Die Hexe Von Ameland

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Mathias Meyer-Langenhoff

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Liebe Leserin, lieber Leser,

die Online-Ausgabe von

„Die Hexe von Ameland“

haben wir, im Einvernehmen mit dem Autor, pünktlich zu Ostern 2010 kostenlos im Internet verfügbar gemacht.

Bitte beachten Sie, dass das Werk dennoch auch weiter-hin vollen urheberrechtlichen Schutz genießt, und Nach-drucke und Vervielfältigungen jeglicher Art, auch aus-zugsweise, nur nach ausdrücklicher Zustimmung des

Verlages gestattet sind.

Natürlich kann sich jeder, der lieber auf Papier liest, als am Bildschirm, die Hexe von Ameland am eigenen Drucker für den eigenen Bedarf auch ausdrucken.

Einfacher wäre es allerdings,

die fix und fertig gedruckte Ausgabe bei uns oder bei Ihrer Buchhandlung zu bestellen.

Unser Online-Shop: http://www.ewk-verlag.de

Beim Autor gibt es das Buch übrigens auch als Hörbuch http://www.meyer-langenhoff.de/

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Mathias Meyer-Langenhoff Die Hexe von Ameland mit Illustrationen der Töchter Johanna (12) und Antonia (15)

ONLINE-Ausgabe März 2010, EWK-Verlag Kühbach-Unterbernbach

Satz und Gestaltung: E.W.K. ...der Unternehmerberater e.K., Kühbach © EWK ...der Unternehmerberater e.K., Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3- 938175-55-2

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Für Karola

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Endlich Ferien

Als ich nach Hause kam, hörte ich Papa schon von weitem singen: „Ameland, schönes Land, Perle im Meer...“ Mit hochrotem Kopf stand er vor unserem Auto und stemmte sein Fahrrad auf den Dachgepäckträger. „Hallo, meine Große, ist dir eigentlich klar, dass es gleich losgeht?“, keuchte er und wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Ich weiß, Papa, ist ja nicht das erste Mal, dass du mich daran erinnerst“, antwortete ich. Endlich hatten wir Sommerferien. Mein Zeugnis war so lala ausgefallen, aber sechs Wochen ausschlafen, keine Hausaufgaben und vorerst keine Vokabeln lernen, konnte ich echt gut gebrauchen. Vielleicht auch nur fünfeinhalb, je nachdem, wann Papa das baldige Ende der Ferien be-merkte und dann behauptete, ich müsste mich auf das neue Schuljahr vorbereiten. Mama wuchtete einen voll gepackten Koffer nach dem an-deren in den Hausflur. „Stell’ deine Schultasche am besten in den Schrank. In der Küche steht dein Mittagessen, wir müssen uns beeilen! Deine Schwester ist noch bei Anne, um sich zu verab-schieden. Sobald sie zurück ist, starten wir!“, rief sie mir zu. Mama hat immer Angst, die Fähre zur Insel zu verpas-sen. Mit langen Beinen stieg ich über die Hindernisse, die sie aufgebaut hatte und ich fragte mich, wie Papa die je-mals alle im Auto verstauen wollte. Meikes Freundin wohnt bei uns in der Nachbarschaft. Schon seit einer Woche waren sie jeden Tag zusammen, nur weil sie sich jetzt in den Ferien ein paar Wochen lang nicht sehen können. Eigentlich mag ich Meike sehr, aber wenn sie ohne Anne auskommen muss, hängt sie mir

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derart auf der Pelle, dass ich Angst habe, sie verfolgt mich sogar bis aufs Klo. „So, die Arbeit ist erledigt!“ Papa rieb sich die Hände. „Ich bin zufrieden mit mir. So viele Koffer kann man in ei-nem kleinen Auto normalerweise nicht unterbringen!“ Mit stolz geschwellter Brust schaute er zu Mama und zeig-te auf den bis oben hin gefüllten Laderaum. „Aber was ist mit der Lebensmittelkiste in der Küche?“, lä-chelte sie, „du hast doch selbst gesagt, du willst nicht so-fort auf Ameland im Supermarkt einkaufen müssen.“

Papas Gesicht verfinsterte sich. Fassungslos starrte er Mama an. Ich dachte schon, jetzt würden sie mit ihrem üb-lichen Streit anfangen, wie viel man mitnehmen darf und so. Aber Papa begann zu meiner Überraschung völlig klaglos damit, von neuem zu packen. Als er alles wieder verstaut hatte, tauchte Meike auf, wie immer, erst wenn es nichts mehr zu tun gibt. „Na Paps, bist du soweit?“, fragte sie, setzte sich ins Auto und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ihr schafft es einfach nie, pünktlich fertig zu sein!“ Dieser Satz brachte Mama aus der Fassung. „Meike Sommer!“, rief sie, in einem Ton, der signalisierte, dass es ernst wurde, „Du steigst sofort wieder aus und holst deine Kuscheltiere und Bücher von oben. Darum kann ich mich nicht auch noch kümmern.“

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„Die hättest du doch längst einpacken können, ich sitze schon im Auto!“, rief Meike. „Hallo Meike“, dachte ich, „merkst du noch was?“ Jetzt mischte sich Papa ein. „Meine liebe Tochter“, begann er freundlich, aber be-stimmt, „wir haben die ganze Zeit gepackt. Es wird Zeit, dass du als Neunjährige auch mal was tust, und zwar au-genblicklich!“ Beim letzten Wort wurde seine Stimme lauter. Meike brummelte etwas, was ich nicht verstand, stieg aber ohne weiteren Protest wieder aus, lief nach oben in ihr Zimmer und holte ihre Sachen selbst. Endlich waren wir reisefertig. Mama schloss die Haustüre ab, setzte sich hinters Lenk-rad und startete den Motor. „Alles klar bei euch? Also Haus, mach’s gut, wir sehen uns in drei Wochen wieder!“, rief sie. Nur Papa musste noch seine unvermeidlichen Fragen stellen. „Haben wir das Fährenticket?“ „Ja, Schatz.“ „Ist das Geld im Auto?“ „Ja, Schatz.“ Hast du an das Geschenk für unsere Vermieter gedacht?“ „Mein Gott, ja!“ Erst jetzt lehnte er sich entspannt in seinen Sitz zurück und begann, in der Zeitung zu blättern.

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Die Anreise

Ich schaute aus dem Fenster. Je länger wir fuhren, desto holländischer kam mir alles vor. Wir überquerten immer wieder Brücken, kamen an Windmühlen vorbei, fuhren an Kanälen entlang oder durch Städte, in denen es nur so von Radfahrern wimmelte. Die Zeit verging wie im Flug. Irgendwann fragte Meike: „Gehen wir eigentlich an den Strand, wenn wir da sind?“ Papa stimmte sofort zu. „Das ist eine gute Idee, am besten nehmen wir gleich die Badesachen mit!“ Papa und das Meer, das ist wirklich eine ganz besondere Beziehung. Es grenzt schon an ein Wunder, wenn er im Laufe der Ferien wenigstens einmal schwimmen geht. Erst kann er es kaum erwarten, aber dann traut er sich höchs-tens mit einer Fußspitze ins Wasser und behauptet, es sei viel zu kalt zum Schwimmen. Aber jetzt war er wieder total begeistert. „Ihr glaubt gar nicht, wie ich mich darauf freue, wieder in die Nordsee zu springen!“, meinte er mit leuchtenden Au-gen. „Ist ja gut, Martin!“, riefen wir im Chor und grinsten ihn an. Für einen Augenblick schien er sich zu ärgern, aber dann zuckte er nur mit den Schultern. „Mein Gott, man hat’s nicht leicht, wenn man mit drei Frauen verreist.“ Danach wurde es still im Auto. Papa las seine Zeitung, Meike hörte Musik vom MP3-Player, Mama fuhr und schaute dabei ab und zu in den Rückspiegel, als ob sie sich vergewissern wollte, dass wir noch da waren. Ich hatte mir noch mal Astrid Lindgrens Ferien auf Saltkro-kan zum Lesen herausgesucht. Papa meint, das Buch

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habe viel mit uns zu tun, denn die Familie verbringe ihre Ferien schließlich auch regelmäßig auf einer Insel. Die Melchersons fuhren gerade mit dem Schiff nach Saltkrokan. Ich dachte an unsere Fähre, mit der wir nach Ameland übersetzen würden. Lange konnte die Autofahrt bis zum Hafen in Holwerd nicht mehr dauern. Und tatsächlich. Plötzlich rief Mama begeistert: „Achtung, wer als erster das Meer entdeckt, bekommt von mir einen Euro!“ Das spielen wir immer kurz vor der Küste, denn das letzte Stück fährt man am Deich entlang. Man kann die Nordsee zwar noch nicht sehen, aber sie schon riechen. Mein Herz begann zu klopfen, ich freute mich riesig und stellte mir vor, wie der raue Wind meine Haare zerzaust. Nach einer Linkskurve durchbrach die Straße plötzlich den Deich und lief schnurgerade auf den im Watt liegenden Hafen zu. Jetzt kam der Moment, den ersten Blick auf die Nordsee zu erwischen. „Das Meer, ich sehe es, ich sehe es!“

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Meike hatte sich hinten auf dem Rücksitz ganz lang ge-macht, um die erste sein zu können. „Ich bekomme den Euro!“ „Quatsch, ich war schneller!“, rief Papa, „mindestens eine halbe Sekunde.“ Mama und ich erklärten Meike zur Gewinnerin. Es war Flut. Die weite, silberne Wasseroberfläche glitzerte so hell in der Sonne, dass ich meine Augen zukneifen musste. Mama öffnete ihr Seitenfenster. “Aaah, diese Luft! Kinder riecht diese Frische, das ist reine Natur!“ Begeistert sah sie uns an. Wir hatten es geschafft. Gleich würden wir unsere Freunde aus Berlin und Coesfeld tref-fen, mit denen wir seit Jahren die Ferien gemeinsam ver-brachten. Nach einem kurzen Stopp am Schalter der Fährgesell-schaft, wo wir unser Ticket zeigen mussten, fuhren wir auf den Parkplatz und reihten uns in die Autoschlange ein.

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Das Wiedersehen

Meike und ich hielten am Anleger nach der Fähre Aus-schau. Bei klarem Wetter entdeckten wir sie manchmal schon am Horizont, noch klein wie eine Nussschale. Aber jetzt sahen wir nichts und gingen sofort weiter zum Hafen-restaurant. Dort konnte man warten und durch riesige Fensterscheiben aufs Meer schauen. Als ich die schwere Glastür öffnete, sah ich auf den ersten Blick, dass Mama und Papa unsere Freunde schon getrof-fen hatten. In der hinteren Ecke des Restaurants herrschte großer Trubel. Unsere Eltern begrüßten gerade die Müns-termänner. Marlies, Rainer und ihre Kinder Paula, Lara und Oliver wohnen in Coesfeld, einer kleinen Stadt in der Nähe der holländischen Grenze. Paula ist dreizehn und meine beste Freundin. „Hi, Hanna!“ Sofort steuerte sie auf mich zu. „Ich muss dir unbedingt was erzählen!“ „Lass mich raten“, antwortete ich, „es geht um deine Cli-que.“ „Genau, Schlaumeierin, hab’ ich dir davon schon ge-schrieben? Ach ja. - Aber jetzt pass auf! Das Neueste ist: Eine aus meiner Clique, Tine, hat ein neues Piercing am Bauchnabel, das sieht so geil aus!“ „Echt jetzt? Lässt du dir auch eins machen?“ Paula verdrehte die Augen und deutete auf ihren Vater. „Er will nicht. Als ich gefragt habe, ist er fast ausgeflippt.“ „Das tut doch auch weh, ich hätte viel zu viel Angst.“ „Tine fand es gar nicht so schlimm. Nach zwei Tagen hat sie nichts mehr davon gemerkt“, entgegnete Paula. Wir sehen uns eigentlich nur in den Ferien, aber wir mai-len uns oft. Deshalb weiß ich auch einiges über ihre

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Clique. Tine und die anderen Mädchen sind fast alle ein oder zwei Jahre älter. Vielleicht zieht sich Paula auch des-halb ganz anders an als ich. Sie trägt zum Beispiel fast bei jedem Wetter bauchnabelfreie T-Shirts. „Und was ist mit mir?“ Am Tisch saß Paulas Schwester Lara und strahlte mich an. Sie ist zwölf, so wie ich. So stark wie sie ist kein ande-res Mädchen, das ich kenne. Wie immer war sie braunge-brannt. „Du weißt doch, dass du mir egal bist!“ Ich ging lachend auf sie zu und gab ihr einen Kuss auf die Backe. „Wie viele Hanteln hast du wieder gestemmt?“ „Keine Ahnung“, strahlte sie, „aber letzte Woche hab’ ich die 50-Meter-Strecke gewonnen.“ Sie ballte triumphierend ihre Faust. Lara ist Wettkampf-schwimmerin. Oliver war nirgends zu sehen. Wahrschein-lich unternahm er mal wieder eine seiner berühmten Ent-deckungstouren. ‚Olli’, wie Paula und Lara ihn nennen, sprüht vor Ideen. Er ist extrem neugierig mit seinen acht Jahren. Mama hält ihn für einen ziemlichen Chaoten, aber ich finde, er hat eigentlich super Einfälle, nur übertreibt er’s manchmal. „Wat leuk, jij bent ook weer hier!”, rief Rainer in seinem komischen Holländisch und klopfte mir mit seiner riesengroßen Pranke auf die Schultern. Er sieht aus wie ein großer Bär mit seinem dicken Bauch und den behaarten Armen. „Bist du denn jetzt endlich getauft?“, wollte er wissen. „Bis jetzt noch nicht“, antwortete ich etwas genervt, denn er stellt diese Frage oft.

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Rainer will Papa unbedingt davon überzeugen uns religiös zu erziehen. Auch Marlies begrüßte mich. „Wie geht es dir, Hannah?“ „Super! Ich freu’ mich total auf die Ferien“, antwortete ich lachend. Erst jetzt sah ich die Franzens. Pit und Hanjo beschäftig-ten sich mit einer leeren Coladose, die sie sich gegenseitig zuwarfen. „Ihr seid mal wieder die letzten!“, nörgelte der dünne Pit. „Ich sitze mir hier schon seit einer Stunde den Hintern platt. Geht ihr gleich mit nach draußen?“ Er ist so alt wie ich und begeisterter Fußballfan. „Ich habe voll viel trainiert zu Hause, wetten, dass ich es dieses Jahr schaffe, den Ball dreißig Mal auf dem Fuß zu jonglieren?“ „Lass gut sein, Ronaldo“, grinste Hanjo, „das wird sowieso nichts.“ Dabei blinzelte er wie immer durch seine kleine Brille. „Wie war die Reise, Professor?“, fragte ich. Er verdrehte die Augen. „Jetzt geht das schon wieder los!“ Damit ärgere ich ihn gerne. Er geht in die achte Klasse und ist ein bisschen dick. Er hasst es, Professor genannt zu werden. Seiner Meinung nach redet ein Professor nur über Sachen, die kein Mensch versteht. Seine Mutter Hei-ke lächelte: „Das Necken scheint ja schon wieder Spaß zu machen. Ich hoffe, es bleibt auch dabei und wird nicht wieder zu einem Krach zwischen euch.“ „Keine Angst Heike, diesmal kriegen wir das schon hin!“, antwortete ich. Gleichzeitig dachte ich: „So sicher bin ich mir da gar nicht!“ „Könnt ihr euch übrigens noch an das Deichwettrutschen erinnern? Für dieses Jahr habe ich schon eine neue Idee, wenn das Wetter schlecht ist“, meinte sie. „Und was für eine?“ Neugierig sah ich Heike an.

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„Das wird noch nicht verraten, sonst ist es ja keine Über-raschung mehr!“ Letztes Jahr, nach drei Tagen Dauerregen, war unsere Laune ziemlich im Keller. Da schlug sie vor, wir sollten un-sere Regenhosen anziehen und vom Deich rutschen. Es war so glatt wie auf einer Rodelbahn. Solche Ideen hat nur Heike. Als ich an ihr herunter schaute, bekam ich große Augen. „Ist was mit mir?“, fragte sie verwundert. „Klar ist was mit dir, Mama“, rief Katja, „ihr fallen deine neuen, eleganten Schuhe auf!“ Sie trug trotz des schönen Wetters knallgelbe, große Gummistiefel, die bei jedem Schritt auf dem Fliesenboden des Restaurants quietschten. Ich musste lachen. Wahr-scheinlich hatte sie die Dinger von einem Flohmarkt. Sie geht da öfter einkaufen. Die Sachen passen ihr zwar nicht immer hundertprozentig, aber sie sind echt cool. Auch Kat-ja grinste. Sie ist schon vierzehn und bestimmt einen Me-ter fünfundsiebzig groß. Wahrscheinlich hat sie das von ihrem Vater Uli. Ich glaube, der kann durch keine Tür ge-hen, ohne sich zu bücken. „Guckt mal, die Fähre kommt!“, rief Olli, der wieder aufge-taucht war. „Endlich!“ Pit sprang auf und rannte nach draußen zum Anleger. Wir liefen hinterher. Überall auf dem großen, weißen Schiff standen Menschen. „Die Armen“, sagte er, die müssen bestimmt schon bald wieder arbeiten oder in die Schule.“ „Hör bloß auf mit der Schule!“, meinte Paula naserümp-fend, „die steht mir bis hier! Unser Klassenlehrer hat uns bis zum Schluss noch mit Vokabeln und Tests genervt.“ „Unserer war auch nicht besser!“ Hanjo nickte verständnisvoll. „Wisst ihr was? Ich habe eine Idee. Morgen, oder so, fah-ren wir nach Buren. Da gibt’s ein kleines Museum. Ich

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wollte letztes Jahr schon mit Papa hin, aber da haben wir es nicht mehr geschafft.“ „Was soll denn das?“ Pit verdrehte die Augen. „Davon hast du im Auto aber nichts erzählt. In den Ferien in ein Museum? Ist doch ätzend!“ „Weißt du doch gar nicht, ich hab’ gelesen, das soll ganz interessant sein. Da gibt’s nämlich was über eine Strand-räuberin, die so was Ähnliches wie eine Hexe gewesen sein soll.“ Meine Schwester war sofort begeistert. „Tolle Idee, die will ich auch sehen!“, rief sie mit strahlen-den Augen. Plötzlich standen unsere Eltern hinter uns. „Los, ab mit euch in die Autos, wir müssen gleich auf die Fähre!“, rief Heike. Kurze Zeit später waren wir an Bord. Vom Bug aus beo-bachteten wir die Abfahrt. Am Ufer wurden die schweren Taue gelöst. Die großen Maschinen ließen das Schiff er-zittern und bewegten es ganz langsam rückwärts. Ich schaute in das brodelnde Wasser. Nachdem sich das Schiff weit genug vom Anleger entfernt hatte, stoppte es, drehte die Nase in Richtung Ameland und begann Fahrt aufzunehmen. Mit Lara und Katja lief ich kreuz und quer über das Schiff. „Wie viele Menschen wohl auf so einer Fähre mitfahren können?“, überlegte Katja. „Hm, darüber habe ich mir noch nie Gedanken gemacht. Aber vielleicht können wir’s herausbekommen“, sagte ich. „Super Idee“, meinte Lara, „wir gehen über das Sonnen-deck nach oben und fragen einfach auf der Brücke den Kapitän.“ „Quatsch, das geht nicht, der ist doch beschäftigt.“ Katja runzelte die Stirn, ließ sich aber trotzdem überreden. Wir drängten uns über die voll besetzten Decks langsam nach oben.

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„Und, wie sollen wir jetzt weiterkommen?“, fragte sie nach der Hälfte des Weges, „die Kapitänsbrücke ist ja noch hö-her.“ Wir blieben stehen und schauten uns um, ob irgendwo ei-ne Treppe vom Sonnendeck aus weiter hinauf führte. Da-bei fielen mir zwei Männer auf, die irgendwie anders aus-sahen als die meisten hier.

„Guck mal!“, flüsterte ich Katja zu, der hat eine echt komi-sche Frisur.“

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„Wieso?“ „Auf dem Kopf ganz kurz und hinten im Nacken fallen ihm die Haare fast bis auf die Schultern.“ „Stimmt, der sieht nicht besonders nett aus. Und diese große Narbe auf der Backe, echt unheimlich.“ Er war muskulös und groß, seine Arme, die er vor der Brust verschränkte, erschienen mir so dick wie Papas Bei-ne. „Wisst ihr, woran mich der andere erinnert?“, fragte Lara. „Keine Ahnung.“ „An eine Kugel auf zwei Beinen, der ist ja nur klein, dick und rund“, kicherte sie. Der kleine Dicke trug eine schwar-ze Sonnenbrille, einen hellen Anzug und einen großen Hut und redete andauernd auf den Großen ein. Bei jedem Wort wippte und zitterte der buschige schwarze Schnauz-bart, der ihm unter der Nase wuchs. „Der sieht aus wie ein Walross“, staunte Katja. „Was sind denn das für Typen? Los, mal hören, worüber die sich unterhalten!“ Sofort steuerte Lara auf die beiden Männer zu. Den Be-such auf der Kapitänsbrücke hatte sie vergessen. Wir gin-gen hinter ihr her und stellten uns unauffällig zu den Män-nern an die Reling. Der Dicke redete immer noch wild ges-tikulierend auf den anderen ein. „Was glaubst du eigentlich, warum wir hier sind? Du kannst doch auf dieser Scheißinsel keinen Urlaub ma-chen. Wir müssen diese Figur wieder auftreiben. Und wenn du nicht spurst, mein Lieber, werde ich auf der Stelle zum Handy greifen und unserem Auftraggeber sagen, dass du aussteigst!“ Seine Stimme überschlug sich fast. „Mir reicht es wirklich. Ich will endlich die Kohle sehen! Noch einmal lass’ ich mich nicht so abspeisen – und wenn wir die ganze Insel umgraben müssen, um das verfluchte Ding wiederzufin-den.“

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Der mit dem langen Nackenhaar nickte und antwortete mit tiefer Stimme: „Ja, ja, Walter, ist gut. Du hast recht. Wir machen es so wie du sagst. Aber jetzt lass uns noch schnell einen dieser Marzipankuchen kaufen, dafür könnte ich sterben!“ „Vielleicht eher als dir lieb ist“, grummelte der Dicke dro-hend. Dann gingen sie unter Deck zur Schiffscafeteria. „Was war denn das? Die zwei haben doch irgendwas Merkwürdiges vor!“ Lara wollte sofort hinter ihnen her. „Stopp!“, sagte ich, „das geht nicht. Die merken es, wenn wir sie schon wieder belauschen!“ „Du hast Recht“, Katja nickte, „ich glaube, es ist besser, wir erzählen erst mal den anderen davon.“ Wir wollten sie gerade suchen, da hörten wir auf Hollän-disch eine Durchsage: „Wir werden in wenigen Minuten Ameland erreichen, bitte begeben Sie sich in ihre Kraft-fahrzeuge!“ Mama und Papa kamen uns, zusammen mit den Franzens und Münstermännern, entgegen. „Wir haben euch gesucht. Ihr könnt doch nicht einfach verschwinden!“ Mama machte sich manchmal zu viele Sorgen. Schließlich konnte man auf dem Schiff nicht weglaufen und außerdem fuhren wir ja nicht das erste Mal nach Ameland. Wir gin-gen zu unseren Autos. „Am besten treffen wir uns nachher am Strand!“, rief Kat-ja. Ich nickte und stieg ein. Meike saß schon auf ihrem Platz. „Wo seid ihr gewesen?“, fragte sie neugierig. „Das erzähle ich dir später“, antwortete ich und sah sie dabei durchdringend an, damit sie mich jetzt nicht mit Fra-gen löcherte. Mama und Papa sollten von unserer Beo-bachtung nämlich nichts mitbekommen. Zu meinem Er-staunen verstand sie mich und schwieg.

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Vorne öffnete sich die Bugklappe der Fähre, die Autos wurden gestartet, jeden Augenblick konnte es losgehen. Endlich kamen wir an die Reihe. Wie immer fuhren wir nach Hollum, dem größten Ort auf Ameland, im Westen der Insel. Schon die Fahrt auf der kleinen Inselstraße war unser erstes Urlaubserlebnis. Wir freuten uns auf unseren ‚Huckel’ kurz vor Ballum, eine kleine Erhöhung auf der Straße. Meist saß Papa dieses letzte Stück am Steuer. „Achtung, jetzt!“ Er beschleunigte, damit wir das Gefühl hatten, mit dem Auto etwas zu fliegen. „Hüüüüüüüüpp!“, riefen wir im Chor, ‚hoben’ ab und hatten die Erhöhung einen Augenblick später hinter uns. Dann folgte seine Standardfrage: „Seht ihr eigentlich schon den Leuchtturm?“ „Da vorne, auf der linken Seite!“, rief Meike. Sie hatte wie immer den Leuchtturmsuchwettbewerb gewonnen und damit das erste Eis der Sommerferien. Schließlich erreich-ten wir die Ortseinfahrt von Hollum und kamen an dem Backfischgeschäft vorbei. Sofort stieg mir der würzige Ge-ruch in die Nase. Das Rettungsbootmuseum auf der ande-ren Seite lag still im Sonnenlicht. Wir fuhren um den Orts-kern herum zu unserem Ferienhaus. An der alten Kirche stellten wir unser Auto ab und gingen zum Haus unserer Vermieter.

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Einzug im Ferienhaus

Wim und Henny de Jong, ein freundliches, älteres Ehe-paar, wohnen seit ihrer Geburt auf Ameland und verlassen die Insel nur ganz selten. Sie kamen uns schon entgegen. „Goeden Dag, da seid ihr ja endlich!“, begrüßte uns Wim. „Ich habe schon gedacht, ihr wollt dieses Jahr nichts mit uns zu tun haben.“ Er drückte meine Hand, als wollte er sie zerquetschen und zog mich an seinen großen dicken Bauch, den er unter ei-nem weiten Strickpullover zu verstecken versuchte. Henny umarmte Mama und Papa und strich Meike mit ih-rer Hand über den Kopf. „Dann kommt mal rein!“, lud sie uns ein und wir betraten das Häuschen, dessen Eingangstür so niedrig ist, dass Papa aufpassen musste, sich nicht den Kopf zu stoßen. „Es ist schön wieder bei euch zu sein“, sagte Mama. Sie saß auf dem kleinen, braunen Sofa und streckte sich be-haglich aus. Der Duft von holländischem Kaffee lag in der Luft. Wegen der kleinen Fenster kam nicht viel Licht in die Küche. Wahrscheinlich wirkte es hier deshalb auch nicht ganz so sauber wie bei uns, aber Meike und ich fanden es echt gemütlich. Henny servierte den Kaffee in kleinen Tassen mit blauen Windmühlen. „Was wollt ihr Kinderen denn trinken?“, fragte Wim. „Am liebsten Cassis“, meinte Meike, „bei euch schmeckt er am besten.“ Wir lieben diese Limonade mit Johannisbeergeschmack. „Wie war eure Reise?“, erkundigte sich Wim, während er eingoss. Papa und Mama begannen zu erzählen und so-fort vertieften sich die Erwachsenen in ein Gespräch.

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„Komm, wir gehen nach hinten und gucken uns unser Zimmer an. Außerdem will ich unbedingt wissen, wie es ‚Gelbes P’ geht!“, sagte Meike. Wim hatte den ehemaligen Kuhstall zu einer Ferienwohnung umgebaut, die er im Sommer vermietete. Wir wohnten direkt unter dem Dach und kletterten über eine steile Treppe nach oben. Es sah aus wie immer. Im Gegensatz zur Küche blitzte hier alles strahlend sauber. Henny hatte ‚schoon gemaakt’, sauber gemacht, wie sie immer sagte. Wir ließen uns auf die Bet-ten fallen, die bei jeder Bewegung quietschten. Es roch frisch nach Lavendel, und durch die Dachfenster schien die Sonne. Wir wippten auf unseren Betten wie auf einem Trampolin, sprangen mit einem Satz wieder hinaus und liefen nach unten zur Schafswiese. Wenn man am Zaun stand, konnte man bis zum Deich sehen, der die Insel zur Wattseite vor dem Meer schützte. „Gelbes P, komm her! Ich hab’ was Leckeres für dich. Komm mein kleines, dummes Schaf!“ Meike lockte unser Lieblingsschaf mit einem großen, roten Apfel an. Wir hatten es im letzten Jahr so getauft, weil es am Hals eine gelbe Plakette mit einem ‚P’ trug.

