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1 Die griechischen Gewerkschaften im Zeichen wirtschaftlicher Rezession und Krise Apostolos Kapsális September 2012 (Übersetzung aus dem Griechischen: Theo Votsos)

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Die griechischen Gewerkschaften im Zeichen wirtschaftlicher Rezession und Krise

Apostolos Kapsális

September 2012

(Übersetzung aus dem Griechischen: Theo Votsos)

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ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS ADEDY Oberster Verband der Vereinigungen der Öffentlichen

Angestellten (gr.: Anótati Diíkisi Enóseon Dimosíon Ypallílon); Nationaler Dachverband der gewerkschaftlichen Vereinigungen der Angestellten und Beamten des Öffentlichen Dienstes in Griechenland

ANTARSYA Antikapitalistische Linke Kooperation für den Umsturz (gr.:

Antikapitalistikí Aristerí Synergasía gia tin Anatropí) GSEE Allgemeine Konföderation der griechischen Arbeiter (gr.:

Genikí Synomospondía Ergatón Elládos); Nationaler Dachverband der gewerkschaftlichen Branchen- und Regionalorganisationen für Arbeitnehmer im privatwirtschaftlichen Sektor und in staatlich kontrollierten Sektoren wie Banken, Verkehr, Strom- und Wasserversorgung

DA Schiedssprüche (gr.: Dietitikés Apofásis) EGSSE Nationales Allgemeines Tarifabkommen (gr.: Ethnikí Geniki

Syllogiki Sýmvasi Ergasías) EPASS Solidaritätskomitee für Gewerkschaften und Gewerkschafter

(gr.: Epitropí Allilengíis Syndikatón kai Syndikalistón) INE/GSEE-ADEDY Institut für Arbeit der GSEE-ADEDY (gr.: Institoúto

Ergasías/GSEE-ADEDY) KKE Kommunistische Partei Griechenlands (gr.: Kommounistikó

Kómma Elládos) OMED Organisation für Vermittlung und Schlichtung (gr.:

Organismós Mesolávisis ke Dietisías) PAME Kampffront aller Arbeiter (gr.: Panergatikó Agonistikó

Métopo) SEPE Staatliche Arbeitsaufsichtsbehörde (gr.: Sóma Epitheorotón

Ergasías) SSE Tarifvertrag (gr.: Syllogikí Sýmvasi Ergasías) SYRIZA Koalition der Radikalen Linken (gr.: Synaspismós tis

Rizospastikís Aristerás)

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Inhaltsverzeichnis Einleitung I. Die wesentlichen Merkmale der modernen griechischen Gewerkschaftsbewegung II. Die Rolle der Gewerkschaften bei der Annahme und Umsetzung der Sparmaßnahmen III. Die Entwicklung der Gewerkschaften im Zeichen von Rezession und Krise und ihre Reaktion auf die Politik der Memoranden III.A. Der Widerstand gegen die rigide Sparpolitik III.B. Die internen Prozesse in der Gewerkschaftsbewegung IV. Statt eines Nachworts: neue Herausforderungen für die griechische Gewerkschaftsbewegung in der gegenwärtigen Konstellation Literatur

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Einleitung Die Auswirkungen der gegenwärtigen internationalen Wirtschaftskrise auf die griechische Wirtschaft wurden zu einem Zeitpunkt manifest, in dem sich die griechischen Gewerkschaften an einem entscheidenden – und in vielerlei Hinsicht historischen – Wendepunkt befanden. Die Probleme der öffentlichen Finanzen spitzten sich gerade dann zu, als die historisch erste Phase einer ungehinderten Entwicklung der griechischen Gewerkschaftsbewegung voll im Gange war (ab 1980) – weitestgehend frei von den Erblasten der Vergangenheit, die vor allem den Bedingungen eines rauen und polarisierten politischen Klimas geschuldet waren, das über mehrere Jahrzehnte hinweg (bis Ende der 1970er Jahre) das Land geprägt hatte. Die ersten Anzeichen der objektiven Schwierigkeiten und der subjektiven Schwächen in Bezug auf die aktuelle Organisationsform und Funktionsweise der Gewerkschaften wurden bereits im Laufe der Jahre 2008 und 2009 sichtbar. Zugleich zeichnete sich deutlich ab, dass das sozialpartnerschaftliche Modell zur Durchführung kollektiver Tarifverhandlungen in Griechenland seine Grenzen erreicht hatte (erstes Kapitel). Es überrascht daher nicht, dass die Mitwirkung und der Beteiligungsgrad der Gewerkschaften an Planung, Annahme und Umsetzung der ökonomischen Maßnahmen während der ganzen letzten drei Jahre kaum ins Gewicht fallen. Eine Frage von derart übergeordneter nationaler Bedeutung wie die Bewältigung der massiv aufgeblähten Staatschulden und der in ihrem Ausmaß beispiellosen Rezession der griechischen Wirtschaft ist dabei, zu einem Gegenstand der ausschließlichen Zuständigkeit der griechischen Regierung zu werden, die nicht nur keinen Wert darauf legt, Wege der öffentlichen Deliberation – d.h. des öffentlichen Diskurses zu politischen Angelegenheiten - und Zustimmung zu beschreiten, sondern darüber hinaus die überwältigende Mehrheit der Anpassungsmaßnahmen unter Ausschluss der Organisationen der Erwerbsarbeit beschließt (zweites Kapitel). Das Ausmaß und die Intensität des Angriffs auf die Arbeitsrechte und die sozialen Rechte im Rahmen der Umsetzung des fiskalischen Anpassungsprogramms treffen auf den beträchtlichen Widerstand der Arbeitnehmer und Gewerkschaften. Die Reaktionen der Arbeiterklasse und deren Vertretungsorganisationen gegen die Umsetzung der Memoranden (d. h. der Sparpakete) und die damit einhergehende soziale Verelendung des Landes sind massiv und beständig. Kein einziger Angriff auf die Arbeitswelt, wie überschaubar oder weitreichend er auch immer sein mag, bleibt unerwidert – die Handlungsinitiative allerdings obliegt stets der anderen Seite.

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Dies bedeutet aber, dass die Widerstände der Gewerkschaften und der übrigen Arbeiterassoziationen ohne deren Eingliederung in einen umfassenden strategischen Plan zur Reorganisation der Gewerkschaftsbewegung insgesamt einen begrenzten Grad an Wirksamkeit und geringe Erfolgsquoten erreichen. Selbst die couragiertesten und „klassenbewusstesten“ Arbeitskämpfe, wie insbesondere der mehrmonatige Streik im Stahlwerk „Elliniki Chalyvourgia“ (Griechische Stahlindustrie), geraten, da sie in der Regel bruchstückhaft und vereinzelt geführt werden, früher oder später in eine Sackgasse und werden letztendlich in den Rückzug getrieben (drittes Kapitel). I. Die wesentlichen Merkmale der modernen griechischen Gewerkschaftsbewegung Zweifellos durchläuft die griechische Gewerkschaftsbewegung in den letzten Jahren eine tiefe strukturelle Krise, die während der jüngsten Periode der Memoranden noch zusätzlich verschärft wurde. Die gravierendsten Probleme, mit denen sich die Gewerkschaften auseinandersetzen müssen, haben ihre Wurzeln einerseits in den Besonderheiten, die das griechische Modell der kollektiven Organisierung der Erwerbstätigen seit jeher charakterisieren, andererseits in den politischen Schwächen, die heute beim Versuch seiner Modernisierung offen zutage treten. Wissenschaftliche Studien zur griechischen Gewerkschaftsbewegung liegen nur in geringer Zahl vor. In der diesbezüglich ausführlichsten Studie (Kousis G., 2010) werden die signifikantesten Charakteristika der Bewegung analysiert und sogar den entsprechenden Merkmalen der Gewerkschaften in anderen europäischen Ländern gegenübergestellt. Fasst man die einschlägigen Untersuchungen zusammen, lässt sich die Schlussfolgerung ziehen, dass es letztlich gerade die besonderen Funktionsmerkmale der Gewerkschaften selbst sind, die in hohem Maße die entscheidenden Ursachen für die Krise darstellen, die sie heute im Umfeld der wirtschaftlichen Rezession durchmachen (Kousis G., 2010). Hierbei haben wir es mit folgenden, die griechischen Gewerkschaften prägenden Besonderheiten zu tun: ⇒ Erstens, die Gewerkschaftsbewegung in Griechenland befindet sich zurzeit in der ersten Phase der Mündigkeit, insbesondere, wenn man berücksichtigt, dass ihre aufgrund der Produktionsstrukturen des Landes zeitlich ohnehin verspätete Entstehung und Entwicklung mit ihrem über lange Zeit – selbst noch nach der politischen Wende im Jahre 1974 – anhaltenden

