Die Gudrun Sage - Neu erzählt

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Eine der spannendsten Epen deutscher Heldendichtung neu erzählt. Gudrun, wunderschöne Tochter der eigenwilligen Hilde, ist von Freiern umringt, doch niemand ist ihrem Vater gut genug. Als Herwig von Seeland mit Krieg droht, um ihre Hand zu gewinnen, willigt sie ein, seine Frau zu werden. Damit stößt sie jedoch ihre anderen Freier vor den Kopf. Das Blutvergießen, das sie vermeiden wollte, findet nun doch statt. Die Gudrun-Sage wird neben dem Nibelungenlied als eines unserer größten deutschen Heldenepen betrachtet. Von der schönen Königstochter bis zu den tapferen Rittern hat die Geschichte alle Bestandteile einer historisch wertvollen Legende, doch wird hier zum ersten Mal dem mittelalterlichen Racheprinzip das Konzept der Versöhnung entgegengehalten. Die Neuerzählung macht die Geschichte nachvollziehbar und leicht lesbar – ein Lesevergnügen für alle, die sich für die Grundfesten unserer Kultur interessieren.

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Claudia Strachan

Die Gudrun Sage

NEU ERZÄHLT

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Claudia Strachan

Die Gudrun Sage

NEU ERZÄHLT

Published by Null Papier Verlag, Deutschland

Copyright © 2015 by Null Papier Verlag

1. Auflage, ISBN 978-3-95418-577-1

www.null-papier.de/291

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---Eine der spannendsten Epen deutscher Heldendichtung

neu erzählt.Gudrun, wunderschöne Tochter der eigenwilligen Hilde, ist von Freiern umringt, doch niemand ist ihrem Vater gut genug. Als Herwig von Seeland mit Krieg droht, um ihre Hand zu gewinnen, willigt sie ein, seine Frau zu werden. Damit stößt sie jedoch ihre anderen Freier vor den Kopf. Das Blutvergießen, das sie vermeiden wollte, findet nun doch statt.Die Gudrun-Sage wird neben dem Nibelungenlied als ei-nes unserer größten deutschen Heldenepen betrachtet. Von der schönen Königstochter bis zu den tapferen Rit-tern hat die Geschichte alle Bestandteile einer historisch wertvollen Legende, doch wird hier zum ersten Mal dem mittelalterlichen Racheprinzip das Konzept der Versöh-nung entgegengehalten.Die Neuerzählung macht die Geschichte nachvollziehbar und leicht lesbar – ein Lesevergnügen für alle, die sich für die Grundfesten unserer Kultur interessieren.

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Die Autorin lebt seit 1993 in England. 2009 veröffentlichte sie ihr erstes Buch, „Mrs Mahoney’s Secret War“, das in mehrere Sprachen übersetzt wurde.

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Inhalt

1. HAGEN............................................................................................................... 10

2. HETEL................................................................................................................ 49

3. HORANT......................................................................................................... 69

4. HILDE............................................................................................................... 105

5. HERWIG........................................................................................................ 133

6. HARTMUT................................................................................................... 158

7. GERLINT....................................................................................................... 199

8. HILDBURG................................................................................................. 230

9. ORTWIN....................................................................................................... 265

10. WATE............................................................................................................. 303

11. GUDRUN.................................................................................................... 343

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Autorin

Die Autorin Claudia Strachan lebt seit 1993 in England. Sie ist Lehrerin für Deutsch und Französisch an einer Ge-samtschule in Sussex und bemüht sich nach Kräften, ihren SchülerInnen die Liebe zur deutschen Sprache zu vermit-teln.2009 veröffentlichte sie ihr erstes Buch: „A Different Kind of Courage“ (Titel der 2. Auflage: „Mrs Mahoney’s Secret War“), das in mehrere Sprachen übersetzt wurde. Es geht um die Erinnerungen ihrer Freundin Gretel Mahoney, die zu den „Stillen Helden“ gehört, von denen wir wissen soll-ten.

www.claudiastrachan.net

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Personenverzeichnis

Gerlint: Hartmuts Mutter, lebt in Ormanie. Kann Gudrun nicht leiden, weil sie sie als hochmütig empfindet.

Gudrun: Tochter von Hilde und Hetel, noch schöner als ihre Mutter. Kann es nicht ertragen, dass ihretwegen Blut vergossen wird.Hagen: König von Irland, wohnhaft auf der Burg Baljan. Als Kind von einem Greifen entführt worden und fast unbe-siegbar.

Hartmut: Gekränkter Freier Gudruns. Lebt in Ormanie.

Herwig: Einer der zahllosen Freier Gudruns. Kommt aus Seeland.Hetel: Gudruns Vater. Lebt auf der Burg Matelane in He-gelingen. Holt Hilde mit List zu sich.

Hildburg: Getreue Dienerin und Freundin Gudruns.

Hilde: Tochter von Hagen, durch ihre Schönheit berühmt, Mutter von Gudrun. Verfällt dem zauberhaften Gesang Horants und läuft den Eltern davon, um Hetels Frau zu werden.Horant: Ein unglaublich begabter Minnesänger, der treu unter Hetels Lehnsherrschaft steht.

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Ludwig: Hartmuts Vater, König von Ormanie.

Ortrun: Hartmuts Schwester. Die Einzige, die Gudrun wirklich versteht.Ortwin: Gudruns Bruder, Sohn von Hilde und Hetel.

Wate: Treuer Gefolgsmann Hetels, den er dereinst aufge-zogen hatte. Stark, kampflustig und grundsätzlich der Meinung, dass man jedes Problem mit Gewalt lösen kann.

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1. Hagen

ls sie hörte, dass ihr Vater erneut einen ihrer Freier getötet hatte, brach Hilde in Tränen aus, raffte ihr Gewand und stürmte die Treppen hoch in ihre Keme-

nate. Hildburg stob ihr nach, kaum in der Lage mit ihr Schritt zu halten.

A»Nun beruhige Dich doch, Hilde! Ein Mädchen Deines

Standes rennt nicht! Hilde!« Atemlos erreichte sie die Ke-menate, in der sich Hilde schluchzend auf ihre Bettstatt warf. »Ich werde nie heiraten, nie, nie! Ich werde für im-mer und ewig in dieser Burg sitzen und spinnen und sticken und auf die Gunst meines Vaters hoffen, bei einem Festgelage dabei zu sein. Das war das dritte Mal, dass ein Fürst um meine Hand gekämpft hat, und was tut mein Va-ter? Erschlägt sie alle, einen nach dem anderen!«

Hilde trommelte mit den Fäusten auf die Kissen, unfä-hig ihren Zorn zu zügeln. Hildburg setzte sich neben sie und hielt ihr die Arme fest. »Nun hör mal zu, mein Kind! Dein Vater will doch nur, dass Du den besten und tapfer-

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sten aller Krieger bekommst, einen, der Deiner wert ist!« Hilde grub ihr Gesicht in ein Kissen und murmelte: »Das wird nie geschehen. Du siehst doch, dass niemand eine Chance gegen ihn hat. Wieso ist er überhaupt so unbe-siegbar? Es ist fast, als ginge es nicht mit rechten Dingen zu!«

Hildburg seufzte. »Es wird Zeit, dass Du von seiner Ge-schichte erfährst. Deine Eltern wollten Dich nicht ängsti-gen, daher hat man es Dir bisher nicht erzählt.« Hilde drehte sich mit einem fragenden Ausdruck auf dem Ge-sicht um. Hildburg wischte ihr die Tränen in einer mütter-lichen Geste mit dem Zipfel ihres Unterkittels ab. »Als Dein Vater noch klein war, etwa sieben Jahre alt, ist er von einem Greif entführt worden.« Hilde setzte sich auf, ihren Kummer vergessend. »Was ist ein Greif?«, fragte sie zwei-felnd.