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Inzwischen hatte Mama das Auto auf den Hof gefahren und wir mussten auspacken helfen. „So, jetzt fahren wir zuerst mal an den Strand, außerdem habe ich Hunger auf etwas Herzhaftes und das muss nach Lage der Dinge Pommes mit Majo und eine ‚Frikandel spezial’ mit besonders viel Majonaise, Ketchup und Zwie-beln sein“, meinte Papa nach getaner Arbeit und leckte sich erwartungsvoll die Lippen. Wir hatten nichts dagegen, auch wenn Mama die Nase rümpfte, weil sie diese Art der Ernährung unmöglich fand. „Aber du hast auch versprochen, mit uns Schwimmen zu gehen, Papa. Heute ist es ziemlich windig, wir haben be-stimmt super Wellen am Strand. Also nimm deine Bade-sachen mit!“ Ich wollte ihn zumindest an sein Versprechen erinnern. „Selbstverständlich, meine Große, was man versprochen hat, sollte man ja möglichst halten“, antwortete er. Aber an dem Wort möglichst und seinem Gesicht merkte ich, dass er schon wieder nach Ausreden suchte. Wir fuhren mit un-seren Fahrrädern zum Strand. „Ob Franzens auch schon da sind?“, wollte Meike wissen. „Keine Ahnung“, antwortete ich, „aber mit Katja habe ich ausgemacht, dass wir uns so schnell wie möglich treffen. Wir müssen besprechen, was wir mit den beiden komi-schen Typen von der Fähre machen.“ Ich hatte ihr beim Füttern des Schafes von den Männern erzählt. „Vielleicht können wir sie verfolgen, schließlich sind wir acht Kinder“, meinte Meike. „Abwarten, wir wissen ja gar nicht, ob wir die beiden noch einmal treffen“, antwortete ich. Wir kamen am Leuchtturm vorbei, von dort konnten wir schon den Aufgang zum Strand sehen und den tiefer liegenden Parkplatz. Mit Schwung rasten wir hinunter und versuchten, auf der an-deren Seite, ohne abzusteigen, wieder hochzufahren. Ich schaffte den halben Weg hinauf, Meike und Mama

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mussten noch eher abspringen und ihr Rad schieben. A-ber Papa sauste an uns vorbei, gelangte wie immer als einziger fahrend bis oben und rief uns entgegen: „Achtung, Achtung, ich melde pflichtgemäß: Die Nordsee ist immer noch da, wo sie hingehört!“ Die Wellen waren zwar nicht so hoch, wie wir gehofft hat-ten, aber dafür sahen wir die Sonne langsam am Horizont versinken. Sie stand schon ziemlich tief und tauchte die ganze Meeresoberfläche in ein orangegelbes Licht. „Es ist immer wieder beeindruckend“, meinte Mama und hakte sich bei Papa unter. Meike und ich hatten keine Zeit für romantische Betrachtungen. Wir rannten zum Wasser. Ich wollte unbedingt feststellen, ob es immer noch salzig schmeckte. Ich tauchte meinen Finger ins Meer, leckte ihn ab und spürte sofort den typischen Salzgeschmack auf meiner Zunge. Dann kam Meike. „Na, “ meinte sie außer Atem, „alles klar?“ Zur Antwort holte ich mit dem Fuß aus und spritzte sie nass. Das war der Auftakt zu einer kleinen Wasser-schlacht. „Hey, jetzt wird’s aber Zeit für die Badeanzüge!“ Mama und Papa standen hinter uns und sahen lachend zu. Nur Papa machte keine Anstalten seine Badehose an-zuziehen. „Was ist los, Martin? Du freust dich doch so sehr auf ‚dei-ne’ Nordsee!“ Mama hatte so ein ‚Na-siehste-Gesicht’. Ein bisschen Tri-umph in ihrer Stimme war unüberhörbar. „Los, Papa! Das stimmt, du hast es versprochen!“, riefen Meike und ich wie aus einem Mund. Vorsichtig näherte er sich dem Wasser. Es sah wieder nicht danach aus, als wollte er sein Versprechen einlösen. „Also, ehrlich gesagt, es ist jetzt doch schon ein bisschen spät zum Schwimmen. Außerdem scheint mir das Wasser kälter zu sein als im letzten Jahr.“

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„Das stimmt doch gar nicht!“, antwortete ich. „Es ist ziemlich warm und das Wasser ist so wie immer!“ „Nein!“, sagte Papa jetzt mit fester Stimme und drehte ‚seiner’ Nordsee den Rücken zu, „Ich warte noch mit dem Schwimmen, vielleicht versuche ich es morgen.“ Das wollten Meike und ich auf keinen Fall. Mit viel Ge-schrei stürzten wir uns ins Wasser. Wir ließen uns treiben, tauchten durch die heranbrandenden Wellen hindurch oder warfen uns ihnen entgegen. Nach einer Weile froren wir, außerdem knurrte mein Magen. Während wir uns ab-trockneten, kamen auch die anderen. Katja flüsterte mir zu: „Wir treffen uns nach dem Baden an unserem Ge-heimversteck in den Dünen, du weißt schon!“ Ich nickte. Dann rannte sie ins Wasser. „Wenn ihr Hunger habt, könnt ihr einen Apfel essen“, meinte Mama, die in ihrer Tasche immer Proviant dabei hat. „Aber wir wollten doch oben im Strandcafe Pommes es-sen“, entgegnete Meike enttäuscht. Papa beruhigte sie. „Keine Angst, ich habe für alle einen Tisch reserviert. Schließlich wollen wir Männer unseren Ferien-Eröffnungs-Eierlikör trinken.“ Mama, Marlies und Heike machten sich in jedem Jahr dar-über lustig und spotteten, sie hätten gar nicht gewusst, al-te Eierlikörtanten geheiratet zu haben. Aber unsere Väter ließen sich das nicht ausreden. Als die anderen vom Schwimmen zurückkamen, warfen sich Olli und Pit pudelnass in den Sand und rollten sich einmal herum. Jetzt sahen sie aus wie riesige panierte Schnitzel. „Oh nein, so könnt ihr euch doch gar nicht abtrocknen!“ Marlies war nicht begeistert, aber Pit und Olli rubbelten sich den Sand mit den Handtüchern einfach wieder ab. „Wir wollen noch kurz in die Dünen, bevor wir ins Strand-cafe gehen, wir nehmen unsere Sachen mit und kommen dann nach!“

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Katja hatte wie immer die Aufgabe, die Erwachsenen zu informieren, wenn wir Kinder etwas Überraschendes vor-hatten. Wir rollten unsere nassen Badesachen und Hand-tücher zusammen und rannten zu unserem ‚Geheimver-steck’, einer kleinen, nicht einsehbaren Mulde, direkt hinter der Spitze der größten Düne. Olli hatte sie im letzten Jahr auf einem seiner Streifzüge entdeckt. Die Jungen hatten zu der Zeit ihren ‚Maar-tick’und erklärten die Mulde zu ihrer ‚Kapelle’. Maar war ein altes Wurzelholzstück. Das Meer hatte es wahrschein-lich irgendwo an einem Waldufer entführt und auf Ameland wieder an den Strand gespült. Hanjo hatte es gefunden und zu seinem ‚Gott’ erklärt. Vor jedem Fußballballspiel gegen uns Mädchen flehten die Jungen im Versteck Maar um Unterstützung an, und komischerweise gewannen sie dann auch. Erst als ihre Glückssträhne riss, flaute ihre Be-geisterung für Maar wieder ab. Pit lieh sich schließlich Kat-jas Taschenmesser und schnitzte ein kleines Boot daraus. Katja informierte alle über die beiden Männer von der Fäh-re. Dann senkte sie ihre Stimme: „Und stellt euch vor: Pit und ich haben sie schon wieder getroffen. Sie wohnen in einer Pension direkt neben dem Bäcker. Zuerst habe ich es gar nicht bemerkt, aber plötzlich stand der kleine Dicke, der aussieht wie ein Walross, neben mir und kaufte sich vier Stücke Kuchen. Ich bin unauffällig hinter ihm her und sah ihn in die Pension Wijman gehen. Ich finde, wir sollten herausfinden, was die beiden vorhaben. Am Besten ist es, wenn wir sie abwechselnd beschatten.“ „Wie stellst du dir das vor? Was ist, wenn sie mit einem Auto fahren? Wir können ihnen doch nicht mit den Rädern hinterher jagen. Die sind zu schnell für uns, vielleicht fah-ren sie ja nach Buren, an das andere Ende der Insel!“ Paula winkte ab. „Stimmt“, gab Katja zu, „aber es gibt sicher einen Grund, warum sie sich ausgerechnet in Hollum und nicht in Buren ein Zimmer genommen haben.“

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„Lasst uns doch erst mal anfangen mit der Beschattung, wenn sie wirklich ein Auto benutzen, können wir immer noch überlegen, was wir machen!“, schlug ich vor. Die an-deren nickten zustimmend. Nur Olli hatte einen seiner ty-pischen Einfälle. „Wir mieten einen Hubschrauber, dann können wir sie von oben beobachten und überall hin verfolgen.“ „Halt die Klappe, Olli!“, meinte Lara, der die Ideen ihres kleinen Bruders manchmal auf die Nerven gingen, „Ich schlage vor, dass zwei von uns heute Abend zur Pension gehen und feststellen, ob die Typen noch da sind. Falls sie irgendwo hingehen, werden sie verfolgt!“ Laras Idee fanden wir gut. Hanjo und Katja wollten die ers-te Wache übernehmen. Zumindest so lange ihre Eltern nichts bemerkten. Morgen würden wir dann weiter sehen, denn natürlich konnten wir sie nicht die ganze Nacht beo-bachten. Wir liefen zum Strandcafe.

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Unsere Eltern warteten schon auf uns. „Wo seid ihr gewesen?“, rief Rainer uns entgegen, „wir wollten doch zusammen essen. Jetzt wird es aber Zeit, sonst ist alles kalt. Eet smakelijk!“ Zu jeder passenden und unpassenden Gelegenheit gab er mit seinen Niederländischkenntnissen an. Wir ließen uns das aber nicht zweimal sagen, denn inzwi-schen hatten wir einen ziemlichen Kohldampf. Zum Schluss gab es für jeden ein Eis und die drei Väter löffel-ten genüsslich ihren Eierlikör mit Sahne, auf den sich Pa-pa schon die ganze Zeit gefreut hatte. „Ich kann nicht mehr“, stöhnte Paula und hielt sich mit bei-den Händen ihren Bauch. „Und ich bin total fertig“, antwortete ich, „mir reicht’s für heute. Ich freu’ mich auf mein Bett.“ „Aber morgen früh müssen wir uns sofort treffen“, flüsterte Katja. Die Mütter bezahlten und wir verließen das Strandcafe.

Weil die Franzens und die Münstermänner fast in der Dorf-mitte wohnten und wir an der Wattseite, trennten sich un-sere Wege. Das letzte Stück fuhren wir allein. Zu Hause gingen Meike und ich sofort schlafen. „Was meinst du, ob Katja und Hanjo die beiden Männer sehen?“, fragte sie. Ich gähnte. „Keine Ahnung, morgen wissen wir mehr, „jetzt bin ich je-denfalls zu müde, um noch darüber nachzudenken.“ Ob Meike noch geantwortet hat, weiß ich nicht mehr, denn mir fielen sofort die Augen zu.

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Die Begegnung am Geheimversteck

Am nächsten Morgen hatten wir es ziemlich eilig zu Fran-zens zu kommen. Papa und Mama saßen schon beim Frühstück. „Ich soll euch von Katja ausrichten, dass ihr euch um 10.00 Uhr treffen wollt“, sagte Papa. Er hatte sie beim Brötchenholen getroffen. „Es schien wohl ziemlich wichtig zu sein. Habt ihr irgend-was Bestimmtes vor?“ „Ähm nein. Ja. Wir..., wir wollen zusammen an den Strand und Muscheln suchen, zum Kettenbasteln.“ Die Ausrede gefiel mir, sie klang ganz gut. „Wie kommst du denn darauf?“, meinte Meike und schaute mich verwundert an. Ich trat gegen ihr Bein. „Ach stimmt ja, das hätte ich fast vergessen!“, sagte sie schnell. Mama zog leicht ihre Augenbrauen hoch. „Na ja, dann nehmt doch die Tragetasche mit, darin könnt ihr eure Muscheln sammeln.“ Sie hat immer praktische Ideen, auch wenn wir die Tasche jetzt eigentlich gar nicht gebrauchen konnten. „Ihr seid aber gegen halb eins zurück!“ Mit einem „Klar Paps!“ sausten wir nach draußen. Die anderen saßen schon bei Franzens, bis auf Lara und Paula, die seit einer Stunde vor der Pension Wache hiel-ten. „Und, was ist passiert gestern Abend?“, fragten Meike und ich wie aus einem Mund. „Wir sind noch bis kurz vor Mitternacht vor der Pension geblieben“, antwortete Hanjo. „Nach dem Schwimmen haben Katja und ich so getan, als wären wir total kaputt. Dann sind wir ins Bett und kurze Zeit später durch unser Zimmerfenster abgehauen. Ich

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glaube, wir waren gerade fünf Minuten da, als Walross, der kleine Dicke mit dem Schnauzbart, und der Große mit der Nackenlocke mit Fahrrädern in die Dünen fahren woll-ten.“ „Woher wusstet ihr, dass sie da hin fahren wollten?“, staunte ich. „Ich konnte hören, wie der Dicke jemanden nach dem Weg fragte. Wir sind dann hinterher.“ „Die suchen eine Galionsfigur von einem Schiff, das ir-gendwann mal am Strand von Ameland gekentert sein soll“, erklärte Katja. „Was ist denn eine Galionsfigur?“, wollte Olli wissen. „Eine Art Verzierung am Bug von Segelschiffen, mehr weiß ich auch nicht. Walross jedenfalls will die Figur un-bedingt wiederhaben, um endlich sein Geld kassieren zu können.“ „Wieso Geld, und was heißt wiederhaben?“, erkundigte ich mich. „Keine Ahnung“, antwortete Katja. „Und wieso ist diese Figur ausgerechnet hier in Hollum in den Dünen?“, fragte Meike. „Weiß ich auch nicht. Aber sie haben in der Nähe unseres Geheimverstecks fast alles umgegraben!“, raunte Hanjo aufgeregt. „Und, haben sie was gefunden?“ Olli rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. „Nein, Walross war deshalb auch stinkesauer und hat den Großen die ganze Zeit angemeckert. Wollt ihr wissen, was der dann gemacht hat?“ „Klar, jetzt erzähl schon!“, antwortete ich ungeduldig. „Er hat den Dicken gepackt, ihn in die Luft gestemmt und durchgeschüttelt wie eine Puppe.“ Wir waren echt beeindruckt. Leicht war die Kugel auf zwei Beinen bestimmt nicht. „Walross hat keinen Ton mehr gesagt und dann sind sie zurück zu ihrer Pension.“

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Hanjo schaute uns erwartungsvoll an. Olli sprang begeis-tert hoch. „Cool, jetzt suchen wir die Figur, kassieren eine fette Be-lohnung und können bis zum Ende der Ferien Pommes und ‚Frikandel spezial’ essen!“ Dazu machte er einen Handstand. „Jetzt stell dich mal wieder auf die Füße“, meinte Pit, der mit seinem Lieblingsspielzeug, dem Fußball jonglierte. „Aber du hast Recht. Die Idee ist gar nicht so schlecht.“ „Genau. Wir fahren jetzt zu unserem Geheimversteck und suchen sie. Vielleicht haben wir ja mehr Glück als die beiden Typen. Zwei von uns sollten sie aber beobachten, um rechtzeitig Bescheid zu sagen, falls sie wieder auftauchen“, schlug ich vor. „Okay, so machen wir’s“, nickte Hanjo. „Na, was habt ihr denn hier für eine geheime Beratung?“, fragte Heike, die in den Garten gekommen war. „Das willst du doch nicht wirklich wissen, Mama“, antwor-tete Hanjo, „schließlich hast du selbst gesagt, die Bera-tung ist geheim.“ „Wir haben gerade überlegt, zum Strand zu fahren, um dort Fußball zu spielen“, sagte Pit geistesgegenwärtig. Wir stimmten schnell zu, so dass es für Heike wohl ziemlich echt aussah. Jedenfalls fragte sie nicht weiter nach, son-dern hielt es für eine gute Idee. „Seid ihr gegen Mittag wieder zurück? Papa will nämlich kochen.“ „Na klar, Mama, Hauptsache es gibt Spaghetti!“, rief Pit noch, während wir schon losrannten, um Paula und Lara in unseren Plan einzuweihen.

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Sie hielten seit einer Stunde vor der Pension Wache, hat-ten aber bis jetzt nichts Auffälliges bemerkt. „Walross stand eben vor der Tür zum Telefonieren. Ich schätze, am anderen Ende war sein Boss, denn er sagte fast nichts außer ‚Ja, ja’ und dazu machte er ein ziemlich ernstes Gesicht. Im Augenblick sind sie drinnen“, berichte-te Paula. Sie und Lara waren einverstanden, die Typen weiter zu beobachten, während wir nach der Figur such-ten. „Sobald sie sich in Richtung Dünen bewegen, müsst ihr uns warnen!“, sagte Hanjo. „Selbstverständlich, Herr Professor!“, meinte Lara schnip-pisch, „darauf wären wir jetzt ohne dich sicher nicht ge-kommen.“ „Am Besten fangen wir oben an und arbeiten uns langsam nach unten. Wenn wir eine Kette bilden, dürfte uns eigent-lich nichts entgehen“, schlug Hanjo vor, als wir vor unse-rem Versteck in den Dünen standen. Ich glaube, wir haben fast jeden Zentimeter von oben bis unten durchwühlt und alles Mögliche gefunden. Einen Ba-deschuh, einen alten Ball, eine Brille mit einem Bügel, drei Dosen Sonnencreme – aber keine Galionsfigur. Meike und ich sammelten nebenbei einige Muscheln in unserer Ta-sche. Wir saßen gerade enttäuscht wieder vor unserem Treffpunkt, als Paula und Lara auftauchten. „Sie sind kurz hinter uns, Walross hat gesagt, sie wollen jetzt noch mal alles umgraben. Wir müssen verschwinden, sie werden jeden Augenblick hier sein!“, rief Lara aufge-regt. Wir sprangen auf und versteckten uns im Gebüsch, das einigermaßen Deckung bot. Nur wenige Augenblicke später sahen wir sie kommen. Walross schnaufte und schwitzte. Mit kleinen Schritten schob er seinen dicken Bauch die Düne hoch. Obwohl die Sonne schon heiß vom Himmel schien, trug er wieder seinen Anzug, die Brille und den großen Hut. Nackenlocke folgte ihm in kurzen Jeans, er hatte Sandalen an den Füßen und seinen großen

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Brustkorb in ein T-Shirt gezwängt, so dass wir neben sei-nen enormen Muskelbergen auch seine Tatoos gut sehen konnten. Auf dem linken Oberarm trug er ein großes Se-gelboot, auf dem rechten hatte er sich ein flammendes Schwert tätowieren lassen. In einer Hand hielt er eine Schaufel. Ich duckte mich flach auf den Boden. Beide standen direkt vor unserem Geheimversteck. Walross sah sich um und schien zu überlegen, wo sie mit ihrer Suche von gestern weitermachen sollten. „Pass mal auf, Lu!“, sagte er, „ich bleibe jetzt hier und zei-ge dir die Stellen, die wir noch nicht gründlich genug un-tersucht haben. Immer wenn ich’s dir sage, nimmst du die Schaufel und gräbst nach der Galionsfigur, klar?!“ „Moment mal, Walter, gestern Abend hast du gesagt, heu-te würdest du graben. Ich habe doch schon geschuftet wie ein Bagger.“ „Du weißt genau, dass ich mich nicht bücken darf. Mein Arzt hat mir jede Anstrengung verboten!“ Ich konnte deutlich Walross’ unverschämtes Grinsen se-hen. Ächzend setzte er sich in den Sand und forderte Na-ckenlocke auf, ein paar Meter weiter rechts mit der Arbeit anzufangen. Wir saßen fest. Meike, die direkt neben mir lag, wisperte mir zu: „Was sollen wir denn jetzt machen? Sobald wir uns bewegen, werden sie uns doch bemerken.“ „Keine Ahnung“, flüsterte ich zurück, „wir müssen eben abwarten.“ Noch während ich das sagte, hörte ich plötzlich Olli schreien: „Lass mich los! Wenn du mich nicht sofort los-lässt, werden meine Freunde dich fertig machen, außer-dem kommt mein Vater und sagt dir seine Meinung!“ Nackenlocke hatte Olli am Hosenbund gepackt. Er hielt ihn mit seinem rechten Arm hoch in die Luft, so dass es aussah, als wäre er bei seinen ersten Schwimmübungen.

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„Hey, Walter! Sieh mal, wen ich hier gefunden habe!“ Walross stand auf und ging auf Nackenlocke und den zap-pelnden Olli zu. „Na, Kleiner, bist du alleine oder hast du noch irgendwo Freunde? Was machst du hier eigentlich?“ „Das sage ich nicht, das geht euch gar nichts an, lass mich jetzt endlich los!“ Ollis Stimme wurde schriller und klang jetzt auch nicht mehr mutig, sondern bereits etwas weinerlich. Nackenlo-cke lachte laut und dröhnend. Plötzlich sah ich Pit hoch-springen und seinen Fußball, den er immer dabei hatte, mit aller Kraft auf Nackenlockes Rücken schießen. Das war wie ein Signal für uns. Laut schreiend sprangen wir auf und warfen mit Sand nach den beiden Kerlen. „Verdammte Bande, was soll das eigentlich, wo kommt ihr her?!“ Walross schnaubte überrascht und ziemlich ärgerlich, auch Nackenlocke schien auf unseren Überraschungsan-griff nicht gefasst zu sein. Er ließ Olli fallen und versuchte sich den Sand aus den Augen zu reiben. Sofort rappelte Olli sich wieder auf und zusammen rannten wir zu unseren Fahrrädern. So schnell wir konnten, rasten wir zurück nach Hollum. „Denen haben wir es aber gegeben, habt ihr gesehen, wie ich dem Großen meine Meinung gesagt habe?“, keuchte Olli, als wir ausgepumpt bei Franzens auf dem Rasen sa-ßen. „Mann, war ich gut, der weiß jetzt absolut, mit wem er es zu tun hat, mit Olli, dem Superman!“ „Ja, absolut. Jetzt halt endlich deine Klappe. Was wäre gewesen, wenn er dich nicht wieder los gelassen hätte? Dann könntest du nicht so große Töne spucken. Außer-dem solltest du dich ruhig mal bei Pit bedanken. Wenn er nicht die Idee mit dem Fußball gehabt hätte, würden die beiden dich wahrscheinlich jetzt noch ausquetschen!“

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„Hör auf zu meckern!“, sagte ich, „wir sollten lieber überle-gen, was wir machen. Olli werden sie jetzt auf jeden Fall wiedererkennen. Und außerdem wissen sie, dass wir sie belauscht haben. Also müssen wir ab heute vorsichtiger sein.“ „Hannah hat Recht“, schaltete sich Katja ein, „die beiden werden jetzt bestimmt genau darauf achten, ob sie jemand verfolgt. Wir müssen uns erst mal mit dieser Galionsfigur beschäftigen. Vielleicht wissen die in dem Museum mehr. Morgen fahren wir zusammen mit dem Rad nach Buren.“ „Gute Idee“, fand Paula, „Papa muss noch arbeiten. Aber Mama können wir bestimmt sofort dazu überreden.“ Rainer, Paulas Papa, war Musiklehrer und schrieb in den Ferien manchmal an Kompositionen für einen Chor. Wir beschlossen also, unseren Eltern Buren und das Mu-seum schmackhaft zu machen. Das Dorf lag am anderen Ende der Insel. „Na, Kinder, schon zurück vom Strand?“ Uli schlug Pit freundschaftlich auf den Rücken. Er zuckte zusammen. Aber als er seinen Vater erkannte, hatte er sich sofort wieder in der Gewalt. „Was ist denn mit dir los?“, meinte Uli, „du bist doch sonst nicht so schreckhaft!“ „Mann, Papa, ich dachte schon hinter mir steht der gefähr-lichste Verteidiger der Welt“, grinste Pit. Er dachte irgend-wie immer an Fußball. „Ich wollte euch zum Essen rufen!“, antwortete Uli. Für den Nachmittag verabredeten wir uns am Strand. Die Sonne schien und kein Windhauch wehte. Über Nackenlo-cke und Walross sprachen wir kaum. Die Idee, nach Buren zu fahren, fanden alle Eltern gut. Am nächsten Tag woll-ten wir uns mit Proviant, Badezeug und Fahrrädern vor Franzens Haus treffen.

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Der Besuch im Museum

Endlich trudelten auch die Letzten am Treffpunkt ein. Mar-lies hatte Rainer versprochen, erst spät zurück zu kom-men, damit er in Ruhe arbeiten konnte. Wir fuhren auf direktem Weg zu den Dünen, denn dort war das Radfahren einfach schöner, außerdem mussten wir uns bei Gegenwind nicht so anstrengen. Pit und Olli rasten los. Sie fahren bei gemeinsamen Ausflügen fast immer voraus. Irgendwann kommen sie wieder zurück, um zu sehen, wo wir anderen bleiben oder warten an einer ver-steckten Stelle, um dann plötzlich wieder hinter uns aufzu-tauchen. Papa sagt immer, die beiden sind wie Hunde. Die gehen bei Sparziergängen den Weg ihres Herrchens auch meist drei- bis viermal. „Super Wetter, heute“, meinte Hanjo, nachdem wir eine Weile unterwegs waren. „Gut, dass der Wind von hinten kommt, ich hätte keine Lust gehabt, die ganze Zeit voll in die Kette zu treten.“ Ich lachte: „Du bist echt faul. Aber sieh’ mal, wir sind gleich am Strandübergang von Ballum!“ „Mir wäre lieber, wir wären jetzt im Dorf, wegen der Pommesbude.“ Unserer Meinung nach gab es in Ballum am Kreisverkehr die besten Pommes auf ganz Ameland. „Ich bin froh, dass wir da nicht hinfahren. Ich hab’ mich so oft darauf gefreut, aber danach war mir meist voll schlecht.“ „Wahrscheinlich warst du zu gierig“, grinste Hanjo. Während die Erwachsenen sich ins Cafe setzten, liefen wir hinunter an den Strand. Glücklicherweise war Flut und wir konnten uns direkt in die Wellen stürzen. Bei Ebbe durfte

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man nicht baden, wegen der Gefahr, vom abfließenden Wasser ins Meer gezogen zu werden. „Wir spielen Ticken“, schlug Pit vor. „Olli und ich ticken, ihr dürft aber nur bis zum zweiten Pfahl ins Wasser, sonst kriegen wir euch nie.“ Hatten sie uns gefangen, mussten wir stehen bleiben und darauf warten, wieder befreit zu werden. Olli erwischte mich ziemlich schnell und planschte die ganze Zeit in mei-ner Nähe, um mich zu bewachen. Während ich nach den anderen Ausschau hielt, sah ich plötzlich, nicht weit von mir, etwas Schwarzes im Wasser. „Hey, Olli, guck mal da vorne“, sagte ich, „was schwimmt denn da?“ „Keine Ahnung. Du willst mich ja bloß ablenken. Hör’ auf damit, die anderen werden dich sowieso nicht befreien.“ „Ehrlich, da ist wirklich etwas Schwarzes im Wasser!“ Es schwamm an mir vorbei, ließ sich mit den Wellen trei-ben und tauchte dann unter. Plötzlich wusste ich Be-scheid. „Oh nein, Olli, das ist ein Seehund, pass auf, er kommt bestimmt direkt auf dich zu!“ Ich schrie. Jetzt glaubte er mir, dass ich ihm nichts vorma-chen wollte und sah in die Richtung, in die ich zeigte. Auf einmal tauchte das Tier auf und schaute sich neugierig um. Es sah richtig süß aus, aber genauso schnell wie es gekommen war, verschwand es auch wieder. „Echt cool“, meinte Olli, „das glaubt uns bestimmt keiner!“ Er ballte die Faust und rief: „Ich bin Olli, der mit dem See-hund schwimmt!“ Plötzlich berührte mich etwas unter Wasser. Ich zuckte zusammen, aber es war nicht der Seehund, sondern Lara. Sie schlug mich frei. Ich nutzte meine Chance und türmte. Pit, der das mitbekommen hatte, schimpfte: „Mensch, Olli, pass doch auf, so kriegen wir die anderen nie!“ Aber nach einiger Zeit schafften sie es doch.

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Nach dem Spiel ruhten wir uns auf dem warmen Sand aus und ließen uns von der Sonne trocknen. Dabei erzählten wir unsere Seehundgeschichte. Und Olli hatte Recht, sie glaubten uns kein Wort. Wir alberten noch herum, bis un-sere Eltern kamen. „Kommt Kinder, es geht weiter, schließlich wollen wir noch ins Museum!“, rief Marlies. Kurze Zeit später fuhren wir wieder auf dem Weg die Dü-nen hinauf und hinunter. Mal mussten wir ordentlich in die Pedalen treten, mal konnten wir in großem Tempo hinun-terrasen. Das machte einen Riesenspaß, und wir erreich-ten Buren ziemlich schnell. „Aufs Museum habe ich noch gar keine Lust,“ nölte Pit, „können wir nicht erst mal unser Picknick machen?“ „Ja, ja, ist ja gut“, antwortete Heike, „da vorne auf der Wie-se ist es schön windstill, da bleiben wir.“ Heike hatte sich richtig ins Zeug gelegt und kleine Frika-dellen, Nudelsalat, frische Brötchen, gekochte Eier und al-le möglichen anderen Schlemmereien eingepackt, eigent-lich eine große Auswahl. Aber Hanjo wollte nichts essen und maulte, weil sie vergessen hatte, seine Chips einzu-packen. „Da hättest du ja auch selber dran denken können“, mein-te Heike. „Mensch Mama, ich hab’ die Tüte extra zu deinem Ruck-sack gelegt. Die hast du absichtlich übersehen!“ „Hier gibt es so viele tolle Sachen, Hanjo. Hör auf, dich so anzustellen!“, mischte sich Katja ein. Obwohl die beiden sich sonst heftig streiten konnten, gab Hanjo diesmal nach, sagte nichts und aß ein Brötchen. Nach einer halbe Stunde waren nur noch ein paar Reste übrig. Ich war echt satt. Pit lag auf dem Boden und starrte träumend in den blauen Himmel. Plötzlich rülpste er laut. „Meine Güte, Pit!“, schimpfte Heike, „muss das denn sein?“ „T’schuldigung“, murmelte er, „ist mir so rausgerutscht.“

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Meike und ich kicherten. „Typisch Jungs“, flüsterte sie mir zu. „Ja, Pit, wenn’s dir auch geschmeckt hat, dann können wir ja weiterfahren“, meinte Papa. „Wie weit ist es noch?“, wollte Paula wissen. „Ich schätze, wir sind gleich da, das Museum liegt ja am Ortseingang von Buren“, antwortete Marlies. Wir packten unsere Sachen und räumten den Müll weg. Schon kurze Zeit später standen wir vor einem Bauernhaus. ‚Het kleine Museum’ – ‚Das kleine Museum’, stand auf dem Schild am Eingang. Pit stieg vom Fahrrad und protes-tierte lautstark. „Das sieht ja völlig öde aus! Ich hab’ echt keine Lust, mir irgendwelche alten Ackergeräte und so was anzugucken!“ „Jetzt wart’ doch erst mal ab, vielleicht ist es drinnen ja in-teressanter!“, beruhigte ihn Hanjo. Und tatsächlich, schon im ersten Raum wurden wir positiv überrascht. „Ist doch cool hier“, meinte Paula, „die haben ja den Strand nachgebaut. Dafür haben sie bestimmt einen gan-zen Lastwagen voll Sand gebraucht!“ Sogar Pit sah jetzt einigermaßen interessiert aus. „Die Fototapete mit den Nordseewellen ist auch nicht schlecht“, grinste er. Lara zeigte auf eine Puppe auf dem Sand, die sich nach einem Stück Holz bückte. „Guckt mal, das muss die Rixt sein. Die sieht echt aus wie eine Hexe!“ Ihre Geschichte konnte man sich für einen Euro erzählen lassen. „Na gut, dann will ich mal nicht so sein“, seufzte Mama und steckte die Münze in den Schlitz des Automaten. Zu-erst hörten wir aus dem Lautsprecher einen kräftigen Sturm und das Rauschen der Wellen. Dann begann eine geheimnisvolle Stimme:

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Vor langer, langer Zeit wohnte in einem einsa-men, entlegenen Winkel vom Oerd, der unbewohnten Ostseite Amelands, eine alte Fischerwitwe mit ihrem Sohn. Sie war bereits in grauer Vergangenheit auf die Insel gekommen und hatte sich in einer armseligen Hütte, weit von der bewohnten Welt entfernt, niederge-lassen. Viel hatte sie scheinbar nicht für ihren Le-bensunterhalt nötig, denn die Ameländer sahen sie niemals im Dorf. Mutter und Sohn begnügten sich mit der Milch ihrer einzigen Kuh und lebten ansonsten von dem, was die Natur zu bieten hatte. Und natürlich konnten sie auch allerlei am Wasser finden, denn in jenen frühen Zeiten strandeten häufig Schiffe vor der Ameländer Küste. Klein, mager und krumm gebogen wurde die Witwe manchmal am Strand gesehen. Mit ihrer ungeheuerlichen Hakennase berührte sie beina-he den Boden, wenn sie am Wasser nach allem such-te, was sie vielleicht gebrauchen konnte.

Rixt, so hieß sie, hatte an ihrem Sohn Sjoerd eine gute Stütze. Das ganze Jahr über jagte er Wildkanin-chen und im Frühjahr, wenn sie im Überfluss zu finden waren, brachte er Möweneier nach Hause. Als Sjoerd jedoch erwachsen geworden war, folgte er dem Ruf der See und verließ Ameland und die kleine Hütte.

Lange Zeit nach Sjoerds Abschied konnte Rixt vom Oerd sich noch selbst versorgen, wollte mit keinem etwas zu tun haben, und so gab es auch niemanden, der sich um sie kümmerte. Das ging so lange gut, bis einmal für eine ganze Weile kein Schiff strandete und es für sie auf dem Strand nichts mehr zu holen gab. Als die Not groß geworden war, brütete Rixt in ihrer kleinen Hütte auf dem Oerd einen teuflischen Plan

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aus, den sie in einer stockfinsteren Nacht in die Tat umsetzte.

Der Sturmwind heulte um die Insel, als wieder einmal ein Schiff vor der Ameländer Küste in Not ge-riet. Rixt band ihrer Kuh eine brennende Sturmlaterne zwischen die Hörner und jagte das Tier auf die höchs-te Düne. Ihre List hatte Erfolg. Der Steuermann des Schiffs vermutete an der Stelle, wo die Lampe flacker-te, einen sicheren Hafen und nahm Kurs auf das Ver-trauen erweckende Licht. Die Folgen waren schreck-lich. Das Schiff lief auf eine Sandbank, kenterte und zerbrach in der wüsten Brandung; die gesamte Besat-zung ertrank. Noch bevor der Morgen dämmerte, ging Rixt zum Strand, um zu sehen, ob es für sie etwas zu holen gab. Doch sie entdeckte nichts, als einen leblo-sen Körper, der am Strand lag. Als sie neugierig näher trat und ihn umdrehte, stellte sie zu ihrem Entsetzen fest, dass es ihr Sohn Sjoerd war, der Steuermann des Schiffes, den sie mit ihrer teuflischen Falle in den Tod getrieben hatte.