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Selbstbehauptungsversuch gegenüber den extremen Eingriffen der Staatsgewalt einhergeht. Zugleich weist die abhängige Erwerbsarbeit in Griechenland den bei weitem niedrigsten Anteil innerhalb der EU-27 auf (65 % gegenüber dem EU-weiten Durchschnittswert von 86 %), wodurch den Lohn- und Gehaltsabhängigen eine vergleichsweise begrenzte Bedeutung zukommt. Der Anteil der abhängig Erwerbstätigen an der Gesamtbeschäftigung hat sogar erst vor 25 Jahren die 50 %-Marke überschritten, während die zweite und dritte Generation der abhängigen Arbeitnehmer, ohne über einen Zugang zur Selbstbeschäftigung zu verfügen und mit einer gewachsenen Tradition der Lohnarbeitskultur allein schon in quantitativer Hinsicht eine relativ unbedeutende Rolle spielen. ⇒ Zweitens, schmälert die (auf der Grundlage der Beteiligung an den Wahlen der Arbeitnehmervertretungen) mit 30 % geringe Gewerkschaftsdichte in Verbindung mit dem schon erwähnten geringen Anteil der abhängigen Erwerbsarbeit im Land das spezifische Gewicht der griechischen Gewerkschaften. Die zu beobachtende, auf eine Vielzahl von Ursachen zurückzuführende generelle Tendenz der Reduzierung der Gewerkschaftsdichte führte innerhalb der letzten 20 Jahre zu ihrer Abnahme um 15 Prozentpunkte. Die Gesamtzahl der gewerkschaftlich organisierten Beschäftigten bewegt sich freilich nach wie vor auf demselben Niveau, was vor allem auf die rasante Zunahme der abhängigen Erwerbsarbeit in diesem Zeitraum und auf die Schwäche der Gewerkschaften zurückzuführen ist, auf den enormen Anstieg potentieller Mitglieder entsprechend zu reagieren. Älteren Studien zufolge (DIMEL, 1989-1990, GSEE/ Vprc, 1995 und 2000) zählen zu den wichtigsten Gründen für die geringe Gewerkschaftsdichte (Katsoridas D., 2002): a) das Fehlen einer gewerkschaftlichen Interessensvertretung in verschiedenen Betrieben, hauptsächlich des privaten Sektors und in besonderem Maße in den kleineren Unternehmen; b) das negative Image, das die Gewerkschaftsbewegung bei den Beschäftigten hat, und zwar aufgrund ihrer organisatorischen Zersplitterung sowie ihrer Aufspaltung in verschiedene ideologische und politische Flügel; c) der Zeitmangel, der auf die Überstundentätigkeit oder die Sonntags- und Feiertagsbeschäftigung zurückzuführen ist – beträgt doch die Gesamtarbeitszeit von Montag bis Freitag durchschnittlich 42 Stunden, während sie sich an den Wochenenden auf durchschnittlich 11 Stunden beläuft. Die absolute Dominanz des - im engeren und weiteren Sinne - öffentlichen Sektors, der 55 % der gewerkschaftlich Organisierten auf sich vereinigt, während er zugleich lediglich einen Anteil von 34 % der abhängigen Erwerbsarbeit ausmacht, resultiert aus der Arbeitsplatzsicherheit, aber auch

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aus den klientelistischen Denkweisen, die in seinem Inneren Blüten treiben. Von den 130 Mitgliedern der Führungsgremien in GSEE und ADEDY sind 122 in öffentlichen Betrieben und Behörden beschäftigt, während lediglich 8 in privaten Unternehmen arbeiten (Nikolaou K., 2012). Das offenkundige Defizit in Bezug auf die gewerkschaftliche Repräsentation der neuen Schichten abhängig Beschäftigter stellt in der gegenwärtig vorherrschenden Konstellation ein großes Problem dar. Die starke Zunahme von flexiblen Arbeits- und Beschäftigungsformen, von Wirtschaftsmigranten und die in den letzten Jahren neu entstandenen Branchen entziehen sich in auffälliger Weise dem gewerkschaftlichen Einfluss. Die himmelschreiende und beunruhigende gewerkschaftliche Abstinenz der jungen Generationen sowie die deutliche Unterrepräsentanz von Frauen verstärken das Problem zusätzlich. Somit entspricht das Bild des durchschnittlichen Gewerkschaftsmitglieds – männlichen Geschlechts, mittleren Alters, mit unkündbarer Anstellung, zu 100 % Grieche – immer weniger dem Bild des durchschnittlichen Arbeitnehmers – jüngeren Alters, mit niedriger bzw. gar nicht vorhandener Berufserfahrung, ohne Kündigungsschutz, mit einer Wahrscheinlichkeit von 40 % weiblichen Geschlechts und von 12 % nicht-griechischer Herkunft (Matsaganis M., 2009). Das Fehlen einer kollektiven Interessenvertretung der Arbeitnehmer in 98 % der Unternehmen des privaten Sektors dokumentiert auf der einen Seite die gravierende Unzulänglichkeit des die interne Funktionsweise der Gewerkschaften regelnden gesetzlichen Rahmens, indem er die Möglichkeiten ihrer organisatorischen Autonomie beschneidet, ist aber auf der anderen Seite auch ein untrügliches Zeichen dafür, dass sie nicht beharrlich genug für die notwendigen Veränderungen des bestehenden Rahmens eintreten. In einer einschlägigen, vom Arbeiterzentrum Athen in Auftrag gegebenen Untersuchung (gr.: Ergatikó Kéntro) (Vprc- 2008) geben 52 % der Erwerbstätigen an, dass für ihre Arbeitsstätte kein gewerkschaftliches Vertretungsorgan existiere. In einer entsprechenden, vom INE/GSEE durchgeführten Studie (Vprc – 2008) antworten 35 % der im öffentlichen Sektor und 82 % der im privaten Sektor Beschäftigten negativ auf die Frage, ob sie Mitglied einer gewerkschaftlichen Organisation seien (in der aktualisierten Studie aus dem Jahre 2010 waren es gar 38 % resp. 77 %).

⇒ Drittens, die Präferenz für die im Laufe der Zeit errungene organisatorische Einheit, der zufolge die verschiedenen weltanschaulichen und politischen Strömungen in derselben organisatorischen Struktur koexistieren, wird durch den unterschiedlichen Rechtsstatus auf der Grundlage des jeweiligen Wirtschaftsbereichs zu einem gewissen Grad wieder revidiert (so ist das Öffentliche Recht für den ADEDY, das Privatrecht für die GSEE zuständig).

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In nicht geringem Maße wird die organisatorische Einheit aber auch durch die extreme politische und ideologische Zersplitterung aufgehoben, die das Bild von einer im Wesentlichen in sich gespaltenen Gewerkschaftsbewegung abgibt. Erwähnenswert ist ebenfalls, dass das griechische „Modell“ der gewerkschaftlichen Flügel, die die bestehenden Formationen der Parteienlandschaft nahezu deckungsgleich widerspiegeln, ein griechisches Alleinstellungsmerkmal darstellt. Formell erfolgt die Entscheidungsfindung bei gewerkschaftlichen und allgemeineren Fragen durch die Anwendung interner Verfahren. In der Praxis jedoch und vor dem Hintergrund der politisch-ideologischen Fragmentierung wird die „Linie“ in der Regel in außergewerkschaftlichen bzw. politischen Entscheidungszentren festgelegt, um dann vermittels der jeweiligen Flügel in die gewerkschaftlichen Organisationen „einzusickern“ (Tsakiris Th., 2012). Die organisatorische Zersplitterung mit den 3.500 Basisgewerkschaften, die sich auf der ersten bzw. untersten Ebene engagieren, und den 200 auf Branchenebene oder regionaler Ebene gebildeten übergreifenden Organisationen (für beide Dachverbände mit ihren 750.000 Mitgliedern) konterkariert den Einheitscharakter und reproduziert Ineffizienz.1 Die Existenz von weiteren 12 zweitinstanzlichen Verbänden in einer Branche ist ein zwar extremes, aber durchaus typisches Beispiel für den Zustand der griechischen Gewerkschaftsstrukturen, insbesondere angesichts der Tatsache, dass innerhalb der letzten 20 Jahre gerade mal zwei Fusionen von übergreifenden Gewerkschaftsorganisationen stattgefunden haben, während sich jedoch fortlaufend neue Branchen- oder Regionalorganisationen bilden, wodurch die Zersplitterung weiter forciert wird. Theoretisch sind die gewerkschaftlichen Organisationen unabhängig, in der Praxis jedoch und nicht zuletzt durch die Institution der Ergatiki Estia (OEE) –

1 Die griechische Gesetzgebung sieht drei Ebenen der gewerkschaftlichen Organisation vor. Die unterste Ebene bilden die Basisgewerkschaften, deren Zahl sich auf ca. 3.500 beläuft. Ihre Autonomie ist gesetzlich verankert und ihre Tätigkeiten sind gesetzlich geregelt. Früher waren die Basisgewerkschaften überwiegend nach Berufen organisiert und beschränkten sich auf ein kleines geografisches Gebiet. Heute handelt es sich bei vielen von ihnen um Betriebsgewerkschaften, die zum Teil größeren, nationalen oder regionalen Gewerkschaftsorganisationen angehören. Die zweite Ebene bilden die Gewerkschaftsorganisationen auf Branchenebene und auf regionaler Ebene. Zu ihnen gehören auch die so genannten Arbeiterzentren. Die Basisgewerkschaften entscheiden selbst, welcher Branchen- oder Regionalorganisation sie beitreten möchten, und innerhalb der GSEE ist dies maßgebend dafür, in welchen Bereichen die Basisgewerkschaften ihre Delegierten in den nationalen Kongress entsenden. Die dritte Ebene schließlich umfasst die Gewerkschaftsbünde wie die GSEE und den ADEDY (http://de.worker-participation.eu/Nationale-Arbeitsbeziehungen/Laender/Griechenland/Gewerkschaften).