»Ein Greif ist ein großer Raubvogel. Manchmal, wenn sie in Futternot sind, kommen sie und holen sich unsere Kinder. Das geschah auch mit Deinem Vater. Es geschah ausgerechnet, als Dein Großvater Sigebant das größte Fest feierte, das man bisher erlebt hatte. Ute, Deine Groß-mutter, hatte ihn dazu überredet, denn sie wollte den Ruhm ihres Mannes als guten, großzügigen Herrscher fe-

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stigen. Sechsundachtzigtausend Gäste kamen aus allen Ländern. Ute beschenkte die Frauen und Mädchen mit Kleidern und Bändern und Sigebant ließ spektakuläre Kämpfe ausfechten und verschenkte seine besten Pferde. Das Fest war ein großer Erfolg. Es dauerte bereits neun Tage, mit Unterhaltung von den besten Spielmännern des Landes, die alle erdenklichen Instrumente spielten. Die bekanntesten Barden sangen die Neuigkeiten von fern und nah. Auch Dein Vater wollte natürlich dabei sein.

Er überquerte gerade den Burghof, an der Hand einer Magd, um nach einem Turnier zum Fest zu gehen. Als die Magd den Vogel herabstürzen sah, schrie sie und floh. Man hat sie später dafür ausgepeitscht, dass sie die Hand des Kindes dabei losgelassen hat. Wenn Du mich fragst, hatte sie Glück, dass man ihr nicht den Kopf abgeschlagen hat. Ein Kind im Stich zu lassen! Unverzeihlich! Natürlich hat man das Fest sofort abgebrochen. Alle fuhren nach Hause zurück, entsetzt über den schrecklichen Ausgang eines so herrlichen Festes.« Hildburg schüttelte grimmig den Kopf.

»Was ist passiert?«, fragte Hilde. »Offenbar hat ihn der Greif nicht gefressen.« Hildburg sah sie einen Augenblick sinnend an. »Er hatte großes Glück. Der Greif flog meilen-

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weit mit ihm übers Meer bis zu einer kleinen, einsamen Insel. Als er Deinen Vater seinen Jungen als Futter ins Nest warf, stritten sie sich um ihn. Einer von ihnen flog mit ihm auf einen anderen Baum, doch der Ast, auf dem er sich niederließ, brach. Der Vogel flog davon, Dein Vater landete glücklicherweise ohne Knochenbrüche und dann lief er, was das Zeug hielt. Er hielt sich unter dem Schutz der Bäume und rannte, bis er vor Erschöpfung nur noch stolperte. So fanden wir ihn.«

»Wir?!« Hilde traute ihren Ohren nicht. »Du hast ihn gefunden?« Hildburg nickte. »Der Greif hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, Kinder zu stehlen. Einige Jahre zu-vor hatte er auch mich und meine Leidensgefährtinnen geholt und Gott weiß, wie viele unglückliche andere Kin-der. Manche von ihnen konnten entkommen, so wie wir und Dein Vater. Wie es mir und meinen Gefährtinnen ge-lungen ist, weiß ich nicht, denn ich war noch sehr klein. Alles, woran ich mich erinnern kann, ist eine Höhle, in der wir hausten. Wir ernährten uns von Waldfrüchten, Wur-zeln, Pilzen, Kräutern. Ich kann Dir heute noch sagen, welche wilden Pflanzen essbar sind und vor welchen Du Dich hüten musst.«

Hilde saß inzwischen aufrecht und starrte Hildburg

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ungläubig an, ihren Kummer vergessend. Warum hatte man ihr nichts von alldem erzählt? Hildburg log nicht, so viel war ihr klar – Hildburg log nie. Hätte sie sich als Kind weniger unbefangen draußen aufgehalten, wenn sie von der Geschichte ihres Vaters gewusst hätte? Sie dachte an die unzähligen Male, an denen sie im Burghof und vor den Toren herumgelaufen war, Blumen gepflückt, Pferde be-wundert, Turnierkämpfen zugesehen und den Wäscherin-nen beim Bleichen zugeschaut hatte. Wie oft hatte sie versucht, sich den allgegenwärtigen Mägden und Hildburg zu entziehen, und wie oft hatte sie beklagt, dass sie nicht einen Augenblick allein sein durfte. Es schien plötzlich Sinn zu machen, dass sie ihre gesamte Kindheit über mit Argusaugen beobachtet worden war. »Und wie seid Ihr dann nach Baljan zurückgekommen?«

Hildburg antwortete nicht sofort. Sie ließ ihren Blick gedankenverloren über die Wandbehänge schweifen. Hil-des Kemenate war wunderschön dekoriert, die Wandtep-piche hatten die feinsten Stickereien und machten, dass es warm und gemütlich aussah, selbst jetzt, als kein Feuer im Kamin brannte. Ihre Augen blieben an dem rundbogi-gen kleinen Fenster hängen. Der Holzladen war zurückge-klappt und die dünne Schweinsblase, die zwar Licht her-

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einließ, aber den Ausblick blockierte, war aufgrund des wärmer werdenden Wetters abgenommen worden.

Hildburgs schritt zum Fenster und schaute auf die be-waldeten Hügel, hinter denen gerade die Sonne unterging. Die beinahe voll belaubten Bäume erstrahlten in warmen Goldtönen. Noch waren die Nächte kalt, doch tagsüber war es schon warm genug, um spazieren zu gehen. Als nun die Abenddämmerung einsetzte, fröstelte Hildburg und zog sich ihren Umhang enger um die Schultern. Sie warf einen letzten Blick auf die Hügel und befestigte die Schweinsblase so, dass der Wind nicht mehr hineinblies.

»Wir hofften, dass uns ein Schiff fand. Es kam aber keins. Unser Eiland muss weitab der üblichen Wasserwege gewesen sein, denn wie oft wir uns auch auf zum Strand machten, der Horizont blieb leer. Eines Tages sahen wir dann doch Schiffe, Kreuzfahrerschiffe, aber sie waren in Seenot. Es muss wohl ein Seebeben gewesen sein oder so etwas. Die Schiffe zerbarsten an den Felsen und die See spülte einige der Toten an den Strand. Wir konnten es nicht fassen. Wir waren so nah daran gewesen, zu ent-kommen, und nun lagen dort nur Tote am Strand und die Schiffe waren zerstört. Dein Vater rannte sofort los und sucht nach Vorräten, die vielleicht an Land gespült wur-

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den. Während er den Strand durchkämmte, kam plötzlich einer der Greifen wie aus dem Nichts. Er stürzte herab und holte sich einen Toten. Als er zurückkam, hatte er noch mehr Greifen mitgebracht – seine Jungen, die inzwi-schen herangewachsen waren. Sie holten einen Toten nach dem anderen. Wir Mädchen hielten uns im Schatten der Bäume verborgen und beobachteten alles voller Ent-setzen. Als die Greifen mit den Leichen abhoben, schrien wir Deinem Vater zu, er sollte schnell zurückkommen, aber er gab nicht auf, obwohl er gar keine Vorräte finden konnte. Schließlich kam er zur Vernunft.

Bevor er allerdings zurückkehrte, zögerte er bei dem letzten der toten Kreuzfahrer. Dieser hatte eine Rüstung an, mit Kettenhemd, Brustschild, einem Schwert und Pfeil und Bogen. Natürlich hatte Hagen sich als Junge auf der Burg im Kampf geübt, daher erkannte er schnell, dass er mit Rüstung und Waffen bessere Überlebenschancen ha-ben würde. Er zog dem Ritter die Rüstung aus und legte sie sich an. Er hatte gerade das Kettenhemd übergestreift, als einer der Greifen zurückkam. Schnell legte er das Brustschild an und nahm Pfeil und Bogen, um sich zu ver-teidigen. Er schoss gut, wenn man bedenkt, dass er seit Jahren schon keine Übung mehr hatte. Seine Pfeile prall-

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ten jedoch einfach an dem Greifen ab, es war unglaublich. Wir Mädchen schrien wie am Spieß; wir waren uns sicher, dass wir Hagen nicht lebend wieder sehen würden.