Kilometerweit hörte man ihre herzzerreißenden

Schreie, die selbst die tosende Brandung übertönten. Und noch heute, wenn der Sturmwind wie damals ü-ber Ameland rast, irrt die alte Rixt auf dem Oerd um-her und man hört ihre klagende Stimme, die immer wieder ‚Sjoe-oe-oe-urd’ ruft.

Mir lief es kalt den Rücken hinunter. „Könnte unsere Galionsfigur nicht von diesem Schiff stammen?“, meinte Lara. Sie hatte unsere Eltern, die di-rekt neben uns standen, völlig vergessen. Prompt fragte Marlies: „Von welcher Galionsfigur redest du denn da?“ Katja reagierte am schnellsten: „Eehm – wir denken uns gerade eine Art Abenteuerspiel aus und dazu gehört auch

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eine Galionsfigur. Die Geschichte von der Rixt passt sehr gut dazu.“ Marlies, Heike und Mama schauten sich lächelnd an, sag-ten aber weiter nichts. Während die Erwachsenen sich im Museum umsahen, gingen wir Kinder nach draußen auf den Hof, um uns bei den Ziegen und Schafen ungestört unterhalten zu können. „Bist du bescheuert, von der Figur zu reden, wenn unsere Eltern direkt dahinter stehen?“, schimpfte Paula. Lara schaute betreten auf die Ziegen. „Jetzt hört schon auf, ist ja nichts passiert“, meinte Katja beschwichtigend. „Die Frage ist, ob diese Geschichte von der Strandräube-rin erfunden wurde oder ob sie wirklich passiert ist. Wenn sie stimmt, könnte Lara Recht haben.“ „Eigentlich müsste es in diesem Museum doch jemanden geben, der etwas darüber weiß.“ Pit sah sich suchend um. „Wir könnten den Mann dort fragen.“ Meike zeigte auf einen großen, blonden Holländer mit Voll-bart, der sich mit einer Gruppe Kinder unterhielt. Hanjo sollte ihn ansprechen. Wir warteten ab, bis er die Führung beendet hatte und gingen dann auf ihn zu. „Guten Tag, dürfen wir ihnen auch eine Frage stellen? Wir würden gerne noch mehr über die Rixt vom Oerd und die-ses Schiff wissen“, sagte Hanjo freundlich. Der Mann in der Tracht der alten Ameländer Seefahrer schaute Hanjo und uns erstaunt und erfreut zugleich an. Er war der Museumsleiter. „Aha. Ihr habt euch also die Geschichte angehört. Was soll ich euch noch erzählen?“ Hanjo schien einen Augenblick zu überlegen. Dann fragte er: „Wissen Sie, ob dieses Schiff eine Galionsfigur hatte?“ Kaum hatte Hanjo das Wort ‚Galionsfigur’ ausgesprochen, veränderte sich der Gesichtsausdruck des Mannes. Sein

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Blick wirkte plötzlich gehetzt. Bevor er antwortete, drehte er sich hastig um, als wollte er sich vergewissern, dass niemand uns beobachtete oder zuhörte. Dann antwortete er flüsternd: „Wie kommt ihr darauf? Wieso glaubt ihr, dass dieses Schiff eine Galionsfigur hatte? Ich will euch mal was sagen. Das Beste ist, ihr fragt gar nicht weiter. Kümmert euch nicht um, Dinge, die euch nichts angehen, das ist alles viel zu lange her!“ Er drehte sich um und ließ uns stehen. Wir waren sprach-los. Damit hatten wir nicht gerechnet. Warum wirkte er plötzlich so nervös? „Das gibt’s doch gar nicht!“ Katja fasste sich zuerst. „Was ist denn mit dem los?“ „Keine Ahnung, aber ich habe das Gefühl, wir haben in ei-ne Art Nespenwest gestochen!“, meinte Hanjo. „Das heißt doch Wespennest. ‚Nespenwest’! Das ist gut, ich lach’ mich tot.“ Olli fing wie irre an zu lachen. „Halts Maul!“ Erst der scharfe Ton Laras brachte ihn zum Schweigen. Meike schlug vor: „Wir gehen dem Museumsleiter einfach hinterher, er ist doch ins Haus gegangen. Vielleicht ist er in seinem Büro.“ Weil er zuerst freundlich war, sollten Katja, Hanjo und ich noch einmal versuchen, ihn anzusprechen. Wir mussten nicht lange suchen. Die Tür seines Büros war verschlos-sen, aber wir hörten ihn sehr laut und aufgeregt telefonie-ren. Zwar sprach er niederländisch, aber Bruchstücke konnten wir verstehen. Er erzählte von Hanjo, wunderte sich, dass Kinder sich für die Figur interessierten und woll-te alles tun, um sie zurückzubekommen. Dann wurde es ruhig. Er schien aufgelegt zu haben. Ich wollte gerade klopfen, als sich die Tür öffnete. „Was macht ihr denn hier? Habt ihr etwa gelauscht?“

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Er stellte sich uns als Jaap Mathijsen vor und ließ uns ein-treten. Zuerst zögerten wir, weil er uns beim Lauschen er-wischt hatte. Aber da er uns jetzt wieder freundlich ansah, betraten wir sein Büro und erzählten ihm unser Erlebnis mit den beiden Ganoven. „Jetzt verstehe ich euch. Aber ihr habt mir gerade einen fürchterlichen Schrecken eingejagt. Mir ist hier aus dem Museum nämlich mein schönstes und teuerstes Ausstel-lungsstück gestohlen worden. Und das will ich eigentlich erst mal geheim halten.“ „Und was ist das?“, fragte Pit. „Eine Galionsfigur“, murmelte Jaap verlegen. Also doch. Offenbar gab es tatsächlich einen Zusammen-hang zwischen der Geschichte und der Figur. „Das Schlimme ist, sie gehört nicht dem Museum, sondern ist die Leihgabe einer alten Ameländer Kapitänsfamilie. Die wissen bis jetzt nicht, dass sie verschwunden ist.“ „Was ist denn eine Kapitänsfamilie?“, wollte Hanjo wissen. Jaap lächelte: „Das sind Nachfahren der Walfänger. Ame-land lebte im 18. Jahrhundert vor allem vom Walfang. Um 1770 wohnten hier rund einhundertdreißig Kapitäne und Seeleute, die sich ihr Geld damit verdienten.“ „Ach so. In Hollum gibt es so schöne alte, kleine Häuser, dann sind die wahrscheinlich aus dieser Zeit, oder?“ Hanjos Augen leuchteten. Die Sache fing an, ihm Spaß zu machen. „Genau. Du hast Recht“, fuhr Jaap fort, „die Seeleute brachten derart viel Tran und Ambra nach Hause, dass Ameland in dieser Zeit sehr reich wurde. Bis zu jenem schrecklichen Tag, an dem eine große Zahl von Schiffen am Nordpol vom Packeis eingeschlossen wurde und viele der Walfänger den Tod fanden.“ „Aber was hat das jetzt mit der Galionsfigur zu tun?“ Katja brachte uns zum Thema zurück.

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„Wie gesagt, die Nachfahren einer solchen Kapitänsfamilie haben sie dem Museum geliehen. Es kann zwar nicht wirklich nachgewiesen werden, dass sie von dem gestran-deten Schiff stammt, das Rixt vom Oerd auf die Sandbank gelockt hat, aber viele hier auf der Insel glauben fest dar-an. Als das Schiff an den Strand gespült wurde, hat die gewaltige Brandung die Galionsfigur angeblich vom Bug abgebrochen. Aus lauter Wut und Verzweiflung über den Tod ihres Sohnes soll die alte Rixt die Figur verflucht ha-ben und so hat lange Zeit niemand gewagt, sie anzufas-sen. Irgendjemand hat sich dann aber doch getraut, und später ist sie in den Besitz der Kapitänsfamilie überge-gangen.“ Jaap wirkte traurig und wütend zugleich, denn er hatte den Besitzern hoch und heilig versprochen für die Sicherheit der Figur zu sorgen. „Was soll ich nur machen? Ich habe keine Ahnung, wie ich die Marijke zurückbekommen kann.“ „Welche Marijke?“, fragte ich. „Die Galionsfigur. Ich nenne sie so, weil sie mir richtig ans Herz gewachsen ist.“ „Ich weiß zwar nicht warum“, sagte Hanjo darauf, „aber ei-nes ist klar. Außer den Dieben, die deine Marijke aus dem Museum gestohlen haben, sind offenbar auch unsere bei-den Ganoven hinter ihr her - und deshalb werden wir dir helfen!“, fügte er mit fester Stimme hinzu. In diesem Moment klopfte es laut an der Tür. Jaap öffnete. „Da seid ihr ja!“, riefen unsere Eltern wie aus einem Mund, „wir haben euch überall gesucht. Was macht ihr denn hier?“ „Wir haben uns bei Jaap über das Museum informiert. Er ist der Museumsleiter. Er hat uns übrigens eingeladen, morgen noch mal wiederzukommen!“ Verwundert schauten wir Katja an. Aber dann fiel bei uns der Groschen.

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„Ja genau, Jaap will uns von den Walfischfängern erzäh-len!“, versicherte jetzt auch Hanjo. Jaap, der uns ja gerade erst kennen gelernt hatte, schien überhaupt nicht überrascht. „Das stimmt, meine Herrschaften“, wandte er sich an un-sere Eltern, „ich heiße übrigens Jaap Mathijsen. Wir hatten hier ein sehr nettes Gespräch. Es würde mich wirklich freuen, ihre Kinder morgen wiederzusehen, denn es gibt noch einiges über die Geschichte Amelands zu berichten.“ Unsere Eltern fühlten sich sehr geschmeichelt, es schien ihnen zu gefallen, wissbegierige Kinder zu haben. Nur Mama erhob Einspruch: „Moment! Eigentlich wollten wir doch morgen eine Bootsfahrt zu der Robbenkolonie auf der Sandbank im Watt machen.“ Da wir alle kräftig protestierten, ließ sie sich schnell dazu bewegen, die Tour zu verschieben. Wir verabredeten uns für den nächsten Tag gegen zwei Uhr nachmittags im Mu-seum.

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Der Plan

Diesmal fuhren wir mit dem Bus nach Buren. Jaap wartete schon an der Haltestelle auf uns. „Hallo! Schön euch zu sehen!“, rief er. „Ich muss euch unbedingt etwas erzählen. Aber dazu ge-hen wir am besten ins Haus.“ Wir betraten sein Büro. „Was ist passiert“, fragte Hanjo sofort, „ist die Figur wieder da?“ „Leider nein“, entgegnete Jaap, „im Gegenteil. Ich habe gestern Abend Besuch von euren Bekannten vom Schiff bekommen.“ „Das gibt’s doch nicht! Nackenlocke und Walross waren hier?“, rief Pit erstaunt. „Was wollten die? Haben sie dir was getan?“ „Nicht direkt“, antwortete Jaap, „aber als ich gestern Abend das Museum abschließen wollte, spürte ich, wie sich von hinten eine Hand, so groß wie eine Bratpfanne, auf meine Schulter legte. Es war euer Freund Nackenlo-cke. Er zwang mich wieder ins Haus zu gehen. Der kleine Dicke stand direkt hinter ihm und sagte zu mir: Wir gehen am besten in ihr Büro, wir müssen reden.“ „Ja, was haben sie denn gewollt?“, rief Lara atemlos. „Jetzt mach es doch nicht so spannend!“ „Nackenlocke und Walross höchstpersönlich haben vor zwei Wochen die Figur aus dem Museum geklaut und sie dann in den Dünen versteckt“, fuhr Jaap kopfschüttelnd fort. „Genau dort, wo ihr sie getroffen habt. Weil sie die Marijke aber nicht mehr finden können, glauben sie, ich hätte sie mir zurückgeholt. Der Dicke war deshalb ziemlich sauer.“

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„Aber du hast doch auch keine Ahnung, wo sie ist!“, mein-te Katja. „Natürlich nicht. Genau das habe ich ihnen auch gesagt, aber sie glauben mir nicht! Heute Abend wollen sie wie-derkommen. Wenn ich ihnen die Figur nicht gebe, drohen sie, mir das Museum kurz und klein zu schlagen. Und sie meinen es ernst. Bevor sie gingen hat Nackenlocke die Rixt-Puppe umgestoßen und ihr den Kopf abgerissen!“ Damit hatten wir nicht gerechnet. Fragend schauten wir Hanjo an. „Du musst auf ihre Forderung eingehen“, sagte er ruhig. „Das kapier’ ich jetzt nicht“, meinte Olli, „was meinst du damit?“ „Ist doch ganz einfach“, entgegnete Paula, „Hanjo meint, wir binden ihnen einen Bären auf, wir tun so, als ob wir auf ihre Forderung eingehen!“ „Ach so“, nickte Olli und fing plötzlich an zu lachen, „das ist gut, einen Bären aufbinden, toll, das muss aber ein ziemlich großer Bär für Nackenlocke sein!“ „Hör auf, Olli“, sagte Lara streng, „wir müssen jetzt ernst-haft nachdenken.“ „Ich finde es echt gemein, der Rixt einfach den Kopf abzu-reißen!“, empörte sich Meike. „Ja genau, das ist es“, strahlte Hanjo, „vielleicht sollten wir ihnen keinen Bären aufbinden, sondern eine Rixt!“ Er wandte sich an Jaap. „Was hast du gesagt, wann wol-len die beiden heute Abend wieder am Museum sein?“ „So gegen sieben. Da schließe ich normalerweise ab. Hast du vielleicht eine Idee?“ „Ich glaube schon. Wenn das klappt, was ich vorhabe, werden sie Ameland und die Rixt vom Oerd so schnell nicht mehr vergessen. Ich hoffe, sie nehmen dann die nächste Fähre und verlassen die Insel auf Nimmer-Wiedersehen!“ „Jetzt bin ich aber gespannt“, sagte Jaap, „ich wäre wirk-lich erleichtert, wenn wir die beiden los werden könnten.“

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„Also, passt auf!“, begann Hanjo. „Wenn die Gauner heute Abend wieder auftauchen, müssen wir sie irgendwie ins Oerd locken. Am besten hängst du eine Nachricht an die Tür, ungefähr so: Hallo. Es ist alles vorbereitet, wie ge-wünscht. Kommt bis spätestens 8 Uhr zum Ententeich.“ „Wieso gerade dahin?“, wollte ich wissen. „Weil der Ententeich ziemlich groß ist und am Ufer Bäume und Büsche stehen, wo wir uns gut verstecken können. Außerdem sind da keine anderen Menschen. Um diese Zeit ist der Zutritt verboten. Das Oerd ist Naturschutzge-biet. Ich war im letzten Jahr mit Papa schon mal da und kenne die Gegend.“ „Aber wie sollen Nackenlocke und Walross da hin kom-men?“, gab ich zu bedenken, „dafür brauchen sie doch Fahrräder.“ „Kein Problem“, meinte Jaap, „das Museum besitzt wel-che, die stellen wir einfach vors Haus. Wie ich die beiden einschätze, werden sie keine Sekunde zögern, sie zu be-nutzen.“ „Gute Idee. Weiter!“, stieß Olli ungeduldig hervor. „Also, erst mal ist es wichtig schon vor den beiden am En-tenteich zu sein, damit wir alles in Ruhe für ihren Empfang vorbereiten können. Deshalb müssen wir unseren Eltern klar machen, dass wir heute später nach Hause kommen. Mein Plan funktioniert nur, wenn es dunkel ist.“ Erwartungsvoll sahen wir Katja an, unsere Spezialistin für Elternüberzeugungsarbeit. „Ist ja gut“, meinte sie, „ich lasse mir was einfallen. Aber erst will ich deinen Plan hören, Hanjo!“ „Eigentlich ganz einfach. Kurz gesagt: ich möchte Nacken-locke und Walross so erschrecken, dass ihnen Hören und Sehen vergeht. Und dafür eignet sich die Rixt vom Oerd bestens, aber wir müssen sie wieder auferstehen lassen. Hört zu…“ Hanjo senkte seine Stimme und erklärte endlich alles ge-nau.

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„Wir verstecken uns im Gebüsch, die beiden dürfen uns weder sehen noch hören. Für dich, Katja, habe ich eine schöne Rolle, du spielst die Rixt. Du musst dich so ver-kleiden, dass du Ähnlichkeit mit der Puppe hast, der Na-ckenlocke im Museum den Kopf abgerissen hat. Ich schät-ze, die Nacht wird ziemlich klar, deshalb brauchen wir eine Nebelmaschine, damit dein Auftritt schön gruselig aus-sieht. Zusammen mit dem Mondlicht müssten wir dich ei-gentlich richtig gut in Szene setzen können. Alle anderen verteilen sich an unterschiedlichen Stellen und verstecken sich. Pit, du organisierst Fußbälle, und zwar so viele du bekommen kannst. Wenn die Gauner so richtig in Panik sind, pfefferst du ihnen deine Knaller um die Ohren. Und du musst dich mit Dünensand bewaffnen, Olli. Sobald sie in deine Nähe kommen, bewirfst du sie, denn das mögen sie ja nicht. Die anderen sammeln tote Quallen am Strand, die kleinen sind super Wurfgeschosse. Von den glibberigen Dingern werden sie bestimmt ganz begeistert sein.“ „Aber von dir muss ich noch was wissen, Jaap. Kennst du jemanden mit einer alten, kratzigen Stimme?“ „Vielleicht, aber wieso?“ „Dann könnten wir ein paar freundliche Sätze der Rixt auf-nehmen und sie mit einem CD-Player abspielen, sobald die beiden am Teich auftauchen.“ Jaap überlegte. „Ich könnte mir da schon jemand vorstellen.“ „Aber was soll sie sagen?“, fragte ich atemlos. „Ganz einfach“, entgegnete Hanjo grinsend, „in Kurzform: Haut ab, wenn euch euer Leben lieb ist. Nehmt die nächs-te Fähre!“ Er sah uns triumphierend an. „Na, was haltet ihr von meiner Idee?“ Mit offenem Mund starrten wir ihn an. Aber dann brach es aus uns heraus. Wir redeten alle durcheinander. „Das ist cool!“, schrie Olli in totaler Begeisterung.

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„Ich weiß, wo ganz viele tote Quallen liegen!“, rief Meike. „Aber ich habe keine Ahnung, wo ich die vielen Fußbälle herkriegen soll!“, sagte Pit aufgeregt. Nur Jaap blieb ruhig. „Stopp“, sagte er mit seiner lauten, dunklen Stimme, „be-vor ihr weiter durcheinander redet, möchte ich was dazu sagen. Ich finde deine Idee gut, Hanjo. Die Gangster ha-ben mir einen solchen Schreck eingejagt, dass ich mich darauf freue ihnen genau den heimzuzahlen. Allerdings weiß ich nicht, wie ihr euren Eltern beibringen wollt, bis tief in die Nacht am Ententeich zu bleiben. Ihr könnt doch nicht allein durch die Dunkelheit vom Oerd nach Hollum zurückfahren. Das erlauben sie nicht.“ „Also, Katja, was ist jetzt?“ Hanjo sah sie an. „Na ja“, sagte sie und neigte ein wenig ihren Kopf, „ich hät-te da schon eine Idee. Wir könnten unseren Eltern doch erzählen, dass Jaap eine Museumsnacht für Kinder durch-führt und uns auch dazu eingeladen hat. Dann hätten wir genug Zeit und niemand müsste sich unnötig Sorgen ma-chen.“ „Aber dafür brauchen wir noch Sachen von zu Hause, Schlafsack, Zahnbürste und so“, gab ich zu bedenken. „Und es wäre nicht schlecht, eine Art Einladungsschreiben zeigen zu können. Das wirkt noch echter!“ Jaap setzte sich sofort hin und begann zu formulieren. Er schrieb, die Museumsnacht fange gegen 19.00 Uhr an und vor allem Kinder seien herzlich eingeladen. Wir waren si-cher, unsere Eltern damit überzeugen zu können. Außer-dem nahmen wir uns vor, sie noch einmal an den guten Eindruck zu erinnern, den Jaap bei unserem gemeinsa-men Museumsbesuch auf sie gemacht hatte. „Ich bin echt gespannt, wie das heute Abend wohl wird!“, meinte Meike. „Ich auch. Deshalb sollten wir jetzt schnell nach Hollum fahren, um die Einladung zu zeigen. Außerdem müssen wir ja wohl noch einiges vorbereiten. Aber wo ich die Bälle her bekommen soll, weiß ich immer noch nicht!“, sagte Pit.

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„Mach dir mal keine Sorgen“, beruhigte ihn Jaap, „mir fällt da schon was ein. Wenn ihr zurück seid, wirst du genug zur Verfügung haben!“ Während der Busfahrt nach Hollum redeten wir aufgeregt durcheinander und schwelgten in Vorfreude auf das Aben-teuer. Nur Paula und Lara sagten kein Wort, aber das fiel mir erst auf kurz bevor wir aussteigen mussten. „Was ist los mit euch?“, fragte ich. „Habt ihr keine Lust auf die Museumsnacht?“ „Doch, natürlich!“, antwortete Lara, „aber ich glaube, Papa wird Probleme machen.“ „Ach Quatsch!“, rief Olli, „ihr seid immer so ängstlich. Dann hauen wir eben einfach ab. Wir können doch heimlich aus dem Fenster klettern. „Halts Maul, Olli!“, wies Lara ihn wie immer zurecht. „Was denkst du, wie Papa reagieren wird, wenn wir heute Abend nicht mit in die Kirche gehen? Wir hatten es ihm versprochen. Du weißt genau, wie sauer er werden kann, wenn wir ein Versprechen nicht einhalten.“ Jetzt kapierte er auch, was los war. Paula seufzte. „Ich schätze, das kriegen wir nicht durch.“ Als der Bus in Hollum hielt, waren auch die anderen über die Probleme von Paula, Lara und Olli informiert. „Wir gehen noch zur Eisbude an der Ecke, da können wir überlegen, wie wir Rainer überreden können!“, schlug Kat-ja vor. Wir setzten uns an einen der schweren Holztische auf dem kleinen Platz vor der Bude. „Also, was machen wir?“, begann sie wieder. Meike hatte eine gute Idee. „Wir müssen Rainer bestechen. Und ich weiß auch schon wie. Wenn er Paula, Lara und Olli mitfahren lässt, ver-sprechen Hannah und ich am nächsten Sonntag mit ihm zusammen in die Kirche zu gehen.“ Sie hatte Recht. Rainer wäre bestimmt begeistert, denn er versuchte uns ja immer wieder zur Taufe zu überreden. Schon deshalb, weil er hoffte, Papa damit ärgern zu

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können. Jetzt schaute Paula schon viel zuversichtlicher. „Könnte funktionieren“, sagte sie. „Los, das versuchen wir sofort!“ Wir marschierten zum Haus der Münstermänner. Rainer und Marlies saßen im Garten und lasen. „Hallo, Kinderen!“, rief Rainer, „gut, dass ihr zurück seid. Ihr wisst ja, nachher wollen wir zusammen in de Kerk. Meike und Hannah gehen sicher auch gerne mit, oder?“ Er sprach – wie immer – in seinem Deutsch-Holländisch mit uns. Lara und Paula fanden das ziemlich blöd, aber diesmal ließen sie sich nichts anmerken. Rainers Frage war unsere Chance. „Ja, das würden wir eigentlich gerne machen, Rainer“, be-gann ich, „Papa sagt auch immer, wir sollen es ruhig mal ausprobieren, wenn wir wollen.“ Seine Gesichtszüge wurden sofort ernsthafter. „Ach ja? Das hat er wirklich gesagt? Das hätte ich nach unseren Diskussionen nicht für möglich gehalten. Also geht ihr nachher tatsächlich mit?“ „Würden wir wirklich sehr gerne, nur nicht heute Abend“, antwortete ich so freundlich wie möglich, „wir können näm-lich alle an einer Museumsnacht in Buren teilnehmen. Aber nächsten Sonntag, da hätten wir Zeit.“ Paula gab ihm die Einladung. Während Rainer las, warte-ten wir gespannt auf seine Antwort. Dann schaute er Pau-la an. „Ach so, dann wird aus unserem gemeinsamen Kirchen-besuch heute Abend wohl nichts werden. Aber wenn Han-nah und Meike uns nächsten Sonntag begleiten, könnte ich das verschmerzen.“ Wir hatten es geschafft, der Anfang war gemacht. Wenn die Münstermänner es erlaubten, konnten unsere Eltern und die Franzens auch nicht dagegen sein. Erleichtert gingen wir nach Hause und verabredeten uns gegen sechs wieder an der Bushaltestelle.

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Die Nacht im Oerd

Es gab keine Probleme. Nur unsere Eltern wollten uns zu-erst mit dem Auto nach Buren bringen, aber das konnten wir ihnen wieder ausreden. Bepackt mit allem, was man für eine Nacht braucht, er-reichten Meike und ich als letzte die Haltestelle. Als der Bus kam, öffnete sich die Tür mit einem lauten Zischen. „Na, wollt ihr wieder zum Museum?“, fragte der Fahrer, der uns inzwischen schon kannte. „Jaap hat euch doch sicher schon jeden kleinen Winkel gezeigt.“ „Das stimmt“, antwortete ich, „aber er hat uns zu einer Museumsnacht eingeladen. Wir machen auch eine Wan-derung ins Oerd.“ „Oh, das wird sicher spannend!“, sagte der Busfahrer und fügte lachend hinzu, „hoffentlich habt ihr da keine Begeg-nung mit der alten Rixt.“ „Doch, das könnte schon sein!“, gluckste Olli. Wir sahen ihn strafend an, denn schließlich sollte unser Plan geheim bleiben. Ich wartete auf Laras Reaktion. „Halts Maul, Olli!“, zischte sie auch schon und kniff ihm in den Arm. Er wusste, was er falsch gemacht hatte, und setzte sich kleinlaut in die hinterste Sitzreihe. Keiner von uns sagte während der Busfahrt ein Wort, denn wir waren jetzt doch etwas nervös. „Was macht ihr denn für ein Gesicht?“, begrüßte uns Jaap, als wir in Buren ausstiegen. „Kommt, ich zeige euch, was ich besorgt habe.“ Wir gingen in sein Büro. Dort stand ein Fahrradanhänger beladen mit Sachen für unsere nächtliche Aktion. „Mensch, das ist ja cool!“, rief Pit völlig begeistert, weil er ein großes Netz mit Fußbällen entdeckt hatte. „Wo hast du die denn her?“

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„Tja, als Museumsleiter hat man so seine Beziehungen“, antwortete Jaap lächelnd. Aber er hatte nicht nur Fußbälle besorgt. Wir trauten unseren Augen kaum, als wir den CD-Player mit den großen Boxen entdeckten, die batteriebe-triebene Nebelmaschine, jede Menge Eimer, Tücher, Schaufeln, und dazu alte Röcke und Schminke. Hanjo sah auf seine Uhr. „Wir müssen schnell verschwinden, sonst treffen wir Na-ckenlocke und Walross schon hier am Museum. Es ist viertel vor sieben!“ „Du hast Recht“, sagte Jaap, „aber ich lese euch noch vor, was ich den beiden geschrieben habe.“

Sehr geehrte Herren mir ist klar, dass ich die Galionsfigur nicht länger verbergen kann. Sie ist an einer geheimen Stelle am Ententeich im Oerd versteckt. Dort will ich sie Ihnen auch übergeben. Damit uns niemand beo-bachtet, treffen wir uns nach Einbruch der Dunkel-heit um 23.00 Uhr am Nordufer. Jaap Mathijsen.

„Sehr gut!“, sagte Hanjo, der, wie wir alle, zufrieden zuge-hört hatte. „Aber wie sollen Nackentolle und Walross an die Nachricht kommen?“, fragte ich. „Am besten kleben wir den Brief an die Eingangstür, dann finden sie ihn sofort, und wir haben Zeit alles vorzuberei-ten“, antwortete Jaap.

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„Und wenn sie direkt zum Ententeich fahren?“, fragte Pau-la besorgt. „Darüber habe ich auch schon nachgedacht“, meinte er. „Zwei von euch müssen sie beobachten und uns rechtzei-tig warnen.“ „Das übernehmen wir“, meinte Paula, „mein Handy habe ich dabei, aber wen kann ich dann anrufen?“ Jaap griff in die Brusttasche seines Hemdes. „Wie wäre es mit mir? Die Dinger kennen wir auf Ameland auch schon eine ganze Weile.“ Lächelnd zeigte er sein Handy und gab ihr seine Nummer. „Und wenn jemand anders den Brief findet?“ „Wir passen schon auf“, beruhigte mich Lara, „Paula und ich verstecken uns hinter dem Weidenzaun. Da sehen wir alles.“ „Außerdem kommt am Abend sowieso kein anderer Besu-cher mehr. Mach dir keine Gedanken!“, fügte Jaap hinzu. „Okay, jetzt haut schon ab!“, sagte Lara.