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einer der Arbeiterwohlfahrt ähnlichen Trägerorganisation für diverse Sozialleistungen an Arbeitnehmer –, die einen nicht unerheblichen Beitrag zur finanziellen Ausstattung der Organisationen leistet, oder durch die Einbehaltung der Gewerkschaftsbeiträge und ihre Rückgabe an die nächsten Gewerkschaftsorgane (Basisgewerkschaften, Branchen- oder Regionalorganisationen) stehen sie in einem unmittelbaren und mittelbaren Abhängigkeitsverhältnis zum Staat und zu den Arbeitgebern (Tsakiris Th., 2012). Die fortwährende ökonomische Abhängigkeit der Gewerkschaften von der Arbeiterwohlfahrtorganisation mit ihren vielfältigen Konsequenzen ist ein zusätzlicher Baustein des institutionell abgesicherten staatlichen Interventionismus in das Innenleben der Gewerkschaften, der damit die ökonomische Autonomie und letztendlich die volle politische Unabhängigkeit der Gewerkschaftsbewegung ernsthaft in Frage stellt. Schließlich hat die Zurückdrängung des traditionellen konfrontativen Modells zugunsten kooperativer Elemente im Zuge der entsprechenden Prozesse auf europäischer Ebene den Klassencharakter der Gewerkschaften geschwächt und deren ideologisches und politisches Profil erheblich verwässert. In einer jüngst durchgeführten Studie des INE/ GSEE (Vprc– 2008) bevorzugen 63 % der befragten Erwerbstätigen und Erwerbslosen den Dialog und die Verhandlung als die am ehesten geeigneten Formen der Austragung von arbeits- und beschäftigungsrelevanten Konflikten. Demgegenüber ziehen nur 24 % Demonstrationen/ Kundgebungen und Streiks vor (in der aktualisierten Umfrage aus dem Jahre 2010 ist diese Tendenz mit 72 % resp. 18 % noch deutlicher ausgefallen). Die Durchsetzung des gesellschaftlichen Konsensmodells hat überdies die Wirksamkeit der Gewerkschaften weiter eingeschränkt, insbesondere nachdem die den sozialen Dialog tragenden Strukturen und Verfahren aus objektiven, vor allem aber subjektiven Gründen den Rückzug antreten mussten. Die herrschende Sparpolitik zielte in den letzten drei Jahren nicht nur direkt auf die institutionelle Entmachtung der Gewerkschaften ab, sondern vollzog auch die vollständige Degradierung der bestehenden Institutionen gesellschaftlicher Verhandlung und Konsultation. Das jähe Ende des sozialpartnerschaftlichen Modells zur Durchführung kollektiver Verhandlungen findet die Gewerkschaften im Zustand einer doppelten Krise vor: ihr Verhältnis zu den Erwerbstätigen wird einerseits durch eine ausgewachsene Effizienzkrise, andererseits durch eine tiefe Glaubwürdigkeitskrise belastet.

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II. Die Rolle der Gewerkschaften bei der Annahme und Umsetzung der Sparmaßnahmen Selbst in den Reihen der gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer traut ein beträchtlicher Anteil (44 % 2008 und 65 % 2010) den Gewerkschaften die Lösung ihrer arbeitspolitischen Probleme nicht zu. Der entsprechende Anteil, auf die Gesamtheit der (aus gewerkschaftlich organisierten und nicht organisierten bestehenden) Befragten bezogen, beläuft sich auf 53 % (69 % im Jahr 2010). Nichtsdestotrotz halten 72 % (77 % im Jahr 2010) der Grundgesamtheit Gewerkschaften nach wie vor für unerlässlich und setzen sie in der Liste der Träger, welche die Interessen der Arbeitnehmer zu verteidigen imstande sind, mit großem Abstand an die erste Stelle (Studie des INE/GSEE, Vprc- 2008 & 2010). Diese oben dargelegten Einschätzungen reflektieren eine große Wahrheit in Bezug auf die griechischen Gewerkschaften: sie sind im Bewusstsein der Erwerbstätigen des Landes unersetzlich, auch wenn sie sich nicht auf ihrem bestmöglichen bzw. erwünschten Organisations- und Funktionsniveau befinden. Die den Bedingungen einer Wirtschaftskrise potentiell innewohnende Perspektive der Verbesserung sowohl des Ansehens als auch der Effizienz der Gewerkschaften wurde rechtzeitig als große Gefahr für die ökonomischen und gesellschaftlichen Eliten erkannt, die Griechenland als Versuchslabor für die Durchsetzung des neuen hyperflexiblen Beschäftigungsmodells und der künftigen autoritären Regierungsform für die Völker Europas auserkoren haben. Daher hat die griechische herrschende Klasse, noch bevor die erste Kreditvereinbarung und das entsprechende Memorandum im Mai 2010 beschlossen wurden, einen perfekt organisierten Angriff auf die Gewerkschaften gefahren, und zwar gleich an zwei Fronten. Auf der einen Seite schränkte sie die Funktionsweise der die gesellschaftliche Deliberation und Verhandlung ermöglichenden Strukturen und Verfahren weiter ein, und auf der anderen Seite unternahm sie den Versuch der vollständigen institutionellen Schwächung der Arbeitnehmerorganisationen, um jede Aussicht auf ihre Reorganisation im Keim zu ersticken. ⇒ In Bezug auf die erste Ebene der Konfrontation sollte nicht unerwähnt bleiben, dass die gesetzlich verankerten Strukturen gesellschaftlicher Deliberation (Soziales Mehrzweckzentrum ADEDY, 2011) zuletzt selbst den zweitrangigen und dekorativen Charakter eingebüßt haben, den sie noch in den Jahren vor dem Ausbruch der Krise innehatten. Die Ergebnisse seriöser, von anerkannten Institutionen durchgeführter wissenschaftlicher Studien, wie beispielsweise die Einschätzungen des Wirtschafts- und Sozialrats

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Griechenlands (OKE) oder gar die Schlussfolgerungen des Wissenschaftsausschusses des Griechischen Parlaments werden demonstrativ und systematisch ignoriert. Ebenso verfährt man auch mit den vorgeschriebenen Verfahren zur öffentlichen Anhörung der Vertreter der jeweils involvierten gesellschaftlichen Gruppen und Organisationen durch die entsprechenden parlamentarischen Ausschüsse anlässlich eines laufenden Gesetzgebungsprozesses, sofern freilich diese Verfahren nicht ohnehin auf eine die Geschäftsordnung des Parlaments und die Staatsverfassung missachtende Art und Weise umgangen werden. Gerade in einer Zeit, in der Griechenland unter internationaler Haushaltsaufsicht steht, stellt die nicht einmal rudimentär vorhandene Bereitschaft zur Konsultation, Verhandlung oder auch nur Informierung der Gewerkschaftsorganisationen der Arbeitnehmer das charakteristische Erkennungsmerkmal der aktuellen Regierungsform dar, im Rahmen derer der gesellschaftliche Dialog als maßgebliche Säule der modernen Demokratie bewusst ausgehöhlt wird (Kapsalis A., 2011). Nur in ganz wenigen Fällen hat der Staat (oder die Arbeitgeberseite) im Rahmen der Verabschiedung von Gesetzestexten, die das Arbeitsrecht oder das Sozialversicherungsrecht im privaten wie im öffentlichen Sektor betreffen, den Weg des gesellschaftlichen Dialogs im engeren oder weiteren Sinne beschritten. Eine bezeichnende Ausnahme stellt etwa der Ausschuss für Gesetzesvorlagen des Arbeitsministeriums dar, der Ende 2009 ins Leben gerufen wurde, um Rechtsvorschriften im Hinblick auf die „Bekämpfung der Beschäftigungsunsicherheit“ auszuarbeiten. Das nach 7-monatigen Konsultationen zwischen den Experten bzw. Repräsentanten der Sozialpartner und dem Ministerium erzielte Ergebnis war die Verabschiedung des Gesetzentwurfes 3846/2010, bei dessen Formulierung die detaillierten Vorschläge der Arbeitnehmerseite in ihrer überwältigenden Mehrheit abgelehnt worden sind. Was hingegen in der Regel passiert, ist, dass die Reformen der Arbeits-, Sozial- und Steuergesetzgebung über einen langen Zeitraum hinweg einer in formaler Hinsicht recht eigentümlichen Form der öffentlichen Deliberation ausgesetzt werden. Deren wesentliche Merkmale sind die -unter Verweis auf die Forderungen der Troika - systematische Vorankündigung der bevorstehenden Reformen als bereits vollendeter Tatsachen, die selektive Thematisierung bestimmter, besonders umstrittener Fragen oder Aspekte und die üblicherweise nur marginale (oder auch gar nicht vorhandene) Mitwirkung

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von Arbeitnehmervertretern am selbstinszenierten öffentlichen, oder besser gesagt, exklusiv im Fernsehen stattfindenden „Dialog“. Dieses für die griechischen Verhältnisse beispiellose Verfahren fungierte und fungiert (durch die ständige Wiederholung und medial inszenierte Alternativlosigkeit) mehr als Mittel zur einseitigen Durchsetzung und Zementierung der jedes Mal neuen gesetzlichen Regelungen denn als Versuch einer gemeinsamen Ausgestaltung des neuen sozial- und beschäftigungspolitischen Rahmens. Üblicherweise werden die unmittelbar betroffenen Arbeitnehmer, nicht selten aber auch die Gewerkschaftsfunktionäre des öffentlichen und privaten Sektors selbst, über die Fusion ihrer Träger oder die Kürzung ihrer Bezüge über die zentralen Nachrichtensendungen in Kenntnis gesetzt und gerade nicht vermittels institutionalisierter oder wenigstens informeller Formen des gesellschaftlichen Dialogs. Heutzutage ist es gar so, dass der allenfalls elementare und sich in medienwirksamer Inszenierung erschöpfende gesellschaftliche Dialog, der auf Initiative der neuen Drei-Parteien-Regierung seit Juli 2012 mit den gewerkschaftlichen Spitzengremien geführt wird, ein besonders hohes Gefahrenpotential für die Arbeiterrechte aufweist. Indem es hierbei ausschließlich um die Reduzierung der Arbeitskosten geht, wird die unter bestimmten Bedingungen vorgenommene Wiedereinführung von manchen der grundlegenden (und zuvor oftmals widerrechtlich abgeschafften) arbeitsrechtlichen Regelungen als Trojanisches Pferd für die weiterführende Deregulierung der Arbeits- und Versicherungsgesetzgebung in Stellung gebracht, und zwar in jenen Bereichen, die von schmerzhaften Eingriffen bisher verschont geblieben waren.