Als Dein Vater merkte, dass er mit Pfeil und Bogen nichts ausrichten konnte, sah er sich nach dem Schutz der Bäume um. Sie waren aber zu weit entfernt und der Greif, inzwischen außer sich vor Wut, kam in Windeseile näher. Da zückte Hagen das Schwert und hieb auf den sich herabstürzenden Vogel ein. Er erwischte ihn am Flü-gel und an einem Bein, was ihn bewegungsunfähig mach-te. So konnte er ihm den Todesstoß versetzen. Ich werde in meinem ganzen Leben nicht das Bild vergessen, das sich uns bot.«

Hildburg schüttelte sich. »Wie durch ein Wunder ge-lang es ihm, die beiden anderen Greifen ebenfalls zu tö-ten, als sie dazu kamen. Von dem Tag an hatten wir die Greifen nicht mehr zu befürchten. Was für ein Unter-schied! Wir hatten ja in ständiger Furcht gelebt. Stattdes-sen hatten wir von nun an Fleisch und Fisch zu essen. Ha-gen hatte die Pfeile aus den Greifen gezogen und schnitz-te noch mehr. Er fischte und jagte und brachte alles zu-rück zur Felsenhöhle, wo wir Mädchen es zubereiteten so gut wir konnten.«

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Hilde hatte wie gebannt Hildburgs Geschichte ge-lauscht. »Das erklärt aber nicht, warum Vater im Kampf unbesiegbar zu sein scheint und ich für immer und ewig als Jungfrau auf Baljan versauern muss.«

Hildburg lachte. »Du wirst bestimmt nicht als Jungfrau auf Baljan versauern. Du bist die Tochter des Königs von Irland und noch dazu das schönste Mädchen, von dem die Barden bis in weite Ferne singen. Was meinst Du, warum so viele Freier um Deine Hand kämpfen? Freier aus Län-dern, von denen wir noch nicht einmal gehört haben? Weil die ziehenden Sänger nicht aufhören können, von Deiner Schönheit zu singen.«

»Du schmeichelst mir, Hildburg. Ich möchte wissen, warum mein Vater so stark im Kampf ist, dass keiner ge-gen ihn ankommt. Ist es, weil er sich vom Jagen ernähren musste und dadurch flink und zielsicher wurde, dass ihm niemand das Wasser reichen kann?«

Anstelle einer Antwort erzählte Hildburg einfach wei-ter. »Eines Tages erlegte Dein Vater ein Tier, das ihn an-griff. Niemand von uns hatte je ein solches Ungetüm gese-hen. Viele sagen noch heute, es kann nur ein Drachen ge-wesen sein. Wie Hagen es geschafft hat, ihn zu töten, kann ich Dir nicht sagen. Gott selbst muss ihm dabei geholfen

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haben. Er hatte dabei jedenfalls eine lange Zeit im Wald verbracht und hatte einen solchen Durst nach dieser Jagd, dass er aus Wassermangel nicht lange überlegte und das Blut des Untiers trank. Das muss irgendetwas in ihm aus-gelöst haben. Wenn Du mich fragst, war es tatsächlich ein Drachen, und Dein Vater hat dadurch seine unbesiegbare Kraft erhalten.«

»Das sind doch Kindermärchen!«, sagte Hilde kopf-schüttelnd. »Er hat sich bestimmt unschlagbar gefühlt, weil er zuerst von dem Tier angegriffen wurde und es dann getötet hat. Das muss ihm so viel Selbstvertrauen gegeben haben, dass er von da an glaubte, unbesiegbar zu sein.«

Hildburg sah sie einen Augenblick sinnend an und räumte dann ein, dass sie recht haben könnte. »Deine Schönheit steht Deinem klaren Kopf nicht im Wege«, meinte sie und strich Hilde liebevoll übers Haar. In diesem Moment öffnete sich die Tür zu Hildes Kemenate und ihre Mutter trat ein, gefolgt von einer Magd. »Was höre ich, mein Kind? Warum hast Du Dich zurückgezogen? Wirst Du nicht den Sieg Deines Vaters mit uns feiern?«

Hilde sah Hildburg an und senkte den Kopf. Hildburg stand vom Bett auf und ging auf Hildes Mutter zu. »Sie

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fürchtet, dass sie nie einen Gemahl bekommen wird, da Hagen alle Freier im Kampf besiegt und tötet. Als sie mich fragte, warum er so unbesiegbar sei, fühlte ich mich ge-zwungen, ihr Hagens Geschichte zu erzählen.«

Hildes Mutter nickte. Es war durchaus an der Zeit, dass ihre Tochter davon erfuhr. Sie hatte eine unbe-schwerte Kindheit erlebt, ohne die geringste Ahnung, wel-che Gefahren ihr auch außerhalb der Kriege und Raubzü-ge drohten. Sie betrachtete Hilde mit Stolz. Sie war schön, ihre Tochter. Sie hatte die ebenmäßigen Gesichtszüge, die hohen Wangenknochen mit den mandelförmigen Augen und das so ungewöhnliche, fast blauschwarze Haar ihrer Mutter geerbt. Kein Wunder, dass Hagen keiner ihrer Freier gut genug erschien, sie zur Braut zu nehmen. Lang-sam näherte sie sich und setzte sich auf Hildes Bett, wo gerade zuvor Hildburg gesessen hatte.

»Glaubst Du, dass Vaters Kraft von dem Drachenblut kommt?«, fragte Hilde. Ihre Mutter lächelte. »Ich glaube, ja. Als er wiederkam, war er völlig verändert. Er brachte uns Fleisch von dem Tier mit, aber wir ekelten uns davor, es roh zu essen. Da sprang er auf und sagte, dass er versu-chen würde, ein Feuer zu machen. Er suchte sich ver-schiedene Steine und schlug sie gegen den Felsen der

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Höhle, bis er einen fand, der Funken sprühte. Als er das sah, suchte er schnell trockenes Gras und ein paar Zwei-ge, schlug den Stein erneut an den Felsen und im Nu hat-ten wir ein Feuer. Wir brieten das Fleisch und hatten von dem Tag an warmes Essen, was wir seit Jahren vermis-sten.«

»Moment, Moment«, rief Hilde. »Wir? Du warst doch nicht etwa auch dabei?« Ihre Mutter schaute auf Hildburg, die die Achseln zuckte und sagte: »Ich war ja noch nicht fertig mit dem Erzählen.« Sie nahm Hildburgs Hand und zog sie neben sich aufs Bett. »Wir sind zwei der drei Mäd-chen in der Höhle. Ich denke, in dem Moment, als Hagen den Drachen erschlug, ist er zum Mann geworden, und als solchen habe ich ihn von da an gesehen. Er sah gut aus, er war groß und kräftig und selbstsicher, jagte und fischte, und wären wir nicht so alleine auf der Insel gewesen, wä-ren wir sehr glücklich gewesen.«

Hilde schwieg beeindruckt. Die Geschichte ihrer El-tern hörte sich unglaublich romantisch an. »Wie seid Ihr denn zurück nach Baljan gekommen?« Hildes Mutter ant-wortete nicht gleich, stattdessen schlug sie ihr einen Han-del vor: »Wenn Du wieder herunter an die Tafel kommst, werden wir Dir erzählen, wie wir entkommen sind. Komm

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her, lass mich Deine Haare kämmen und Dein Gewand herrichten. Du siehst aus, als seist Du selbst im Kampf ge-wesen.«