Wir stiegen auf die Räder, die Jaap für uns geliehen hatte und fuhren schweigend hinter ihm her. Nach einer halben Stunde erreichten wir unser Ziel. „Du meinst, hier können wir unsere Show aufführen?“, wunderte sich Katja. „Ich denke schon“, antwortete Jaap. „Eigentlich ist hier alles so, wie Hanjo es beschrieben hat. Es gibt genügend Verstecke und auf der anderen Ufersei-te kannst du als Rixt erscheinen und im Nebel spuken.“ „Genau, es ist perfekt“, sagte Hanjo, der sich aufmerksam umsah. Pit, Olli und Meike, ihr geht zum Strand und be-sorgt die Quallen und den Sand. Wir bauen schon mal die

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Anlage und die Nebelmaschine auf. Ich schätze, es ist gut, wenn wir vorher noch einen kleinen Probedurchlauf machen.“ Meike nahm die Eimer aus dem Anhänger, Pit und Olli bewaffneten sich mit den Sandschaufeln und marschierten los. Wir begannen am Teich mit unseren Vorbereitungen. Es gab eine Menge zu tun. Die Nebelmaschine, die Jaap besorgt hatte, war echt schwer. Er und Hanjo trugen sie gemeinsam, während Katja und ich eine Autobatterie und den CD – Player schleppten. Am anderen Ufer sah Hanjo sich prüfend um und unter-suchte an verschiedenen Stellen das Gebüsch. „Was machst du da?“, fragte ich ihn. „Wonach sieht es denn aus?“, gab er zur Antwort. „Sieht aus, als ob Hund Hanjo seinen Knochen vergraben will!“, kicherte ich. „Sehr witzig, ich suche eine Stelle, an der wir uns und die Sachen verstecken können!“ „Jetzt zankt nicht herum“, mischte Jaap sich ein. Ich ärgerte mich ein bisschen, denn eigentlich wollte ich nur, dass Hanjo erklärte, was er vorhatte. Ich kann es nicht leiden, wenn einer die ganze Zeit den großen Boss spielt und einsame Entscheidungen trifft. Katja schien meine Gedanken gelesen zu haben. „Mach dir nichts draus“, sagte sie, „ich kenne ihn, der ist immer so, wenn er nachdenkt. Dann kann man ihn besser in Ruhe lassen.“ Hanjo entschied sich für einen großen Haselnussstrauch. Wir stellten die Nebelmaschine so auf, dass sie ihren Ne-bel genau durch die Zweige und Blätter ans Ufer pusten konnte. „Hier kannst du herumtanzen, Katja!“ Hanjo zeigte auf die Stelle, wo die Rixt auftreten sollte. „Droh ihnen mit der Faust und was sonst noch alles dazu gehört. Wir bedienen die Nebelmaschine und den CD-Player. Vom anderen Ufer aus können uns die Typen

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bestimmt nicht sehen, wenn wir hinter dem Strauch ver-steckt sind.“ „Stimmt, und wir können uns nach hinten verdrücken, falls die Gauner es wagen sollten, auf unsere Seite zu kommen!“ Jaap zeigte auf mannshohes Schilfgras hinter uns, in dem wir uns notfalls perfekt verstecken konnten. Ich musste schlucken, denn ich hatte noch gar nicht daran gedacht, dass es auch schief gehen könnte. Nachdem wir alles aufgebaut hatten, verwandelte sich Katja in die Rixt. Jaap hatte die Kleidung der Puppe aus seinem Museum mitgebracht. Einen schwarzen, bodenlangen Rock aus sehr schwerem Stoff und eine dunkle Bluse, die mit großen Knöpfen bis zum Hals geschlossen wurde. Darüber eine blaue Schürze und eine weiße Haube, die mit großen Bändern unter dem Kinn verknotet wurde. Katja sah richtig echt aus. „Schaut mich nicht so an!“, sagte sie. „Du siehst der Rixt total ähnlich“, staunte Jaap. „Jetzt müssen wir nur noch dein Gesicht etwas auf alt schminken und dir dieses kleine Kissen als Buckel auf dem Rücken befestigen, dann bist du perfekt – die Rixt vom Oerd lebt!“ „Hört auf!“, entgegnete Katja ärgerlich, „ich bin und bleibe ich!“ „Klar, Schwesterchen!“, meinte Hanjo, „aber wenn die bei-den Kerle nur ein bisschen abergläubisch sind, werden sie darauf bestimmt nicht kommen. Und wenn sie dann richtig Schiss haben, geben wir ihnen den Rest.“ Drüben sahen wir Meike, Pit und Olli schwer bepackt mit ihren Eimern und Schaufeln vom Strand zurückkommen. Ich winkte und rief ihnen zu: „Wartet auf uns! Sobald wir hier fertig sind, kommen wir rüber!“

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Sie schienen es verstanden zu haben, denn alle drei lie-ßen sich erschöpft ins Gras am Ufer des Ententeichs fal-len. „Gut, wir können gehen“, sagte Jaap schließlich, nachdem er noch einmal geprüft hatte, ob auch wirklich alles funkti-onierte und der Nebel wie geplant durch den Strauch wa-berte. Hanjo meinte: „Ich bleibe noch. Sobald ihr drüben seid, schalte ich den CD-Player an. Wir müssen sicher sein, dass die Stimme der Rixt auf der anderen Seite gut zu verstehen ist.“ Wir nickten. „Ich bin sowieso gespannt, was du aufgenommen hast, Jaap. Schließlich muss ich als Rixt ja wissen, womit ich die beiden Kerle erschrecke“, grinste Katja. „Wart’s ab“, lächelte Jaap. Auf der anderen Seite wurden wir schon ungeduldig er-wartet. „Wir hatten Glück!“, rief Pit uns aufgeregt entgegen, „hier, schaut mal!“ Er zeigte uns drei Eimer mit toten Quallen. Sie sahen wirk-lich scheußlich wabbelig aus. „Ich schätze, das sind bestimmt an die fünfzig, nur kleine, die man gut werfen kann“, meinte Meike. „Die meisten werde ich abfeuern!“, schrie Olli total begeis-tert. „Quatsch!“, Pit stieß ihn an, „du wirfst doch mit Sand.“ Jaap schaute auf seine Armbanduhr. „Jetzt wird es Zeit, wir müssen mit unseren Vorbereitun-gen fertig werden.“ Er winkte Hanjo zu, der auf der anderen Seite immer noch auf das Zeichen wartete, den CD-Player einzuschalten. „Jetzt bin ich gespannt“, murmelte Katja. Was wir sahen und hörten klang wirklich unheimlich. Zu-erst quoll der Nebel aus dem Haselnussstrauch und dann ertönte eine alte, raue Frauenstimme. Sie heulte, jammerte,

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drohte und wurde immer wütender. Es klang wirklich sehr gefährlich. Mir lief es kalt den Rücken herunter. „Das ist ja voll gut!“, meinte Pit begeistert. „Mensch, Jaap, wie hast du das hinbekommen?“ „Vor allem, wessen Stimme hast du da aufgenommen?“, wollte Katja wissen. „Na ja“, antwortete Jaap, „ehrlich gesagt wusste ich ziem-lich schnell, wer dafür in Frage kam. Die Wirtin vom Strandcafe in Buren. Sie hat sofort ja gesagt, obwohl sie ganz anders aussieht als ihre Stimme vermuten lässt.“ Katja und ich schauten uns an. Jaap sagte das mit einem solchen Nachdruck, dass wir ziemlich sicher waren, er müsse sie genauer kennen. „Du könntest sie uns ja mal vorstellen“, schlug ich vor. „Hmm“, brummte er, „alles zu seiner Zeit.“ Hanjo war inzwischen zu uns herüber gekommen. „Und?“, fragte er atemlos, „wie wirkt es? Konntet ihr alles verstehen?“ „Es ist total super!“, schrie Olli, „die beiden werden laufen wie die Hasen, die werden glauben, sie kommen nicht mehr heil von der Insel. Und nach der Rixt kommt unser Einsatz, oder Hanjo?“ Olli schaute ihn begeistert an. „Genau! Ich erkläre euch mal, wie’s weitergeht. Meike und Olli, ihr versteckt euch hier in diesem Loch!“ Er zeigte auf eine Vertiefung ein paar Meter vom Ufer ent-fernt, die am Rand mit Sträuchern bewachsen war. „Ich schätze, hier werden sie in Panik vorbeilaufen. Dann werft ihr mit Sand, was die Eimer hergeben. Falls sie dann versuchen, auf ihre Fahrräder zu springen, müssen Paula und Lara sie mit den Quallen eindecken. Da vorne hinter dem Gebüsch haben sie gute Deckung. Wenn sie die Ho-sen richtig voll haben, sind Pit und ich an der Reihe. Von der kleinen Anhöhe aus haben wir ein super Schussfeld und können ihnen die Bälle richtig um die Ohren knallen.“ Ein toller Plan. Auch Jaap war zufrieden.

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„Perfekt“, sagte er. „Am besten legt ihr euch das Wurfmaterial jetzt bereit.“ Er schaute wieder auf seine Uhr. „Ich bin gespannt, ob sich der ganze Aufwand lohnt. Paula und Lara müssten sich eigentlich gleich melden, falls die Gauner meinen Brief gelesen haben.“ Unsere restlichen Vorbereitungen hatten wir schnell erle-digt. „Kommt, wir ruhen uns noch aus“, schlug Jaap vor, „ich habe eine kleine Überraschung für euch mitgebracht.“ Wir setzten uns ans Ufer. „Olli, holst du bitte den Korb aus dem Fahrradanhänger?“ Das ließ er sich nicht zweimal sagen. Er riss das Geschirr-tuch herunter und steckte schnuppernd seine Nase hinein. „Hmm, lecker!“, rief er. „Jetzt komm schon her damit!“, meinte Pit ungeduldig. Jaap hatte die tollsten Ameländer Spezialitäten mitgebracht. Eine große Tüte mit Poffen, das sind riesige Rosinenbrötchen, Marzipankuchen und drei Tüten Vanillevla, ein sahniger Vanillepudding, der beson-ders gut mit Schokoladenstreußel schmeckte. „Mensch, Jaap!“, sagte Hanjo mit vollem Mund, „lecker, genau das hab’ ich jetzt gebraucht!“ Jaap lachte: „Prima, dann können wir es ja mit den Gano-ven aufnehmen.“ Es begann zu dämmern. „Eigentlich müssten Paula und Lara sich jetzt melden, es ist schon viertel nach zehn“, meinte Katja besorgt. Wie auf Bestellung klingelte Jaaps Handy. Wir zuckten zu-sammen, auch Jaap schien erschrocken zu sein. „Hallo, Jaap, hier“, sagte er. „O. k., alles klar, kommt jetzt so schnell wie möglich, ihr müsst den kürzeren Weg nehmen, dann seid ihr mindes-tens eine viertel Stunde früher hier.“ Er hatte ihnen schon vorher erklärt, wie sie fahren sollten. „Und, was ist jetzt?“ Ich konnte die Spannung kaum aushalten.

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„Die Gauner sind da“, antwortete Jaap. Paula sagt, sie wa-ren pünktlich um sieben am Museum. Nachdem sie den Brief gelesen hatten, sind sie mit den Rädern ins Dorf ge-fahren und haben in einer Kneipe die Zeit abgewartet.“ „Endlich, dann kann es ja losgehen!“ Hanjo rieb sich zufrieden die Hände. Er begann, die Sa-chen in den Korb zu räumen. „Kommt“, meinte Jaap, „ihr müsst euch beeilen, ihr wisst ja, was ihr zu tun habt. Geht bitte kein Risiko ein, wenn die Ganoven nicht so reagieren wie wir hoffen, zieht ihr euch sofort zurück. Schiebt die Fahrräder da hinten ins Ge-büsch.“ Wir halfen Hanjo beim Aufräumen und wollten uns verste-cken. „Halt!“, rief er plötzlich, „wir müssen doch noch auf Lara und Paula warten. Wie lange werden sie noch brauchen, Jaap?“ „Falls sie sich nicht verfahren haben, müssten sie jeden Augenblick hier sein.“ Inzwischen war es dunkel. Wir schauten alle ungeduldig in die Richtung, aus der sie kommen mussten. Den Weg konnten wir ein Stückchen einsehen, ehe er zwischen den großen Sträuchern verschwand. Endlich hörten wir das Geklapper ihrer Räder und das Summen der Fahrraddy-namos, gleich darauf sahen wir sie auch schon in einem Höllentempo auf uns zurasen. Sie bremsten und sprangen ab. Wir redeten alle gleichzeitig auf sie ein. „Was habt ihr gesehen? Wie weit sind die Typen?“ Paula schnappte nach Luft. „Mann, sind wir gerast. Es wird Zeit, dass wir hier weg-kommen. Sehr weit hinter uns können sie nicht mehr sein. Ich schätze, die gehen fest davon aus, die Figur zu be-kommen. Sie waren echt begeistert, als sie den Brief gele-sen hatten!“ „Denen wird die Begeisterung noch vergehen“, brummte Jaap. Gut, dass er ruhig blieb. Schnell und genau erklärte

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er Paula und Lara ihre Aufgabe, was wir vorbereitet hatten und wo sie ihre Räder verstecken sollten. „Wir müssen in jedem Fall in Verbindung bleiben, Paula. Unsere Handys schalten wir am besten auf Daueremp-fang. Du musst sofort Bescheid sagen, wenn du die bei-den Ganoven kommen siehst. Alles klar, Leute? Dann geht’s jetzt los!“ Wir klatschten uns ab. Es war klar, dass wir uns aufeinan-der verlassen konnten. Ich ging mit Jaap und Katja zum anderen Ufer des Tei-ches. Wir prüften zum hundertsten Mal die Technik, alles funktionierte. Katja legte noch ein wenig von der schwar-zen Schminke auf, um auch wirklich alt auszusehen. Dann gingen wir hinter den Sträuchern in Deckung. Jaap nahm noch einmal Kontakt zu Paula auf. „Wir sind so weit. Du weißt ja, sobald du Nackenlocke und Walross kommen siehst, musst du uns warnen!“ „Alles klar!“, hörte ich ihre Stimme. Ich saß gespannt wie ein Flitzebogen am CD-Player und wartete auf das Zei-chen zum Einschalten. Jaap hockte hinter der Nebelma-schine und Katja war bereit, auf die ‚Uferbühne’ zu treten, um die Rixt vom Oerd auferstehen zu lassen. „Hast du Angst?“, flüsterte Katja. „Und wie“, raunte ich, „mein Herz klopft mir bis zum Hals. Ich würde mich besser fühlen, wenn Mama oder Papa hier wären!“ „Geht mir ähnlich“, wisperte Katja. Plötzlich hörten wir wieder Paulas Stimme im Handy. „Sie sind da“, sagte Jaap.

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Der Auftritt der Rixt vom Oerd

Walross konnte ich zuerst erkennen, Nackenlocke fuhr gleich hinter ihm. Am Ufer ließen sie ihre Räder einfach auf den Boden fallen. Wenn das Papa sähe, würde er ei-nen Wutanfall bekommen. Er kann es überhaupt nicht lei-den, wenn wir achtlos mit unsere Sachen umgehen. Ko-misch, dass ich gerade jetzt daran denken musste. „Pass auf, Katja!“, flüsterte Jaap hinter mir, „sobald die ersten Nebelschwaden aufziehen, musst du raus!“ „Ich weiß“, antwortete sie. Walross und Nackenlocke stan-den am Ufer und schauten sich nach allen Seiten um. Wahrscheinlich waren sie gespannt, ob Jaap auftauchen würde. „Jetzt!“ Er stieß mich an und drückte auf den Knopf der Nebelmaschine, die ersten Schwaden waberten am Ufer entlang. Ich konnte erkennen, wie die Gauner sie bemerk-ten und zu uns hinüber schauten. Katja stand auf, zwängte sich durch den Haselnussstrauch und baute sich in ihrer vollen Größe im Nebel auf. Ich drückte auf den Knopf des CD-Players. Auf voller Lautstärke stand er ja schon, das hatte ich fast jede Minute geprüft. Katja schaute zur ande-ren Uferseite und hob drohend ihre Faust. Dann erklang die CD-Stimme: „Ihr zwei Gauner, hört ihr mich. Ich bin die Rixt vom Oerd.“ Das lange Heulen ertönte, dabei hob Katja beide Arme und schüttelte wie wild ihren Körper. „Was macht ihr hier auf Ameland? Ich werde dafür sorgen, dass ihr meinem Sohn Sjoerd folgen müsst. Uuuhuuuhuh. Ich bin so traurig, weil ich meinen Sohn verloren habe. Uuuuuh, ich bin so traurig!“

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Meine Angst war verflogen. Wie gebannt schaute ich zur anderen Seite. Im Mondlicht war alles gut zu sehen. Ich riss meine Augen weit auf, um ja nichts zu verpassen. Den Ganoven schien es ähnlich zu gehen, denn in dem Au-genblick, als Katja im Nebel auftauchte, traten sie auf ihrer Seite noch näher ans Ufer. Nackenlocke begann wie wild auf Katja zu zeigen und stieß immer wieder Walross an. Der stand da wie angewurzelt. Jetzt veränderte sich die Stimme der Rixt. Sie klang nicht mehr weinerlich, sondern wütend. „Ihr werdet für Sjoerd büßen, ihr habt auf Ameland nichts zu suchen. Ich werde euch vernichten, wartet, wartet, ich komme...!“ Dann folgte wütendes Schreien. Hinter mir hörte ich Jaap aufgeregt zischen: „Katja, du musst jetzt los rennen und

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da vorne in dem anderen Gebüsch wieder verschwinden!“ Sie schien es nicht zu hören. Wie aufgedreht tanzte sie am Ufer herum, gestikulierte, schimpfte und zog die wil-desten Grimassen. Ich machte mir Sorgen um Katja, so hatte ich sie noch nie erlebt. „Hannah, du musst was tun!“ Jaap kauerte jetzt neben mir. „Wir müssen sie unbedingt vom Ufer weg bringen, die CD ist gleich zu Ende, wenn sie dann nicht verschwunden ist, werden die Halunken etwas merken!“ „Okay, okay!“, raunte ich. In meinem Kopf raste es, ich schaute auf die Ganoven. Walross stand immer noch wie versteinert, Nackenlocke sprang fast genauso wild hin und her wie Katja. In diesem Augenblick stampfte sie wie von Sinnen direkt an meinem Gebüsch vorbei. Ich löste mich aus meiner Erstarrung, dachte „jetzt oder nie“ und sprang hinter ihr hoch. Dann packte ich sie von hinten an Rock und Bluse und zog sie rücklings durch das Gebüsch. Um mich herum krachte es, einige Äste ratschten mir durch das Gesicht. Aber da lagen wir, für die beiden Ganoven unsichtbar, schon wieder auf dem Boden. Immer noch hat-te ich Katja fest in meinen Armen. „Hoffentlich haben sie mich nicht gesehen!“, schoss es mir durch den Kopf. Gleichzeitig zischte ich Katja zu: „Bist du verrückt, du solltest doch nach dem wütenden Schreien sofort verschwinden!“ Schwer wie ein Stein lag sie auf mir, atmete tief durch und rührte sich nicht. Dann hörte ich sie seufzen: „Ah, herrlich! Endlich konnte ich mal jemand anders sein, eine wunder-bare Rolle!“ „Du bist gut!“, flüsterte Jaap aufgeregt, „das war doch kein Theaterauftritt. Ich hoffe, Nackenlocke und Walross haben nichts gemerkt. Du hast toll reagiert, Hannah!“ Jaap hatte inzwischen die Nebelmaschine und den CD-Player abgeschaltet. Wir richteten uns auf, um zu sehen, was sich jetzt auf der anderen Seite tat und trauten unseren

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Augen nicht. Die Halunken standen nicht mehr am Ufer, sondern lagen ein paar Meter weiter hinten auf dem Boden zwischen ihren Rädern. Walross sah aus wie ein riesiger, auf dem Rücken liegender Käfer, Nackenlocke wollte sich gerade wieder aufzurappeln. Er fluchte, wäh-rend er versuchte aus der Rückenlage hochzukommen. Walross schimpfte die ganze Zeit heftig auf ihn ein. Beide hatten Schwierigkeiten aufzustehen, weil immer wieder etwas auf sie zuflog und sie mit lautem Klatschen erneut umriss. Das mussten die Quallen sein, die Lara und Paula abfeuerten. Sie hatten sich extra Handschuhe mitge-bracht, um sie anfassen und gezielt werfen zu können. Zwar waren die Tierchen schon tot, aber sie taten mir doch etwas leid. Sie hatten es eigentlich nicht verdient, mit diesen Halunken Bekanntschaft machen zu müssen. Die aber rieben sich die Augen. Wahrscheinlich, um den Sand heraus zu wischen, mit dem Meike und Olli sie beworfen hatten. Dann war der Quallenangriff vorüber, Lara und Paula hatten offenbar keine Munition mehr. Nackenlocke taumelte hoch und half auch Walross auf die Beine. Sie griffen ihre Fahrräder und versuchten aufzusteigen. Der Große schaffte es zuerst. Er trat heftig in die Pedale, um möglichst schnell wegzukommen. Walross hatte jedoch Probleme und rutschte immer wieder ab. „Warte, Lu, warte!“, schrie er und stolperte mit dem Fahr-rad an der Hand hinter ihm her, bis wir sie nicht mehr se-hen konnten. Jaap versuchte Kontakt zu Paula aufzuneh-men. „Hallo Paula, melde dich, was ist los bei euch?“ Endlich hörten wir sie. „Alles klar, es hat funktioniert, wir haben alle Quallen ab-gefeuert. Das war geil, ich habe den Dicken zweimal am Kopf getroffen, er ist umgefallen wie ein nasser Sack. Gleich kommen sie bei Hanjo und Pit vorbei!“ Katja riss Jaap das Handy vom Ohr. „Das sah spitzenmäßig aus, Paula, super!“

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„Jetzt sei leise, wenn alles nach Plan läuft, müsste gleich die dritte Angriffswelle kommen“, sagte Jaap. Wir lausch-ten angestrengt in die Nacht. Und tatsächlich. Wir hörten einen dumpfen Aufprall, Geklapper der Fahrräder und er-neut lautes Fluchen und Aufheulen. Dazwischen immer wieder ein dumpfes Geräusch, gefolgt von weiteren Flü-chen und Schreien der beiden Kerle. Von der Erhöhung aus schossen Pit und Hanjo ihre Bälle auf unsere Freun-de. Dann war es still, wahrscheinlich hatten sie jetzt end-gültig das Weite gesucht. Hoffentlich hatten sie genug von Ameland und der bösen Rixt. Uns hielt es nicht mehr an unserem Ufer. Katja und ich lie-fen so schnell es ging zu den anderen. Jaap folgte uns, auch er wollte hören, was passiert war. Von weitem sahen wir sie bereits am Ufer des Teichs einen Siegestanz auf-führen. Olli sprang mir um den Hals, Paula und Lara hiel-ten sich an den Händen und drehten sich wie wild im Kreis. Dabei riefen sie immer wieder: „Wir haben sie ver-jagt, wir haben sie verjagt!“ Pits und Hanjos Augen strahlten um die Wette, stolz be-gannen sie zu erzählen. „Hey, Moment!“, rief Jaap, „wartet noch, ich will auch wis-sen, was passiert ist!“ Nachdem ich Olli endlich von meinem Hals abgeschüttelt hatte, konnte ich ebenfalls zuhören. Sie berichteten, dass sie auf der Anhöhe eine kleine Sandmauer gebaut und dort alle Bälle aufgereiht hatten, um genauer und schneller schießen zu können. Als sie die Stimme der Rixt hörten, wussten sie, gleich würde es losgehen. „Ich war mir ganz sicher“, fuhr Pit fort, „wenn sie an uns vorbeifahren, würden wir sie treffen.“ Er sah uns an wie Supermann. „Als die Gauner fluchten, wussten wir, der Sandangriff und die Quallen hatten gewirkt. Zuerst kommt Nackenlocke. Ich nehme Anlauf, haue den Ball mit Vollspann weg und treffe ihn am Arm. Der erschreckt sich so, dass er nach

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vorne über den Lenker absteigt. Walross, der direkt hinter ihm fährt, kann gar nicht so schnell reagieren und ist schon voll auf ihm drauf. Er macht fast einen Kopfstand im Sand. Als er liegt, heult er laut auf und Nackenlocke flucht wie ein alter Seemann.“ „Aber was habt ihr mit den anderen Bällen gemacht, habt ihr sie noch mal getroffen?“, fragte Katja. „Na, was denkst du denn!“, antwortete Hanjo schon fast beleidigt. Ich hab’ den Dicken noch vier Mal an seinem Wanst getroffen und Pit Nackenlocke sogar einmal im Ge-sicht. Die hatten voll die Panik. Als erster saß der Dicke auf seinem Rad, Nackenlocke lief ihm nach und dann ver-schwanden sie in der Dunkelheit.“ Wir jubelten. Paula machte Katja noch ein Kompliment für ihren Rixt-Auftritt. „Das sah von hier wirklich klasse aus. Wenn ich nicht ge-wusst hätte, dass du es bist, hätte ich auch Schiss ge-habt!“ Katja grinste. „Es hat auch voll Spaß gemacht. Ich glaube, ich werde nach den Ferien in unserer Schultheatergruppe mitma-chen“, antwortete sie. „Da kannst du dich meinetwegen richtig ausleben, jeden-falls ist das nicht so gefährlich wie hier“, mischte sich Jaap schmunzelnd ein. „Wisst ihr was Kinder, ich bin jetzt ziemlich kaputt. Lasst uns zum Museum zurückfahren, dort hauen wir uns aufs Ohr!“ Ich schaute auf meine Uhr. Inzwischen war es schon nach Mitternacht. Jaap hatte recht, es wurde Zeit, schlafen zu gehen. Schnell suchten wir unsere Sachen zusammen, holten die Räder aus dem Versteck und packten alles wie-der in den Fahrradanhänger. Im Museum saßen die ande-ren noch zusammen und quatschten. Aber ich war so mü-de, dass ich es gerade noch schaffte, meinen Schlafsack aufzurollen und hineinzukriechen.

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Wiedersehen mit Nackenlocke und Walross

„Hey, Hannah, es gibt Frühstück“, flüsterte mir jemand ins Ohr. Ich schlug langsam die Augen auf und sah in Meikes Gesicht. Die anderen saßen schon an dem großen Tisch, der mitten in Jaaps Büro stand. Es roch sehr gut. Jaap hatte Brötchen geholt und Kakao gekocht. Ich nahm Mei-kes Hand und ließ mich von ihr hochziehen. „Du kannst aber lange schlafen“, meinte Hanjo mit vollem Mund. „Wie spät ist es denn?“, fragte ich. „Schon elf“, antwortete Katja. Ich zog ein Sweatshirt über und setzte mich zu den anderen. „Kinder, jetzt hört mir mal zu. Ich möchte mich bei euch bedanken. Ihr wart großartig gestern Abend und ich bin ziemlich sicher, dass die beiden Gauner mein Museum so schnell nicht mehr besuchen werden. Ich glaube, auch von Ameland haben sie die Nase gestrichen voll, auch wenn es eigentlich nicht mein Ziel sein kann, Gäste von unserer schönen Insel zu vertreiben.“ Jaap schien ganz gerührt zu sein, jedenfalls ließ er sich in seiner Dankesrede kaum bremsen. „Jetzt hör schon auf!“, murmelte Hanjo. „Als Museumsleiter hätte ich mir nicht träumen lassen, so viele Jahrhunderte nach ihrem Tod, die Rixt noch einmal in ihrer ganzen Bosheit zu erleben. Kinder, ich danke euch dafür. Nur weiß ich leider immer noch nicht, wo die Gali-onsfigur ist“, fügte er leiser hinzu. „Egal!“, rief Olli dazwischen, „wir sind die Obercoolen, wir finden sie, denn wir finden alles, uns kann keiner besie-gen, wir sind die Besten!“

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Wir schauten jetzt alle erwartungsvoll auf Lara. Und sie sagte das, was sie immer sagte: „Halts Maul, Olli, es reicht!“ Paula unterstützte sie. „Genau, kannst du nicht mal einmal die Klappe halten!“ „Nein, nein, nein, das kann ich nicht!“, schrie er plötzlich ziemlich wütend, „ich will das auch gar nicht, ihr sollt mich nicht immer anmachen, ich bin der Größte, auch wenn’s euch nicht gefällt!“ Meike und ich sahen uns an. Irgendwie hatte Olli wirklich einen Tick. Und jetzt drehte er total ab. Er sprang hoch, riss den Stuhl zurück und hüpfte auf den Tisch. Wir alle, auch Jaap, waren so überrascht, dass wir nicht mehr dar-an dachten, unser Geschirr mit dem Frühstück in Sicher-heit zu bringen, denn Olli begann jetzt auf dem Tisch her-umzutanzen.

„Ich bin der Größte, ich bin der Größte!“, rief er immer wieder und trampelte zwischen den Tellern und Tassen herum. Die Milchtüte fiel um, der Kakao in den Tassen schwappte über und ergoss sich in Pfützen auf den Tisch. Sogar Lara und Paula standen staunend da und sagten

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nichts mehr. Jaap griff als erster ein. Er sprang auf, und zu unserer Überraschung kletterte er auch auf den Tisch, auf dem Olli inzwischen wie Rumpelstilzchen hin und her hüpfte. Paula, die sich gefasst hatte, fauchte ihn an: „Komm sofort da runter, Olli, oder ich rede die ganzen Fe-rien nicht mehr mit dir!“ Er tanzte drohend auf sie zu: „Wenn du nicht meine Schwester wärst...!“, schnauzte er sie an. Aber dann stand Jaap direkt hinter ihm, ergriff ihn mit einem lauten „Schluss jetzt!“ und nahm ihn wie ein großes Bündel unter den Arm. Er ging mit dem zappelnden Olli zu seinem Platz zurück und stieg vom Tisch. Dann ließ Jaap ihn los, denn er hatte sich inzwischen wieder beruhigt. „Wir beide gehen jetzt mal eben nach nebenan“, sagte Jaap mit ruhiger Stimme zu ihm, und dann, uns anschau-end, „es wäre nett, wenn ihr hier ein bisschen aufräumen könntet. Es ist ja sowieso langsam Zeit für euch nach Hause zu fahren.“ Nachdem die beiden im Nebenraum verschwunden waren, begannen wir, das Chaos zu beseitigen. So hatten wir Olli noch nie erlebt. Auch Lara und Paula sahen sich verwun-dert an und räumten schweigend den Tisch ab. Nachdem wir unsere Sachen gepackt hatten, kamen Olli und Jaap zurück. „Olli hat euch etwas zu sagen“, meinte Jaap schmun-zelnd.“ „Es tut mir leid, was ich eben angestellt habe“, murmelte er, „aber ich habe es satt, immer nur der kleine, dumme Bruder zu sein. Ich kann einfach nicht mehr hören, dass ich die Klappe halten soll!“, fügte er mit Blick auf Lara hin-zu. „Ich möchte, dass ihr mich ernst nehmt.“ „Du bist eben manchmal echt anstrengend!“, sagte Katja. „Du flippst so oft aus und nervst uns dann mit deiner An-geberei!“

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Lara und Paula nickten. Sie waren froh, dass Katja ausge-sprochen hatte, was sie als Schwestern ja nicht nur in den Ferien mit ihm auszuhalten hatten. Olli wollte etwas ant-worten, aber seine Stimme stockte jetzt. Jaap kam ihm zu Hilfe. „Er möchte einfach von euch mehr akzeptiert werden und verspricht auch ruhiger zu sein.“ Lara und Paula gingen auf Olli zu und umarmten ihn. Als sie ihm etwas ins Ohr flüsterten, fing er schon wieder an zu grinsen. „Da jetzt der erste Inselkoller überstanden ist, können wir ja gleich den Bus zurück nach Hollum nehmen“, brummel-te Hanjo. „Unsere Eltern warten bestimmt schon. Außerdem hätte ich Lust, einfach mal am Strand zu liegen und Ferien zu machen.“ „Eine gute Idee“, entgegnete Jaap. „Sobald ich etwas Neues in Erfahrung gebracht habe, werde ich mich bei euch melden. Außerdem muss ich noch einiges hier im Museum erledigen. Also kommt gut nach Hause und grüßt eure Eltern von mir.“ Wir gingen zur Haltestelle. Der Bus kam kurze Zeit später, aber diesmal mit einem Fahrer, den wir nicht kannten. Wir fuhren schweigend zurück nach Hollum. „Ich finde, wir gehen erst mal nach Hause und dann treffen wir uns gegen drei Uhr am Strand“, schlug ich vor, als wir ausstiegen. „Gute Idee“, sagte Katja, „das Wetter scheint ja ganz schön zu werden. Also bis heute Nachmittag.“ Als Meike und ich die Hofeinfahrt zu unserer Ferienwoh-nung betraten, saßen Mama und Papa auf der Sonnenter-rasse. „Hallo, ihr zwei!“, rief Mama, „da seid ihr ja wieder. Wie war die Museumsnacht?“

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„Och, eigentlich sehr schön“, antwortete ich etwas auswei-chend, „wir sind noch lange mit Jaap im Oerd gewesen. Er hat uns den großen Ententeich gezeigt.“ „Ach, ich dachte, ihr wolltet die Nacht im Museum verbrin-gen. Wenn Jaap mit euch unterwegs war, wer hat denn die anderen Besucher betreut?“, fragte Mama erstaunt. Ich schluckte, aber zum Glück kam Meike mir zu Hilfe und quatschte wie immer fröhlich drauf los. „Heute Nachmittag wollen wir an den Strand, Mama, wir haben uns schon verabredet. Das Wetter ist ja auch toll. Bei euch auf der Terrasse ist es mir jetzt schon viel zu heiß.“ „Nun mal langsam!“ Papa legte seine Zeitung zur Seite und sah Meike und mich an. „Ihr seid gerade erst wieder zu Hause und plant sofort den nächsten Ausflug? Vielleicht denkt ihr auch mal daran, dass ihr hier mit euren Eltern Urlaub macht?“ Normalerweise hätte mich Papas Frage sofort aufgeregt, aber um ihn und Mama von der Nacht im Oerd abzulen-ken, blieb ich ruhig. „Ja Papa, ich weiß, aber wir haben uns doch verabredet, und die anderen gehen auch.“ Ich stand auf, setzte mich auf seinen Schoß und legte meine Arme um seinen Hals. Außerdem hatte Meike ihren ‚Ach-du-lieber-Papa-Blick’ aufgesetzt, bei dem sie ihren Kopf leicht schräg legte. Dagegen war er machtlos. „Na ja, wenn ihr meint, aber ich habe eine Idee“, sagte Papa, „wir kommen einfach mit, vielleicht können wir ja ein bisschen Völkerball oder Fußball spielen.“ Mama nickte. Wir hatten Glück, die Nacht im Oerd spra-chen sie nicht mehr an. Kurz vor drei fuhren wir los. An den Fahrrädern am Strandübergang sahen wir, dass die anderen schon da waren. Meike rannte voraus. Die Sonne hatte den Strand inzwischen so aufgeheizt, dass mir beim Gehen im Sand

