Die guten Zeiten sind v orbei · Deutscher Aktienindex (DAX) seit Jahresbeginn: 2,75 %seit...

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Professor Dr. Markus Babo. KOLUMNE „Wir schaffen das!“ VON PROFESSOR MARKUS BABO Kaum eine Aussage wurde in den letzten Jahren so kontrovers diskutiert, wie die berühmten drei Worte der Bundeskanzle- rin vom August 2015. Man kann über politische Entscheidungen ja durchaus gegenteiliger Meinung sein und dies auch entsprechend diskutieren. Davon lebt Demokratie – sofern diese Auseinander- setzungen im Kern sachlich bleiben. Bei den Bedrohungsszenarien, die mitunter gezeichnet wurden, könnte man jedoch fast vergessen, dass es sich beim Gros der Geflüchteten um schutzbedürftige Men- schen handelt. Auch wenn Übertreibun- gen in der politischen Rhetorik eine ge- wisse Tradition haben, ist die Grenze jedenfalls dort eindeutig überschritten, wo über vulnerable Menschen in Meta- phern einer Naturkatastrophe fabuliert oder sogar völkisches Gedankengut wie- der ausgegraben wird. Mancher selbst- ernannte Merkel-Kritiker scheint dabei nicht nur jeden Anstand, sondern auch jedes Maß verloren zu haben. Worum ging es eigentlich im Sommer 2015? Um eine humanitäre Katastrophe zu verhindern, beschlossen die Regie- rungschefs von Österreich und Deutsch- land, die in Ungarn und an den neuen stacheldrahtbewehrten Schutzwällen festsitzenden Flüchtlinge aufzunehmen. Es war eine absolut dringliche und in der Sache richtige Entscheidung zur Rettung von Menschenleben. Wie armselig muss es eigentlich um die Humanität eines Landes bestellt sein, wenn politisch Ver- antwortliche dafür unter derartigen Rechtfertigungsdruck geraten und immer wieder auf noch dazu höchst unflätige Art abgekanzelt werden? Wenn man politische Entscheidun- gen schon kritisiert, sollte man doch zu- mindest erwarten können, dass Alternati- ven aufgezeigt werden. Dazu schweigen sich die populistischen Schreihälse aber bis heute aus. Vermutlich hätte es zu die- sem Zeitpunkt auch gar keine Alternative gegeben. Denn im Sommer 2015 spitzte sich eine Situation zu, die auf ein höchst komplexes und viele Jahre zurückrei- chendes Ursachengeflecht zurückzufüh- ren ist. Zu den langfristigen Auslösern zählen sicher eine ungerechte Handels- politik, eine unehrliche Friedens- und Menschenrechtspolitik und eine inkon- sequente Umweltpolitik; unmittelbarer Auslöser der größeren Flüchtlingsbewe- gungen vom Sommer 2015 waren natür- lich die Kriege im Nahen und Mittleren Osten. Die Flüchtlingslager in der Region waren überfüllt, die Versorgung dort äu- ßerst desolat, Aussicht auf Besserung war nicht in Sicht. Statt ihrer internationalen Verantwortung gerecht zu werden, ver- barrikadiert sich die EU seit den 1990er Jahren mit gesteigertem technischen Auf- wand gegen Flüchtlinge, was aber nur das Geschäft von Schleppern erblühen lässt. Das Übereinkommen von Dublin erwies sich als höchst unsolidarisches System der Lastenverschiebung, weil es die Prü- fung der Asylverfahren den Ersteinreise- staaten an der Außengrenze der EU auf- bürdet und damit den wohlhabenden Staaten in der Mitte Europas Flüchtlinge weitgehend fernhält. Entsprechend wur- den dort seit Beginn des Jahrtausends Aufnahme- und Verwaltungskapazitäten abgebaut, die man im Jahr 2015 gut hätte brauchen können, während die ärmeren Länder an der Außengrenze der EU die hohe Anzahl der Verfahren nicht mehr bewältigen konnten. Unterstützung aus Brüssel blieb höchst mangelhaft. Statt So- lidarität und Verantwortung für Men- schen in Not herrscht das Sankt-Florians- Prinzip, das Menschen auf der Flucht zum politischen Spielball macht. In dieser Situation sollten die be- rühmten drei Worte Mut machen und Zuversicht ausstrahlen. Angepackt haben viele, vor allem aus der Zivilgesellschaft, und damit auch ein wohltuend anderes Bild von Deutschland nach Außen ver- mittelt. Sie haben gezeigt, was man alles schaffen kann. Aber in der Politik schei- nen die Skeptiker obsiegt zu haben. Die systemischen Fehler der Flüchtlingspoli- tik der vergangenen Jahrzehnte wurden nicht beseitigt, sondern im Gegenteil er- neut die längst gescheiterten Scheinlö- sungen aus der politischen Mottenkiste geholt: Die Grenzen werden noch un- überwindlicher gemacht, das Asylrecht weiter verschärft, Geflüchtete als „Wirt- schaftsflüchtlinge“ kriminalisiert und durch Ausweitung des Gürtels sicherer Dritt- und Herkunftsstaaten wegdefiniert und Verschlechterungen bei Unterbrin- gung und Versorgung sollen potenzielle Zuwanderer abschrecken. Haben diese Maßnahmen in den vergangenen Jahr- zehnten auch nur einen Fluchtwilligen abgehalten? Solange die eigentlichen Fluchtursachen, die in den globalen Un- gerechtigkeiten liegen, nicht angegangen werden, erhöhen sie nur den Preis. 3 800 tote Flüchtlinge allein in diesem Jahr sind ein neuer trauriger Rekord. So zynisch es klingt: Diese Menschen haben keine finanzkräftige Lobby und ihre Stimme ist für immer verstummt. Und wer die Reise doch überlebt, bleibt wieder in Griechenland und Italien hängen. So- lidarität scheint in dieser EU ein Fremd- wort zu sein. Immerhin: Nach Deutsch- land kommt kaum mehr einer durch. Und schon wird das Geplärre leiser. Wer hat jetzt eigentlich was geschafft? Der Autor ist Professor für Theologie in der Sozialen Arbeit an der Katholischen Stiftungshochschule München.