Bereitwillig ließ Hilde sich zurechtmachen. Hildburg nahm einen schön verzierten Hirschhornkamm und fuhr damit durch Hildes lange schwarze Haare, bis sie glänz-ten. Sie flocht die vorderen Strähnen mit roten Bändern zu Zöpfen und setzte einen Stirnreif auf Hildes Kopf. Da-nach suchte sie einen hübschen Armreifen aus Hildes Schmuckkästchen aus. Sie zupfte noch den perlenbestick-ten Oberkittel zurecht, bevor sie zufrieden nickte. »So ge-ziemt es sich für die Tochter des Königs von Irland. Nun lass uns gehen.«

Hilde folgte ihrer Mutter und Hildburg die enge Trep-pe hinunter zur Halle. Dort saßen die Männer an der Wandseite eines langen Tisches, der mit einer bodenlan-gen Tischdecke festlich geschmückt war. Man konnte Ha-gen sofort an seiner erheblich höheren Stuhllehne erken-nen. Zudem hatte er einen edelsteinbesetzten goldenen Reif auf dem Kopf und seine Kleidung war wesentlich far-benfroher als die seiner Fürsten und Ritter. Hilde spürte eine Mischung von Respekt und Zuneigung, als sie ihren Vater dabei beobachtete, wie er gerade seinem Ehrengast

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zutrank.Die Atmosphäre war laut und fröhlich. Ein Menestrel

strich gerade eine muntere Weise auf seiner Fiedel, wäh-rend ein Vortänzer zu seiner Musik durch die Halle tanzte. Als er die Königin, Hildburg und Hilde eintreten sah, ver-beugte er sich ohne seinen Tanz zu unterbrechen und wies sie galant an den Tisch. Während die Frauen Platz nahmen, kam eine unaufhörliche Kette Bediensteter zum Tisch, um den Gästen die leckersten Gerichte anzubieten.

Der erste Gang war bereits vorüber, denn gerade ka-men zwei Mägde mit silbernen Becken und einer Kanne Wasser, sodass sich die Gäste die Hände waschen konn-ten. Ein Ritter, der neben Hilde saß, trocknete sich die Hände am Tischtuch ab, wischte sich damit über den Mund und lächelte sie freundlich an. »Welch eine Ehre, Euch als Tischnachbarin begrüßen zu dürfen.«

Hilde senkte sittsam den Kopf. »Die Ehre gebührt mir. Habt Ihr dem Kampf zugesehen?« Der Ritter nickte und hob seinen Becher, wobei er auf Hagen sah. »Der Stärkere hat gewonnen, und so soll es auch sein.« Hilde seufzte, nahm den Becher, der vor ihr stand, und deutete einem Diener an, ihn zu füllen. Er kam sofort zu ihr herüber und bot ihr aus zwei Rinderhörnern Obstwein und Met an. Hil-

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de entschied sich für den Obstwein, hob ihren Becher dem Ritter zu und trank ihn beinahe leer. Ein sanfter Stoß von Hildburgs Ellenbogen brachte sie dazu, den Becher abzusetzen. Der Ritter fing ihren empörten Blick auf und lachte.

Die Musik hörte auf, als eine lange Reihe Bediensteter mit weiteren Speisen zur Tafel trat. Man konnte zwischen Hechtsuppe, Würsten, Pökelfleisch und Koteletts wählen. Hilde nahm etwas Pökelfleisch und legte es auf ihre Brot-scheibe. Sie war froh, mit Hildburg ihre Portion zu teilen und nicht mit dem Ritter, der sich für die Suppe entschie-den hatte und sie laut schlürfend löffelte. Sie neigte ihren Kopf Hildburg zu und raunte: »Wie ging es weiter? Erzähl mir, wie Ihr von der Insel entkommen seid!«

Hildburg tunkte ihr Fleisch in eine Schüssel mit Soße, steckte es genüsslich in den Mund und ließ Hilde erst ein-mal warten. »Du solltest Deine Mutter fragen«, sagte sie schließlich. Hilde schüttelte trotzig den Kopf. »Sie hat ge-sagt, dass ich die Geschichte weiter hören darf, wenn ich zum Bankett gehe, und das habe ich.« Hildburg nahm sich noch etwas Fleisch und gab nach.

»Wir gingen wieder an den Strand, um nach Schiffen Ausschau zu halten. Es war ein langer Weg, doch da wir

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die Greifen nicht mehr zu befürchten hatten und Hagen sogar einen Drachen besiegt hatte …«

»Wenn es denn wirklich ein Drachen war«, warf Hilde ein, worauf sie einen tadelnden Blick von Hildburg erhielt. Ungerührt fuhr sie fort: »… und Hagen sogar einen Dra-chen besiegt hatte, fühlten wir uns wesentlich sicherer und trauten uns, am offenen Strand das Meer abzusuchen. Mit einem Mal sahen wir tatsächlich ein Schiff – Du kannst Dir nicht vorstellen, wie wir gejubelt und gerufen haben, die Arme geschwenkt, gehüpft und gesprungen sind wir!«

»Und dann haben sie Euch an Bord genommen und nach Baljan gebracht«, sagte Hilde zufrieden. Hildburg schüttelte jedoch den Kopf. »So einfach war es nicht. Du darfst nicht vergessen, dass wir viele Sommer wie Wilde gelebt haben. Wir hatten ja nicht einmal Kleider.« Hilde schnappte nach Luft. »Du willst doch nicht etwa sagen, dass Ihr … Ich meine, Ihr wart doch nicht nackt?«

»Wir hatten uns aus Gras, Rindenstreifen und Moos so gut wie es ging Kleider zusammen geflochten. Es war bes-ser als gar nichts, muss aber dermaßen merkwürdig aus-gesehen haben, als das fremde Schiff uns dort am Strand sah, dass sie dachten, wir wären Nixen.« Hildburg warf

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Hilde einen verschwörerischen Blick zu und sie mussten beide lachen. »Hagen flehte sie an, uns mitzunehmen, und wedelte ihnen sein goldenes Kreuz entgegen, das er seit seiner Geburt an einer Kette um den Hals trug. Das hat sie dann wohl überzeugt, dass wir gute Christenmenschen waren. Sie sprangen zu zwölft in ein Boot, ruderten an den Strand und luden uns auf ihr Schiff. Das erste, was sie taten, war, uns richtige Kleider zu geben, allerdings waren es Männerkleider.«

»Und wer waren die Seeleute?« »Es war der Graf von Garadie. Er kam gerade von einer Pilgerfahrt zurück und zuerst machte er auch einen guten Eindruck auf uns. Er gab uns zu essen und ließ uns auf dem Schiff übernach-ten. Als er jedoch unsere Geschichte hörte, setzte er sich in den Kopf, Hagen als Geisel zu behalten. Es stellte sich heraus, dass Sigebant gegen den Grafen gekämpft und ge-wonnen hatte. Garadie hatte große Verluste erlitten und sah nun seine Chance, sich an Sigebant zu rächen. Er wies seine Männer an, Hagen zu entwaffnen und ihn festzuhal-ten. Mich und meine Gefährtinnen wollte er an seinen Hof als Gesinde holen, woraufhin Hagen unglaublich zornig wurde. Er schrie den Grafen an, niemand nehme ihn je wieder gefangen. Schließlich sei es ja nicht seine Schuld,

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dass die Krieger des Grafen getötet wurden, er habe ge-nug erlitten, er wolle nur nach Hause auf die Burg Baljan. Wenn der Graf ihn dorthin brächte, würde er ihn reich-haltig belohnen.