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die Fußsohlen brannten. Die Jungs, Meike und Lara tob-ten schon im Wasser. Katja und Paula saßen auf ihren Handtüchern und unterhielten sich. „Wollt ihr nicht schwimmen?“, fragte ich die beiden, wäh-rend ich mich umzog. „Doch, na klar“, antwortete Paula, „wir haben nur auf dich gewartet.“ Dann sprang sie auf und wir rannten um die Wette zum Wasser. Katja sauste hinter uns her. Kreischend stürzten wir uns in die kühle Nordsee. Als ich wieder auftauchte, traute ich meinen Augen nicht. Neben mir erhob sich der prustende Kopf von Papa aus der Gischt. „Damit hast du wohl nicht gerechnet?!“, rief er. „Nein“, antwortete ich, „das ist die Sensation des Tages, es muss heiß sein, richtig heiß.“ Meike, die Papa inzwischen auch entdeckt hatte, hing sich von hinten an seinen Hals. „Was machst du denn hier, das gibt’s doch gar nicht!“ Er drehte sich um, ergriff sie und warf sie in die nächste große Welle. Sie kreischte vor Begeisterung. Ich versuchte schnell wegzutauchen. Aber er hatte auch mich schon ge-packt, stemmte mich hoch und warf mich mit Schwung wieder ins Wasser. Eine ganze Weile tobten wir so herum, bis uns kalt wurde und wir zurück zu unserer Decke liefen. „Wir müssen etwas tun, um uns wieder aufzuwärmen!“, rief Pit. Er hatte sich den Ball geschnappt und jonglierte ihn mit seinem Zauberfuß. Die Väter sahen ihm zu. „Komm Papa!“, schrie Meike, „du wolltest doch heute mit uns Fußball spielen!“ „Ja, genau! Männer, ihr spielt auch mit, wir zeigen den Kids, was eine Harke ist! Hey, Frieda, Marlies, Heike, wir brauchen euch, wir spielen zusammen gegen die Kinder und ich spendiere heute Abend auf dem Rückweg eine Runde Eis für das Siegerteam!“

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Papas Begeisterung kannte keine Grenzen. Pit und Olli markierten schnell mit ein paar Handtüchern die Tore und dann ging’s los. Alle waren gut drauf. Genau wegen dieser Stimmung fuhr ich so gerne nach Ameland. Papa sagt zwar jedes Jahr, dies werde wohl der letzte gemeinsame Urlaub sein, aber recht hatte er mit dieser düsteren Pro-phezeiung noch nie. Ich glaube fest daran, dass die Müns-termänner und Franzens auch im nächsten Jahr wieder mitfahren werden. Die Erwachsenen hatten Anstoß. Papa führte den Ball. „Jetzt werden wir euch mal zeigen, wie man Fußball spielt!“, rief er übermütig. „Los, Rainer, geh in die Spitze, du altes Kampfschwein!“ Rainer, der ja nicht gerade zu den schlanken Vätern ge-hörte, schnaufte tief durch und trabte gemächlich nach vorne. Papa spielte ihm flach den Ball zu, aber Rainer schaffte es nicht, ihn zu stoppen. Er stolperte über seine eigenen Beine und fiel mit einem verzweifelten Aufschrei wie ein gefällter Baum zu Boden. Das sah aus wie eine Li-ve-Sendung von Pleiten, Pech und Pannen. Wir bekamen fast Bauchschmerzen vor Lachen. Pit beruhigte sich am schnellsten, nahm Rainer den Ball ab und dribbelte auf das Tor der Erwachsenen zu. Olli lief auf der anderen Sei-te mit, Katja und ich starteten in der Mitte durch. „Los, Pit, ich stehe frei, her mit dem Ball!“, brüllte Olli und fuchtelte wild mit den Armen. Aber Uli und Heike kamen irgendwie dazwischen und fingen Pits Flanke ab. Heike hatte ihre eigene Vorstellung vom Fußballspielen und hielt den Ball mit der Hand fest. „Stopp, dass war Hand, das ist unfair, Heike!“, schrie Olli. „Genau, Mama, das geht nicht!“ Auch Katja und Hanjo protestierten. „Quatsch, stellt euch nicht so an, nur weil das Spiel Fuß-ball heißt, soll ich meine Hand nicht benutzen dürfen?“, grinste sie. Rainer war inzwischen wieder aufgestanden und stand in der Nähe unseres Tores.

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„Gib ‚mich’ die Kirsche!“, rief er, „los Heike, ich bin bereit für das Tor des Jahrhunderts!“ Aber damit hatten Meike, Lara und ich gerechnet, wir fin-gen ihren Schuss ab, bevor er Rainer erreichte. Lara stoppte den Ball und passte ihn zu mir. Meike startete schon in Richtung des gegnerischen Tores. Als ich sie an-spielen wollte, sah ich aus dem Augenwinkel, dass Rainer seine gewaltigen Körpermassen auf Höchstgeschwindig-keit gebracht hatte, um mir den Ball abzujagen. Ich warte-te cool ab, schlug, kurz bevor er mich erreichte, einen kleinen Haken und ließ ihn ins Leere laufen. Marlies gelang es aber nicht so schnell ihm auszuweichen. Verzweifelt suchte Rainer nach der Notbremse. „Rainer, verdammt, bleib stehen!“, schrie sie ihn an, aber er prallte auf sie wie ein Güterwaggon auf einen Prellbock am Rangierbahnhof. Mit lautem Aufschrei fielen beide zu Boden. Diese Gelegenheit nutzten wir, und Meike erzielte durch einen eleganten Schlenzer, an Mama vorbei, unser Führungstor. Wir gewannen sechs zu zwei und hätten sicher noch hö-her gesiegt, aber die Erwachsenen konnten nicht mehr. Der Nachmittag verging wie im Flug. Immer wieder stürz-ten wir uns ins Wasser, wärmten uns durch Völkerball oder andere Spiele am Strand auf und quatschten zu-sammen. Es war schon kurz vor sieben, als Papa sagte: „Ich finde, wir gehen jetzt nach Hause, es wird Zeit für ein vernünftiges Abendessen. Am Leuchtturm kaufe ich euch noch das versprochene Eis.“ Keiner widersprach, denn wir hatten uns alle ziemlich aus-getobt. Mama, Heike und Marlies übernahmen das Auf-räumkommando, während Papa, Rainer und Uli tatenlos daneben standen und mal wieder eifrig diskutierten. Ich stieß Katja an. „Gleich werden unsere Väter Stress bekommen.“ „Ja, hoffentlich“, flüsterte sie, „und die Jungens bekommen gleich Stress mit mir.“

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Pit, Olli und Hanjo hatten sich schon angezogen und spiel-ten wieder mit dem Ball, während wir Mädchen unseren Müttern beim Einräumen halfen. Hier stimmte etwas nicht. „Ihr glaubt doch wohl nicht im Ernst, wir packen alles zu-sammen, und ihr könnt lässig am Strand tiefsinnige Ge-spräche führen!“, fuhr Marlies unsere Herren Väter an. Sie unterbrachen ihre Unterhaltung. Papa machte sich sofort an die Arbeit, Uli brummelte etwas, half dann aber auch mit. Rainer ließ sich jedoch nichts anmerken und ging zu den Jungs hinüber. Auch Katja platzte der Kragen. „Los Hanjo, Pit, Olli, ihr seid genauso fürs Aufräumen zu-ständig wie wir!“ „Meine Güte, jetzt stell dich nicht so an“, knurrte Hanjo. Rainer setzte sich in den Sand und wartete, bis wir fertig waren. Selbst die bösen Blicke von Marlies konnten ihn nicht aus der Ruhe bringen. „Ich schätze, es gibt heute Abend noch eine Diskussion zwischen Mama und Papa“, flüsterte Lara Paula zu. „Ja“, nickte sie, „Mama hat aber Recht, denn Olli fängt ja auch schon so an. Immer wenn es was zu tun gibt, ver-pisst er sich.“ Als alles verpackt war, gingen wir zu unseren Fahrrädern. „Ich bin richtig kaputt“, stöhnte Katja. Die letzte Nacht und der Nachmittag haben mir echt den Rest gegeben.“ „Und ich habe einen Riesenhunger!“, entgegnete Paula. „Ich schätze, Papa wird heute Abend kochen, um Mama wieder zu besänftigen. Ich muss ihm wahrscheinlich hel-fen, damit wir noch vor Mitternacht was auf den Tisch be-kommen.“ Ich lachte. „Aber gleich gibt’s ja schon eine kleine Vorspeise, die Siegprämie für unser Fußballspiel.“ „Stimmt“, antwortete Paula, „das könnte mir helfen die Zeit bis zum Abendessen zu überstehen.“

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Am Dünenübergang bestiegen wir unsere Fahrräder. Ich fuhr am Ende der Gruppe, Papa vorne an der Spitze. „Wir sind ganz schön viele“, dachte ich, als ich alle vor mir herfahren sah. Mit einem lang gezogenen „Haaaaalt!“ und erhobenem Arm ließ Papa die Gruppe am Leuchtturm-kiosk stoppen. Ich musste grinsen, denn das sah aus wie in einem Western, den ich mal zusammen mit ihm gese-hen habe. Da ritt der Held einer Gruppe von Cowboys voran und brachte sie genauso zum Stehen. Wir bekamen unser Eis, dann bogen die Münstermänner an ihrer Straße ab und wir fuhren mit den Franzens noch durch Hollum. Plötzlich durchfuhr mich ein riesiger Schreck. Vor der Pension Wijman standen Walross und Nackenlocke mit gepackten Koffern und diskutierten auf-geregt mit einem Mann, den wir nicht kannten. Er war ziemlich groß, hatte einen blonden Vollbart, eine Knollen-nase und trug die typischen Ameländer Holzschuhe. „Guck mal, wer da steht!“, zischte ich Katja zu. Sie wurde blass. Ich ahnte, was sie dachte. „Du brauchst keine Angst zu haben, sie können dich nicht erkennen. Als Rixt sahst du völlig anders aus!“, versuchte ich sie zu beruhigen. Katja wollte erst nicht weiterfahren, aber Walross und Nackentolle beachteten uns gar nicht. Auch Meike hatte sie gesehen. „Man, bin ich froh, dass sie dich nicht erkannt haben, Kat-ja. Die haben überhaupt nichts geschnallt, ich glaube, die fahren ab. Aber wer war der andere Mann? Der sah ja aus wie ein typischer Ameländer!“ „Meike, jetzt halt mal die Luft an!“, sagte ich, „keine Ah-nung wer das war. Wir fragen Jaap, vielleicht kennt der ihn.“ Unsere Eltern waren vorgefahren und warteten schon bei Franzens auf uns. „Kinder, es wird Zeit, ich habe einen Bärenhunger und ihr sicher auch, oder?“, rief Papa.

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„Eigentlich noch nicht“, antwortete ich, „wir würden gerne noch ein bisschen bei Katja bleiben. Wir kommen in einer halben Stunde nach, ja?“ Mama zog die Augenbrauen hoch. „Ihr solltet eigentlich beim Kochen helfen“, meinte sie. Meike sah Papa an, ihr ‚Ach-du-lieber-Papa-Blick“ funkti-onierte. „Na gut“, sagte er, „kommt in einer Stunde nach, dann ist das Essen fertig. Aber ihr müsst anschließend aufräu-men.“ „Alles klar, Paps!“, zwitscherte Meike. Wir setzten uns mit Katja in den Garten. Um diese Zeit war er am schönsten. Es war windstill, die Abendsonne tauchte alles in ein gold-gelbes Licht. Die großen Hortensienbüsche und die langen roten und gelben Stockrosen leuchteten jetzt besonders kräftig. „Wir rufen Jaap an!“, meinte Katja. „Und wie? Hier im Haus ist doch kein Telefon und wir ha-ben kein Handy“, sagte ich. „Wir gehen zur Telefonzelle an der Ecke!“, bestimmte sie. Katja hatte noch etwas Kleingeld. Jaaps Telefonnummer stand auf einem kleinen Zettel, den ich glücklicherweise in meiner Hosentasche wieder fand. Jaap meldete sich sofort. „Hallo Jaap, hier ist Katja, wir müssen dir unbedingt etwas erzählen!“ Sie beschrieb ihm den Mann, der mit den beiden Ganoven gesprochen hatte. Am anderen Ende der Leitung entstand eine Pause. „Was ist? Was sagt er?“, fragte Meike erwartungsvoll. Kat-ja zuckte mit den Schultern, hielt die Hörmuschel zu und flüsterte: „Nichts. Jaap, bist du noch da?“ „Eh, ja, entschuldige Katja, ich war so überrascht. Bist du sicher, dass dieser Mann dabei stand? Hatte er wirklich eine Knollennase?“

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Jetzt sprach Jaap so laut und aufgeregt, dass wir jedes Wort verstehen konnten. „Ja, wenn ich’s dir doch sage!“, entgegnete Katja. „Das begreife ich nicht“, hörten wir ihn antworten, „das kann nur Wim Dijkstra sein, ihm gehört die Galionsfigur. Aber wieso kennt der Nackenlocke und Walross?“ „Ich dachte, dass könntest du uns erklären“, meinte Katja. „Du hast doch gesagt, die beiden Ganoven standen mit Koffern vor der Pension. Wie lange ist das jetzt her?“ Katja schaute auf ihre Uhr. „Ich schätze etwas mehr als 30 Minuten.“ „Dann wollen sie wahrscheinlich die Fähre um halb neun nehmen. Ich fahre nach Nes“, hörten wir Jaap sagen. „Ich will mit eigenen Augen sehen, ob Mijnherr Dijkstra tat-sächlich etwas mit Nackenlocke und Walross zu tun hat.“ „Aber du weißt ja gar nicht, ob er die beiden zur Fähre bringen will“, zweifelte Katja. „Wahrscheinlich schon“, entgegnete Jaap, „denn der Bus ist weg und da sie kein Auto haben, kämen sie ja sonst zu spät. Jedenfalls muss ich es auf einen Versuch ankom-men lassen.“ „Er soll uns danach sofort wieder anrufen!“, wisperte Mei-ke jetzt, „am besten auf Paulas Handy.“ Katja gab es weiter. „Sei vorsichtig, lass dich nicht von ihnen erwischen!“, fügte sie hinzu. „Mach’ dir keine Sorgen“, antwortete Jaap, „bis später, ich melde mich dann bei Paula!“ „Bis später.“ Katja legte auf. „Die Sache wird ja immer verzwickter“, murmelte ich. „Also steckt der Besitzer der Figur mit den Gaunern unter einer Decke?“ „Sieht so aus“, nickte Katja.

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„Aber wir müssen jetzt erst mal abwarten. Nach dem Abendessen treffen wir uns noch mal, vielleicht hat sich Jaap dann schon gemeldet.“ Meikes Magen knurrte laut. „Los, wir müssen nach Hause, Mama und Papa warten und ich hab’ jetzt einen tierischen Hunger“, sagte sie. „Das ist ja auch nicht zu überhören“, lachte Katja, „bis nachher, am besten wieder bei uns.“ „Willkommen, meine Damen“, sagte Papa ironisch, als wir nach Hause kamen. „Schön, dass Sie sich auch mal Zeit für uns nehmen.“ „Tut mir leid“, entgegnete ich schuldbewusst, „aber Katja hatte so viel zu erzählen.“ „Wir wollen uns nachher noch mal treffen“, fügte Meike schnell hinzu.“ „Ihr seid ja heute sehr beschäftigt“, meinte Mama, „aber wir können zusammen zu den Franzens gehen, denn wir haben uns auch noch verabredet.“ Papa stand auf und holte das Essen aus der Küche. Es gab Tortellini, Meikes Lieblingsessen. Mama erzählte, dass sie heute Abend mit Franzens und den Münstermän-nern nach Ballum fahren wollten. Uns kam das sehr gele-gen, denn dann konnten wir ungestört unseren Fall be-sprechen. Meike und ich mussten nach dem Essen den Tisch abräumen und spülen. Aber diesmal maulten wir nicht herum, sondern erledigten alles so schnell wir konn-ten. Nur Meike ließ – wie immer – etwas fallen, diesmal ein Glas. Da das ziemlich regelmäßig passierte, gab sie Papa immer schon am Anfang des Monats einen Teil ihres Taschengeldes als Schadenersatz zurück. Das war ihr komischerweise lieber, als dann zu bezahlen, wenn sie etwas kaputt gemacht hatte. „Was habt ihr denn heute Abend vor, Kinder?“, fragte Hei-ke, als wir alle wieder bei Franzens saßen. „Mal sehen, irgendwas wird uns schon einfallen“, antwor-tete Katja ausweichend.

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„Na gut“, meinte Marlies, die schon halb auf ihrem Fahrrad saß, „dann wünsche ich euch viel Spaß, wir kommen wahrscheinlich spät zurück.“ „Aber du fährst nicht alleine nach Hause!“, fügte sie mit Blick auf Olli hinzu. „Natürlich nicht, Mama“, säuselte er mit treuem Augenauf-schlag. Ich fahre auf jeden Fall zusammen mit Lara und Paula. „Dann ist ja alles klar!“, donnerte Rainer mit seiner lauten Stimme, „auf geht’s Freunde!“ Unsere Eltern fuhren los. Endlich, denn wir waren natürlich gespannt, ob Jaap sich schon bei Paula gemeldet hatte. Und tatsächlich. Sie hatte Kontakt zu ihm. „Er hat vor einer halben Stunde angerufen“, begann sie. „Aber was hat er gesagt?“, fragte ich ungeduldig. „Er hat die drei an der Fähre beobachtet, der Mann ist der Besitzer der Galionsfigur, er heißt Wim Dijkstra“, antworte-te Paula. „Das wissen wir doch schon. Jaap hat uns gegenüber den Namen auch erwähnt“, schaltete sich Katja aufgeregt ein. „Aber was hat er gesehen? Warum trifft sich Dijkstra mit den beiden Typen?“ „Jaap ist total sauer, er glaubt, Dijkstra hat die beiden be-auftragt, seine eigene Figur aus dem Museum zu klauen.“ „Warum denn, wenn ihm die Figur sowieso gehört?“, wun-derte sich Meike. „Dijkstra steckt in Geldschwierigkeiten“, erklärte Paula mit ernstem Gesicht, „Jaap nimmt an, dass Nackentolle und Walross die Figur gestohlen haben, weil Jaap sie für die Dauer der Ausstellung versichern lassen musste.“ „Für eine ziemlich hohe Summe, stimmt’s?“, wollte Pit wis-sen. Paula nickte. „Genau, für 10.000 Euro, und die will Dijkstra wahrschein-lich jetzt abkassieren.“ „Dann stellt sich aber die Frage, warum Walross und Na-ckenlocke die Figur in den Dünen in Hollum gesucht

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haben“, überlegte Hanjo, „eigentlich hätten sie doch wis-sen müssen, wo sie ist.“ Er machte eine kleine Pause und kratzte sich am Kopf. Ein sicheres Zeichen, dass er nachdachte. „Wenn die Ganoven die Figur in Dijkstras Auftrag aus dem Museum geklaut haben, dann sollten sie sie wahrschein-lich für ihn auch in den Dünen verstecken. Und da sie jetzt nicht mehr da ist, will er die Ganoven entweder selbst rein-legen oder es ist noch jemand im Spiel, der Nackenlocke, Walross und Dijkstra zusammen über den Tisch ziehen will.“ „Wenn da wirklich noch ein Unbekannter mitmischt, wie sollen wir den denn finden?“, fragte Pit. Selbst Hanjo zuck-te mit den Schultern. „Keine Ahnung, im Moment fällt mir dazu nichts ein.“ „Mir schon“, grinste Katja, „wie wär’s, wenn du jetzt mal ins Haus gehst und für uns alle was zu trinken holst. Bring auch gleich die Packung mit den Salzstangen mit, die liegt in der Küche im Schrank!“ „Na gut, aber nur wenn Pit mit geht“, antwortete Hanjo seufzend, „sonst muss ich ja zwei Mal laufen.“ Auf einmal hörten wir ein Quietschen, die Gartenpforte wurde geöffnet. Ob unsere Eltern etwas vergessen hat-ten? Aber es war Jaap. „Hallo Kinderen“, begrüßte er uns in seinem warmen, ge-mütlichen Deutsch mit holländischem Akzent. Gleichzeitig kamen Hanjo und Pit mit den Getränken und Salzstangen aus der Küche zurück. „Wir sprechen gerade über das, was du Paula schon am Telefon erzählt hast. Aber woher weißt du das alles? Konntest du verstehen, was die drei am Fährhafen gesagt haben?“, fragte Katja. „Zuerst nicht“, antwortete Jaap, „ich sah nur, wie sie sich aufgeregt unterhielten und dabei heftig gestikulierten. Vor allem Walross schien sehr wütend zu sein, denn er fasste Mijnherr Dijkstra immer wieder an den Kragen. Als andere

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auf die drei aufmerksam wurden, verzogen sie sich auf den Kai. Und das war mein Glück, denn sie standen direkt am Fenster des kleinen Lagerschuppens. Ich schlich mich auf der anderen Seite hinein. Was ich dann hörte, hat mich ziemlich überrascht.“ Olli hielt die Spannung nicht mehr aus. „Komm Jaap, erzähl schon, ich platze gleich!“, stieß er hervor. „Die Ganoven wollten Geld von Dijkstra“, fuhr Jaap fort, „weil sie seinen Auftrag ja erledigt hatten. Walross meinte, das Verschwinden der Figur sei nicht ihre Schuld. Es sei abgemacht gewesen sie in den Dünen zu verstecken.“ „Aber haben sie denn kein Geld bekommen, nachdem sie in deinem Museum eingebrochen waren?“, erkundigte ich mich. „Doch, aber wohl nur einen kleinen Vorschuss. Dijkstra hatte ja die Versicherungssumme noch nicht.“ „Und darauf haben sie sich eingelassen?“, wunderte sich Hanjo. „Ja, besonders hell im Kopf sind die beiden wirklich nicht. Der Dicke meinte, jetzt bräuchten sie den Rest des Geldes und sogar noch mehr. Sie seien schließlich extra zurück-gekommen, um Dijkstra zu helfen. Walross glaubt tatsäch-lich immer noch, ich hätte die Galionsfigur“, sagte Jaap kopfschüttelnd. „Und was hat Dijkstra dazu gesagt?“, wollte Katja wissen. „Eigentlich nichts, er hat sie auf später vertröstet. Walross und Nackenlocke hatten aber solche Angst, dass sie auf keinen Fall mehr auf der Insel bleiben wollten.“ Wir verschluckten uns fast an den Salzstangen, so sehr mussten wir lachen. „Oh, die Armen, jetzt müssen sie ganz schnell zu ihrer Mama nach Hause fahren, die tun mir ja so leid!“, prustete Lara. Hanjo klopfte ihr kräftig auf den Rücken, weil sie von einem Hustenanfall geschüttelt wurde. „Und Dijkstra?“, fragte er Jaap.

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„Der murmelte so etwas wie ‚Reisende soll man nicht auf-halten’ und ging einfach weg.“ Was haben Nackenlocke und Walross denn jetzt ge-macht“, wollte ich noch wissen, „sind sie rüber zum Fest-land?“ „Ja. Als die letzten Passagiere auf die Fähre gingen, nah-men sie ihre Koffer und rannten los. Sie sind auf und da-von.“

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Die Jagd nach der Figur geht weiter

„Also müssen wir uns jetzt an Dijkstra halten“, entfuhr es Hanjo mit einem Seufzer. „Du hast recht“, antwortete Jaap, „nur er weiß, wo die Fi-gur ist. Aber die Frage ist, wie wir ihm dieses Geheimnis entlocken können.“ Wir sahen uns ratlos an. Ob Hanjo eine Idee hatte? Er be-gann behutsam die bewusste Stelle an seinem Kopf zu kratzen, ein sicheres Zeichen, dass es hinter seiner Stirn zu arbeiten begann. „Wie wäre es“, sagte er gedehnt, „wenn jemand von uns versucht zu Dijkstra Kontakt aufzunehmen?“ Jaap sah ihn ungläubig an. Auch wir wunderten uns. „Das ist doch sinnlos, wie sollen wir aus dem was raus kriegen?“, fragte Katja zweifelnd. „Na ja“, Hanjo kratzte sich schon wieder am Kopf. „Meine Idee ist, durch einen geplanten Zufall mit ihm ins Gespräch zu kommen.“ „Durch einen geplanten Zufall? Was soll denn das sein?“, fuhr ich Hanjo ungeduldig an. „Wir könnten doch als Ferienkinder einfach etwas Pech haben“, grinste er, „aber um das genauer zu erklären, müsste ich von dir wissen, Jaap, wo Dijkstra wohnt und was für ein Typ er ist.“ „Was soll ich da erzählen? Wie du weißt, stammt er aus einer Ameländer Kapitänsfamilie. Einer seiner Vorfahren gehörte zu den Walfängern, die damals im Packeis am Nordpol umgekommen sind. Danach war es ja vorbei mit dem Reichtum auf Ameland. Seine Familie, übrigens auch viele andere, musste sich eine neue Existenz aufbauen. Die Dijkstras verdienten ihr Geld seit der Zeit mit dem Handel. Wims Vater hat es in den letzten Jahrzehnten

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geschafft in Hollum einen gut gehenden Laden für Anden-ken, Spielsachen und Haushaltswaren aufzubauen. Eben für alles, was Ameländer und Touristen so gebrauchen können. Wim hat das Geschäft übernommen. Aber in letz-ter Zeit wurde die Konkurrenz immer größer und sein La-den lief nicht mehr so gut. Kürzlich hat er noch mal groß umgebaut und neu eröffnet. Vielleicht ist er deshalb so knapp bei Kasse.“ „Klingt logisch“, meinte Hanjo, „aber was ist er für ein Mensch? Du kennst ihn ja schon länger.“ „Eigentlich ist er ruhig und zurückhaltend. Er spricht flie-ßend das Ameländisch, eine Art Spezialdialekt, den es nur hier gibt. Die Insel verlässt er selten. Und wie fast alle Be-wohner kennt er unglaublich viele Sagen und Erzählun-gen.“ „Wo wohnt er denn?“, wollte Hanjo noch wissen. „In einem sehr schön renovierten Kapitänshaus auf der Oosterlaan“, antwortete Jaap. „Also gut, dann erkläre ich mal, was ich vorhabe“, fuhr Hanjo fort. „Es geht darum mit Dijkstra in Kontakt zu treten, ohne dass er merkt, was wir eigentlich wollen. Dazu nutzen wir Pits und Ollis Fußballtalent. Ihr müsstet nämlich auf der Oosterlaan ein bisschen kicken. Dabei fliegt bedauerli-cherweise euer Ball durch sein Fenster.“ Hanjo schaute Pit und Olli erwartungsvoll an. „Wie stellst du dir das vor?“, fragte Pit. „Ganz einfach“, antwortete Hanjo mit einem Grinsen. Du tust dasselbe wie zu Hause und verwechselst einfach Fensterscheibe und Tor.“ „Die Idee klingt nicht schlecht“, meinte Pit. „Machst du mit, Olli?“ „Na klar!“, rief der begeistert und sprang auf. Mit einem schnellen Blick auf Lara vergewisserte er sich, diesmal mit seiner Reaktion nicht übertrieben zu haben. Sie ließ ihr

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berühmtes ‚Halts Maul, Olli!’ auch nicht hören. Im Gegen-teil, sie schien genau so begeistert zu sein wie er. „Super Idee“, strahlte sie, „ich bin auch dabei, mit einem Ball kann ich ja ganz gut umgehen.“ Jaap war etwas besorgt. „Und was sagen eure Eltern da-zu? Wegen des Schadens, der dann entsteht, werden sie doch in die ganze Sache hineingezogen.“ „Vielleicht wird es ja auch Zeit“, mischte ich mich jetzt ein. „Heute Mittag war es schon schwierig, sich nicht zu ver-plappern. Mama fand es nämlich merkwürdig, dass wir den ganzen Abend mit dir im Oerd, statt im Museum ver-bracht haben.“ „Genau, gab Katja zu bedenken, „es könnte von Vorteil sein, wenn unsere Eltern dabei sind, aber aus einem ganz anderen Grund. Ein Gespräch über den Schaden zwi-schen Dijkstra und, zum Beispiel Rainer, wäre nämlich ei-ne gute Gelegenheit sich unauffällig in seinem Haus um-zusehen.“ „Einverstanden“, meinte Jaap, „wenn eure Eltern Bescheid wissen, könnte ich sie endlich auch mal ein bisschen nä-her kennenlernen.“ „Okay, was glaubst du, wann sie bei Dijkstra auftauchen können?“, fragte Hanjo. „Wahrscheinlich ist es am besten, wenn ihr zwischen sechs und sieben abends zu ihm geht, dann hat er seinen Laden geschlossen und ist zu Hause. Er wohnt allein, weil seine Frau mit den Kindern im letzten Jahr von Ameland nach Leeuwarden gezogen ist. Sie hat sich von ihm ge-trennt. Ich glaube, sie hatten damals schon Geldsorgen, denn Wim hat um diese Zeit angefangen mehr zu trinken.“ Jaap schien so nach und nach ein Licht aufzugehen. „Dann trefft euch morgen Abend in der Osterlaan“, sagte Hanjo zu Pit, Olli und Lara. „Gut, dann fahre ich jetzt nach Hause. Ich versuche noch mehr über Dijkstra herauszufinden. Ich hoffe, mein Freund Gerrit kann mir wieder helfen.“

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Jaap erhob sich. „Wer ist denn das?“, wollte Meike noch wissen. „Gerrit de Jong ist der freundlichste Polizist Amelands, ich kenne ihn schon seit dreißig Jahren, wir sind zusammen auf die Schule gegangen. Er hat mir auch geraten den Diebstahl erst mal geheim zu halten.“ Dann wandte er sich an Paula. „Wir telefonieren morgen, lass dein Handy eingeschaltet.“ Sie nickte. Jaap ging nach vorne zur Straße und fuhr mit seinem Auto zurück nach Buren. Inzwischen war es stockdunkel. „Meike und ich gehen auch, sagte ich, „wir sind ziemlich müde.“ Meine Schwester schaute mich böse an. „Wie kommst du darauf? Wann ich müde bin, bestimme ich immer noch selbst“, fuhr sie mich an. Aber Katja kam mir zu Hilfe. „Ich bin auch müde. Wir sollten wirklich schlafen gehen, morgen wird’s ja vielleicht wieder richtig spannend.“ Auch die Münstermänner fuhren nach Hause, so dass Meike nachgab. Als wir im Bett lagen, wollte ich mit ihr noch quatschen. Aber sie antwortete schon nicht mehr. Kurz danach fielen auch mir die Augen zu. Am nächsten Morgen weckte Papa uns. „Hallo, meine Damen, falls ihr mit Mama und mir auf der Terrasse frühstücken wollt, müsst ihr aufstehen oder bes-ser gesagt, dürft ihr aufstehen.“ „Wie spät ist es denn?“, gähnte ich. „Schon zehn, die Sonne scheint, es sind zweiundzwanzig Grad, wir sind auf Ameland, der Sonneninsel.“ So früh am Morgen konnte ich Papas Ameland - Begeiste-rung noch nicht vertragen. Aber ich stand trotzdem auf und ging nach unten. Mama schlürfte ihren Milchkaffee. „Hallo, meine Große!“, begrüßte sie mich, „hast du gut ge-schlafen?“