⇒ In Bezug auf die zweite Achse des großangelegten Angriffs auf die Gewerkschaftsbewegung verdient vor allem die Tatsache Beachtung, dass der Bereich des Rechts, der in der Zeit der Memoranden die weitreichendste Deregulierung hat hinnehmen müssen (mit Ausnahme des Sozialversicherungssystems), derjenige des Kollektiven Arbeitsrechts ist – und hierbei insbesondere derjenige des Rechts auf kollektive Tarifverhandlungen. Die legislativen Interventionen sind von so großer Zahl und dermaßen einschneidend, dass im Vergleich zu dem, was im Hinblick auf das griechische Tarifvertragsrecht bis Anfang 2010 Gültigkeit besaß, nur ganz wenige Merkmale bis heute unangetastet blieben. Schon eine grobe Darstellung dieser neuen Rechtsvorschriften würde daher den Rahmen dieser Studie sprengen.

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Würde man den Versuch einer Übersicht über die geradezu radikalen Veränderungen des kollektiven Verhandlungsrechts unternehmen, könnte man sagen, dass binnen eines Zeitraums von zwei Jahren eine spektakuläre Dezentralisierung der Tarifverträge erreicht wurde, wobei nunmehr nicht etwa die betrieblichen Tarifvereinbarungen anstelle der Branchentarifverträge überwiegen, sondern vielmehr eine Dominanz von individuellen gegenüber kollektiven Regelungen erreicht wurde, wodurch dem Arbeitnehmer nur noch sehr wenige Sicherheitsventile gewährt und vorhandene Mindeststandards auf der Ebene der Entlohnung und der institutionellen Komponenten seiner Arbeitsbeziehung faktisch nahezu abgeschafft werden. Die eklatantesten Eingriffe in das Recht auf Kollektivverhandlungen sind kurz gefasst die folgenden: a) die Abschaffung des Prinzips der für den Arbeitnehmer jeweils günstigeren Regelung (Günstigkeitsprinzip) und der Vorrang von Vereinbarungen auf Betriebsebene. Diese Vereinbarungen können nunmehr von jeder (etwa branchenspezifischen) Mindesteinkommensgrenze bis hinunter zu der vom Nationalen Allgemeinen Tarifabkommen gesetzten Grenze frei abweichen. Es sei daran erinnert, dass sich heute die Mindesteinkommensgrenze nach den deutlichen Kürzungen, die mit der Verabschiedung des Zweiten Sparpakets durch das griechische Parlament am 12.2.2012 in Kraft traten, auf monatlich 585 Euro brutto und für Menschen unter 25 Jahren auf monatlich 511 Euro brutto belaufen. Ferner können erstmals in der Geschichte des Landes die Vereinbarungen in jedem Betrieb, unabhängig von seiner Größe und der Anzahl der Beschäftigten, nunmehr von einfachen Personen-Assoziationen abgeschlossen werden, die durch Gerichtsentscheid in allerkürzester Zeit von 3/5 der Betriebsbelegschaft - zumeist auf Initiative des Arbeitgebers - eingerichtet werden können, so dass die Einbußen bei den Einkommen und die Durchsetzung jeglicher flexiblen Beschäftigungsformen einen offiziellen Charakter erhalten. b) die Abschaffung der ministeriellen Möglichkeit, die Gültigkeit des Branchentarifvertrags unter bestimmten Voraussetzungen auszudehnen und ihn für allgemeinverbindlich zu erklären. Folge dieser Maßnahme ist die dramatische Reduzierung der Zahl der Arbeitnehmer, die durch einen Branchentarifvertrag abgedeckt sind, ist doch der Betrieb von vielen unter ihnen nicht den Arbeitgeberverbänden angeschlossen, die ihn zusammen mit den Gewerkschaften abschließen. Es versteht sich beinahe von selbst, dass sich die bei den Arbeitgebern zu beobachtende Tendenz zum Rückzug aus den bestehenden Vereinigungen oder gar zu deren Auflösung zusehends verschärft, was zur Folge hat, dass die Gewerkschaften in vielen Fällen nicht einmal mehr

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auf einen offiziellen Gesprächspartner zurückgreifen können, um offizielle Verhandlungen zu führen. Überdies hat die jüngst vorgenommene Aufhebung der Gültigkeit der Nachwirkung von Tarifverträgen (Prinzip der Nachwirkung) dem kollektiven Arbeitsrecht einen weiteren entscheidenden Schlag versetzt. Faktisch verliert der Arbeitnehmer nunmehr mit Beendigung oder einseitiger Kündigung eines Tarifvertrags all seine bis dahin fest verankerten Rechte und muss praktisch bei null eine individuelle Verhandlung eröffnen, falls nicht binnen eines kurzen Zeitraums (drei Monate) eine neue Vereinbarung getroffen wird. c) die Außerkraftsetzung der institutionell gesicherten Möglichkeit der freien Verhandlung und der unabhängigen Festlegung des Inhalts des Tarifvertrags. Für den Fall, dass im Verlauf der Verhandlung keine Einigung zustande kommt – sofern ein (bereitwilliger) Gesprächspartner von der anderen Seite überhaupt zur Verfügung steht –, können die Gewerkschaften nicht mehr einseitig die Schlichtung anrufen, um die massenhafte Ausweitung von individuellen Arbeitsverträgen zu vermeiden. Doch auch wenn die Angelegenheit das Stadium der Schlichtung erreicht und der OMED zur Beilegung vorgelegt wird, darf der entsprechende Schiedsspruch sich nur auf einkommensrelevante Aspekte beziehen. Gleichzeitig wird der Spielraum der Schlichtungsstelle noch weiter eingeschränkt, da einerseits mögliche Lohn- und Gehaltserhöhungen die durchschnittliche Inflationsrate in der Eurozone für das vergangene Jahr (ca. 1,6 %) nicht überschreiten dürfen, während andererseits der Schiedsspruch der Schlichtungsstelle die internationale wirtschaftliche Situation, aber auch das Postulat der Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der griechischen Wirtschaft vor allem durch Senkung der Lohnkosten berücksichtigen muss. Manche Beobachter vertreten die These, dass die Tarifverträge inzwischen zu Abziehbildern der Vorschläge der Arbeitgeberseite und der Regierung degeneriert sind. Viele Gewerkschaftsorganisationen, insbesondere Branchengewerkschaften auf Basisebene oder auch Verbände, beeilen sich, Lohnkürzungen der Größenordnung von 15 oder gar 20 Prozent zu vereinbaren, und zwar einzig und allein mit dem Ziel, die Geltung der Gewerkschaften als Tarifpartner sowie der Tarifvereinbarungen selbst, vor allem aber die übrigen institutionellen Rechte, die allesamt Errungenschaften ihrer früheren Arbeitskämpfe sind, hinüberzuretten. Aus der eingehenden Untersuchung aller in den zwei Jahren 2010-2011 abgeschlossenen Tarifvereinbarungen (Kapsalis, 2012) resultiert die Schlussfolgerung, dass sich die Gewerkschaftsorganisationen und die

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Arbeitnehmerschaft insgesamt seit Mitte 2010 sukzessive mit der folgenden Realität auseinandersetzen müssen: Lohn- und Gehalterhöhungen sind auf den Rahmen von 0 % bis 1,7 % beschränkt, unabhängig von der jeweiligen Inflationsrate in Griechenland oder der jeweils besonderen wirtschaftlichen Situation des Betriebs oder der Branche und bilden folglich einen privilegierten Ausgangspunkt für Verhandlungen zu Ungunsten der Gewerkschaften. Nutznießer dieser Konstellation sind die Arbeitgeber, für die in Wirklichkeit nur sehr wenig auf dem Spiel steht. Im Gegenteil, sie können sich beruhigt zurücklehnen und unter der Androhung, ihre Zustimmung zu jeder Vereinbarung zu verweigern, die sich auf die übrigen Parameter der Arbeitsbeziehungen bezieht, stillschweigend Druck auf die Gewerkschaften ausüben, ihre Vorschläge in Fragen der Entlohnung zu akzeptieren. Demzufolge sieht sich die Gewerkschaftsbewegung mit folgendem Dilemma konfrontiert: entweder man stimmt „freiwillig“ a) drastischen Kürzungen der Löhne und Gehälter oder b) Erhöhungen innerhalb des vom EGSSE vorgesehenen Lohnzuwachsrahmens zu und sichert dadurch den Bestand institutioneller oder anderer Regelungen des Arbeitsverhältnisses bzw. erreicht gar darüber eine neue Vereinbarung, oder man erreicht, indem man vor die Schlichtungsstelle OMED zieht, mehr oder weniger dieselben Erhöhungen, allerdings um den Preis der Nicht-Verankerung der übrigen, nicht lohn- und gehaltsrelevanten Regelungen. In einem solchen Umfeld ist die Last der Verantwortung auf den Schultern der Arbeitnehmervertreter fast unerträglich. Das Terrain ist vermint, und die Gefahr lauert bei jedem Schritt. Bevor man sich also dazu versteigt, die Effizienz der Gewerkschaftsbewegung zu beurteilen oder gar zu kritisieren, sollte man sich einiger weiterer objektiver Faktoren bewusst werden, die das gegenwärtig herrschende Klima auf dem griechischen Arbeitsmarkt kennzeichnen. Stellvertretend seien hier die folgenden genannt:

• die ohnehin sehr verbreitete Praxis der individuellen „Verhandlung“ (einseitig vorgenommene oder „einvernehmlich“ zustande gekommene Lohnkürzungen; die Durchsetzung eines Systems von wechselnder Schichtarbeit, Teilzeitbeschäftigung, obligatorischer Versetzung in die so genannte „Arbeitskraftreserve“ etc.);

• die Entbindung von der Begründungspflicht für Entlassungen aus

wirtschaftlichen Gründen oder aus Gründen, die die Person der Arbeitnehmer betreffen;

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• die Erweiterung der gesetzlich vorgeschriebenen monatlichen Obergrenze für Massenentlassungen auf 5 %;

• die - aufgrund der drastischen Kürzung der Kündigungsschutzfrist -

faktische Reduzierung der Abfindungen im Falle einer Entlassung um 50 %;

• die zeitintensiven und kostenaufwändigen Verfahren arbeitsgerichtlichen

Schutzes für den Arbeitnehmer;

• die hohe Arbeitslosenquote (die im Juni 2012 nach Schätzungen des INE/GSEE-ADEDY 29 % betrug) und das niedrige Rechtsschutzniveau der Menschen ohne (Voll- und Fest-) Anstellung;

• das Klima der Einschüchterung in den meisten Unternehmen des Landes

und die geradezu epidemische Welle von hunderten von Entlassungen (und anderen Vergeltungssanktionen) zu Lasten von Gewerkschaftern oder einfachen Arbeitnehmern aufgrund gewerkschaftlicher Betätigung.

III. Die Entwicklung der Gewerkschaften im Zeichen von Rezession und Krise und ihre Reaktion auf die Politiken der Memoranden Der im vorangegangenen Kapitel im Überblick dargestellte Zwei-Fronten-Angriff auf die Gewerkschaften und das griechische Tarifrecht wurde nicht allein aus Gründen der politisch-historischen Revanche des griechischen Kapitals gegen die Organisationen der Erwerbsarbeit gestartet. Es ist offenkundig, dass unter dem Vorwand der Wirtschaftskrise die Deinstitutionalisierung der Gewerkschaften (Gourlas N., 2012) direkt auf die Erleichterung der weitergehenden Deregulierung sozialer Rechte durch die Schwächung jedweder kollektiven Reaktion seitens der Arbeitnehmer abzielt. Insbesondere in den letzten zweieinhalb Jahren wurden parallel zum Abbau der kollektiven Arbeitnehmerrechte extrem weitreichende legislative Eingriffe in fast allen übrigen Gebieten der Arbeits- und Sozialversicherungsgesetzgebung vorgenommen, und zwar sowohl im privaten als auch im öffentlichen Sektor. Der Widerstand, den die Gewerkschaften und die Arbeitnehmer gegen diese sehr häufig unrechtmäßigen und antidemokratischen Reformen leisteten, war enorm (III. A.). Gleichzeitig entstanden viele neue Initiativen, die sich bis heute für den Neuaufbau und die Neuordnung der Gewerkschafts- und Arbeiterbewegung einsetzen (III. B.).

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III. A. Der Widerstand gegen die rigide Sparpolitik Die von den Gewerkschaften und den Arbeitnehmern formierte Widerstandsbewegung gegenüber der Sparpolitik und der Haushaltsdisziplin erstreckt sich über zwei Phasen. Während der ersten, vom Frühjahr 2010 bis zum Ende desselben Jahres anhaltenden Phase vollzieht sich die Politik der griechischen Regierung auf zwei Ebenen: einerseits setzt man durch das gleichzeitige Eröffnen mehrerer Fronten in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik auf das Moment der Überraschung, und andererseits wird eine von den Massenmedien perfekt inszenierte Verleumdungskampagne gegen die Gewerkschaftsbewegung losgetreten, die dem Ziel dient, eine unmittelbare und großangelegte Mobilisierung der Bürger gegen die neuen Maßnahmen abzuwenden. Diese Rechnung geht zum großen Teil auf. Während dieser ersten Phase (die außerdem auf den erst kurz zurückliegenden Regierungswechsel vom Herbst 2009 folgt) herrschen allerorten noch eine abwartende Haltung und die Überzeugung vor, dass es sich bei diesen ersten Schritten um vorübergehende Notmaßnahmen von begrenzter Reichweite handelt. Dementsprechend verzichten die Gewerkschaften auch auf jeden Versuch, eine Analyse des wahren Ausmaßes und der tieferen Ursachen der Wirtschaftskrise vorzunehmen oder zumindest einen umfassenden Strategierahmen zur Abwehr des neoliberalen Angriffs auszuarbeiten. Die Lähmung der ersten Monate wird sehr schnell von einem Gefühl der Wut und einer regen Mobilisierung an den Arbeitsplätzen, aber auch generell in der Gesellschaft abgelöst. Der Arbeitskampf gewinnt rasch an Boden, und zwar sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht. So plötzlich der Rückzug der Eliten vom „Sozialvertrag“ erfolgte, der die Zeit nach dem Ende der Militärherrschaft 1974 geprägt hatte, so schnell lebte auch das konfrontative Sozialmodell wieder auf. Die institutionelle Schwächung der Verhandlungskraft der Gewerkschaften führte auf Seiten der griechischen Arbeiterbewegung schlagartig zur Wiederentdeckung der klassischen Durchsetzungsmethoden wie Streiks, Besetzungen und Demonstrationen. Sehr schnell wächst das tägliche Bulletin über Streiks, soziale Kundgebungen und Demonstrationen auf mehrere Seiten an. Im Zeitraum von Anfang 2010 bis einschließlich Mai 2012 wurde zu insgesamt 17 Generalstreiks aufgerufen, wobei viele davon sogar von 48-stündiger Dauer waren. Aus der einschlägigen Studie zu den Streikbewegungen im Laufe des Jahres 2011 (Katsoridas D.,/ Lambousaki S., 2012), d.h. während der Dauer der sich zuspitzenden Kämpfe der Arbeiterbewegung, gehen einige interessante Ergebnisse hervor:

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Es werden insgesamt ca. vierhundertfünfundvierzig (445) Streiks und Arbeitsniederlegungen erfasst. Zweihundertvierzig (240) Streiks betreffen den privaten Sektor und einundneunzig (91) den öffentlichen Sektor. Darüber hinaus fanden einhundertachtundfünfzig (158) Arbeitsniederlegungen statt, zweihundert (200) vierundzwanzigstündige Streiks und vierundachtzig (84) achtundvierzigstündige Streiks. Die erfassten Besetzungen belaufen sich insgesamt auf dreiundfünfzig (53). In zwölf (12) Streikfällen wird von den Beteiligten angeführt, dass Streikposten zur Bewachung der Arbeitsstätten aufgestellt wurden, um den normalen Produktionsbetrieb oder den Transport von Maschinen zu behindern. Im Jahre 2011 wurden schließlich den erfassten Daten zufolge auch neun (9) Dauerstreiks durchgeführt, die jedoch nicht länger als 10 Tage andauerten, mit Ausnahme des Streiks im Stahlwerk „Elliniki Chalyvourgia“ und demjenigen beim Fernsehsender „ALTER“.

⇒ Der Fall des Stahlwerks „Chalyvourgia Elladas“

Der Streik im Stahlwerk „Elliniki Chalyvourgia“ (Griechische Stahlindustrie), in dem rund 400 Arbeiter beschäftigt waren, begann am 31. Oktober 2011 und endete am 28. Juli 2012 mit Beschluss der Vollversammlung der Arbeitnehmer nach entsprechender Empfehlung des Betriebsrats. Der maßgebliche Grund für den Streik waren die Pläne der Unternehmensleitung, 51 Arbeiter zu entlassen und für die übrigen Beschäftigten einen 5-Stunden-Tag bei gleichzeitiger Herabsetzung des Lohnes um 40 % durchzusetzen. Außerdem beabsichtigte man, flexible Arbeitsverhältnisse und unbezahlte Überstunden zu etablieren sowie den Versicherungsschutz und kollektive Tarifvereinbarungen insgesamt abzuschaffen. Der Streik im Stahlwerk stellt die größte und längste Arbeitskampfmaßnahme der industriellen Arbeiterklasse dar, die Griechenland in den letzten Jahrzehnten erlebt hat. Der Streik genießt die ungeteilte Unterstützung breiter Teile der Arbeiterschaft aus anderen Branchen, aber auch der öffentlichen Meinung insgesamt. Die Solidarität kam auf verschiedene Art und Weise sowohl aus dem Inland als auch aus dem Ausland2 zum Ausdruck. Sie erstreckte sich von Solidaritätserklärungen und Besuchen von

2 Siehe das Video mit einem Ausschnitt aus der Rede eines streikenden Stahlarbeiters und Gewerkschaftsmitglieds auf einer Veranstaltung im Berliner IG Metall-Haus im März 2012 unter dem Link http://www.youtubecom/watch?v=sgarLmaz4SI.