Graf von Garadie hörte aber gar nicht zu. ›Ergreift ihn!‹, schrie er seinen Leuten zu, aber die hatten nicht mit Hagens Kraft und Geschicklichkeit gerechnet. Anstatt von ihnen gefangen genommen zu werden, brüllte er los und warf sie einen nach dem anderen über Bord. Die Seeleute hatten in ihrem ganzen Leben niemanden so kämpfen se-hen. Die verbliebenen Männer wichen zurück und Hagen wollte sich gerade auf den Grafen selber stürzen, als wir Mädchen ihn zurückhielten und ihm begreiflich machten, dass er gewonnen hatte. Er sah sich um, merkte, dass nie-mand mehr gegen ihn stand und rief: ›Auf nach Baljan!‹ Die Männer gingen sofort an ihre Plätze und nahmen Kurs auf Irland.«

Hilde lauschte wie gebannt. Sie sah zu ihrem Vater hinüber, der sich gerade lachend auf die Schenkel klopfte und gut gelaunt den Hunden einen Knochen mit reichhal-tigen Fleischresten zuwarf. Sie versuchte, sich vorzustel-len, wie Hagen als junger Mann ausgesehen haben moch-te. Geistesabwesend schaute sie zu, wie einer der Diener

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die Kerzen auf dem großen hölzernen Rad, das von der gewölbten Decke herabhing, ansteckte. Der Menestrel be-gann, wieder zu spielen, diesmal sang er dazu. Hilde hörte normalerweise gern zu, denn die Lieder handelten zu-meist von dem, was sich andernorts alles zugetragen hat-te. So war man stets mit Neuigkeiten aus dem eigenen Land und auch aus fernen Gegenden versorgt und hatte wochenlang Gesprächsstoff beim Spinnen. Hildburg lauschte voller Interesse, doch Hilde sann immer noch darüber nach, was ihren Eltern zugestoßen war.

Die Mägde kamen wieder mit Waschschüsseln, und schließlich war das Lied des Menestrels zu Ende. Hagen klatschte Beifall und alle fielen ein. Der Menestrel ver-beugte sich und trat zurück, als das Gesinde den nächsten Gang auftrug. Hilde, die geduldig auf diesen Moment ge-wartet hatte, wandte sich Hildburg zu. »Wie ging es wei-ter?«

Hildburg lud sich und Hilde einige von den angebote-nen Pastinakwurzeln und eine großzügige Portion Reb-huhn auf ihr Brot, bevor sie antwortete. »Die Fahrt nach Irland dauerte siebzehn Tage, bevor wir an der Küste die vertrauten Türme einer Burg sehen konnten. Bei diesem Anblick raffte die Besatzung das Rahsegel und holte die

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Ruder ein. ›Weiter können wir nicht. Sigebant wird uns erschlagen, sobald er uns ausfindig macht‹, sagten sie. Hagen verstand sofort und überlegte, wie er nun nach Baljan kommen würde. Nach einem Moment des Nach-denkens hatte er eine Idee. Er bot den Seeleuten an, sie reichlich zu belohnen, wenn sie an Land ruderten und Si-gebant, seinem Vater, eine Nachricht überbrächten. Sein Sohn, den ein Greif vor langer Zeit entführt hatte, sei zu-rückgekehrt mit dem Schiff, das er am Horizont erblicken könne. Da Hagen wusste, dass sein Vater sehr misstrau-isch sein würde, fügte er hinzu, er solle seine Gemahlin fragen, ob sie ihren Sohn an dem goldenen Kreuz erken-nen würde, das sie ihm als Infant um den Hals gelegt hat-te.

Gesagt, getan. Zwölf mutige Männer ruderten an Land, um dem König die Nachricht zu überbringen. Sigebant reagierte zunächst mit glühendem Zorn, als die Pilger am Burgtor um Einlass baten. Wie sie es wagen könnten, sein Land erneut zu betreten, ob sie ihr Leben nicht schätzten. Die Männer antworteten mit der ihnen aufgetragenen Nachricht. Sigebant glaubte natürlich kein Wort. ›Ihr lügt! Mein Sohn ist lange tot. Habe ich nicht genug Kummer dadurch? Muss ich auch noch von einem Fremden zum

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Narren gemacht werden?‹ Daraufhin gaben Garadies Männer die zweite Botschaft weiter, ob sich seine Gemah-lin Ute an ein goldenes Kreuz erinnere, das sie ihrem Kind umgelegt habe. Sigebant brummte etwas in seinen Bart, ließ aber nach seiner Frau rufen, denn welcher Vater hät-te nicht auch jede Gelegenheit genutzt, sein tot geglaub-tes Kind wieder zu sehen?«

»Und?«, fragte Hilde. Sie hatte keinen Bissen von dem Essen angerührt. »Was hat Großmutter Ute gesagt?« Hildburg kaute genüsslich an einem Stück Rebhuhn und leckte sich einzeln die Finger ab. »Ute wurde bleich, als sie hörte, dass Hagen noch am Leben sein könnte. Natürlich könne sie sich an das goldene Kreuz erinnern. Sie würde es zwischen Hunderten erkennen. ›Lass die Pferde holen, wir reiten sofort zum Strand‹, bat sie aufgeregt. Während die Pferde geholt wurden, nahm einer der Pilger sie bei-seite. ›Verzeiht mir, edle Frau, wenn ich eine Bitte an-schließe. Euer Sohn hat mit drei Maiden gelebt, die keine Kleidung haben. Er wird Euch alles erzählen können. Bis dahin wäre es ziemlich, wenn Ihr so freundlich sein könn-tet und den Dreien etwas zum Anziehen mitbringen könn-tet.‹ Ute muss sich wohl sehr gewundert haben, aber sie tat, worum der Pilger sie gebeten hatte. Sie wies ihre

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Magd an, schnell drei Frauenkittel und Klappenröcke aus ihrer eigenen Truhe zu holen und im Nu ritten der König, die Königin und ihr Gefolge zum Meer.

Als sie dort ankamen, stand Hagen bereits mit Gara-dies restlichen Männern am Strand und wartete. Das Kö-nigsgefolge war natürlich so gespannt, ob es wirklich der verschwundene Junge sein sollte, dass ein großes Ge-dränge entstand. ›Seid Ihr der Held, der behauptet mein Sohn zu sein?‹, rief Sigebant Hagen entgegen. Der ver-neigte sich tief. Bevor er etwas sagen konnte, wies Ute in ihrer ruhigen, bestimmten Art das Gefolge an, ihr Platz zu machen. Alle wichen auseinander, sodass eine Gasse ent-stand. Ute schritt aufrecht und würdevoll auf Hagen zu, der sich auch vor ihr tief verneigte. Sie schaute ihn prü-fend an und wartete, bis er sich aufrichtete. Dann streckte sie ihre Hand aus, um das goldene Kreuz um seinen Hals zu untersuchen. Alles Gefolge hielt den Atem an, sogar König Sigebant. Da rollten plötzlich Tränen über Utes Ge-sicht. Sie sagte nur ›Mein Sohn!‹ und schloss Hagen in die Arme. Den Jubel, der daraufhin ausbrach, konnte man bis an die Grenzen des Reiches hören. Es war das einzige Mal, dass man Sigebant hat weinen sehen, als auch er Hagen umarmte.

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Man ließ das Boot zurück zum Schiff rudern und rich-tete den Pilgern aus, dass sie näher kommen und vor An-ker gehen konnten. Dabei gab man uns auch die Kleider der Königin. Wir konnten uns gar nicht wieder beruhigen, als wir die schönen, edlen Stoffe sahen. Wir kleideten uns an und machten uns zurecht und wurden dann ebenfalls an Land gerudert, um mit dem ganzen Gefolge zur Burg Baljan zu reiten.