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„Es hätte etwas länger sein können“, antwortete ich, „aber Papa musste mir unbedingt sagen, wie toll er es hier fin-det. Er hat mir was von Sonneninsel erzählt oder so.“ „Du hättest ja liegen bleiben können“, grinste er. „Was ist mit Meike?“, fragte Mama. „Die hat sich nach seinem Auftritt gleich wieder umge-dreht. Ich glaube, sie schläft noch.“ „Wie war es denn bei euch?“, erkundigte ich mich. „Wir haben im Cafe Nobeltje Karten gespielt“, antwortete Papa. Jedenfalls eine Weile, bis Rainer wie immer seine eigenen Regeln erfand. Alle, die mit ihm zusammen spie-len mussten, haben verloren. Aber lustig war es trotzdem. Nachher hat er eine Geschichte nach der anderen erzählt. Du kennst ihn ja.“ Es stimmt. Wenn man mit Rainer Karten spielt, tut er im-mer so, als wäre er ein eiskalter Zocker, der alles im Griff hat. Aber In Wirklichkeit hat er keine Ahnung. „Wann wart ihr denn zu Hause?“, erkundigte sich Mama. „Wir wollten euch ja eigentlich bei Franzens abholen.“ „Wir sind schon gegen elf gegangen, weil wir so müde wa-ren“, antwortete ich. „Das stimmt nicht, ich war überhaupt nicht müde.“ Meike stand in der Tür und schaute mich wieder böse an. „Und warum hast du dann gestern Abend so oft gegähnt?“ entgegnete ich. „Na und? Ich kann gähnen wann ich will, deshalb bin ich noch lange nicht müde“, antwortete sie schnippisch. Papa mischte sich ein. „Guten Morgen, mein Kind, jetzt setz dich erst mal hin.“ Noch ziemlich verschlafen und mit zerzausten Haaren be-gann sie zu frühstücken. „Übrigens ist heute Rettungsboottag“, begann Mama jetzt. „Das alte Rettungsboot wird wieder mit dem Pferdege-spann an den Strand gefahren. Aber dann gibt es noch etwas Besonderes, die Zuschauer können mit dem Boot

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auf der Nordsee ein paar Runden fahren. Habt ihr Lust dazu?“ Meikes Stimmung besserte sich sofort. Die Aussicht auf eine Bootsfahrt gefiel ihr. „Ja, total cool!“, rief sie begeistert, „wann geht’s los?“ „Es kommt darauf an“, sagte Papa, „wir können schon di-rekt zum Strand gehen oder uns die Ausfahrt mit den Pferden vom Museum aus im Dorf angucken. Dann müs-sen wir aber in einer Stunde dort sein.“ Zwar hatten wir die Rettungsbootübung schon gesehen, aber wir wollten trotzdem wieder hin. Allein schon wegen der riesigen Pferde, die den schweren Anhänger mit dem Boot zogen. Schnell frühstückten wir zu Ende, zogen uns an und fuhren los. Vor dem Museum war ein riesiger Volksauflauf. Kinder und Erwachsene, die darauf warteten, dass die Vorstellung begann. Sogar die zwei schmutzigen Schafe auf der Wiese nebenan, die sich normalerweise nur für Gras interessierten, standen direkt am Zaun und glotzten. „Jetzt schau dir diese vielen Menschen an“, sagte Mama. Aber Papa hatte nur Augen für die riesigen Pferde, die ihm nicht sonderlich sympathisch schienen. Sie wurden gerade von kräftigen Männern in Gummistiefeln vor den Anhänger gespannt, auf dem das Rettungsboot zum Strand trans-portiert werden sollte. „Gleich erzählt er wieder von dem Pferdeerlebnis in seiner Kindheit“, flüsterte mir Meike zu.“ „Diesmal nicht“, wisperte ich, „die Geschichte kennen wir doch längst auswendig.“ „Ich wette mit dir um ein Eis!“ Aber Meike spielte unfair. Noch ehe ich sie daran hindern konnte, fragte sie Papa: „Warum guckst du denn die Pfer-de so komisch an?“ „Das ist eine lange Geschichte“, begann er, „aber ich hatte als Kind einen Freund, der mit seinen Eltern auf einem Bauernhof lebte.“

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Triumphierend warf mir Meike einen kurzen Blick zu. Sie hatte die Wette gewonnen, denn jetzt ließ er sich nicht mehr bremsen. „Ich bin immer sehr gerne zu ihm gefahren, um mit ihm zu spielen. Er besaß ein Pony mit dem Namen Heinz, auf dem wir ab und zu ritten. Allerdings durfte ich nur auf Heinz sitzen, wenn mein Freund das Halfter hielt. Wir drehten auf der Schweinewiese unsere Runden. Meist ging es auch gut, aber eines Tages eben nicht.“ „Und was ist da passiert?“, erkundigte sich Meike schein-heilig. „Na ja, aus welchen Gründen auch immer, war eine Sau mit ihren Ferkeln nicht im Stall, sondern auf der Wiese. Mitten im schönsten Trab stieg das Pony plötzlich vorne hoch und ich flog im hohen Bogen in die Schweinesuhle.“ „Hast du dir wehgetan?“, fragte Meike, obwohl sie es ge-nau wusste. „Und wie“, antwortete Papa, „ich fiel so unglücklich, dass ich nicht nur aussah wie ein Schwein, sondern mir auch noch den Arm gebrochen hatte. Seitdem kann ich Pferde nicht mehr ausstehen!“ Meike stieß mir in die Seite. „Ich will heute Abend ein großes Nusseis.“ Jetzt schaute Papa mich fragend an. „Hab’ ich euch diese Geschichte nicht schon mal erzählt?“ Mama nickte heftig und ich murmelte: „Kann sein, irgend-wie kam sie mir bekannt vor.“ Inzwischen waren zehn Pferde im Geschirr. Durch die weit geöffneten Flügeltore des Museums sah man das blau-weiße Rettungsboot oben auf dem Anhänger. Damit er nachher im Sand nicht stecken blieb, liefen die Räder wie bei einem Panzer in großen Laufketten. Plötzlich ertönte ein schriller Pfiff und die Pferde setzten sich in Bewegung. Mit lautem Geratter schob sich das Gefährt aus der Muse-umshalle auf die Straße und fuhr in Richtung Strand.

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Die Zuschauer nahmen in einer langen Reihe zu Fuß oder mit dem Rad die Verfolgung auf. „Lasst uns zum Strand vorfahren“, sagte Mama, „dann können wir besser sehen, wenn sie das Rettungsboot ins Meer ziehen.“ Schon von weitem sahen wir auf dem Deich und den Dü-nen viele Menschen, die sich das Schauspiel ebenfalls ansehen wollten. Trotzdem gelang es uns, unter Führung von Mama, einen guten Platz zu erobern. Wenn es darum geht, ist sie ein echter Profi. Fast immer bekommt sie ei-nen Parkplatz, einen guten Tisch im Restaurant oder, wie eben jetzt, einen Platz, von dem aus wir trotz der vielen Menschen eine gute Sicht auf das Rettungsboot hatten. Die riesigen, starken Pferde zogen den Anhänger mit dem Boot über den Strand und hielten kurz vor dem Wasser dampfend an. Meike stieß Mama an. „Gleich werden sie die Pferde ausspannen, oder?“ Mama nickte. „Sie wollen sie zuerst an das Wasser gewöhnen.“ Und tatsächlich konnten wir jetzt sehen, wie die Männer die Pferde ausschirrten und mit ihnen einige Runden im flachen Meer drehten. Danach wurden sie wieder einge-spannt. Angefeuert durch laute Rufe zogen die schwarzen Riesen mit aller Kraft den Anhänger mit dem Boot so tief ins Wasser, bis es vom Wagen gelöst werden konnte und frei schwamm. Die Besatzung warf den Motor an und das Rettungsboot nahm Fahrt auf. Es sah toll aus, wie es durch die Wellen aufs offene Meer hinausfuhr. Die Pferde standen in der Zwischenzeit wieder auf dem Strand, um sich auszuruhen. „Habt ihr eigentlich das Denkmal gesehen, an dem wir vorbei gekommen sind?“, wollte Papa wissen. „Das mit den Pferden?“ Er nickte. „1978 sind hier acht der zehn Pferde bei der Ausfahrt des Rettungsbootes ertrunken. Das Wetter war so stürmisch,

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dass die Tiere in Panik gerieten und nicht mehr auf den Strand zurückgeführt werden konnten.“ „Die armen, wie schrecklich!“, rief Meike. „Warum haben sie denn das Rettungsboot dann nicht im Museum gelassen?“ „Damals war es noch richtig im Einsatz“, meinte Mama. „Die Ameländer haben damit früher wirklich Menschen aus Seenot gerettet. Heute haben sie ein schnelles und mo-dernes Rettungsboot, es liegt in der Ballumer Bucht, in dem kleinen Hafen.“ „Da vorne kommt es übrigens!“, rief Papa jetzt. Elegant jagte das Boot über das Wasser, die letzten Meter Rich-tung Strand drosselte es seine Geschwindigkeit und ging vor Anker. Es besaß eine silbergraue Kajüte und eine gro-ße schwarze Reling, die mit einem Gummischlauch ge-schützt war und hieß Anna Margaretha. „Ist das ein cooles Teil!“, meinte Meike begeistert, „damit will ich unbedingt fahren!“ Schnell stellten wir uns in der Menschenschlange an, die sich vor dem Boot gebildet hatte. Unsere Schuhe ließen wir am Strand stehen, denn man musste ein Stück durchs Wasser waten, um über eine Leiter an Bord klettern zu können. Die Rettungsleute halfen uns. Ich traute meinen Augen nicht. Der Mann, der mir freundlich seine Hand entgegenstreckte, war Wim Dijkstra. „Welkom an Boord!“, sagte er auf Niederländisch. Ich war so verdattert, dass ich gar nicht antwortete und schnell an ihm vorbei nach vorne ging. Meine Schwester stürzte auf mich zu. „Hast du ihn erkannt?“, fragte sie aufgeregt. „Was machen wir jetzt?“ „Gar nichts!“, antwortete ich bestimmt. „Der kennt uns doch gar nicht und wir werden auch heute Abend nicht seine Fensterscheibe zerschießen.“ Es ging los. Das Boot drehte gemächlich seinen Bug zum offenen Meer und fuhr dann immer schneller.

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„Fantastisch!“, rief Meike. Breitbeinig standen wir an der Reling, während uns der Wind ins Gesicht wehte und die Haare zerzauste. Die Anna Margaretha stieg vorne so hoch, dass ich das Gefühl hatte, sie würde gleich abhe-ben. Aber jedes Mal, wenn sie den höchsten Punkt er-reicht hatte, fiel sie zurück aufs Wasser. Ich hielt meine Nase in den Wind und schnupperte den Salzgeruch. Mama hielt sich krampfhaft fest und sah nicht besonders begeistert aus. Auch Papa war blass. „Das ist ja echt toll!“, rief er wenig überzeugend, als sich unsere Blicke trafen. „Sieht man dir aber nicht an!“, schrie ich gegen die dröh-nenden Motoren und den pfeifenden Wind an. Mama nick-te heftig. „Wenn ich das gewusst hätte, wäre ich am Strand geblie-ben. Ich glaube, ich werde seekrank!“ „Quatsch, das ist doch total cool!“, brüllte Meike. „Halt dich bloß vernünftig fest!“, rief Mama ihr zu, rutschte aber im gleichen Augenblick selbst aus. Papa half ihr wie-der hoch. „Das solltest du besser machen!“, grinste Meike sie an. Kurz danach drosselte das Rettungsboot das Tempo, drehte und fuhr fast geräuschlos und langsam wieder zu-rück. Ich beobachtete Dijkstra. Er stand immer noch hinter uns an der Reling, zusammen mit einem jüngeren Mann. Ich stieß Meike an. „Guck mal, mit wem sich Dijkstra da unterhält. Hast du den schon mal gesehen?“ „Nicht dass ich wüsste.“ Meike zuckte mit den Schultern. „Aber irgendwie hat er mit ihm Ähnlichkeit.“ Ich schaute noch mal hin. Meike hatte Recht. Auch der jüngere hatte blonde Haare und eine knollige Nase. Ob sie verwandt waren?

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„Sehr nett sind die aber nicht zueinander“, sagte Meike. „Dijkstra sieht den jüngeren richtig böse an.“ „Finde ich auch. Das müssen wir unbedingt den anderen erzählen.“ Die Anna Margaretha tuckerte die letzten paar Meter Rich-tung Strand, dann ließen die Männer den Anker hinab und wir stiegen über die Leiter wieder von Bord. Mit einem freundlichen ‚tot ziens’, ‚bis bald’, verabschiedete Dijkstra sich von uns. Er konnte ja nicht wissen, was wir mit ihm vorhatten. „Ich bin froh, wieder festen Boden unter den Füßen zu ha-ben“, sagte Mama, „Fahrten auf Rettungsbooten gehören nicht zu meiner Lieblingsbeschäftigung.“ „Mir geht’s ähnlich“, stimmte Papa zu, „ich finde, wir haben uns einen Besuch im Zwaan verdient!“ Meike und ich grinsten uns an. Auf ihn war Verlass, mit ei-ner Belohnung in unserem Stammcafe nach der Boots-fahrt hatten wir gerechnet. „Die anderen sind bestimmt auch da, vielleicht können wir ja heute Nachmittag was mit ihnen unternehmen“, schlug Mama vor.

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Ein Nachmittag im Wald

„Hallo, da seid ihr ja!“ Rainer begrüßte uns wie immer laut und gut gelaunt auf der Terrasse des Zwaan. Papa und Mama setzten sich zu den Erwachsenen. „Was denkt ihr, wen wir gesehen haben?“, posaunte Mei-ke am Kindertisch los. Die anderen schauten uns neugie-rig an. Ich stieß sie mit einem Blick auf die Erwachsenen in die Seite. „Sei leise, sie müssen das ja nicht unbedingt mitkriegen!“ Olli, den Mund voller Apfelkuchen mit Schlagsahne, raun-te: „Wen habt ihr denn gesehen?“ Flüsternd erzählten wir von unserer Begegnung auf der Anna Margaretha. „Also ist Dijkstra wahrscheinlich nicht alleine“, meinte Hanjo. „Stimmt!“, sagte Katja. „Hoffentlich klappt unsere Fußball-aktion heute Abend, dann wissen wir vielleicht mehr.“ „Na, was habt ihr denn da zu flüstern?“ Uli erschien an unserem Tisch. „Erwachsene müssen ja nicht alles wissen!“, antwortete Pit schnell. „Soso.“ Sein Vater lächelte. „Ich wollte euch eigentlich nur was für heute Nachmittag vorschlagen. Rainer und ich organisieren wieder unseren Spieletag. Habt ihr Lust mitzumachen?“ Natürlich hatten wir Lust. Rainer und Uli planen den Spie-letag jedes Jahr im Hollumer Wald. Ich war gespannt, was sie sich diesmal ausgedacht hatten. Wir verabredeten uns um drei Uhr am großen Spielplatz.

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Die beiden sahen zum Weglachen aus, als wir dort eintra-fen. Uli trug ein knallrotes T-Shirt mit der Aufschrift ‚Heino’, eine blonde Perücke und die für den Sänger typische, dunkle Sonnenbrille, außerdem eine bayerische kurze Le-derhose und einen Trachtenhut. Rainer hatte auch eine dunkle Sonnenbrille aufgesetzt, aber dazu ein weißes Hemd mit dunklem Schlips, einen schwarzen Anzug und schwarze Schuhe angezogen. Auf seinem Rücken klebte ein Schild, darauf stand mit großen Buchstaben: ‚Ich bin Heino sein kleiner Blues-Bruder.“ Uli begrüßte uns. „Meine Damen und Herren, ich darf Sie alle recht herzlich willkommen heißen zu dem weltbekannten Spielnachmit-tag im weltbekannten Hollumer Wald, vorbereitet von den weltbekannten Spielexperten Heino und Heino sein kleiner Blues-Bruder.“ Wir applaudierten. „Ja, vielen Dank für dieses Geräusch, wir haben es ver-dient, auch wenn wir noch nichts geleistet haben, und ich kann Ihnen versprechen, wir werden auch nichts leisten. Denn diejenigen, die etwas leisten werden, sind aus-schließlich Sie, meine Damen und Herren! Was werden Sie nun leisten? Zunächst einmal haben Sie die Gelegen-heit, sich ein wenig aufzuwärmen mit dem beliebten Phan-tasiespiel ‚Das kotzende Känguru’. Jake, bitte erkläre die Regeln!“ „Sehr gerne, Heino!“ Rainer, genannt Jake, zog eine Mundharmonika aus der Tasche. Noch bevor er einen Ton spielen konnte, klatsch-ten wir wieder. Dann entlockte er ihr einen kurzen Ton und erklärte uns, was wir tun sollten. Wir bildeten einen Kreis, während sich unser Blues-Bruder Jake in die Mitte stellte. Er zeigte plötzlich auf mich und rief: „Elefant!“ Ich fasste sofort mit der linken Hand an meine Nase, legte den rechten Arm über den linken und deutete einen

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Rüssel an. Mama und Katja, die links und rechts neben mir standen, mussten an meinem Kopf mit ihren Armen die großen Elefantenohren zeigen. Es kam darauf an, gleichzeitig zu reagieren, denn die Figur musste immer durch drei Personen dargestellt werden. Schon zeigte Rainer auf den nächsten. „Toaster!“, rief er. Olli begann auf der Stelle zu hüpfen. Pit drehte sich zu ihm, streckte sein Hand aus und schrie Lara an: „Komm schon, gib mir deine Flossen!“ Jetzt hüpfte Olli zwischen ihnen auf der Stelle, so dass er wirklich aussah wie eine Brotscheibe im Lara und Pit – Toaster. Und dann kam das ‚kotzende Känguru’. Rainer zeigte auf Heike. Sie hielt ganz schnell die Arme wie einen Halbkreis vor sich, das war der Kängurubeutel. Paula, die neben ihr stand, kotzte mit einem lauten Würgegeräusch hinein. Wir lachten uns schlapp. Vor allem Olli war kaum zu bremsen, warf sich ins Gras und trommelte mit den Fäusten auf den Boden. Auch Papa fand es so komisch, dass er vergaß auf der anderen Seite in den Beutel zu kotzen. Also musste er in die Mitte. Eine Waschmaschine, einen Dackel, einen Mixer, alles Mögliche mussten wir darstellen, bis Rainer und Uli uns vorschlugen ‚Pott-erlösen’ zu spielen. „Meine Damen und Herren, dieses Spiel geht folgender-maßen!“, begann Heino – Uli. „Was bedeutet das Wort erlösen? Hätte unser frommer Rainer es erklärt, würde er sicher behaupten, es habe et-was mit der Kirche zu tun. Aber in diesem Spiel geht es darum, Gefangene aus einem Pott zu befreien. Wir ha-ben…“, er zeigte auf einen mit rotem Band abgegrenzten Bereich am Waldrand, „…hinter den beiden Sitzbänken den Pott eingerichtet. Die Fänger dürfen die Gefangenen hier einsperren. Diejenigen, die noch nicht gefangen wur-den, können ihre Mitspieler aber durch Abschlagen wieder befreien!“ „Ich will fangen!“

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„Ich auch!“ Olli und Pit meldeten sich sofort. Uli war einverstanden und bestimmte noch zusätzlich Paula und Heike. „Ihr zählt jetzt laut bis 50, die anderen können sich in die-ser Zeit verstecken. Das Spiel ist beendet, wenn alle er-wischt wurden und beginnt, wenn ich in diese Trillerpfeife blase!“ Dann ließ er einen ohrenbetäubenden Pfiff folgen und wir rannten so schnell wie möglich in den Wald. Olli, Pit, Paula und Heike hörte ich laut zählen. Ich lief einen Weg ent-lang, der steil bergauf führte. Der ganze Wald bestand aus Hügeln und Tälern und war durchzogen von Sandwegen. Es war ziemlich anstrengend darauf schnell zu rennen. Deshalb orientierte ich mich nach links ins Unterholz, um mir ein sicheres Versteck zu suchen. Erst jetzt merkte ich, dass mir jemand folgte. Ich bekam einen ziemlichen Schreck, aber es war Hanjo. Wir duckten uns hinter einem Gebüsch und ruhten uns aus. „Ich dachte schon, Pit oder Paula würden mich verfolgen!“, wisperte ich. „Keine Angst, die dürften gerade erst mit dem Zählen fertig sein. Außerdem versuchen sie bestimmt erst mal die Er-wachsenen zu fangen. Die sind niemals so weit in den Wald gerannt wie wir.“ Ich ließ mich auf dem Waldboden nieder. Hanjo setzte sich neben mich. Das Versteck war gut, denn wir konnten von hier aus beobachten, ob sich jemand von vorne näherte. „Wie findest du eigentlich bis jetzt die Ferien?“, fragte er mich. „Na ja“, ich zögerte ein bisschen mit der Antwort, „eigent-lich gefallen sie mir gut. Und ich bin gespannt, wie es mit unserem Fall weitergeht. Du hast echt coole Ideen dazu.“

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Das war mir jetzt rausgerutscht. Am liebsten hätte ich mir die Zunge abgebissen. Hanjo schaute mich überrascht an und lächelte. „Meinst du? Aber du auch ..., übrigens finde ich dich echt nett.“ Das war das erste Mal, dass ein Junge so etwas zu mir sagte. Und ausgerechnet Hanjo. Wahrscheinlich bekam ich ein knallrotes Gesicht. Ich grinste irgendwie blöd, weil mir nichts weiter einfiel. Plötzlich knackte es vor uns und wir hörten Schritte und Stimmen. Erschreckt schauten wir hoch. Ich wollte schon loslaufen, aber dann sahen wir ei-nen blonden Haarschopf, der sich durch das Gebüsch zwängte. „Du bist es, Meike, ich dachte schon Pit oder Paula hätten uns erwischt!“, flüsterte ich erleichtert. „Heike und Olli waren hinter mir her, aber sie sind auf dem Weg weitergerannt. Ich habe sie gerade noch abhängen können!“, zischte sie aufgeregt. „Haben sie schon jemand gefangen?“, wollte Hanjo wis-sen. „Papa und Marlies auf jeden Fall, die sind schon am An-fang erwischt worden. Ich glaube, Lara haben sie auch!“ „Wir sollten uns mal zum Pott schleichen, um die Lage zu peilen“, schlug ich vor. Hanjo und Meike hatten nichts dagegen. Vorsichtig schau-te ich aus dem Gebüsch auf den Weg. „Es ist niemand zu sehen“, flüsterte ich, „ihr könnt raus kommen.“ Leise schlichen wir den Weg entlang in Richtung Spiel-platz. „Nach der nächsten Biegung sind wir da. Wir kriechen hier besser wieder ins Gebüsch. Wenn wir es schaffen unbe-merkt bis zu der Baumgruppe zu kommen, können wir se-hen, wie viele Gefangene sie schon gemacht haben“, raunte Hanjo. So geräuschlos wie möglich schlichen wir weiter. „Wir sind ja die einzigen, die noch frei sind“, wisperte meine

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Schwester, als wir ankamen, „was sollen wir jetzt ma-chen?“ „Ganz einfach, wir müssen versuchen sie zu erlösen“, antwortete ich. „Und wie stellst du dir das vor?“ „Ich hätte da eine Idee“, mischte sich Hanjo ein,. „wir teilen uns auf und kommen von verschiedenen Seiten, um sie zu überraschen. Und wenn die Gefangenen eine Kette bilden, können wir sie alle auf einmal befreien.“ „Okay!“, antwortete ich, „am besten ist es, wir beide schleichen auf die andere Seite des Platzes, du nach links, ich nach rechts. Sobald wir da sind, renne ich los, um sie abzulenken. Wenn ich unterwegs bin, startest du und versuchst die anderen zu befreien. Meike, du bleibst hier!“ Tief geduckt, auf allen Vieren, kroch ich durchs Unterholz. Direkt am Boden roch es noch stärker nach Wald, irgend-wie frisch und modrig zugleich. Ich hatte den Eindruck ei-nen Riesenlärm zu machen. Jeder Zweig, der unter mir zerbrach, knackte unglaublich laut. Trotzdem schaffte ich es, unbemerkt auf die andere Seite zu kommen. Olli und Heike waren nicht da, sie schienen immer noch nach uns zu suchen. Paula und Pit beobachteten den Weg, aus dem sie unseren Angriff vermuteten oder auf die Rückkehr von Heike und Olli warteten. Die Gefangenen sahen nicht so aus, als wollten sie von uns befreit werden. Im Gegen-teil, sie schienen eine Menge Spaß zu haben. Papa alber-te mit Lara und Marlies herum und Mama und Katja unter-hielten sich. Ich versuchte Meike und Hanjo zu erspähen, konnte sie aber nicht sehen. Dann stürzte ich mit lautem Gebrüll aus meinem Versteck und rannte los. „Ihr müsst eine Kette bilden!“, schrie ich den Gefangenen zu. „Achtung, sie ist bestimmt nicht alleine!“, rief Paula, die unseren Plan zu durchschauen schien. Sie rannte mir ent-gegen und versuchte mich zu erwischen, während Pit am Pott stehen blieb und auf die Gefangenen aufpasste. Jetzt

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krachte es wieder im Unterholz und ich sah Meike und Hanjo aufspringen. „Heike, Olli!“, schrie Pit, „ihr müsst zurückkommen, wir werden angegriffen, Meike, Hannah und Hanjo versuchen die Gefangenen zu befreien!“ Ich schlug einen Haken, um Paula auszuweichen. Beim ersten Mal klappte es, aber dann stolperte ich über eine Wurzel und stürzte. „Das war’s für dich!“, rief sie, „ab in den Pott!“ Paula rannte sofort weiter, um Pit zu helfen. Während ich auf dem Boden lag, sah ich, dass die Gefangenen sich tat-sächlich an den Händen gefasst und eine lange Kette ge-bildet hatten. So kamen sie Hanjo und Meike ein Stück entgegen. Hanjo rannte auf sie zu, aber er hatte nicht mit Paula gerechnet, die sich ihm unbemerkt von hinten ge-nähert hatte. Schon war er gefangen. Aber Meike raste wie ein kleiner Wirbelwind zum Pott und schaffte es tat-sächlich alle zu erlösen. Mit Triumphgeheul rannten sie wieder in den Wald. „So ein Mist, so ein verdammter!“, fluchte Pit laut. „Ich habe es doch gesagt, Mama und Olli hätten nicht zu zweit weg gehen dürfen. Das ist zu gefährlich.“ „Tja, unser genialer Angriffsplan hat euch wohl etwas durcheinander gebracht, was?“, grinste Hanjo. „Quatsch, wir kriegen sie schon wieder, keine Angst, du kannst dich jedenfalls für den Rest des Spiels im Pott aus-ruhen!“ „Abwarten“, meinte Hanjo und verschränkte siegesgewiss die Arme vor der Brust. Er behielt Recht. Schon kurze Zeit später wurden wir wieder befreit. Nach etwa zwei Stunden hatten wir genug und fuhren erschöpft und gut gelaunt zu-rück ins Dorf. Über die Galionsfigur sprachen wir kein Wort. Aber als wir uns trennten, hörte ich, wie Pit Lara zu-raunte: „Bis nachher, ich komme gegen sechs mit dem Ball bei euch vorbei.“ Ich war gespannt, ob unser Plan funktionierte.