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Page 1: Die guten Zeiten sind v orbei · Deutscher Aktienindex (DAX) seit Jahresbeginn: 2,75 %seit Jahresbeginn: +3,26 % (03.11.2016/9.54 Uhr) (02.11.2016/Börsenschluss) Quelle: Thomson

Deutscher Aktienindex (DAX)seit Jahresbeginn: – 2,75% seit Jahresbeginn: +3,26%

(03.11.2016/9.54 Uhr) (02.11.2016/Börsenschluss)

(02.11.2016 / Börsenschluss) (03.11.2016/10.26 Uhr)Quelle: Thomson Reuters

Dow Jones Industrials (DJIA)

Zinsen (Umlaufrendite) EURO (gegen US-Dollar)seit Jahresbeginn: +2,19%

Aktuell: –0,03%Jahresende: 0,49 %

Aktuell: 10 362Jahresende: 10 743

Aktuell: 17 959Jahresende: 17 425

Aktuell: 1,1095Jahresende: 1,0862

DAX: Quartalszahlen und WahlunsicherheitDie Angst vor einem möglichen Wahlsiegvon Donald Trump drückte den Deut-schen Aktienindex am Mittwoch um 1,5Prozent auf 10 371 Punkte. Die unklarenpolitischen und wirtschaftlichen Ziele desKandidaten und der unsichere Wahlaus-gang verbreiten Unsicherheit an den Bör-sen. Der Dow-Jones Index verlor 0,4%, derS&P500 0,7% und der Nasdaq-Compositesogar 0,9%.

Trotz der negativen Entwicklung derletzten Tage könnte es am Donnerstag zumöglichen Impulsen an den Märktenkommen, da einige Unternehmen ihreQuartalsbilanzen und Prognosen veröf-fentlichen. Adidas beispielsweise profitier-te von den großen Sportspektakeln desletzten Sommers und hat seinen Umsatzdeutlich um 14 Prozent gesteigert.