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Arbeitnehmerdelegationen aus vielen Betrieben bis hin zu materieller und finanzieller Hilfe für die Streikenden und ihre Familien in Form von Nahrungsmitteln, Medikamenten und Geld. Auf der Ebene der Arbeitersolidarität erwies sich der Fall der Griechischen Stahlindustrie als geradezu modellhaft. Ohne Zweifel markiert der besagte Streik einen Meilenstein im Hinblick auf die Zukunft der Arbeiterbewegung und inspiriert nach wie vor die Streikaktivitäten, die sich heute gegen die rigide Sparpolitik entwickeln. Für die sozial engagierten Aktivisten innerhalb und außerhalb Griechenlands ist der Streik im Stahlwerk „Elliniki Chalyvourgia“ inzwischen zum Synonym für Entschlossenheit, Selbstlosigkeit und Klasseneinheit geworden. Aus diesen Gründen wurde die unnachgiebige Haltung der Arbeitgeberseite, die sich des ungeteilten Beistands der gesamten Unternehmerschaft und der Troika sicher sein konnte, schon bald von neuen Entlassungen, Klagen zu Lasten der Gewerkschaft und von anderen antigewerkschaftlichen Praktiken begleitet, derer man sich während der gesamten Dauer des Streiks, aber auch nach dessen Beendigung immer wieder gern bediente (Mavrojenis A., 2012). Es ist alles andere als zufällig, dass der Arbeitskampf nur eine Woche nach der (staatsanwaltlich verordneten) Erstürmung des Stahlwerks durch Sondereinheiten der Polizei und das massive Vorgehen gegen die Streikposten vor den Toren des Werks in Aspropyrgos für beendet erklärt wurde. Andererseits kamen während des neunmonatigen heroischen Kampfes der Stahlarbeiter aber auch viele strukturelle Schwächen der griechischen Gewerkschaftsbewegung an die Oberfläche, die für den endgültigen Ausgang des Streiks in hohem Maße verantwortlich sind. Das Fehlen einer umfassenden gewerkschaftlichen Strategie zur Bekämpfung des Spardiktats und der Politik der Memoranden hat rasch (auch) diesen Streik in die Sackgasse geführt und letztendlich in den Rückzug getrieben, verbunden zudem mit großen materiellen und politischen Einbußen für die Arbeitnehmer. Die sehr ausgeprägte parteipolitische Abhängigkeit, die die Mehrheit der leitenden Vertreter der Betriebsgewerkschaft auszeichnet, löste schon zu einem frühen Zeitpunkt jede Aussicht auf einen anderen Verlauf des Streiks in Richtung Entwicklung bzw. Planung einer umfassenden einheitlichen Front zur Festlegung der entscheidenden Schritte, in Luft auf. Die Kampffront Aller Griechen (PAME), eine gewerkschaftliche

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Plattform, die der Kommunistischen Partei Griechenlands (KKE) nahe steht, lehnt gemeinsame Aktivitäten konsequent ab und verfolgt den Weg des Sektierertums und der Abschottung. Das führte dazu, dass die Sympathisanten jedweder Couleur im Wesentlichen äußere Beobachter blieben und sich nicht zu wahren Beteiligten und Mitstreitern dieses beispiellosen Streikunternehmens entwickeln konnten. Die Fragmentierung der organisatorischen Struktur der griechischen Gewerkschaftsbewegung wiederum führte auch in diesem Fall dazu, dass kein einheitliches Vorgehen der gesamten Arbeiterschaft des besagten Unternehmens zustande kam. So machte der Betriebsrat des Standorts Volos der „Elliniki Chalyvourgia“ an dem von seinem Pendant in Aspropyrgos eingeschlagenen Weg des Streiks nicht mit. Dadurch dass man sich in Volos um eine einvernehmliche Lösung bemühte, erlaubte man dem Unternehmen sogar, einen Teil seiner Produktionsaktivitäten aufrechtzuerhalten, was zweifellos dazu geführt hat, dass die wirtschaftlichen Folgeschäden des mehrmonatigen Streiks für den Arbeitgeber abgemildert wurden. Die Abwesenheit einer klar ausgeprägten Klassenkultur bei denjenigen politischen Kräften, die traditionell die Position der Streikenden und ihrer Gewerkschaft zu bestimmen pflegten, führte schließlich dazu, dass die unmittelbare Aktivierung jener Reflexe ausblieb, die das Zustandekommen eines für den weiteren Verlauf des Arbeitskampfes entscheidenden Ereignisses hätten verhindern können. Die Rede ist von der offiziellen Begrüßung der materiellen und moralischen Hilfe, die völlig unerwartet und in provokatorischer Absicht eine Gesandtschaft der neonazistischen Partei Chrysi Avgi (Goldene Morgenröte) den Streikenden zukommen ließ und die eine nicht unerhebliche Zahl von dem Streik solidarisch gegenüberstehenden Arbeitnehmern zutiefst enttäuscht und beschäftigt hat.

Der Beitrag des Streiks im Stahlwerk „Elliniki Chalyvourgia“ zur qualitativen Fortentwicklung des gewerkschaftlichen Widerstands insgesamt war von unschätzbarem Wert. Der Forderungskatalog der überwiegenden Mehrheit der Gewerkschaften und der von ihnen organisierten Kundgebungen und Demonstrationen lässt sich mittlerweile nicht allein auf rein arbeitsrechtliche Fragen reduzieren, sondern umfasst seit Ende 2010 verstärkt auch Ansprüche, die mit der Krise des politischen und staatlichen Systems zusammenhängen, und die Verteidigung des Sozialstaates und die Aufhebung historisch erkämpfter demokratischer Errungenschaften und Freiheiten betreffen.

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In der folgenden Tabelle (Katsoridas D., / Lambousaki S., 2012) werden die Forderungen der im Laufe des Jahres 2011 durchgeführten Streiks nach Häufigkeit aufgelistet:

Forderungen der Streikmaßnahmen Zahl der Streiks

Verhinderung von Entlassungen / Wiedereinstellung von Arbeitnehmern

122

Auszahlung bereits geleisteter Arbeit 112 Gegen Umstrukturierung / Privatisierung / Schließung / Fusion / Umsiedlung des Unternehmens oder einzelner Unternehmensteile / von Dienstleistungen und den damit einhergehenden Konsequenzen für die Arbeitsbeziehungen

105

Gegen Lohn- und Gehaltskürzungen 73 Umfassendere Aspekte der Arbeitsbeziehungen / Forderungen politischen Charakters

51

Gegen die Einrichtung einer Arbeitskraftreserve und die Entlassungen im öffentlichen Sektor

45

Einhaltung der in den Tarifverträgen festgelegten Bestimmungen

35

Abschluss von Tarifverträgen 33 Verzicht bzw. Widerruf der Durchsetzung eines Schichtarbeitssystems

14

Renten- und Sozialversicherungsfragen / Sozialschutzrechte bei schweren und gefährlichen Arbeiten (ΒΑΕ)

12

Arbeitszeitfragen 8 Gegen die Repression von Gewerkschaftern 6 Gegen nachteilige Änderungen der individuellen Arbeitsverträge

6

Verbesserung der Gesundheits- und Sicherheitsbedingungen

4

Die sowohl qualitative wie quantitative Ausdehnung des Inhalts gewerkschaftlicher Interventionen und Forderungen geht mit einigen positiven und – prinzipiell – durchaus hoffnungserweckenden Entwicklungen einher, denen man im selben Zeitraum zumindest auf europäischer Ebene nicht häufig begegnet. Dazu gehört zweifellos die ab einem bestimmten Zeitpunkt oft zu beobachtende Kooperation und Verbindung der beiden „signifikanten“

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Bewegungsprozesse der jüngsten Zeit, nämlich der traditionellen Arbeiterbewegung und der Bewegung der so genannten Empörten. Die von der klassischen Gewerkschaftsbewegung und den Volksversammlungen oder den „Bürgerforen“ auf den Plätzen der Hauptstadt und der anderen Großstädte des Landes gemeinsam organisierten Aktionen und Debatten bescherten der Arbeiterbewegung eine Vielzahl bisher weitestgehend unbekannter, aber äußerst wertvoller Kenntnisse, Erfahrungen und Praktiken. Zusätzlich lassen sich erstmals auch gemeinsam von Gewerkschaften und Kleinunternehmervereinigungen oder/und Wissenschaftlervereinen initiierte Mobilisierungen beobachten, wovon beide Parteien gleichermaßen profitierten – insbesondere auf der Ebene der Verankerung zahlreicher gewerkschaftlicher Forderungen im Bewusstsein breiter Schichten der öffentlichen Meinung. Schließlich sei noch darauf hingewiesen, dass viele gewerkschaftliche Organisationen auf die neu entstandenen Organisationsformen der Arbeitnehmerschaft keineswegs mit Bedenken oder Vorbehalten reagierten. Seit dem Erscheinen der allerersten Symptome der Krise und ihren Auswirkungen auf die griechische Wirtschaft, bilden sich zahlreiche Arbeitergruppen und Kollektive, die sich in jedem Winkel Griechenlands an der Basis zu organisieren beginnen. Zumeist fungieren sie sogar in Kooperation mit oder im Rahmen von örtlichen Volksversammlungen und entfalten eine Tätigkeit, die mit der Arbeit der offiziellen Gewerkschaften nicht konkurriert, sondern diese vielmehr ergänzt und verstärkt. Insofern lassen sich auch diese Initiativen den zahlreichen spontan unternommenen Versuchen zuordnen, die Defizite und Schwächen zu überwinden, die einerseits mit der von der Regierung betriebenen institutionellen Entmachtung der Gewerkschaften und andererseits mit den diachronen Fehlfunktionen der Gewerkschaftsbewegung, vor allem aber den sie durchziehenden Trennungslinien, zusammenhängen. III. Die internen Prozesse in der Gewerkschaftsbewegung Die auf Ausgleich oder gar Identität mit den Arbeitgebern und der Regierung ausgerichtete Variante von gewerkschaftlicher Interessenvertretung ist in den Führungen der meisten Gewerkschaftsorganisationen der zweiten oder dritten Ebene sehr gut verwurzelt. In der Wahrnehmung der Mehrheit der Arbeitnehmer sind die Vertreter dieses Gewerkschaftsverständnisses inzwischen ins gegnerische Lager übergelaufen, ziehen sie es doch vor, gegen die rigide Sparpolitik eine Opposition der leisen Töne und gleichzeitig starke politische Abhängigkeiten von den beiden maßgeblichen Säulen der

