung mit einem betrunkenen Gast über die Höhe der Zeche kam, rief der Objektleiter die Polizei. Die Männer der Funkstreife fackelten nicht lange. Sie luden die Kontrahenten in ihren grün-weißen Wolga und brachten sie zum Polizeirevier.