Verfassungsreferendum in ItalienEinen Monat vor dem Verfassungsreferen-dum wird in Italien mit allen Mitteln ge-kämpft. Matteo Renzi hat für den 4. De-zember eine Abstimmung über eine weit-reichende Reform der italienischen Verfas-sung angekündigt. Zugleich hat er aberauch sein politisches Schicksal von derAbstimmung abhängig gemacht. Solltendie Italiener mit „Nein“ stimmen, wäreRenzi gestürzt und eine Regierungskrisewürde als Folge erwartet. Diese Entwick-lung würde das in den letzten Wochenvon mehreren Erdbeben heimgesuchte

Land weiter politisch und wirtschaftlichdestabilisieren. Erstmals wird nicht mehrGriechenland als der europäische Wackel-kandidat gesehen, sondern Italien, diedrittgrößte Volkswirtschaft im Euroraum.

„Trump-Effekt“ lässt Eurokurs steigenDie steigenden Siegchancen des Präsi-dentschaftskandidaten Donald Trump ha-ben am Mittwoch den Devisenmarkt do-miniert. Der Euro konnte seine Vortages-

gewinne ausbauen und kostete amNachmittag bis zu 1,1115 Dollar – derhöchste Stand seit gut drei Wochen. DerDollar hingegen steht seit Dienstag untererhöhtem Druck. Sollte Donald Trumpdie Wahl gewinnen, könnte dies direkteAuswirkungen auf den amerikanischenGeldmarkt haben: Die für Dezember er-wartete Zinsanhebung der Fed könnte ver-schoben werden, um die Reaktion derMärkte auf den Ausgang der Wahl abzu-warten.

Die Tagespost Samstag, 5. November 2016 Nr. 132 / Nr. 44 ASZ Wirtschaft und Soziales 7

Professor Dr. Markus Babo.

KOLUMNE

„Wir schaffendas!“VON PROFESSOR MARKUS BABO

Kaum eine Aussage wurde in den letztenJahren so kontrovers diskutiert, wie dieberühmten drei Worte der Bundeskanzle-rin vom August 2015. Man kann überpolitische Entscheidungen ja durchausgegenteiliger Meinung sein und dies auchentsprechend diskutieren. Davon lebtDemokratie – sofern diese Auseinander-setzungen im Kern sachlich bleiben. Beiden Bedrohungsszenarien, die mituntergezeichnet wurden, könnte man jedochfast vergessen, dass es sich beim Gros derGeflüchteten um schutzbedürftige Men-schen handelt. Auch wenn Übertreibun-gen in der politischen Rhetorik eine ge-wisse Tradition haben, ist die Grenzejedenfalls dort eindeutig überschritten,wo über vulnerable Menschen in Meta-

phern einer Naturkatastrophe fabuliertoder sogar völkisches Gedankengut wie-der ausgegraben wird. Mancher selbst-ernannte Merkel-Kritiker scheint dabeinicht nur jeden Anstand, sondern auchjedes Maß verloren zu haben.

Worum ging es eigentlich im Sommer2015? Um eine humanitäre Katastrophezu verhindern, beschlossen die Regie-rungschefs von Österreich und Deutsch-land, die in Ungarn und an den neuenstacheldrahtbewehrten Schutzwällenfestsitzenden Flüchtlinge aufzunehmen.Es war eine absolut dringliche und in derSache richtige Entscheidung zur Rettungvon Menschenleben. Wie armselig musses eigentlich um die Humanität einesLandes bestellt sein, wenn politisch Ver-antwortliche dafür unter derartigenRechtfertigungsdruck geraten und immerwieder auf noch dazu höchst unflätigeArt abgekanzelt werden?