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Memorandums-Politik (den langjährigen Regierungsparteien PASOK und Nea Dimokratia) zu pflegen. Die Mehrheit derjenigen, die sich aktiv in der Arbeiterbewegung engagieren, unter ihnen selbst Gleichgesinnte der Regierungsgewerkschafter, werfen ihnen politische Untätigkeit, eine auf Parteiinteressen basierende Versöhnungshaltung und eine auf Ausgleich und Kompromiss mit der Regierung und den Arbeitgebern ausgerichtete Strategie vor – und das just in dem Moment, in welchem der frontale und blindwütige Angriff der Troika eine radikalere Orientierung geradezu aufzwingt. Allerdings ist nicht davon auszugehen, dass sich die Kräfteverhältnisse im Inneren der Gewerkschaftsbewegung - und insbesondere auf deren Führungsebene – in absehbarer Zeit ändern werden, und dies aus einer Vielzahl von Gründen, die vor allem mit ihrer organisatorischen Struktur und mit den Merkmalen zu tun haben, die im ersten Kapitel dargelegt wurden. Stattdessen lässt sich in den Reihen der Arbeiterbewegung eine intensive autonome Aktivität feststellen, die auf vielfältige Weise in gewerkschaftlichen Prozessen und Gärungsprozessen Ausdruck findet. Zunächst einmal lassen sich viele hoffnungsvolle Phänomene der Verständigung zwischen Gewerkschaftern unterschiedlicher ideologischer Provenienz aus dem gesamten Spektrum der Linken, aber auch aus dem linken Rand der Sozialdemokratie feststellen. Diese Vereinheitlichungsprozesse schlagen sich häufig in der Bildung neuer gemeinsamer Netzwerke und Formationen nieder, welche die Verhältnisse in einem fortschrittlichen Sinne zugunsten der radikalen Kräfte in den Entscheidungsgremien vieler Gewerkschaften und in wichtigen Betrieben oder Branchen verschieben. Zweifellos ist die neue soziale Dynamik, wie sie im Wahlerfolg der Linken und insbesondere von SYRIZA bei den Parlamentswahlen im vergangenen Mai und Juni einen aufsehenerregenden Niederschlag gefunden hat, in entscheidendem Maße für die Umkehr des von Spaltung und Zersplitterung geprägten Klimas verantwortlich, das über viele Jahre hinweg für die Linke innerhalb der offiziellen Gewerkschaftsbewegung bezeichnend war. An diesem Punkt sei darauf hingewiesen, dass weder Untersuchungen noch offizielle Dokumentationen vorliegen, welche auf die organisatorische Entwicklung der Gewerkschaftsbewegung des Landes zu Zeiten der Memoranden fokussieren, so dass auf konkretes Datenmaterial bezüglich der Gründung oder der Fusion von Gewerkschaften oder Verbänden zurückgegriffen werden könnte. Nichtsdestotrotz erlaubt der allgemeine Eindruck, der sich einem aus einschlägigen Publikationen oder vereinzelten

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Dokumentationen aufdrängt, die Schlussfolgerung, dass sowohl auf Betriebs- als auch auf Branchenebene vermehrt der Versuch unternommen wird, neue gewerkschaftliche Basisorganisationen zu gründen, was man im Hinblick auf die Fusion bereits bestehender Organisationen auf Betriebs- oder Branchenebene allerdings nicht behaupten kann. Dies überrascht jedoch nicht weiter, erfordern doch solcherlei Zusammenschlüsse in der Regel mehrmonatige Konsultationen, und zwar auf der Grundlage eines theoretischen Hintergrunds und einer klar strukturierten Problemstellung im Hinblick auf die neuen Herausforderungen, mit denen sich die Gewerkschaftsbewegung auseinandersetzen muss. An spontanen, durchaus bemerkenswerten Ansätzen besteht zwar kein Mangel, Prozesse und Strukturen für die Eröffnung eines klar konturierten einschlägigen Dialogs haben sich bisher allerdings noch nicht abgezeichnet. In großen Betrieben mit starken gewerkschaftlichen Strukturen ist schließlich eine Zunahme der Beteiligung an den Wahlen der Arbeitnehmervertretungen zu beobachten. Demgegenüber lässt sich bei kleineren Organisationen ein Rückgang der Wahlbeteiligung konstatieren. Das betrifft insbesondere Organisationen, die sich in Unternehmen mit einem hohen Grad an flexiblen Arbeitsverhältnissen engagieren oder die, ausgehend von ihrer ideologischen und politischen Orientierung, einen explizit separaten Weg eingeschlagen haben. Eine wichtige Rolle spielen parallel dazu auch die Versuche der Gewerkschaften und einzelner Gewerkschafter, ihre Mitwirkungs- und Beteiligungsmöglichkeiten über die Gründung und Errichtung von breiteren Bündnissen und Plattformen innerhalb oder außerhalb der Grenzen der typischen Gewerkschaftsbewegung auszuweiten. Das Ziel solcher Initiativen besteht einerseits darin, die sich über viele Jahre verfestigten bürokratisch verknöcherten Strukturen an der Spitze der gewerkschaftlichen Organisationen aufzubrechen und andererseits darin, die Grundlagen für eine strategische Neuausrichtung der Arbeiterbewegung zu legen, so dass sie den Anforderungen der Gegenwart und der nahen Zukunft gerecht werden kann. Bis heute hat man es indes nicht geschafft, den traditionellen Widerspruch zwischen der auf der Ebene der Willensbekundungen und des Sprachgebrauchs zwar sehr wohl propagierten Vereinheitlichung der Arbeiterbewegung und der auf einer praktisch-organisatorischen Ebene nach wie vor vorherrschenden politischen Differenzierung und Spaltung aufzuheben. Mit anderen Worten, die – durchaus ehrlich gemeinte – engagierte Suche nach gemeinsamer Sprache und programmatischer Konvergenz geht mit der notorischen Schwäche einher, einen allgemein anerkannten kleinsten gemeinsamen Nenner zu finden.

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Insofern erscheinen all diese Ansätze, auch wenn sie im Namen der Einheit der Arbeiterbewegung vorgenommen werden, zumindest in den Augen externer Beobachter als eigenständig und unzusammenhängend; und nicht selten werden sie sogar als miteinander konkurrierend wahrgenommen. Im Unterschied zur Vergangenheit ist das vorherrschende Element zwar nicht mehr so sehr die Fragmentierung nach Parteizugehörigkeit oder politischem Standpunkt, sondern die ideologische Differenzierung anhand von konkreten Fragen der Arbeitsorganisation und übergeordneten politischen Themen oder Formationen. Unter diesen sich ideologisch unterscheidenden Initiativen lassen sich auf der Basis der beteiligten Arbeitnehmer und Organisationen einerseits, und ihres ideologisch-politischen Ausgangspunkts und Referenzrahmens andererseits folgende Gruppierungen hervorheben: Kampffront aller Arbeiter (PAME): Ist lange vor dem Auftreten der Wirtschaftskrise, am 3. April 1999, als Zusammenschluss von 230 Basisgewerkschaften, 18 Branchen- und Regionalverbänden und 2.500 gewählten Gewerkschaftern gegründet worden.3 Setzt sich aus Gewerkschaftern und Trägerorganisationen zusammen, die ideologisch und politisch der Kommunistischen Partei Griechenlands nahe stehen und nimmt stets mit eigenen unabhängigen Listen an Gewerkschaftswahlen teil. Ist formell Teil der institutionellen Gewerkschaftsbewegung, entscheidet sich aber immer für eine eigenständige Mobilisierung zu Demonstrationen und anderen Protestaktionen, wobei keine Gelegenheit ausgelassen wird, die Distanz zu den übrigen Gewerkschaften zu betonen, denen man vorwirft, von externen Kräften kontrolliert zu werden. Trotz ihrer de facto sektiererischen Taktik gelingt es der Kampffront, eine beträchtliche Zahl von Aktivisten in den eigenen Reihen zu vereinigen, die in den Betrieben und bei den Arbeitskämpfen eine nachhaltige Präsenz aufweisen. Initiative zur Koordination der Basisgewerkschaften im privaten und öffentlichen Sektor: Hierbei handelt es sich um ein Projekt, das seine Wurzeln in den Jahren hat, die dem Ausbruch der Krise unmittelbar vorausgegangen sind, und das im Zuge der von der Protestwelle des Dezembers 2008 ausgelösten politischen Entwicklungen als alternative Perspektive gegenüber der offiziellen und bürokratisch verkürzten Gewerkschaftsbewegung entstanden ist. Die Rolle dieser Koordinationsinitiative während der letzten zweieinhalb Jahre erwies sich als von entscheidender Bedeutung im Zusammenhang mit der Verknüpfung der Bewegung der besetzten Plätze (bzw.