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Neues von Dijkstra

Wim und Henny standen auf der Schafswiese und repa-rierten den Zaun, als wir zu unserer Wohnung kamen. Pa-pa und Mama leisteten ihnen Gesellschaft. Meike und ich wollten duschen, denn wir fühlten uns ziemlich schmutzig und verschwitzt. „Ob die Jungs und Lara bei Dijkstra was herausfinden?“, fragte Meike, die als erste unter der Dusche stand. „Ich hoffe es. Vor allen Dingen bin ich gespannt, wer der jüngere Mann vom Rettungsboot ist. Am besten gehen wir nach dem Abendbrot noch mal zu Franzens, vielleicht sind sie dann schon zurück!“ „Gute Idee“, gurgelte Meike hinter dem Duschvorhang. Plötzlich schrie sie laut auf. „Was ist los? Was hast du?“ Erschreckt riss ich den Vorhang zur Seite. „Das Wasser ist plötzlich so kalt. Au, und jetzt wird es total heiß!“ In Panik sprang sie aus der Dusche. Ich wusste sofort, woran es lag. Ich hatte mir am Waschbecken die Zähne geputzt und wenn man den Hahn öffnete, wurde es beim Duschen plötzlich kalt und dann wieder heiß. Das verriet ich ihr aber nicht, sonst wäre sie wieder den ganzen Abend sauer auf mich gewesen. „Stell dich nicht so an!“, schimpfte ich und prüfte die Tem-peratur. „Alles in Ordnung, jetzt beeil’ dich, ich will auch noch du-schen!“ Später aßen wir mit Mama und Papa zu Abend. „Wir wollen nachher noch zu Franzens“, sagte ich. „Einverstanden!“, antwortete Papa, „vielleicht kommen wir

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später nach. Ich habe mir eine Zeitung gekauft, die will ich erst noch lesen.“ „Diese Zeitung habe ich gekauft, mein Schatz!“, meinte Mama. „Wie kommst du darauf?“, entgegnete er leicht gereizt. „Ich habe sie mitgebracht, und zwar heute Morgen vom Bäcker!“ „Und was ist das hier?“ Triumphierend hielt sie ihm ebenfalls eine Zeitung unter die Nase. Jetzt hatten sie zwei. Meike und ich schauten uns an, denn wir wussten, was kommen würde. Die un-vermeidliche ‚Wir-müssen-uns-beim-Einkaufen-besser-ab-sprechen-Diskussion’. Erwachsene können ganz schön kindisch sein. Für uns war es das Beste, schnell zu ver-schwinden. Mama und Papa waren so in ihr Streitgespräch vertieft, dass sie gar nicht merkten, als wir gingen. Wenigstens mussten wir jetzt nicht beim Aufräumen helfen. „Na endlich!“, begrüßte uns Katja. „Los, wir gehen rüber zur Eisdiele. Ich will wissen, was bei Dijkstra passiert ist. Pit ist gleich mit dem Spülen fertig, dann kann er mitgehen.“ „Pit hat gespült? Was ist denn mit dem los?“, fragte ich er-staunt. „Er hat für die nächsten drei Tage Strafspülen aufge-brummt bekommen. Lara und Olli übrigens auch.“ In diesem Augenblick kamen Uli und Pit aus der Küche. „Ah, ist wieder große Kinderversammlung?“, staunte Uli. „Wir wollen gegenüber noch ein Eis essen“, antwortete Paula. „Pit nehmen wir mit, er ist ja mit dem Spülen fertig, oder?“ „Ja, meinetwegen“, brummte er, „Hauptsache, du lässt den Ball hier, mein Sohn.“ „Klar, Papa, kein Problem. Vorläufig hab’ ich genug vom Fußballspielen.“

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Er musste sich das Grinsen etwas verkneifen, aber Uli schien es nicht zu merken. Wir setzten uns an einen der großen Holztische. Da Pit, Olli und Lara bis jetzt noch gar nichts verraten hatten, waren wir alle sehr gespannt. „Jetzt erzählt schon!“, rief Meike aufgeregt, „ich halte es nicht mehr aus.“ „Einen Moment“, mischte sich Pit ein, „zuerst wollen wir ein Eis. Und ich finde, ihr könnt uns einladen, denn es war unser gemeinsamer Plan und nur Olli, Lara und ich müs-sen strafspülen!“ Wir hatten nichts dagegen, Paula und ich gaben die Be-stellung auf. „Also, jetzt legt los!“, sagte ich, als alle versorgt waren. „Es war super. Lara hat alles aufgedeckt, wir haben den Fall gelöst!“ Olli klopfte schon wieder große Sprüche. Wir schauten La-ra erwartungsvoll an. Aber sie reagierte nicht so streng wie sonst auf seine Angeberei. „Jetzt lass mich mal erzählen, Olli, schließlich bin ich auch in Dijkstras Arbeitszimmer gewesen.“ „T’schuldigung“, murmelte er. „Also, wie verabredet haben wir uns vor Dijkstras Haus ge-troffen. Pit brachte den Ball mit und wir schossen ein paar Mal hin und her. Dabei guckten wir immer wieder durch sein Fenster.“ „Dann sah ich Dijkstra ins Wohnzimmer kommen“, fuhr Pit fort, „er setzte sich an den Tisch und ich gab Lara und Olli ein Zeichen. Das war unsere Chance.“ Olli fiel begeistert ein: „Also nicken wir uns zu, ich lege Pit den Ball auf und er schießt ein Wahnsinnstor. Der Ball landet genau auf Dijkstras Wohnzimmertisch, es klirrt wie irre, überall fliegen Scherben herum. Es war supergeil!“ „Stimmt, ich hab’ ihn wirklich genau mit dem Spann er-wischt. Dijkstra sprang sofort auf und war in Nullkomma-nichts draußen.“

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„So richtig wütend wirkte er gar nicht“, sagte Lara, „er stieß zwar einen dieser holländischen Flüche aus, blieb aber sonst ziemlich ruhig. Wir sollten ins Haus kommen, er wollte wissen, wie wir heißen und wo wir wohnen und so.“ „Wie ging es weiter, was habt ihr denn jetzt rausgefun-den?“, fragte ich ungeduldig. „Das kann nur Lara erzählen.“ Olli und Pit warfen ihr einen neidischen Blick zu und lehn-ten sich zurück. „Also gut“, fuhr sie fort, „ wir haben natürlich erst mal ganz brav unsere Namen und Adressen angegeben. Olli ist los-gegangen und hat Papa geholt. Der ist auch sofort ge-kommen und hat sich die Bescherung angesehen. Mit Dijkstra hat er lange geredet und diese ganzen Versiche-rungsfragen geklärt. Wir mussten in der Zeit aufräumen. Sie haben sich sogar ganz gut verstanden. Ihr kennt ja Papa, wenn er ins Quatschen kommt, kann es schon mal länger dauern.“ „Richtig“, schaltete sich Olli noch mal ein, „und dann ist Lara aufs Klo gegangen.“ „Jedenfalls habe ich das gesagt“, fuhr sie lächelnd fort. „und jetzt kommt es: Ich tat so, als ob ich ins Badezimmer ginge, schlich die Treppe nach oben, öffnete ein paar Tü-ren und fand sein Arbeitszimmer. Und da bin ich rein.“ Lara machte eine Pause. „Jetzt lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen!“ Paula rutschte unruhig auf ihrem Platz hin und her. Ihr Eis lief in kleinen braunen Streifen an ihrer Hand entlang. Tri-umphierend rückte Lara endlich mit der wichtigsten Infor-mation heraus. „Da stand ein Schreibtisch und darauf lag ein Brief, den Dijkstra bekommen hatte. Den hatte ein Ruud geschrie-ben, und während ich las, wurde es mir klar, das war sein Sohn.“

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„Das muss der Typ sein, den Hannah und Meike auf dem Boot gesehen haben. Aber wieso kannst du einen hollän-dischen Brief lesen?“, staunte Katja. „Ich hab’ in der Schule Niederländisch und außerdem eine holländische Freundin“, antwortete Lara stolz. „Ruud wollte mehr Geld und hatte einen Vorschlag.“ „Was für einen, erzähl weiter!“, ging ich dazwischen. „Er schlug seinem Vater einen Diebstahl vor. Und was wollten sie sich wohl unter den Nagel reißen?“ „Die Galionsfigur“, murmelte Hanjo versonnen. „Dijkstras Sohn hatte also die Idee. Aber selbst wenn der Alte Schulden hat, verstehe ich nicht, wieso ein angese-hener Geschäftsmann wie er sich darauf einlässt“, wun-derte er sich. Lara zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung, aber eins ist klar. Der Sohn hat den Kon-takt zu Nackenlocke und Walross hergestellt und sie mit dem Diebstahl der Figur beauftragt. Die sollten sie in den Dünen verstecken und dafür einen Teil der Versiche-rungssumme bekommen.“ „Aber ich verstehe immer noch nicht, warum die Galionsfi-gur jetzt verschwunden ist“, sagte ich. „Ganz einfach, dieser Ruud schlug seinem Vater vor, nach dem Diebstahl die Figur aus dem Versteck zu holen. Und dann haben sie Walross und Nackenlocke gegenüber be-hauptet, sie sei weg.“ „Also wollten sich die Dijkstras den ehrlich verdienten Ga-novenlohn sparen“, nickte Hanjo. „Genau, Ruud und Wim wollten nicht bezahlen oder nur ein bisschen. Deshalb haben wir auch Nackenlocke und Walross auf der Fähre getroffen. Sie sind nämlich zuerst abgereist, wahrscheinlich, weil sie den Dijkstras geglaubt haben. Und als wir sie auf der Fähre trafen, hatten sie’s sich wieder anders überlegt.“ „Diese Volltrottel. Fragt sich, wer jetzt die wahren Gano-ven sind, Dijkstra und Sohn oder Nackenlocke und Wal-ross?“, meinte Hanjo.

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„Stimmt“, nickte Lara, „dieser Ruud ist schlauer als Wal-ross und Nackenlocke zusammen. Wisst ihr, wie er seinen Vater gezwungen hat mitzumachen?“ Wir zuckten mit den Schultern. „Er drohte ihm auf Ameland zu erzählen, Wim sei ein Rauschgifthändler.“ „Stimmt das denn?“, fragte Meike jetzt verständnislos. „Keine Ahnung, aber vielleicht weiß Jaap mehr, er wollte ja mit seinem Polizistenfreund sprechen.“ „Aber wo ist denn jetzt diese verdammte Figur?“, wollte Hanjo endlich wissen. „Sie ist...“, Lara schaute uns stolz an. „unter einer Bank auf dem Platz vergraben, auf dem wir heute Nachmittag gespielt haben.“ „Das heißt, wir haben über der Galionsfigur gespielt ohne es zu wissen?“ Ich konnte es kaum glauben. Lara, Pit und Olli nickten. „Das ist ein Ding!“ Hanjo schüttelte den Kopf. „Aber was machen wir jetzt?“ „Ganz einfach“, jubelte Olli, „wir gehen heute Nacht in den Wald und holen sie uns. Dann haben wir den Fall gelöst und kassieren vielleicht noch eine fette Belohnung.“ „Die Idee ist gar nicht so schlecht“, überlegte Katja, „denn wenn die Dijkstras die Figur aus ihrem Versteck holen würden, müssten wir ja mit der Suche wieder von vorne anfangen.“ Das leuchtete mir zwar ein, aber ich hatte keine Lust, bei Dunkelheit im Hollumer Wald herumzulaufen. „Wie stellst du dir das vor“, fragte ich deshalb, „sollen wir versuchen heute Nacht abzuhauen?“ „Ja genau, das ist supercool, das machen wir, unsere El-tern merken das sowieso nicht, Papa schläft doch wie ein Stein. Die Superdetektive ...!“ Olli schien mal wieder auszuflippen.

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„Halts Maul!“ Sofort fiel Lara ein, dass sie ihm eigentlich versprochen hatte es nicht mehr zu sagen. „Tut mir leid!“, entschuldigte sie sich, „aber wenn du hier so rumschreist, weiß es gleich ganz Ameland.“ Er verschränkte die Arme vor der Brust, sagte aber nichts. „Also suchen wir heute Nacht im Wald nach der Figur?“ Katja sah uns an. Alle nickten, ich auch, obwohl ich Be-denken hatte. Erstens hatte Mama einen sehr leichten Schlaf und ich wusste nicht, ob wir wirklich unbemerkt das Haus verlassen konnten, zweitens hatte ich so was noch nie gemacht und drittens hatte ich einfach Angst. „Dann treffen wir uns um zwei Uhr am Ortsausgang. Am Besten gehen wir jetzt nach Hause, damit wir noch etwas Schlaf bekommen!“ Katja wirkte ziemlich entschlossen. Auf dem Heimweg sprachen Meike und ich kein Wort. Ich überlegte, wie wir heute Nacht nach draußen schleichen könnten. Trotz meiner Angst wollte ich schließlich dabei sein. Kurz vor unserem Haus zog Meike an meinem Ärmel. „Ich weiß nicht, ob ich wirklich mitgehen soll. Ich hab’ Schiss. Was ist, wenn wir verschlafen und zu spät zum Treffpunkt kommen? Wir haben doch keinen Wecker.“ Daran hatte ich zwar auch schon gedacht, aber ich nahm Meikes Hand und spielte die große Schwester. „Wir schaffen das schon, wir schlafen einfach abwech-selnd. Angst hab’ ich auch, aber die anderen sind ja dabei, was soll schon passieren.“ Ich schaute auf die Uhr. „Es ist jetzt viertel nach zehn. Wenn wir gleich ins Bett ge-hen, können wir noch fast dreieinhalb Stunden schlafen. Willst du zuerst wach bleiben oder soll ich?“ Meike überlegte nicht lange. „Lass mich, ich kann jetzt sowieso nicht schlafen!“

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„Gut, weck’ mich um viertel nach zwölf, dann übernehme ich die Wache!“ Mama und Papa waren doch nicht mehr zu Franzens ge-gangen. Sie saßen im Wohnzimmer und lasen. Ihren Streit schienen sie beendet zu haben. „Gut, dass ihr jetzt kommt“, meinte Papa und gähnte herz-haft, „ich wollte euch gerade abholen. Wahrscheinlich ha-ben wir heute Nachmittag zu lange Pott-erlösen gespielt, ich bin richtig müde.“ „Wir auch“, sagte ich. Meike nickte heftig. „Wirklich?“, staunte Mama. Ich biss mir auf die Zunge, ich hätte an Meikes Tick niemals müde zu werden, denken müssen. Aber sie wusste jetzt, worauf es ankam. „Doch, doch!“, sagte sie. „Ich bin richtig fertig von heute Nachmittag. Bei Franzens bin ich schon fast eingeschlafen.“ „Das liegt bestimmt an der guten Seeluft“, lächelte Mama, „also dann schlaft gut, ihr beiden.“ Wir gingen nach oben. Erst jetzt fiel mir auf, wie laut die Treppenstufen knarrten. „Wie sollen wir hier heute Nacht nach unten kommen, oh-ne dass Mama und Papa etwas merken?“, flüsterte ich Meike zu. „Wir müssen ausprobieren, welche Stufen am wenigsten knarren“, antwortete sie. Wir taten also so, als müssten wir noch mal auf die Toilette oder hätten etwas vergessen und gingen die Treppe mehrmals hinauf und hinunter. Es war am Besten die Stufen nur am Rand zu betreten, da knarr-ten sie fast gar nicht. Als wir im Bett lagen, ging es mir wie Meike. Ich hatte das Gefühl, überhaupt nicht einschlafen zu können. Irgend-wann merkte ich, dass mich jemand heftig schüttelte. „Du musst jetzt wach bleiben!“, wisperte Meike, „ich bin dran mit schlafen!“ „Das stimmt nicht“, murmelte ich, „ich darf doch bis viertel nach zwölf!“

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„Was glaubst du, wie spät es jetzt ist?“, raunte Meike und zeigte mir das Zifferblatt meiner Armbanduhr. Ich setzte mich hin und rieb mir die Augen. „Das gibt’s doch gar nicht! Ich dachte, ich wäre gerade erst eingeschlafen!“ Aber Meike hatte sich schon umgedreht und antwortete nicht mehr. Jetzt musste ich versuchen, wach zu bleiben. Es fiel mir leichter als ich dachte, denn ich spürte meine wachsende Aufregung. Gegen viertel vor zwei weckte ich Meike. Leise zogen wir uns an und schlichen wie abge-sprochen die Treppe hinunter. Kurz vor der letzten Stufe passierte es. Wahrscheinlich war ich nicht vorsichtig ge-nug, jedenfalls knarrte es laut. Meike drehte sich um und sah mich böse an. Ich erstarrte, in meinem Kopf raste es. Was sollte ich Mama sagen, wenn sie aufsteht und uns hier angezogen auf dem Weg nach draußen sieht? Aber es rührte sich nichts, Papa schnarchte. Wir blieben eine Weile still stehen und horchten in die Dunkelheit. Dann schlichen wir weiter. Jetzt mussten wir nur noch den Schlüssel der Wohnungstür umdrehen und die Tür so ge-räuschlos wie möglich öffnen, es klappte. Meinen Patzer auf der Treppe hatte ich wieder gut gemacht. Aufatmend standen wir endlich draußen, gingen zu unseren Rädern und schoben sie vorsichtig vom Hof. „Puh, das wäre geschafft“, entfuhr es mir. Meike nickte. Schweigend fuhren wir zu unserem Treffpunkt.

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Die Nacht im Wald

„Na, seid ihr auch schon da?“ Hanjo grinste uns an. „Hör bloß auf zu meckern, schließlich hatten wir genug Ar-beit damit dich überhaupt wach zu kriegen!“, kam Katja uns zu Hilfe. „Wir haben ihm sogar einen Becher Wasser ins Gesicht geschüttet, sonst hätte er einfach weiter gepennt, der Schnarchhahn.“ „Ja, ja, schon gut“, murmelte Hanjo, „wir müssen los, sonst wird es nachher hell und wir stehen hier immer noch her-um!“ Am Hollumer Wald folgten wir zu Fuß dem weichen, mit Tannennadeln bedeckten Weg in die Dunkelheit hinein. Ich war froh, als Meike nach meiner Hand fasste. Hanjo und Pit gingen mit einer Taschenlampe voran. Wenn sie den Lichtstrahl nach oben richteten, konnten wir an den langen Stämmen der Kiefern hochsehen. Sie kamen mir vor wie eine Armee riesiger Soldaten, die in Reih und Glied auf den Feind warten. „Das sieht echt unheimlich hier aus“, flüsterte ich Meike zu. Auf einmal knackte es neben uns im Unterholz. Die Jungs blieben stehen und leuchteten in die Richtung, aus der das Geräusch kam. Meike und ich zuckten zusammen, ich spürte, wie sie meine Hand krampfhaft festhielt. Vor uns glühten zwei große, feurige Punkte. Ich schrie auf: „Hilfe, was ist das?“ Dann sah ich im Zickzackkurs etwas auf dem Waldweg davon rennen. Hanjo lachte. „Das war ein Hase, der hatte größere Angst vor euch als ihr vor ihm.“

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„Sehr witzig!“, fauchte ich, „das hätte euch auch passieren können!“ Aber ein bisschen schämte ich mich für meine Schreckhaf-tigkeit. Wir gingen weiter. Endlich lag der Platz, auf dem wir gestern Nachmittag noch gespielt hatten, still und ruhig im silbernen Mondlicht vor uns. „Was stand jetzt in dem Brief, wo haben sie die Figur ver-steckt?“, fragte Paula. Lara sah sich suchend um. „Unter einer Bank, aber hier sind ja sechs Bänke.“ „Macht nichts“, meinte Olli, „wir teilen uns auf und buddeln unter allen gleichzeitig.“ „Und wie stellst du dir das vor ohne Spaten?“, fragte ich. Katja schaute jetzt Hanjo an. „Hast du Papas Klappspaten vergessen?“ „Daran hättest du mich ruhig erinnern können!“, fuhr er auf. „So ein Mist, nur weil du nicht mitdenken kannst, müssen wir jetzt mit den Händen buddeln!“ Ich blitzte Hanjo böse an. Jetzt konnte ich ihm das Jun-gengetue von vorhin heimzahlen. „Hört auf zu streiten“, mischte sich Katja wieder ein, „wir machen’s so wie Olli gesagt hat. Hannah, du suchst mit Meike unter der ersten Bank, Olli und Lara, ihr geht zur nächsten und wir gehen zu den Bänken auf der anderen Seite. Wer was gefunden hat, meldet sich!“ Zuerst versuchten Meike und ich festzustellen, ob man vielleicht schon auf den ersten Blick erkennen konnte, dass hier jemand etwas vergraben hatte. Aber wir sahen nichts Auffälliges. „Am besten reißen wir erst mal das Gestrüpp weg“, schlug ich vor, „dann können wir besser buddeln, darunter ist ja nur weicher Sandboden.“ Während wir gruben, schaute ich immer wieder zu den anderen. Alle hatten mit der Arbeit begonnen. „Hier ist nichts!“, raunte Meike mir zu. Unser Loch war schon ziem-lich tief.

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Plötzlich hörten wir Pit rufen. „Ich glaube ich habe sie, hier liegt was, kommt rüber!“ Wir rannten zu ihm. „Schaut euch das an. Hier liegt doch eine Kiste!“ Er hatte den Deckel einer dunklen Holzkiste freigelegt und klopfte ein paar Mal kräftig mit der Faust drauf. „Das muss sie sein. Gib mal dein Taschenmesser, Katja!“ Mir klopfte das Herz bis zum Hals, hatten wir die Figur wirklich gefunden? Pit versuchte den Deckel von der Kiste zu lösen. „Mist, da sind ganz schön große Nägel drin!“ Immer wieder setzte er das Messer an, um ihn abzuhe-beln, aber es tat sich nichts. Plötzlich stand Olli mit einem dicken Stein hinter uns. „Geht mal weg“, sagte er, „mit dem Messer kommen wir ja nicht weiter.“ Wir traten zur Seite, und bevor wir ihn daran hindern konn-ten, schleuderte er mit aller Kraft den Stein auf die Kiste. Jetzt war zwar ein Loch im Deckel, aber wahrscheinlich hatte ganz Ameland den Lärm gehört. „Bist du verrückt?“, schimpfte Lara, aber dann sahen wir in der Kiste etwas rot und grün schimmern. Vorsichtig be-gann Olli das zersplitterte Holz zu entfernen. „Wie sieht die denn aus?“, meinte Meike ungläubig. Die Jungens kicherten, denn die Galionsfigur war eine Frau mit langen, feuerroten Haaren. Sie trug ein grünes Kleid mit einem so großen Ausschnitt, dass man eine ihrer Brüste sehen konnte. Die linke Hand streckte sie zum Sie-geszeichen nach vorne, in der rechten hielt sie eine kleine Kugel oder einen Apfel, den sie an ihre Brust drückte. „Und danach haben wir jetzt die ganze Zeit gesucht?“, fragte Paula entgeistert. Hanjo schaute sich die Figur ge-nau an. „Die sieht doch super aus. Ich finde, es hat sich gelohnt. Aber wie kriegen wir sie hier weg?“

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Wir waren ratlos. Wir hätten sie zwar zusammen bis zum Waldrand tragen können, aber für den ganzen Weg nach Hause war sie zu schwer. „Am Besten rufen wir jetzt Jaap an!“, schlug ich vor. „Weißt du wie spät es ist?“ Hanjo schüttelte den Kopf. „Blödmann“, dachte ich, „gestern Nachmittag sagt er mir was Nettes, und jetzt ist er die ganze Zeit gemein. Jun-gens sind schon komisch.“ „Hannah hat Recht!“, unterstützte mich Paula, „wir sollten auf jeden Fall Jaap anrufen, egal wie spät es ist. Wir brau-chen sein Auto!“ „Gut!“, sagte Katja, „dann sag ihm Bescheid!“ Paula wählte seine Nummer. Es dauerte eine ganze Wei-le, bis er ans Telefon ging. Wir konnten alles verstehen, weil sie ihr Handy auf ‚Mithören’ gestellt hatte. „Met Jaap Mathijsen“, meldete er sich verschlafen. „Ich bin es, Paula. Hör mal, Jaap, wir haben die Galionsfi-gur gefunden. Wir sind hier im Wald, sie liegt direkt vor uns.“ „Waaas?“ Jetzt war er hellwach. „Wo seid ihr genau? Wie sieht sie aus? Ist sie in Ord-nung?“ Paula erklärte ihm alles. „Ich fasse es nicht!“, hörten wir ihn jetzt wieder. „Passt auf, ich komme, ich bin in einer halben Stunde da und bringe Gerrit mit, der muss sich das auch angucken. Bitte fasst sie jetzt nicht weiter an!“ Er legte auf. „Bin gespannt, was dieser Polizist zu unserer Entdeckung sagen wird“, meinte Hanjo. Wir setzten uns auf die Bänke und kuschelten uns ein bisschen aneinander. Inzwischen war es kühl geworden, und ich spürte meine Müdigkeit. Den anderen ging es auch so, keiner von uns sprach ein Wort. Ab und zu schlich sich ein Gähnen in unsere Gesichter.

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Endlich hörten wir Stimmen und sahen den Schein einer Taschenlampe. Das mussten sie sein. „Was macht ihr verrückten Kinder bloß für Sachen“, schüt-telte Jaap den Kopf, als sie vor uns standen. Der andere Mann trug die typisch blaue Uniform holländischer Polizis-ten. „Das ist mein Freund Gerrit“, sagte Jaap, „aber wo ist jetzt die Figur?“ Wir zeigten ihm die Kiste. „God verdomme, Kinder, ihr habt meine Marijke tatsäch-lich gefunden!“, rief er begeistert. Liebevoll tätschelte er ihr die Wangen und flüsterte Gerrit ein paar holländische Worte zu. „Ich bin so froh, sie zurück zu haben. Woher wusstet ihr denn, dass sie hier versteckt ist?“, fragte er uns. Schnell berichteten wir das Wichtigste. Von Meikes und meinen Beobachtungen auf dem Rettungsboot, dem Besuch bei Dijkstra zu Hause und dem Plan, noch in der Nacht nach der Figur im Wald zu suchen. „Das war eine gute Idee von euch“, sagte Jaap schließlich. Gerrit nickte zustimmend. „Ich weiß zwar nicht, was eure Eltern dazu sagen, wenn sie zu Hause eure leeren Betten entdecken, aber es hat sich in jedem Falle gelohnt, schnell etwas zu unterneh-men. Als Polizist hätte ich auch nicht anders gehandelt. Und jetzt passt auf, Jaap und ich müssen euch noch et-was erzählen!“ „Dijkstra wurde von seinem Sohn Ruud unter Druck ge-setzt“, fuhr er fort, „ich glaube, er hätte sich sonst auf die-se Sache bestimmt nicht eingelassen. Ruud hat ihm nicht nur den Brief geschrieben, den du gelesen hast, sondern ihn immer wieder telefonisch und durch SMS um Geld an-gebettelt. Er ist nämlich in Amsterdam in Drogenkreisen ziemlich bekannt. Meine Kollegen haben ihn dort schon lange unter Beobachtung.“

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„Steckt der alte Dijkstra mit ihm unter einer Decke, hat er auch was mit Rauschgift zu tun?“, fragte Meike. „Nein, glücklicherweise nicht. Ruud hat ihn gezwungen mitzumachen.“ „Wissen wir schon“, sagte Lara stolz, „das stand in dem Brief, den ich gelesen hab’.“ „Stimmt ja“, lächelte Gerrit, „dann ist euch natürlich auch klar, dass Wim Dijkstra als Geschäftsmann erledigt wäre, wenn die Ameländer ihn für einen Rauschgifthändler hiel-ten. Wahrscheinlich hofft er, seinen Sohn mit dem Geld für die Figur endlich loswerden zu können. Ich habe zu Tie-neke, seiner Frau in Leeuwarden, Kontakt aufgenommen. Sie weiß schon länger von Ruud. Die vielen Nachrichten und Briefe waren ihr nicht verborgen geblieben. Sie wuss-te, dass Dijkstra, lange bevor die beiden geheiratet hatten, eine unglückliche Beziehung zu einer Frau vom Festland hatte. Sie haben sich aber bald wieder getrennt und sie ist nach Amsterdam gezogen. Aus dieser Beziehung ist Ruud entstanden, aber Wim hat nie etwas davon erfahren. Spä-ter ist die Frau in Amsterdam durch einen Autounfall ums Leben gekommen. Na ja, und dann begann irgendwann Ruuds traurige Karriere als Drogensüchtiger. Um das alles zu finanzieren, hat er Kontakt zu seinem Vater aufge-nommen und ihn nach und nach unter Druck gesetzt.“ „Also hat Dijkstra eigentlich versucht seinem Sohn zu hel-fen“, sagte ich. „Ja“, fuhr Gerrit fort, „aber es ändert nichts daran, dass er sich auf eine kriminelle Tat eingelassen hat. Wim ist wahr-scheinlich bis heute nicht klar, wie tief Ruud schon gesun-ken ist. Er hat seinem Vater zwar versprochen, ihn in Ru-he zu lassen, wenn alles klappt, aber mit Geld ist Ruud nicht mehr zu helfen. Und genau das müssen wir Wim klar machen.“ „Deshalb brauchen wir auch noch einmal eure Hilfe“, schaltete sich Jaap ein.

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Ich kämpfte schon eine ganze Weile gegen die Müdigkeit, aber jetzt wurde ich wieder hellwach. „Was habt ihr denn vor?“, fragte ich. „Kurz gesagt geht es darum, den Dijkstras vorzumachen, Walross und Nackenlocke hätten sich die Figur zurückge-holt.“ „Wie soll das funktionieren?“, wollte Katja wissen. „Indem wir ihnen einen Brief schreiben, dass wir, also Na-ckenlocke und Walross, endlich unseren noch ausstehen-den Anteil haben wollen. Galionsfigur gegen Geld sozusa-gen.“ „Aber Dijkstra hat doch gesehen, dass die beiden Gauner auf die Fähre gegangen sind“, sagte ich. „Stimmt“, entgegnete Gerrit, „aber er hat ihre Abfahrt nicht abgewartet. Sie könnten es sich ja wieder anders überlegt haben. Das wäre ja nicht das erste Mal.“ „Und was soll das bringen? Eigentlich kannst du sie doch jetzt schon festnehmen, bei den Beweisen“, meinte Hanjo. „Wir hoffen, dass der Schock einer Festnahme durch die Polizei in Anwesenheit von Zeugen Wim dazu bringt alles freiwillig zu gestehen. Vor Gericht könnte er dann mit einer milderen Strafe rechnen. Wenn Gerrit ihn nämlich müh-sam verhören müsste, würde Dijkstra wahrscheinlich nichts sagen, er kann ein ziemlicher Dickkopf sein. Und dann muss er sehr lange ins Gefängnis“, erklärte Jaap. „Genau“, nickte Gerrit, „deshalb wollen wir Wim und Ruud in dem Brief vorschlagen die Figur morgen um Mitternacht am Leuchtturm zu übergeben. Und dabei greifen wir noch mal tief in die Ameländer Gruselkiste.“ „Hört sich gut an“, gähnte Pit, „aber erzähl’ uns den Rest morgen, ich muss dringend ins Bett.“ „Na gut, es wird sowieso Zeit für euch, nach Hause zu fah-ren. Am besten treffen wir uns um fünf im Strandcafe. Wir bringen euch jetzt zurück nach Hollum.“ „Tolle Idee“, murmelte Olli, stand auf und taumelte schlaf-trunken in Richtung Waldrand. Wir folgten ihm. Jaap und

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Gerrit trugen die Kiste mit der Figur. Der Weg durch den Wald war jetzt nicht mehr aufregend, denn wir waren zu müde, um noch vor irgendetwas Angst zu haben. Außer-dem dämmerte es schon, so dass wir auch ohne Taschen-lampe ganz gut sehen konnten. Ich weiß nicht genau, wie wir es geschafft haben, aber Meike und ich kamen unbemerkt ins Haus. Papa lag im Bett und schnarchte immer noch, von Mama hörten wir nichts, also schlief sie wohl auch fest. Wir schlichen die Treppe hinauf. Diesmal knarrte sie gar nicht, endlich konn-ten wir uns in unsere Betten kuscheln. Ganz weit weg hör-te ich noch die Kirchturmuhr schlagen, dann schlief ich ein.

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Die Rache des Kapitäns

Irgendetwas kitzelte mich. Ich dachte zuerst an eine Flie-ge, aber Papa saß an meinem Bett und berührte mit sei-nem Finger meine Nasenspitze. Ich wischte mit der Hand über mein Gesicht und blinzelte vorsichtig ins Tageslicht. „Hallo, meine Große, guten Morgen, willst du nicht lang-sam aufstehen?“ Die Sonne schien schon durch das Dachfenster unseres Zimmers. „Wie spät ist es denn?“, murmelte ich. „Mittlerweile schon halb zwei nachmittags. Eigentlich ist der Tag schon halb vorüber“, meinte Papa mit sanfter Stimme. Ich setzte mich auf. „Wo ist Meike?“ „Die ist schon unten. Aber lange ist sie auch noch nicht wach.“ „Warum hast du mich denn nicht eher geweckt?“ „Habe ich ja versucht.“ Papas Lächeln kam mir irgendwie verdächtig vor. Wusste er etwas von der letzten Nacht? Ich wollte auf Nummer si-cher gehen. Schnell sprang ich aus dem Bett, zog ein Sweatshirt über und ging nach unten in die Küche. Meike saß mit Mama am Tisch. Beide sahen mich an und Mama lächelte genauso wie Papa. Jetzt war ich sicher, irgendet-was wussten sie über unsere Nachtwanderung. Ob Meike geplaudert hatte? „Da kommt ja die zweite Nachtschwärmerin!“, begrüßte mich Mama. Ich schaute meine Schwester böse an, sie zuckte mit den Schultern. „Ich kann nichts dafür“, murmelte sie. „Jetzt setz dich erst mal hin!“, meinte Mama. Mein Herz klopfte, ich war gespannt, was jetzt passieren würde.

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„Ich habe heute Morgen ein sehr langes Telefongespräch mit Jaap geführt. Da habt ihr noch fest geschlafen. Mit mir hat er übrigens als Dritte gesprochen. Marlies, Rainer, Uli und Heike wissen also auch Bescheid.“ Papa war inzwischen auch in die Küche gekommen. „Dass ihr nachts einfach aufsteht und euch auf so gefährli-che Abenteuer einlasst. Was habt ihr euch dabei gedacht? Wenn euch dabei etwas passiert wäre!“ Er schüttelte heftig den Kopf, musste aber gleichzeitig ein bisschen grinsen. „Also…“, begann ich zögernd, „wir haben uns schon etwas dabei gedacht.“ „Genau!“, mischte Meike sich ein, „wir mussten heute Nacht nämlich nach der Figur suchen!“ Ich trat gegen ihr Schienbein. „Du brauchst deine Schwester nicht zu treten. Ich habe ja schon gesagt, dass ich mit Jaap telefoniert habe. Er hat mir alles erzählt, wir sind also völlig auf dem Laufenden.“ „Ja, und, Mama, was sagst du dazu?“, begann Meike jetzt wieder. „Ist doch super, was wir alles herausgefunden haben, oder?“ Jetzt wartete ich gespannt auf ihre Antwort. Aus dem Au-genwinkel konnte ich beobachten, wie Papa ihr leicht zu-nickte. „Ja“, setzte Mama zögernd wieder ein, „im Prinzip sind Papa und ich beeindruckt und...“ Papa nahm ihr das Wort aus dem Mund: „… und deshalb haben wir beschlossen, euch zu helfen. Ein bisschen A-benteuer gibt unseren Ferien schließlich eine ganz neue Note.“ „Echt jetzt?“, entfuhr es Meike. Auch ich starrte ihn un-gläubig an. „Was meinst du damit, was habt ihr denn vor?“, wollte ich wissen. Mama kam ihm zuvor.