Wenn man politische Entscheidun-gen schon kritisiert, sollte man doch zu-mindest erwarten können, dass Alternati-ven aufgezeigt werden. Dazu schweigensich die populistischen Schreihälse aberbis heute aus. Vermutlich hätte es zu die-sem Zeitpunkt auch gar keine Alternativegegeben. Denn im Sommer 2015 spitztesich eine Situation zu, die auf ein höchstkomplexes und viele Jahre zurückrei-chendes Ursachengeflecht zurückzufüh-

ren ist. Zu den langfristigen Auslösernzählen sicher eine ungerechte Handels-politik, eine unehrliche Friedens- undMenschenrechtspolitik und eine inkon-sequente Umweltpolitik; unmittelbarerAuslöser der größeren Flüchtlingsbewe-gungen vom Sommer 2015 waren natür-lich die Kriege im Nahen und MittlerenOsten. Die Flüchtlingslager in der Regionwaren überfüllt, die Versorgung dort äu-ßerst desolat, Aussicht auf Besserung warnicht in Sicht. Statt ihrer internationalenVerantwortung gerecht zu werden, ver-barrikadiert sich die EU seit den 1990erJahren mit gesteigertem technischen Auf-wand gegen Flüchtlinge, was aber nur dasGeschäft von Schleppern erblühen lässt.Das Übereinkommen von Dublin erwiessich als höchst unsolidarisches Systemder Lastenverschiebung, weil es die Prü-fung der Asylverfahren den Ersteinreise-staaten an der Außengrenze der EU auf-bürdet und damit den wohlhabendenStaaten in der Mitte Europas Flüchtlingeweitgehend fernhält. Entsprechend wur-den dort seit Beginn des JahrtausendsAufnahme- und Verwaltungskapazitätenabgebaut, die man im Jahr 2015 gut hättebrauchen können, während die ärmerenLänder an der Außengrenze der EU diehohe Anzahl der Verfahren nicht mehrbewältigen konnten. Unterstützung ausBrüssel blieb höchst mangelhaft. Statt So-lidarität und Verantwortung für Men-schen in Not herrscht das Sankt-Florians-Prinzip, das Menschen auf der Fluchtzum politischen Spielball macht.

In dieser Situation sollten die be-rühmten drei Worte Mut machen undZuversicht ausstrahlen. Angepackt habenviele, vor allem aus der Zivilgesellschaft,und damit auch ein wohltuend anderesBild von Deutschland nach Außen ver-mittelt. Sie haben gezeigt, was man allesschaffen kann. Aber in der Politik schei-nen die Skeptiker obsiegt zu haben. Diesystemischen Fehler der Flüchtlingspoli-tik der vergangenen Jahrzehnte wurdennicht beseitigt, sondern im Gegenteil er-neut die längst gescheiterten Scheinlö-sungen aus der politischen Mottenkistegeholt: Die Grenzen werden noch un-überwindlicher gemacht, das Asylrechtweiter verschärft, Geflüchtete als „Wirt-schaftsflüchtlinge“ kriminalisiert unddurch Ausweitung des Gürtels sichererDritt- und Herkunftsstaaten wegdefiniertund Verschlechterungen bei Unterbrin-gung und Versorgung sollen potenzielleZuwanderer abschrecken. Haben dieseMaßnahmen in den vergangenen Jahr-zehnten auch nur einen Fluchtwilligenabgehalten? Solange die eigentlichenFluchtursachen, die in den globalen Un-gerechtigkeiten liegen, nicht angegangenwerden, erhöhen sie nur den Preis.

3 800 tote Flüchtlinge allein in diesemJahr sind ein neuer trauriger Rekord. Sozynisch es klingt: Diese Menschen habenkeine finanzkräftige Lobby und ihreStimme ist für immer verstummt. Undwer die Reise doch überlebt, bleibt wiederin Griechenland und Italien hängen. So-lidarität scheint in dieser EU ein Fremd-wort zu sein. Immerhin: Nach Deutsch-land kommt kaum mehr einer durch.Und schon wird das Geplärre leiser. Werhat jetzt eigentlich was geschafft?

Der Autor ist Professor für Theologie inder Sozialen Arbeit an der KatholischenStiftungshochschule München.