3 http://www.pamehellas.gr/index.php/en/2012-10-02-15-03-11/2012-10-02-14-44-37 (englisch)

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der Empörten) mit der Arbeiterbewegung, mit der Organisierung von Gegenaktionen zu den Sparmaßnahmen und insbesondere von Streikmaßnahmen und gesellschaftlichen Interventionen in Städten und Stadtteilen. 4 Sie umfasst eine Vielzahl von Gewerkschaften, Bewegungen und vereinzelten Arbeitnehmern sowie linksradikalen Gewerkschaftern, vor allem aus dem Umfeld von SYRIZA und ANTARSYA, aber auch aus parteiunabhängigen Gruppierungen. Anknüpfend an die Praxis der regelmäßig stattfindenden abendlichen Donnerstagsdemonstrationen (die sie oft gemeinsam mit dem ADEDY organisierte) übernahm sie vor kurzem angesichts der bevorstehenden neuen Sparmaßnahmen die Initiative zur Wiederbelebung von dynamischen Demonstrationen und rief in diesem Zusammenhang für den 18.9.2012 zu einer ersten arbeitnehmerübergreifenden abendlichen Kundgebung auf. Solidaritätskomitee für Gewerkschaften und Gewerkschafter (EPASS): Ist Ende 2011 ins Leben gerufen worden. Die Initiative zur Gründung dieses Komitees geht auf die Sozialistische Arbeiterpartei zurück, die ihrerseits eine wichtige Gruppierung im Parteienbündnis ANTARSYA darstellt. Das EPASS besteht in erster Linie aus Gewerkschaftern aus eben diesem politischen Umfeld. Der 21-köpfige Koordinationsausschuss dieses Komitees besteht aus Gewerkschaftern, die sich in Arbeitsfeldern des privaten und des (weiteren wie engeren) öffentlichen Sektors engagieren. Die Aktivisten des EPASS bringen viel Erfahrung in der Gewerkschaftsbewegung mit und weisen eine langjährige Präsenz und Kampferfahrung in einer Vielzahl von Unternehmen auf. Ihre eigenständigen Aktionen entwickeln sie im Rahmen der offiziellen Gewerkschaftsbewegung. Initiative für die Schaffung einer Föderation von Basisgewerkschaften und –gewerkschaftern (informeller Name): Es handelt sich um einen Versuch, der 2011 von Aktivisten aus dem anarchistischen und autonomen Lager in Angriff genommen wurde, die sich entweder in neugegründeten Arbeitergruppen und -foren oder in formell anerkannten Gewerkschaften engagieren. Diese erst vor kurzem ins Leben gerufenen Gewerkschaften lehnen es aus Gründen des Prinzips ab, sich innerhalb der offiziellen Gewerkschaftsbewegung einzuordnen, setzen sich aus jungen Arbeitnehmern zusammen und betätigen sich fast ausschließlich in Branchen und Beschäftigungssektoren mit einem hohen Anteil an flexiblen Arbeitsverhältnissen und besonders niedrigen Einkommen.

4 http://syntonismos.blogspot.gr/

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Der angestrebte föderative Charakter ermöglicht zunächst einmal die freie Mitwirkung von natürlichen Personen als Beobachter, während die politischen Entscheidungen durch Vertreter der Vollversammlungen der Gewerkschaften oder der betroffenen Gruppierungen getroffen werden. Die besagte Initiative verfügt in ihren Reihen über Aktivisten mit langjähriger Erfahrung in der Arbeiterbewegung, die sich alle auf ältere anarchosyndikalistische Traditionen in anderen Ländern innerhalb und außerhalb Europas beziehen. IV. Statt eines Nachworts: neue Herausforderungen für die griechische Gewerkschaftsbewegung in der gegenwärtigen Konstellation Mehr als je zuvor in der neueren Geschichte des Landes sind die griechischen Gewerkschaften heute gefordert, ihrer gesellschaftlichen Rolle einen neuen Sinn zu verleihen und diejenigen Prinzipien und Werte neu zu definieren, die sie in die Lage versetzen werden, einerseits die Interessen der arbeitenden Massen wirksam zu schützen und andererseits beim produktiven, sozialen und ökologischen Umbau des Landes eine maßgebliche Rolle zu spielen. Die Erreichung dieses Ziels setzt notwendigerweise drei fundamentale Vorleistungen voraus. Erstens, eine nüchterne Betrachtung der Vergangenheit und eine gründliche Untersuchung der maßgeblichen Charakteristika, die die Gewerkschaftsbewegung im Laufe der Zeit ausgebildet hat, sowie der für ihre bisherige Entwicklung ausschlaggebenden politischen und sozialen Ursachen. Zweitens, die Inangriffnahme einer kollektiven Initiative zur Ausarbeitung einer zeitgemäßen Strategie in Zeiten der Rezession ohne die ideologischen und parteipolitischen Verknöcherungen, die bis in die Gegenwart hinein für die Fragmentierung und Ineffizienz der Gewerkschaftsbewegung verantwortlich sind. Drittens, die Entwicklung einer internationalen Ausrichtung und schnellstmögliche Vereinbarungen über die Zusammenarbeit und Koordination mit den Gewerkschaften der übrigen Länder, insbesondere im europäischen Raum, sind ein Gebot der Zeit und können dem Versuch der Modernisierung der griechischen Gewerkschaften nur zum Vorteil gereichen.

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Literatur Gourlás, Níkos (2012): „Die Arbeiterbewegung in die ‚Illegalität‘ gedrängt“ Stin “paranomia” to ergatikó kínima], in: Zeitung PRIN, 05/12/2012 Arbeiterzentrum Athen/ Vprc5 (2008), Arbeit, Gewerkschaften und Lebensbedingungen in der Tiefebene von Attika [Ergasia, syndikáta kai synthíkes sois sto lekanopédio Attikís], September 2008 Institut für Arbeit-GSEE/ Vprc (2010), Arbeit und Gewerkschaften in der Konstellation der Wirtschaftskrise [Ergasia ke syndikáta stin sygyría tis krísis], Februar 2010 Institut für Arbeit-GSEE/ Vprc (2008), Arbeit und Gewerkschaften [Ergasia ke syndikáta], Juni-Juli 2008 Institut für Arbeit GSEE/ Vprc (2008), Wirtschaftskrise, Arbeit und Gewerkschaften [Oikonomikí krísi, ergasía ke synidikáta], November 2008 Katsorídas, Dimítris (2002), „Die Frage der gewerkschaftlichen Vertretung“ [To sítima tis syndikalistikís ekprosópisis], in: Zeitschrift Thesis, Ausgabe 78 Katsorídas, Dimitris / Lambousáki, Sofia (2012), Das Phänomen Streik in Griechenland. Diachrone Entwicklung und Dokumentation der Streiks im Jahr 2011 [Diachronikí exélixi kai katagrafí ton apergión katá to 2011], INE/GSEE Kapsális, Apóstolos (2011), Der politische und soziale Rahmen gewerkschaftlichen Handelns [Politikó kai koinonikó plaísio tis syndikalistikís drásis], Lehrmaterial, Soziales Mehrzweckzentrum ADEDY, im Erscheinen Kapsális, Apóstolos (2012), Die Tarifverträge und die Schiedssprüche der OMED im Zeitraum 2010-2011, INE/GSEE Soziales Mehrzweckzentrum (2011), Empirisch begründete Untersuchung der Bedürfnisse, Erwartungen und Positionen der von der Deliberation potentiell Begünstigten [Empeiriká themelioméni meléti ton anangón, ton prosdokión ke ton stáseon ton en dynámi ofeloúmenon anaforiká me tin diavoúlefsi], ADEDY Kousís, Jánnis (2007), Die Merkmale der griechischen Gewerkschaftsbewegung [Ta charaktiristiká tou ellinikoú syndikalistikoú kinímatos], Verlag Gutenberg

5 Griechisches Sozialforschungsinstitut

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Kousís, Jánnis (2010), „13 entscheidende Hinweise zur Krise der Gewerkschaftsbewegung“ [13 krísimes episimánsis gia tin krísi sto syndikalistikó kínima], in: Tageszeitung AVGI, 21/03/2010 Kousís, Jánnis (2011), „Die gewerkschaftliche Interessenvertretung ist in Zeiten der Krise noch nötiger“ [O syndikalismós perissótero anangéos se kairoús krísis], in: Tageszeitung TO VIMA, 30/04/2011 Nikoláou, Kóstas (2012), Die Linke und die Gewerkschaften [I aristerá kai ta syndikáta], in: http://ergasiakadikaiomata.wordpress.com/ Matsagánis, Mános (2009), Abgesicherte Flexibilisierung und die modernistischen Mitte-Links-Bündnisse [I evelixía me asfáleia ke i eksychronistikí kentroaristerá], in: http://manosmatsaganis.blogspot.gr/2009/04/blog-post.html Mavrojénis, Aléxandros (2012), „Weitere Arbeitnehmerentlassungen nach dem Ende des Streiks“ [Νées apolýseis ergasoménon metá tin líxi tis apergías], in: Wochenzeitung I EPOCHI, 09/09/2012 Tsakíris, Thanásis (2012), Die griechische Gewerkschaftsbewegung [To elliinikó syndikalistikó kínima], in: http://workingreece.wordpress.com/2012/04/18/