Dort wurde ein riesiges Fest vorbereitet. Hagen sprach sich inzwischen bei Sigebant für die Pilger des Grafen Ga-radie aus und Sigebant ließ sie so großzügig belohnen, dass sie mehr davon trugen, als sie ursprünglich im Krieg verloren hatten. Danach haben sie nie wieder Krieg ge-geneinander geführt. Aber Du isst ja gar nichts, Kind!«

Hilde schüttelte unwillig den Kopf. Sie wollte weiter zuhören, doch in diesem Moment trat ein fahrender Gaukler ein, um die Gäste zu unterhalten. Entnervt schau-te sie zu, wie er sich vorstellte und sogleich anfing, in ei-ner bizarren Bewegungsfolge durch die Halle zu ziehen. Seine Arm- und Beinbewegungen waren so ungewöhnlich, dass man den Eindruck gewann, er habe keine Knochen im Leib. Die Gespräche ringsum verstummten, man konn-te lediglich das ein oder andere »Oh!« vernehmen oder

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das zischende Geräusch, wenn jemand die Luft anhielt, als der Gaukler rückwärts auf seine Hände sprang und von da aus wieder auf die Füße; Hände, Füße, Hände, in immer schnellerer Abfolge. Als er sich mehrmals überschlug und dabei jedes Mal wieder auf den Beinen landete, riefen die Tafelgäste wohlwollende Bemerkungen und klatschten vor Bewunderung. Selbst Hilde war für den Moment abge-lenkt, doch sobald die akrobatischen Kunststücke fertig waren und der Gaukler ankündigte, dass er bereit sei, für eine Münze auch Träume zu deuten, wandte sie sich wie-der an Hildburg.

»Du lässt mir ja kaum Zeit, das Festmahl zu genießen«, beschwerte sich Hildburg. »Warte bis morgen, dann er-zähle ich Dir beim Spinnen oder beim Sticken weiter. Un-terhalte Dich doch mit dem Ritter neben Dir – er sieht schon ganz enttäuscht aus, dass Du kein Wort mit ihm sprichst, dabei hat er sich bestimmt über die Ehre gefreut, neben Dir sitzen zu dürfen.«

Hilde warf einen kurzen Seitenblick auf den Ritter, der sie hoffnungsvoll anlächelte. Sie lächelte freundlich zu-rück, nickte ihm zu und wandte sich sofort wieder mit forderndem Blick an Hildburg, die allerdings den Kopf schüttelte. »Du wirst noch für hochmütig gehalten, wenn

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Du die Gäste nicht beachtest«, tadelte sie und wusch sich die Hände in der ihr dargereichten Schüssel. »Den Rest der Geschichte erzähle ich Dir morgen. Sprich mit dem Ritter und zeige Dich den anderen Gästen nicht so unzu-gänglich! Deine Mutter wird mir zürnen, wenn wir wäh-rend des gesamten Festmahls die Köpfe zusammen-stecken.«

Hilde musste sich fügen, wenn auch unwillig. Das Mahl nahm seinen Fortgang mit Kuchen, Pasteten, Dörrobst und Milchspeisen, von denen nun auch Hilde sich bedien-te. »Und? Lasst Ihr Eure Träume von dem Gaukler deu-ten?« sprach sie ihren Tischnachbarn an, der sie glücklich anstrahlte und sofort darauf einging. Sie fing einen zu-stimmenden Blick von ihrer Mutter auf und ergab sich ih-rer Pflicht als Königstochter.

Erst spät am Abend, als sie in ihrer Kemenate unter die Decke schlüpfte und sich an Hildburg kuschelte, versuch-te sie es noch einmal. »Hildburg … schläfst Du schon?« Hildburg brummte unwillig, hatte dann jedoch nicht das Herz, sich schlafend zu stellen. »Du willst wissen, wie es weiter ging, nicht wahr?« Hilde setzte sich auf. »Bitte!«

»Nun gut«, seufzte Hildburg ergeben und lehnte sich auf ihren Ellenbogen. »Wir waren also auf Baljan aufge-

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nommen worden. Hagen gewöhnte sich schnell an das Le-ben auf der Burg. Er entwickelte sich zum besten Kämpfer in Turnierspielen und stellte alle in den Schatten, wenn es ums Jagen ging. Auch uns Mädchen gefiel es sehr, wieder baden zu können, immer zu essen zu haben und die Ge-sellschaft des Hofes zu genießen. Wir lernten, zu spinnen und zu sticken wie alle anderen Frauen, Deine Mutter überflügelte dabei selbst diejenigen, die es ihr beibrach-ten. Da wir nicht wussten, woher wir kamen, wurde über uns die eine oder andere Geschichte erzählt. Ich soll von dem Greifen den ganzen Weg aus Portugal verschleppt worden sein und von Deiner Mutter, wegen ihrer schwar-zen Haare und der wunderschönen braunen Augen, sagte man, sie komme aus Indien. Vielleicht kamen ihre Eltern ja aus Indien, aber ob sie … Egal. Man nannte sie Hilde und mich Hildburg. Deine Mutter wurde mit jedem Tag schö-ner, was auch Hagen nicht entging. Als man ihm naheleg-te, sich eine Frau zu suchen, war seine Entscheidung be-reits gefallen. Es gebe nur eine Frau für ihn, sagte er, und sie sei die schönste, die er je gesehen habe. Zudem habe sie die schwerste Zeit mit ihm geteilt, die er in seinem ganzen Leben durchgemacht habe. Sie gehöre einfach zu ihm.«

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Hilde nickte zufrieden. »Eine richtige Liebesgeschich-te! Kein Wunder, dass sie sich so gut verstehen. Mir wird es wohl nie so gehen. Stell Dir vor, ich verliebe mich und mein Vater schlägt meinem Auserwählten den Kopf ab. Das kann ich mir …« Hildburg schnitt ihr das Wort ab. »Red nicht so einen Unsinn, Hilde. Der schönste und be-ste Kämpfer von fern und nah wird kommen, um Deine Hand zu gewinnen. Du wirst Dich Hals über Kopf in ihn verlieben und alles wird ein glückliches Ende nehmen.« Im Dunkeln konnte Hilde nicht sehen, wie Hildburg unmerk-lich auf das Holz der Bettstelle klopfte, um ihrer Vision Gelingen zu wünschen. Für den Augenblick schien es Hil-de allerdings zu beruhigen. »War es ein großes Fest?«

»Das Größte, das man je gesehen hatte. Zuerst wurde Hagen mit hundert anderen Recken zum Ritter ge-schlagen. Sigebant ließ in allen Ländern verkünden, dass in einem Jahr und drei Tagen der Brautlauf stattfinden sollte.« Hilde kam das wie eine unmöglich lange Zeit vor. »Warum denn erst ein Jahr später?«

Hildburg schmunzelte. »Ein so großes Fest muss rich-tig vorbereitet werden. Allein schon die Boten in die Ferne auszuschicken, dauert seine Zeit, so wie auch die eigentli-che Anreise der Gäste. Aber es geht nicht nur darum, Gä-

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ste, Musik und Essen zu planen und herzurichten. Du weißt doch, dass ein Brautlauf immer eine Gelegenheit für Turnierkämpfe ist, und die Recken müssen sich ja für den Wettbewerb vorbereiten. Da wird tüchtig geübt, bis ein Mann im Buhurt mitmachen kann oder gar in einer Tjost. Zudem muss alles aufs Feinste dekoriert und verziert wer-den, vom Zaumzeug der Pferde bis hin zu den Gewändern. Das geht nicht über Nacht.«

Hilde hatte nicht an eine solche Palette von Vorberei-tungen gedacht, deren Erwähnung sie zum Grübeln brachte. »Aber wie hat Vater seine Eltern überzeugen können, dass Mutter vom gleichen Stand ist?«