Arbeit ist für den Menschenda und nicht umgekehrtKKV plädiert für eine Kultur des Maßes und der Genügsamkeit

Essen (DT) „Mensch bleiben in der Arbeits-welt“ lautet das derzeitige Schwerpunktthe-ma des KKV, Verband der Katholiken inWirtschaft und Verwaltung. Damit greifeder Sozialverband ein Thema auf, das heuteaktueller denn je sei. Die Globalisierungmit ihrem internationalen Druck auf dieUnternehmen und damit auch auf dieArbeitnehmer werde immer größer. Allesmüsse immer schneller und billiger produ-ziert werden. Dass dabei vielfach die Quali-tät auf der Strecke bleibe, liege auf derHand, so der KKV. „Die zahlreichen Rück-rufaktionen – nicht nur bei den Autoher-

stellern – zeigen dies sehr deutlich“, erklär-te der KKV-Bundesvorsitzende Bernd-M.Wehner gegenüber der Presse. „Dem Kon-sumenten wird vorgegaukelt, dass er nurauf der Höhe der Zeit ist, wenn er die je-weils neuesten elektronischen Geräte hatoder die modernste Designer-Mode trägt.“Der KKV plädiere dagegen für eine Kulturdes Maßes und der Genügsamkeit. Ziel derWirtschaft sei es, die materielle Versorgungmit allem, was wir zum Leben brauchen, si-cherzustellen und nicht den Überfluss zuproduzieren, wie es das II. VatikanischeKonzil in Gaudium et spes (GS 63) auf denPunkt gebracht habe.

Pocht auf ein höheres Rentenniveau: Bundessozialministerin Andrea Nahles (SPD). Foto: dpa

Die guten Zeiten sind vorbeiDie Parteien ringen um Konzepte für tragfähige Alterssicherung VON ROBERT LUCHS

E s ist ein Vortasten, aber auch ein Zu-rückweichen. Ein Ausloten, aberauch ein ultimatives Sich-in-Stel-

lung-Bringen. Die Rentenpolitik ähneltmehr denn je einem Schachspiel, nur dassmehr als zwei Akteure sich am Brett belau-ern. Doch die Entscheidung lässt sich nichtauf Dauer hinausschieben – der Wähler willwissen, was ihn erwartet. Das heißt nochlange nicht, dass das Thema Rente in denWahlkampf gezogen werden sollte, mit Ver-sprechungen, an deren Ende nur Enttäu-schungen stehen könnten.

Rentenexperten warnen schon jetzt vorfatalen Folgen. Der Ökonom Bernd Raffel-hüschen ist sogar der Meinung, die BerlinerKoalition habe die größten Dummheitenschon begangen, nämlich die Rente mit 63und die Mütterrente. „Der einzige Fehler,der noch offen ist, ist die sogenannte Halte-linie für das Rentenniveau“, meint der Ex-perte. Denn wenn man das Rentenniveaustabil halte, müsse man die Beiträge steigenlassen. Und wenn sie die Beiträge konstanthalten, müssen sie das Rentenniveau ab-senken, so Raffelhüschen. Zwei falsche Zü-ge auf dem Schachbrett, und das mühsamaustarierte System gerät ins Wanken.

Auf eine solche „Haltelinie“ haben sichCDU und CSU verständigt, verkündet CSU-Chef Horst Seehofer. Sie sei das Fundamentfür die weiteren Verhandlungen auch mitder SPD. Will sagen, die Christsozialen wol-len mehr als bisher einen Fuß in der Türhaben, hinter der in Berlin über die existen-ziellen Themen der Republik entschiedenwird. Zwar dürften die Beitragssätze nichtin eine Höhe explodieren, so Seehofer, diedie junge Generation überfordere undArbeitsplätze gefährde. Zugleich redet ereinem Kompromiss mit der Lebensleis-tungsrente, einer erweiterten Mütterrenteund der Ost-West-Angleichung das Wort.Das ist reiner Populismus, denn Seehoferweiß, dass die junge Generation bei diesenRechenspielen nicht bedient wird. DasGeld wird unter den alten Jahrgängen ver-teilt. Allein die völlige Gleichstellung derMütterrente kann zu einem teuren Schach-zug werden. Die Politik des kurzfristigen Er-folgs wird nicht erst seit gestern betrieben.

Kein Wunder, wenn die Jungen sich be-trogen fühlen, ohne eine Handhabe gegenexorbitante Beiträge zu haben, die den Al-ten erspart bleiben. „Wenn man den heuti-gen Rentnern etwas verspricht, das die jun-gen Menschen bezahlen müssen, und diesedann selber später in die Röhre gucken, hatdas mit Gerechtigkeit nicht mehr viel zu

tun“, klagt der Chef der Jungen Union, PaulZiemiak. Konkret spricht er dabei eine Stei-gerung des Rentenbeitrags von zur Zeit 18,4auf 25 Prozent des Bruttogehalts an.

Bisher hat die Große Koalition vor allemGeld ausgegeben; Rente ab 63 für langjäh-rig Versicherte, und der ewige StreitfallMütterrente, also eine bessere Anrechnungder Kindererziehung. Beides kostet in denkommenden Jahren Milliarden – und dies,wenn das Geld ohnehin knapp wird, weildann geburtenstarke Jahrgänge in den Ru-hestand gehen. Alexander Gunkel vomVorstand der Deutschen Rentenversiche-rung Bund skizzierte die Zukunft so: „Vonjetzt ab wird die Rentenversicherung jedesJahr Defizite schreiben. Der Beitragssatzkann zwar noch ein paar Jahre konstant ge-halten werden, aber die guten Zeiten sindjetzt vorbei.“

Von der Koalition festgelegt ist, dass dasRentenniveau bis 2030 nicht unter 43 Pro-zent des Durchschnittseinkommens der Er-werbstätigen sinken soll, und die Beiträgesollen nicht über 22 Prozent steigen. Aberwas geschieht danach? Bundessozialminis-terin Andrea Nahles (SPD) will nicht ver-sprechen, dass die Bäume in den Himmelwachsen, doch pocht sie zugleich auf einhöheres Rentenniveau. Dieses ist allerdingsnur zu haben, wenn man nicht auf den 22Prozent stehen bleibt. Aber auch die un-ermüdlich an der sozialen Front kämpfen-de Nahles macht ein neues Fass auf und for-dert mehr Geld für die rund 1,8 MillionenErwerbsgeminderten. Denn Altersarmutdroht vor allem jenen, die wenig oder garnicht gearbeitet und daher nicht in die Ver-sicherung eingezahlt haben. Mehr als jeder

zweite Geringverdiener hat keine zusätzli-che Altersvorsorge. Mitte November will dieMinisterin ein Konzept präsentieren.

Inzwischen ist die teils hitzig geführteDiskussion um das Renteneintrittsalter inden Hintergrund getreten. Die Junge Unionmeint dazu, dass statt der Beiträge lieber dasRentenalter steigen solle. Zimiak: „Wennwir sehen, dass wir immer weniger Kinderhaben und dass gleichzeitig die Menschenimmer länger leben, dann brauchen wireine Koppelung des Renteneintrittsaltersan die statistische Lebenserwartung.“ Einvernünftiger Vorschlag, wobei es zu beden-ken gilt, dass man den Alten nicht dieSchuld am Kindermangel zuschieben kann.

Einig sind sich Union und SPD bei derFörderung von Betriebsrenten, die in derVergangenheit sträflich vernachlässigt wor-den sind. Betriebsrenten sollen vor allembei Geringverdienern und in kleineren Be-trieben weiter verbreitet werden. Der Anteilvon 60 Prozent der Beschäftigten mit be-trieblicher Altersvorsorge stagniert seit Jah-ren. Bei den Niedrigverdienern sind es nurrund 40 Prozent. Auch die Angleichung derOstrenten steht noch aus, die heutige Rent-ner im Osten besserstellen würde. Finanz-minister Wolfgang Schäuble (CDU) müsstehier noch einmal tief in den Säckel greifen.

Die heutigen Rentner müssen im kom-menden Jahr mit einer deutlich geringerenErhöhung ihrer Bezüge auskommen als indiesem Jahr. Nach den jüngsten Berech-nungen ergibt sich eine Erhöhung der Ren-ten im kommenden Sommer um 2,3 Pro-zent (West) und 2,58 Prozent im Osten,geht aus dem Haushaltsplan der DeutschenRentenversicherung hervor.