»Man ging davon aus, dass Hilde eine indische Königs-tochter war, damit war sie vom gleichen Stand. Niemand, der sie sah, zweifelte daran – man muss sie ja nur anse-hen, um es zu glauben. Ihre Haltung, wie sie sich bewegt, wie sie spricht – wenn das nicht königliche Herkunft be-zeugt, dann wüsste ich nicht, was sonst. Während sich also die Gäste auf das große Fest vorbereiteten, ließ man auf der großen Wiese unterhalb der Burg Unterkünfte er-richten, die in ihrer Größe und Bequemlichkeit so noch nie gesehen wurden.« Hilburg gähnte herzhaft. »Wenn Du jetzt Ruhe gibst und mich schlafen lässt, zeige ich Dir

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morgen das Gewand, das Deine Mutter beim Brautlauf trug.«

Nach dem Essen am nächsten Morgen begaben sich die Frauen in die Lichtstube. Hilde holte sich einen Arm-voll fein gekämmter Wolle und nahm ihren Lieblingsplatz in Fensternähe ein, ergriff die Spindel und begann, die Wolle zu Fäden zu ziehen. Während sie mit geübten Fingern die Spindel drehte, wanderten ihre Augen ständig zu Hildburg, die sich derselben Aufgabe widmete, ohne dabei aufzusehen. »Hildburg«, begann Hilde, überzeugt ihre Ungeduld nun ausreichend gezügelt zu haben. »Hat-test Du mir nicht versprochen, mir Mutters Brautgewand zu zeigen?«

In diesem Moment öffnete sich die schwere Holztür zur Lichtstube und Hildes Mutter trat ein. Die anderen Frauen schauten von ihrer Arbeit auf, grüßten sie und rückten zusammen, um ihr Platz zu machen, doch anstatt sich zu ihnen zu setzen, ging sie auf ihre Tochter zu. »Du möchtest mein Brautgewand sehen? Komm, ich zeig’ es Dir.«

Hilde sprang voller Begeisterung auf. Sie folgte ihrer Mutter in deren Kemenate und schaute zu, wie sie eine besonders schön verzierte Truhe öffnete und ein wunder-

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schönes Kleid aus weißem Samt herausholte. Mit angehal-tenem Atem berührte Hilde den kostbaren Stoff und fuhr ehrfurchtsvoll mit den Fingern über die feine Stickerei aus Gold- und Silberfäden. Ihre Mutter freute sich über Hildes Begeisterung.

»Schön, nicht wahr? Ich hatte viele Monde damit zu-gebracht, es zu besticken. Hat Hildburg Dir das Fest be-schrieben? Nein? Sigebant hat an nichts gespart. Er hat mehr als sechshundert Ritter für die Schwertleihe ausge-stattet, nicht nur Hagen, und das mit allem, was dazuge-hört – mit Pferden, Gewändern und Goldstücken. Tausen-de von Gästen kamen aus den fernsten Ländern, und nie-mandem sollte es an etwas fehlen.

Ich war so aufgeregt und so glücklich, dass Sigebant ihm keine andere Frau ausgewählt hatte. Ohne meine Ge-spielinnen wäre ich wohl vor Aufregung gestorben, bis Hagen kam. Sigebant hat mich ihm übergeben, denn ich befand mich ja in seiner Obhut. Hagen nahm meine Hän-de, trat mir auf den Fuß und …« Hilde unterbrach sie, em-pört. »Er hat Dir auf den Fuß getreten?«

Ihre Mutter lachte. »Das ist doch der Brauch, Kind! Dann führte er mich mit seinen Getreuen um die Burg herum, denn ich wohnte ja bereits auf Baljan, und der

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Brautlauf musste natürlich in irgendeiner Form stattfin-den.« An diesem Punkt errötete Hilde, unsicher, wie sie ihrer Mutter ihre nächste Frage stellen sollte. »Sind dann alle mit gekommen, als Ihr … als …, also bei der …« Hilde biss sich auf die Lippe.

»Du meinst, als wir zum Ehebett schritten? Sie haben uns begleitet, ja, aber dann wurde die Tür doch geschlos-sen.« Weiter wagte sich Hilde nicht vor. Sie hatte durch-aus einiges gesehen – in einer Burg war es beinahe un-möglich nicht mitzubekommen, was zwischen Männern und Frauen alles vorging. »Und was hast Du von Vater als Morgengabe bekommen?«

Hildes Mutter reichte mit einer Hand hinter die Truhe. Der Wandteppich bewegte sich leicht, bevor sie ihren Arm zurückzog und ihrer Tochter einen Gegenstand in die Hand drückte. Es war eine schwere goldene Fibel, mit un-endlich mühevollen filigranen Verzierungen übersät, die wie Federn aussahen. Sie war mit feinsten Edelsteinen be-setzt, doch das Erstaunlichste an ihr war die Form. Anstatt rund oder eckig zu sein, war es ein Raubvogel, der sich im Flug krümmte und die Krallen vorschob, als ob er sich ge-rade auf seine Beute stürzte. Hilde schnappte nach Luft. »Aber das ist ja …«

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»… ein Greif, ja. Schließlich wären wir einander ohne die Greifen niemals begegnet.« Die beiden betrachteten die ungewöhnliche Fibel, jede in ihre Gedanken versun-ken. »Warum trägst Du sie nicht?«

»Sie ist ein Teil meiner Lebensversicherung, sollte Dei-nem Vater etwas zustoßen. Außerdem ist sie sehr schwer und etwas protzig. Bei besonderen Gelegenheiten befesti-ge ich meinen Umhang damit, das letzte Mal auf Deiner Taufe.« Hilde wusste, welche Gelegenheit die nächste sein sollte, was sie wieder an ihren Groll gegen ihren Vater er-innerte. »Wahrscheinlich würdest Du sie auch zu meinem Brautlauf tragen, doch leider scheint es dazu niemals zu kommen«, sagte sie bitter.

Ihre Mutter schüttelte den Kopf und zog sie an sich. »Es hat schon alles seine Richtigkeit. Du bist jung und au-ßergewöhnlich schön. Dein Vater wird Dich selbstver-ständlich nicht an den erstbesten Recken geben, der gera-de mal ein Schwert halten kann. Es muss ein Fürst oder ein König sein, der Deiner würdig ist, und der dazu im Kampf so geübt ist, dass er Dir eine Zukunft sichert.«

Hilde hätte am liebsten widersprochen, doch sie wollte nicht den Moment ruinieren. Es kam zu selten vor, dass sie ihre Mutter ganz für sich allein hatte und sie war

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dankbar, dass sie endlich die Geschichte ihres Vaters bis zu den letzten Einzelheiten erfuhr. Wie konnte es bloß sein, dass sie bisher nichts davon gewusst hatte? Be-stimmt hatten die Menestrels davon gesungen, also hatte sie einfach nicht zugehört oder war sie noch zu klein ge-wesen, um es mitzubekommen? »Kannst Du mir das Fest beschreiben?«

»Natürlich, gern. Es war das größte Ereignis seit einer langen, langen Zeit. Schließlich wurde nicht allein der Brautlauf gefeiert, sondern Sigebant gab bei der Gelegen-heit die Krone an Hagen ab. Das hieß, dass Sigebant keine Kosten scheute, um zu verkünden, dass sein Sohn der be-ste, großzügigste und gerechteste König sein würde. Er organisierte alles, was man bei solch einem großen Ereig-nis erwarten konnte. Beim Brautbad durften Sigebants und Utes engste Freunde und die höchsten Gäste alle einen Badezuber mit den edelsten Kräutern benutzen, be-vor die Kampfspiele angesagt wurden.

Nach der Brautmesse wurden wir dann in der Kapelle gekrönt und gesegnet, bevor Hagen und ich allen voran zum Turnierplatz ritten, Sigebant und Ute direkt hinter uns. Die Ritterspiele waren außergewöhnlich spannend, immerhin war dafür ja ein ganzes Jahr geübt worden. Das

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Festessen danach zu beschreiben, erspare ich Dir. Du kannst Dir sicher vorstellen, welche Mengen verzehrt wurden. Es gab kein Gericht, von dem Du gehört haben könntest, das nicht aufgetragen wurde. Alles gab es in sol-chen Mengen, dass die Armen danach noch wochenlang davon leben konnten.

Als ich so zum ersten Mal neben Hagen saß, war ich zuerst etwas unsicher. Was, wenn mich sein Gefolge nicht akzeptierte? Ich schaute mich vorsichtig um, doch überall, wo mir ein Blick begegnete, konnte ich Zustimmung se-hen. Von dem Augenblick an wusste ich, dass mein Platz wirklich an Hagens Seite war. Ich fühlte mich mit einem Mal so glücklich wie noch nie zuvor.

Dann ritt Hagen mit seinen Mannen den Buhurt. Ich hatte große Angst um ihn, wie Du weißt, sind diese Spiele besonders rau und gefährlich. Nach außen hin musste ich allerdings so tun, als ob ich mich darüber freute und na-türlich war ich stolz auf ihn. Ich hätte mir überhaupt keine Sorgen machen müssen, er schlug auch im Buhurt wieder alle in den Schatten. Als die Spiele fertig waren, konnte man die Männer kaum erkennen, so staubbedeckt waren sie. Das Wetter war ganz heiß und sonnig, es hatte seit längerer Zeit nicht geregnet und bei all dem Lärm und

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Gedränge wirbelte der Staub überall hin. Sigebant ließ die Männer zu uns Frauen rufen, damit sie sich erfrischen und unterhalten konnten.

Dabei ließ Sigebant dann verkünden, dass er auf die Herrschaft verzichte und seinem Sohn Hagen die Krone und seine Länder übergebe. Sigebants Vasallen mussten nun Hagen als ihren Herrn anerkennen. Das war keine leichte Aufgabe. Als neuer König musste er die Burgen und Länder neu verteilen, aber er hat diesen ersten Test gut bestanden.«

Hilde verstand nicht, worin das Problem lag. »Wieso Test?«, fragte sie verblüfft. Was konnte schon dabei sein, den Leuten Burgen und Land zu schenken? »Das sind hochpolitische Überlegungen«, bekam sie zur Antwort. »Wer Ländereien erhält, muss dafür seinem Fürsten den Lehnseid schwören. Hagen musste genau darüber nach-denken, wer was bekam, denn ohne die Treue seiner Män-ner ist selbst der beste aller Könige auf sich selbst gestellt. Was das im Fall einer feindlichen Invasion bedeutet, kannst Du Dir sicher denken.

Er entschied jedenfalls weise, denn alle seine Vasallen waren zufrieden, schlugen ein und schworen ihrem König den Lehnseid, auch diejenigen, die noch der alten Religion

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anhingen. Hagen belohnte sie reichlich mit Gewändern und Schmuck, sodass noch lange von seiner Großzügig-keit gesprochen wurde. Dafür hatte er im Fall eines Krie-ges ein starkes Heer, wovon bis in die Ferne Kunde gege-ben wurde. Im Laufe der Zeit verfestigte sich dann Hagens Ruf als starker, gerechter Herrscher. Jeder, der seine Pro-bleme nicht lösen konnte, kam zu ihm. Er schlichtete viele Streitigkeiten und fungierte als Richter, wo es nötig war. Im ersten Jahr bereits ließ er über achtzig Männer ent-haupten, die schlimmes Unrecht getan hatten. Danach traute sich so mancher nicht mehr, Unrecht zu begehen.«

Der Ruhm Hagens war allerorts respektiert. Hilde hat-te ihn nie in Zweifel gezogen, doch erst jetzt wurde ihr klar, dass er tatsächlich ein Verdienst und nicht einfach ein vererbter Titel war. Sie würde die nächsten Tage, wenn nicht gar Wochen, viel Zeit damit verbringen, über Hagens und Utes Geschichte nachzudenken und beim Sticken und Spinnen die anderen fragen, woran sie sich erinnern konnten. »Und was ist aus dem dritten Mädchen geworden?«

»Mathilde? Ein norwegischer Fürst sah sie bei meinem Brautlauf und dem Fest danach. Er verliebte sich so sehr in sie, dass er nicht abreisen wollte, wenn sie nicht mit

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ihm käme. Wer so wunderschön sei, müsse königliches Blut in sich haben, schwor er. Somit wurde auch ihr der gleiche Stand anerkannt, ganz wie bei mir, und wer könn-te es auch widerlegen? Hagen wurde aus einer Burg ent-führt! Da mögen sich die Greifen durchaus auf Burgen spezialisiert haben, wer weiß. Mathilde war jedenfalls überglücklich, dem norwegischen Fürsten in sein Land zu folgen. Mir fiel es schwer, sie ziehen zu lassen, doch hatte ich immerhin noch Hildburg zur Gesellschaft.«

Hildes Mutter nahm ihr die Fibel wieder ab, die Hilde die ganze Zeit ehrfurchtsvoll in der Hand gehalten und gedankenverloren betrachtet hatte. Sie verstaute sie an ihrem Platz hinter dem Wandbehang, schob die Truhe wieder davor und stand auf, wobei sie Hilde ihre Hand entgegen streckte. »Komm, mein Kind. Lass uns wieder in die Lichtstube gehen, die anderen werden sich schon wundern, wo wir abgeblieben sind. Ich zeige Dir, was ich gerade für Deinen Vater sticke, und Du musst mir sagen, welchen Teil aus Hagens Geschichte es darstellt. Man kann noch nicht viel sehen, ich habe es gerade erst ange-fangen, aber vielleicht erkennst Du ja den Moment.«

Das hörte sich an, als ob das Spinnen fürs Erste nicht halbwegs so langweilig würde, wie es normalerweise der

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Fall war. Wie alle Frauen und Mädchen hatte auch Hilde keine Wahl, wenn es um ihre Pflichten ging. Besonders im Winter konnte die Zeit in der Lichtstube lang und eintönig werden, doch da das Kerzenlicht von allen geteilt wurde, gab es stets viel Gerede. Hilde erfuhr so ziemlich alles, was sich auf der Burg zutrug und manchmal ließ sich eine der Frauen dazu überreden, eine alte Legende zu erzäh-len. Oft kamen auch die Männer dazu, schnitzten Pfeile, schärften ihre Messer oder leisteten den Frauen einfach Gesellschaft am Feuer. Hilde folgte ihrer Mutter den Weg zurück zur Lichtstube, wo die anderen Frauen saßen und angeregt über ihren Handarbeiten plauderten.

Ihre Mutter führte sie zu ihrem Fensterplatz, hob ihre Stickarbeit hoch und zeigte sie Hilde. »Und? Was meinst Du?« Hilde studierte die Arbeit voller Bewunderung. So-sehr sie es auch versuchte, sie war sich sicher niemals auch nur annähernd an die Kunstfertigkeit ihrer Mutter heranzukommen. In diesem Fall war es ein rot gefärbter Oberkittel, auf dem in unendlich zierlichen Stichen ein Motiv zu sehen war. Noch war es unvollendet, doch man konnte bereits erkennen, welche Szene es darstellen wür-de, wenn es fertig wäre. »Das ist der Moment, in dem Va-ter den Greifen tötet«, sagte Hilde. Zu sehen war ein

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Strand, die Umrisse eines sinkenden Schiffes im Hinter-grund und ein Ritter im Vordergrund, der mit einem ge-zielten Hieb einen gefährlich böse aussehenden großen Vogel abwehrte.

Obwohl es offensichtlich war, wenn man Hagens Ge-schichte kannte, freute sich Hildes Mutter, dass ihre Tochter das Bild auf Anhieb erkannte. Sie nickte lächelnd, nahm dann ihre Arbeit wieder auf und wies Hilde mit ei-ner Kopfbewegung dazu an, sich hinzusetzen und weiter zu spinnen.

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