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„Ich habe Jaap am Telefon übrigens sehr deutlich meine Meinung gesagt. Ich fand es unmöglich von ihm, uns von all dem nichts zu erzählen. Als Museumsdirektor hat er völlig unverantwortlich gehandelt!“ Papa versuchte zu beschwichtigen. „Mama hat natürlich recht, eigentlich wollten wir euch je-den weiteren Kontakt zu Jaap verbieten. Aber da er ein netter Mann ist, haben wir Eltern es uns anders überlegt.“ Ich atmete tief durch. „Aber wie seid ihr überhaupt darauf gekommen?“, wollte Meike wissen. „Und wie wollt ihr uns denn jetzt helfen?“, schob ich nach. „Jaap hat uns von seinem Plan schon kurz erzählt“, fuhr Papa fort, „es geht ja darum, Dijkstra und seinen Sohn heute Nacht zum Reden zu bringen. Um vier werden wir ihn bei den Münstermännern treffen, dann will er uns zu-sammen mit dem Polizisten alles genau erklären.“ „Wir sind eigentlich gar nicht von selbst drauf gekommen“, sagte Mama jetzt wieder zu Meike, „Jaap hat von sich aus angerufen. Und das wurde auch höchste Zeit, kann ich nur sagen!“ „Schade“, murmelte Meike. „Ihr werdet noch froh sein, uns mit im Boot zu haben“, stellte Papa fest. Ich war erleichtert, dass Jaap Mama und Papa eingeweiht hatte. Aber ich verstand nicht, wofür er die Erwachsenen brauchte. Die Zeit bis vier Uhr verging reichlich langsam, wir gingen noch nach draußen und besuchten ‚Gelbes P’. Endlich war es aber soweit. Olli und Pit spielten auf dem Rasen Fußball, als wir bei den Münstermännern eintrafen. „Seid bloß vorsichtig“, rief Uli leicht irritiert, als Pit den Ball kerzengerade in die Luft schoss, „ich will nicht schon wie-der eine zerbrochene Fensterscheibe bezahlen!“

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„Meine Güte, Papa, ich hab’ jetzt schon tausend Mal er-klärt, warum das zu unserem Plan gehörte. Hör endlich auf zu nerven!“ „Ja, ja, ist schon gut!“ Uli zuckte mit den Schultern und lächelte uns entschuldi-gend an. „Der Bursche macht es mir nicht einfach“, murmelte er mehr zu sich selbst. „Wem sagst du das“, stöhnte Papa mit einem Seitenblick auf Meike und mich. „Jetzt lasst uns nicht mehr über die Nachtwanderung re-den“, schlug Rainer vor. Er wandte sich an Jaap und Ger-rit: „Ich bin sicher, alle sind neugierig, wie euer Plan aus-sieht. Also, mein Lieber, lass hören, worum geht es ge-nau?“ Jaap unterbrach sein Gespräch mit unseren Müttern und räusperte sich. „Den Kindern habe ich es ja schon gesagt, ich bin sehr froh über ihre Hilfe. Ich glaube, ohne sie wären wir nicht so weit, wie wir jetzt sind. Und...“, er schaute jetzt Rainer an, „ich bin auch froh, euch Eltern endlich eingeweiht zu ha-ben, denn ab und zu hatte ich doch ein schlechtes Gewis-sen.“ „Ich finde es doof, dass sie jetzt mitmachen!“, rief Olli, „wir hätten den Rest auch allein geschafft.“ „Genau“, stimmte Lara zu, „ich würde den Fall lieber ohne euch zu Ende bringen. Bis jetzt sind wir doch auch gut klar gekommen!“ Olli schien es kaum zu glauben. Kein ‚Halts Maul, Olli!’ , kein Meckern. „Was ist los mit dir?“, murmelte er, „bist du krank?“ Jaap sagte lächelnd: „Ich glaube, Lara war einfach nur deiner Meinung. Du wirst dich daran gewöhnen müssen.“ Rainer und Marlies schauten sich verwundert an. Wahr-scheinlich hatten Lara, Olli und Paula von dem Streit nach der Nacht im Oerd noch gar nichts erzählt.

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„Aber jetzt will ich erklären, warum wir die Eltern brau-chen“, kam Jaap zurück zum Thema. „Gerrit und ich haben nach einem Weg gesucht, Wim Dijkstra davon zu überzeugen, aus der Sache auszustei-gen. Er muss begreifen, dass es so nicht weitergeht. Wie ihr wisst, sind die meisten Ameländer ein bisschen aber-gläubisch. Sie haben großen Respekt vor Sagengestalten und Märchenfiguren.“ „Eben!“, sagte jetzt Gerrit, „deshalb soll es heute Nacht zur ‚Rache des Kapitäns’ kommen. „Ach so“, sagte Hanjo jetzt etwas enttäuscht, „und weil den niemand von uns spielen kann, braucht ihr unsere Eltern.“ Er schaute seinen Vater an. „Wie wär’s mit dir, Papa?“ Uli schüttelte den Kopf. „Nicht so schnell, erst will ich wissen, worum es geht!“ „Also gut“, Jaap machte es sich auf einem Stuhl bequem. „Dann hört zu! Die meisten Ameländer kennen die Ge-schichte übrigens.“ „Vor vielen Jahrhunderten befuhr ein Handelsschiff die Nordsee und versorgte die Bewohner der westfriesischen Inseln mit Gütern. So transportierte es Waren von Ame-land nach Terschelling, fuhr nach Texel oder auf die kleine Insel Schiermonnigkoog. Jedenfalls machte der Kapitän all die Jahre immer gute Geschäfte und bezahlte seine Be-satzung angemessen. Eines Tages, das Schiff fuhr gerade vor der Küste Ame-lands entlang, beobachteten die beiden Matrosen, die ge-rade Wache hatten, wie der Kapitän in seiner Kajüte eine kleine Truhe öffnete. Zufrieden betrachtete er ihren Inhalt. Neugierig geworden verließen sie ihren Posten und schli-chen zum Fenster seiner Kajüte. Was sie sahen, erfüllte sie mit Begierde. Die Truhe war nämlich bis zum Rand mit Münzen gefüllt und der Kapitän ließ sie genießerisch durch seine Hände gleiten. Die beiden Matrosen schauten sich an, sie wollten diese Münzen unbedingt haben. Zwar fuhren sie jetzt schon seit drei Jahren mit dem Kapitän zur

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See und hatten in dieser Zeit immer eine sehr gute Heuer bekommen, doch jetzt sahen sie die Gelegenheit, endgül-tig auszusorgen. Leise schlichen sie vom Fenster zur Tür der Kajüte. Der eine Matrose hatte sein Messer gezogen und es sich zwi-schen die Zähne geklemmt. Der andere nahm ein Netz, das neben dem Steuerrad lag. Vorsichtig lauschten sie an der Tür, sie hörten die Münzen klimpern und den Kapitän leise kichern. Das war die Gelegenheit. Sie rissen die Kajütentür auf und stürzten sich auf ihn. Er war zu überrascht, um sich zu wehren. Der erste Matrose warf ihm das Netz über den Kopf, jetzt konnte er sich nicht mehr frei bewegen. Zap-pelnd und brüllend versuchte der Kapitän sich zu befreien. Die beiden Matrosen bekamen Angst. Was würde passie-ren, wenn es ihm gelänge das Netz wieder abzustreifen? Meuterei und Raub gehörten schließlich zu den schlimms-ten Verbrechen, die man auf See begehen konnte. Sie wussten, dass sie zu weit gegangen waren. Aber es gab keinen Weg zurück, sie mussten ihn für immer zum Schweigen bringen. Der zweite Matrose erhob sein Messer und stach so lange zu, bis der Kapitän sich nicht mehr rührte. Sie ließen von ihm ab und gruben wie von Sinnen mit ihren Händen in der Münztruhe. Aber was sollten sie mit der Leiche machen? Ihnen blieb nur ein Ausweg, sie über Bord zu werfen. Der erste Matro-se fasste sie an den Füßen, der zweite unter den Armen und so trugen sie den toten Kapitän mühsam auf Deck. Sie schleppten ihn an die Reling und wuchteten seinen schweren Körper ins Wasser. Mit einem lauten Klatschen fiel er in die eiskalte Nordsee. „Möge es der Teufel geben, dass derjenige, der ihn auf-fischt oder am Strand findet, ihn für immer und ewig mit sich herumschleppen muss!“, schimpften sie.

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Sie hatten ihren bösen Fluch noch nicht ganz ausgespro-chen, da erhob sich ein schrecklicher Sturm. Seine Gewalt war so groß, dass schon nach wenigen Minuten der große Segelmast und das Ruder brachen und das Schiff hilflos auf den Wellen des Meeres trieb. Entsetzt sprangen sie ins Wasser. Die einzige Chance, die sie hatten, bestand darin, sich schwimmend an den Strand von Ameland zu retten. Die Wellen schlugen so hoch wie Häuser. Nach und nach näherten die Matrosen sich aber der Insel Ameland. Irgendwo am Strand von Ballum wur-den sie an Land gespült. Froh und glücklich den schreckli-chen Sturm lebend überstanden zu haben, erhoben sie sich. Beim Zucken der Blitze sahen sie, dass große Teile der Ladung des Schiffes am Strand lagen. „Lass uns nach wertvollen Sachen suchen, die wir viel-leicht in Nes verkaufen können“, sagte der erste Matrose. Sie hofften, vielleicht sogar die Truhe mit einigen der Mün-zen wieder zu finden. Also liefen sie am Strand entlang und hielten nach Dingen Ausschau, die sie noch gebrau-chen konnten. In einiger Entfernung lag ein größerer, dunkler Gegenstand. In großer Eile liefen sie zu der Stelle und hofften, etwas Wertvolles zu finden. Gierig streckten sie ihre Hände aus, um ihn umzudrehen. Und dann pas-sierte etwas Schreckliches. Als sie sich vorbeugten, fühl-ten sie zwei eiskalte Arme an ihren Schultern, Hände, die sich in ihren Jacken festkrallten und nicht mehr loslassen wollten. Schmerzhaft spürten sie die Fingernägel in der Haut. Sie zerrten, zogen und schüttelten sich, aber sie konnten das Wesen, das sich an ihnen festgekrallt hatte, nicht mehr loswerden. Als ein weiterer Blitz den Strand er-hellte, sahen sie zu ihrem Entsetzen in das verzerrte Ge-sicht des Kapitäns, den sie gefunden hatten, und der sie jetzt fest im Griff hatte. Er schaute sie mit gebrochenen, toten Augen an. So oft sie auch versuchten ihn abzuschüt-teln, er schien sich immer fester an sie zu krallen.

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Schließlich wankten die beiden laut klagend, den leblosen Körper zwischen sich, in die Ballumer Dünen. Der Fluch, den sie ausgestoßen hatten, als sie den Ermordeten über Bord geworfen hatten, erfüllte sich nun an ihnen selbst. Angeblich sollen sie bis heute noch irgendwo in den Dü-nen herumgeistern und den Kapitän von einem Ende der Insel zum anderen schleppen.“ Wir starrten Jaap an. „Was ist los mit euch, warum sagt ihr nichts?“, fragte er verwundert. „Oh Mann, ich hab’ mir beim Zuhören schon fast in die Hose gemacht!“, sagte Pit ziemlich beeindruckt. „Die Geschichte war super“, meinte Lara, „aber was ma-chen wir damit? Denkst du an eine ähnliche Show wie am Ententeich?“ „Genau“, antwortete Jaap, „und dafür brauche ich die Er-wachsenen, denn nur sie können den Kapitän und die Matrosen spielen.“ Papa und Uli winkten sofort ab. „Mit mir musst du da nicht rechnen, ich habe keine schau-spielerischen Fähigkeiten“, meinte Papa. „Ich finde diese Aufgabe reizvoll.“ Rainer grinste in die Runde. „Schließlich bin ich als Lehrer auch so eine Art Schauspie-ler, und als untoter Kapitän könnte ich mal ganz neue Sei-ten von mir zeigen.“ „Aber es geht nicht nur um den Kapitän, wir brauchen auch die beiden Matrosen. Also, meine Herren, die Kinder sind Kinder, sie können keine erwachsenen Matrosen spielen. Wenn wir die beiden Dijkstras zum Reden bringen wollen, brauchen wir euch!“, betonte Gerrit. Papa hob ab-wehrend die Hände, er war nicht sehr angetan von der Idee. „Nein, nein, ich kann das nicht. Außerdem ist doch die Frage, ob das ganze nicht auch gefährlich werden kann!“

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„Es kann nichts passieren“, antwortete Gerrit, „wir wissen, dass sie keine Waffen haben und sollten sie euch angrei-fen, sind wir sofort da. Mein Kollege und ich sind im Leuchtturm und Jaap versteckt sich mit euch im Gebüsch.“ Erwartungsvoll schauten wir unsere Väter an. Auch Mama und Heike schienen inzwischen überzeugt zu sein. „Es kann doch wirklich nichts passieren“, beruhigte sie Heike. „Wenn ich das richtig sehe, werdet ihr Rainer tragen müs-sen, keine leichte Aufgabe“, lächelte Mama. „Aber ich verstehe immer noch nicht genau, wieso du glaubst, dass die beiden Dijkstras dadurch freiwillig geste-hen?“ „Ich baue auf ihren Aberglauben“, antwortete Jaap, „wenn der Kapitän ihnen richtig droht, glauben sie die nächsten zu sein, die ihn durch die Ameländer Dünen schleppen müssen.“ „Und dann kommt der Auftritt der Polizei“, fuhr Gerrit fort, „ihr drei Darsteller verschwindet und wir nehmen die Dijkstras fest. Aus Dankbarkeit werden sie singen wie die Vögelchen!“ „Aber dann haben wir ja überhaupt nichts mehr zu tun!“, mischte sich jetzt Hanjo ein. „Doch, doch“, sagte Gerrit, „da ihr bisher schon so viel für die Aufklärung der Geschichte getan habt, brauchen wir euch als Zeugen. Ihr versteckt euch mit uns im Leucht-turm, über die Außenmikrofone könnt ihr alles mithören. Ihr habt die Sache angefangen, mit euch soll sie auch zu Ende gehen!“ „Vorausgesetzt die beiden Dijkstras lassen sich wirklich ins Bockshorn jagen“, murmelte Papa, der immer noch zu zweifeln schien. „Ich bin sicher, es wird klappen!“, antwortete Jaap. „Ihr braucht nichts zu sagen. Wir haben die Stimme des Kapitäns auf CD aufgenommen. Außerdem meint es das

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Wetter heute Nacht gut mit uns, es soll stürmisch sein und regnen. Genau richtig für unseren Plan!“ „Also, was ist jetzt?“ Hanjo schaute Papa und Uli auffordernd an. „Ihr müsst einfach mitmachen!“ Die beiden nickten. „Na gut, aber seid bloß rechtzeitig da, falls es gefährlich werden sollte!“ Ich freute mich. Papa würde den Matrosen sicher gut spie-len. Er brauchte den Kapitän ja nur zu tragen und ein ver-zweifeltes Gesicht machen. Bei Rainers Körpergewicht dürfte ihm das sowieso nicht schwer fallen. „Wie gesagt, Gerrit und ich haben schon ein bisschen vor-gearbeitet“, erzählte Jaap jetzt weiter. „Wir kennen einen Schauspieler, der auf Ameland geboren wurde. Er besucht hier gerade seine Eltern, deshalb ha-ben wir ihn gebeten für uns den Kapitän zu sprechen. „Wie heißt der denn?“, fragte Meike neugierig. „Bart de Gee, aber du hast bestimmt noch nichts von ihm gehört“, antwortete Jaap, „er ist eigentlich nur in Holland bekannt.“ „Und was sagt er? Das müssen wir ja wissen, wenn wir uns auf unsere Rolle vorbereiten sollen!“, meinte Uli jetzt. „Wenn die beiden Matrosen mit dem Kapitän jammernd und klagend aus dem Gebüsch kommen, ruft er nach Wim und Ruud. Er droht und verlangt von ihnen, seine Matro-sen abzulösen. Sie sollen ihn ab sofort selbst durch die Dünen schleppen. Als Strafe für den Raub der Galionsfi-gur. Wenn sie dann richtig Angst haben, kommen wir, nehmen sie fest, und sie können sich alles von der Seele reden. Aber ich schlage vor, ihr drei hört euch die CD an und bereitet euch gemeinsam mit Jaap auf euren Auftritt vor. Ich fahre mit meinem Kollegen zum Leuchtturm und installiere die Technik. Wir treffen uns um elf, damit wir auf jeden Fall vor den Dijkstras da sind. Sie werden heute be-obachtet. Wir sind also über jeden Schritt, den sie

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machen, informiert. Wenn sie früher kommen, können wir uns rechtzeitig zurückziehen.“ Ich schaute auf die Kirchturmuhr, die ich von der Terrasse aus gut sehen konnte. Sie zeigte halb sechs. Wind war aufgekommen und die Sonne versteckte sich hinter Wol-kenfetzen, die am Himmel entlang jagten. Das Wetter schlug also tatsächlich um. Rainer, Uli, Papa und Jaap fuhren zum Museum nach Buren und wir beschlossen, zu Hause zu warten und später zusammen zum Leuchtturm zu fahren. „Was glaubst du, wird es klappen?“, fragte ich Katja, wäh-rend wir zurückgingen. „Warum nicht“, antwortete sie, „schließlich hat es im Oerd auch funktioniert. Und wenn es stimmt, was Jaap sagt, und die Ameländer wirklich so abergläubisch sind, dann müssten sie vor der Rache des Kapitäns noch größere Angst haben als Nackenlocke und Walross vor der Rixt.“ „Kann schon sein“, seufzte ich, „aber Papa und Uli wirkten ja nicht sonderlich begeistert.“ „Die kriegen das schon hin!“, meinte Meike. „Ich glaube sogar, sie werden genauso viel Spaß an der Sache haben wie du.“ Katja grinste. „Mal sehen“, antwortete sie. Vor dem Haus der Franzens trennten wir uns. „Wenn wir vorher von Gerrit oder Jaap nichts hören, holen wir euch gegen viertel vor elf wieder ab und fahren zu-sammen zum Leuchtturm. Die Münstermänner treffen wir am Ortsausgang“, sagte Mama zu Heike. Es wehte inzwischen immer stärker. Die Sonne war fast verschwunden und die ersten Regentropfen fielen. Als wir zu unserer Hofeinfahrt kamen, drängten sich die Schafe bereits Schutz suchend auf ihrer Wiese zusammen. Nur ‚Gelbes P’ stand allein in der Nähe des Zauns und schien auf uns zu warten. Wir streichelten es und gaben ihm ein saftiges Grasbüschel zu fressen.

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„Guck mal“, sagte Meike, „der Regen fällt gar nicht mehr vom Himmel, sondern kommt von der Seite.“ „Weißt du was? Wir holen unsere Regenjacken und pro-bieren aus, ob wir sie als Segel benutzen können!“, schlug ich vor. Meike war begeistert, denn der Wind blies jetzt so stark, er würde uns bestimmt halten, wenn wir uns gegen ihn lehnten. Zurück auf der Wiese ergriffen wir die beiden flatternden Enden der offenen Jacke und streckten die Arme nach hinten, bis sie sich aufblähte. „Es geht, es geht!“, schrie Meike, „ich bin eine Möwe, ich kann fliegen!“ Auch bei mir funktionierte es. Das machte zwar Spaß, aber der Regen lief mir in Strömen durchs Gesicht und nach kurzer Zeit war ich nass bis auf die Haut. Ich klappte meine triefende Jacke zusammen und rannte zurück ins Haus. Mama saß im Wohnzimmer. „Ich wollte euch gerade rufen“, sagte sie, „ist Meike immer noch draußen?“ „Ja, sie steht noch auf der Schafswiese und lehnt sich mit der Regenjacke…“ Ich konnte den Satz nicht zu Ende sprechen, weil ein grel-ler Blitzschlag unser Wohnzimmer erleuchtete, gefolgt von einem lauten Donnern. Mama sprang sofort auf. „Jetzt wird es aber Zeit, dass Meike auch kommt!“ Sie riss die Haustür auf, um sie zu rufen. Da zuckte der nächste Blitz über den dunklen Himmel, wieder donnerte es. Gleichzeitig fuhr eine heftige Windböe in den Flur und erwischte eine Vase, die auf einem Regal stand. Mit lau-tem Klirren zerbrach sie in tausend Scherben. „Meike, Meike, das ist zu gefährlich, komm sofort ins Haus!“ Mama schrie aus Leibeskräften, aber meine Schwester reagierte nicht. Wir hörten sie juchzen, Angst schien sie nicht zu spüren. Typisch Meike. Wenn sie ein cooles Spiel gefunden hat, lässt sie sich durch nichts und niemanden stören.

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„Es ist immer dasselbe!“, schimpfte Mama, „dieses Kind macht, was es will. Zieh dir was Trockenes an, ich hole Meike von der Wiese!“ Meike bemerkte Mama erst, als sie direkt hinter ihr stand. Ich sah, wie die beiden stritten. Meine Schwester wollte bleiben, aber Mama setzte sich durch und dann rannten sie zusammen zurück zum Haus. Es blitzte schon wieder, ich hielt mir die Ohren zu, um den Donner nicht zu hören. Als beide pudelnass im Flur standen, schrie Mama sie an: „Das machst du nicht noch einmal! Du kannst doch nicht mitten in einem gefährlichen Gewittersturm draußen blei-ben!“ „Wieso? Das war doch gar nicht schlimm, das hat voll Spaß gemacht!“, brüllte Meike genauso laut zurück. Ein komisches Bild. Da standen meine Mutter und meine kleine Schwester bei Sturm, Gewitter und Regen im Flur und diskutierten, ob es gefährlich ist, mit der Regenjacke auf einer Schafsweide eine fliegende Möwe zu spielen. Ich konnte mir das Lachen nicht verkneifen. Ärgerlich drehte sich Mama zu mir um. „Was gibt es denn da zu lachen? Das ist wirklich gefähr-lich, du hättest deine Schwester auf der Wiese gar nicht allein lassen dürfen!“ Ich prustete noch heftiger los. „Stimmt ja, aber ihr müsst euch mal angucken, ihr seht aus wie zwei begossene Pudel!“ Sie standen in einer mittleren Wasserpfütze, die sich in-zwischen unter ihren Füßen ausgebreitet hatte. Jetzt mussten sie auch lachen. „Wisst ihr was?“, sagte Mama, „wir ziehen uns um und dann gibt’s zum Abendessen Tee mit viel Kandiszucker.“ Kurze Zeit später saßen wir drei friedlich am Tisch, aßen Tomatenbrote und tranken dazu den heißen Tee. Draußen donnerte und blitzte es weiter und der Regen schlug pras-selnd gegen die Fenster. Und doch konnten wir es kaum erwarten endlich zum Leuchtturm zu fahren.

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Gegen zehn klingelte das Handy. Es war Papa. „Wie läuft es bei euch, habt ihr alles vorbereitet?“, fragte Mama. Meike und ich hörten gespannt zu. Endlich hatte Mama aufgelegt. „Na, was ist jetzt?“, fragte ich. „Also, sie wissen, was sie nachher am Leuchtturm zu tun haben. Papa ist gespannt, ob wir ihn überhaupt erkennen. Die Kostüme und die Schminke hätten sie völlig verändert, sagt er. Gerrit scheint mit seinen Vorbereitungen am Leuchtturm auch so weit zu sein, bis jetzt läuft also alles nach Plan.“ „Und was ist mit den beiden Dijkstras? Gerrits Kollege hat sie doch beobachtet“, wollte Meike wissen. „Im Augenblick sitzen sie im Zwaan an der Theke. Wahr-scheinlich fahren sie von dort direkt zum Leuchtturm. Wims Sohn trinkt ein Bier nach dem anderen.“ „Nicht schlecht“, sagte ich. „wenn er alles doppelt sieht, hat er nachher auch doppelt so viel Angst.“ Endlich konnten wir los. Von dem Gewitter hörten wir nur noch ein leises Grollen. Das Radfahren war aber ziemlich anstrengend, denn der Wind kam von vorne und wehte uns den Regen direkt ins Gesicht. Wer schon mal in Hol-land Fahrrad gefahren ist, weiß wahrscheinlich, wovon ich rede. „Da seid ihr ja“, rief Pit, „ich warte schon fast eine viertel Stunde!“ „Na und!“, entgegnete ich, „es ist doch jetzt genau viertel vor elf, wenn du es nicht abwarten kannst, dann bist du selbst schuld!“ „Hannah hat recht“, meinte Heike, „es hat dich keiner ge-zwungen die ganze Zeit draußen zu warten. Die Sommers sind jedenfalls pünktlich!“ Pit brummelte irgendetwas. Katja und Hanjo grinsten, sie kannten ihren Bruder. Vor allem spät abends hatte er sel-ten gute Laune, da er als Frühaufsteher um diese Zeit

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eigentlich schon im Bett lag. An der Dorfausfahrt Richtung Leuchtturm trafen wir die Münstermänner. „Der Kapitän und die beiden Matrosen sind schon da“, rief Olli uns entgegen, „es wird Zeit, dass das Ermittlerteam auch an den Ort des Verbrechens eilt, ich will die beiden Ganoven endlich überführen!“ „Jetzt schrei doch nicht so rum, Olli, wenn die Dijkstras hier vorbei fahren, bekommen sie alles mit! Dann ist unser schöner Plan sofort im Eimer, nur weil du nicht die Klappe halten kannst!“ Diesmal wies nicht Lara Olli zurecht, sondern Paula. Er schien aber Verständnis dafür zu haben, denn er hielt sich die Hand vor den Mund und sah sich erschrocken um. Mama schaute auf ihre Armbanduhr. „Es ist gleich elf!“, rief sie, „es wird Zeit!“ Langsam setzten wir uns in Bewegung. Als wir den Schutz der Häuser von Hollum verließen, fiel uns der Wind wieder genau von vorne an. Nur mit Mühe kamen wir voran. Ich hatte meine Kapuze aufgesetzt und sie unter dem Kinn fest gebunden. Trotzdem spürte ich, wie mir der Regen langsam unter die Jacke lief. Schwer tretend und keu-chend radelte ich neben Meike, die fast die ganze Zeit im Stehen fuhr, um überhaupt voranzukommen. Plötzlich schepperte es hinter mir. „Hilfe, pass doch auf!“, hörte ich Paula schreien. Ich bremste, um mich umzuschauen und sah sie auf der Stra-ße liegen. Direkt vor ihr, das Rad gerade noch zwischen den Beinen haltend, stand Hanjo. Er hatte der stürzenden Paula wohl nicht mehr ausweichen können. „Warum musst du so plötzlich bremsen?“, brüllte er sie an. Sie antwortete nicht und heulte. Mama und Marlies be-gannen das Knäuel aus Armen, Beinen und Fahrrädern zu entwirren und halfen ihr wieder auf die Beine. „Jetzt schrei sie nicht an. In der Dunkelheit und bei dem Wetter kann das schnell passieren!“, meinte Heike. Allzu

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schlimm schien der Unfall aber nicht gewesen zu sein, denn Paula beruhigte sich schnell. „Ich bin in Ordnung“, sagte sie, „nur ein kleiner Riss in meiner Hose. Wir können weiterfahren.“ Nach kurzer Zeit bogen wir von der Straße ab und folgten einem schmalen Weg durch ein kleines Wäldchen. Dann standen wir vor dem Leuchtturm. Mir kam es hier ziemlich gespenstisch vor. „Kannst du was von Papa, Rainer und Uli sehen?“, wisper-te mir Meike zu. „Bis jetzt noch nicht“, antwortete ich und schaute mich um. Es war stockfinster, wir konnten den Wind durch die Bäu-me und Büsche heulen hören, nur ab und zu blitzte das Leuchtfeuer auf, dessen Scheinwerfer sich oben am Turm gleichmäßig drehte. Hin und wieder zuckte auch noch ein Blitz über den Himmel und tauch-te alles sekundenlang in grell-fahles Licht.

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„Papa, Gerrit, wir sind da, wo seid ihr denn?“, rief Hanjo jetzt mit leicht zittriger Stimme. Ich hatte vor lauter Aufre-gung einen trockenen Mund. Marlies stellte ihr Rad ab, lief zu der großen, eisernen Eingangstür des Leuchtturms und klopfte mit ihrer Faust dagegen. „Hallo, Gerrit, mach auf!“ Plötzlich hörten wir im Innern des Leuchtturms Schritte, es schien jemand schnell eine Trep-pe hinabzulaufen. Dann drehte sich ein Schlüssel und die Tür öffnete sich. „Guten Abend. Herzlich willkommen im Leuchtturm von Ameland!“, sagte Gerrit, der eine große Taschenlampe in der Hand hielt und sich und danach uns damit anstrahlte. „Entschuldigt, wenn ich euch habe warten lassen, aber ich war oben im Zimmer des Leuchtturmwärters.“ „Hauptsache du bist jetzt da“, meinte Marlies. „Wo sollen wir die Räder lassen?“ „Am besten stellt ihr sie hier im Eingangsbereich ab. Dann können die beiden Dijkstras sie nicht sehen.“ Der Reihe nach schoben wir sie hinein und lehnten sie an die stählerne Innenwand des Leuchtturms. Gerrit schloss die Tür. Das Heulen des Windes konnten wir hier drinnen nur ganz dumpf hören. „Ich hoffe, wir werden einen schönen Abend erleben.“ Gerrit lächelte uns an und breitete einladend seine Arme aus. „Wo sind Papa, Rainer und Uli?“, fragte Meike ganz aufge-regt. „Keine Angst, Meisje, die sind draußen gut versteckt und werden gleich ihren großen Auftritt haben.“ Gerrit kniff ihr ein Auge zu. „Wir gehen nach oben.“ Er stieg eine schmale Wendeltreppe hinauf und einer nach dem anderen folgten wir ihm. Jeder Schritt hallte, was im Dunkeln etwas unheimlich klang. „Haben die überhaupt kein Licht hier?“, flüsterte mir Katja zu, die hinter mir ging.

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„Doch, mein Kind, aber jetzt ist es zu gefährlich, das Licht im Turm einzuschalten. Die Dijkstras könnten etwas be-merken und misstrauisch werden!“, hörten wir Gerrit ant-worten. Erschrocken blieben wir stehen, denn Katja und ich liefen am Ende der Gruppe und er war vorausgegan-gen. „Wo bist du, Gerrit? Wieso hast du uns gehört?“, rief Katja in die Dunkelheit hinein. „Ich bin der Geist, der alles weiß! Quatsch, Katja. Hier ist doch alles aus Stahl, deshalb werden Geräusche gut über-tragen. Im Leuchtturm kann nichts geheim bleiben. Man hört hier auch, wenn jemand flüstert!“ Während er sprach, stiegen wir die Treppe weiter nach oben. Endlich hatten wir die dritte Plattform erreicht, auf der sich das Zimmer des Leuchtturmwärters befand. Bei Helligkeit hätten wir sicher eine tolle Sicht über das Meer und die Insel gehabt. Jetzt sahen wir nur die Dunkelheit und einzelne Lichter. Gerrit saß auf einem Stoß Taue, die wie große Lakritzschnecken aufgerollt auf dem Boden la-gen und grinste uns an. „Du hast uns einen ziemlichen Schrecken eingejagt“, keuchte ich, noch außer Atem vom Treppen steigen. „Tut mir leid“, antwortete Gerrit, „aber es war zu schön diese Gelegenheit auszunutzen. Jetzt passt mal auf.“ Er schaute auf seine Uhr. „Es ist kurz vor Mitternacht. Wenn alles nach Plan läuft, müssten die Dijkstras gleich eintreffen. Ihr müsst auf jeden Fall hier oben bleiben, dann könnt ihr jedes Wort verste-hen, das unten gesprochen wird. Mein Kollege hat über dem Eingang ein sehr leistungsstarkes, kleines Mikro an-gebracht.“ „Jetzt will ich aber genau wissen, wo unsere Schauspieler sind!“, wollte Mama wissen. Gerrit gab ihr ein Nachtfern-glas. „Wenn du hier durch das Fenster nach unten siehst, kannst du den Leuchtturmplatz erkennen, er ist mit hellem

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Kies bedeckt. Am Rand wird es wieder dunkler, da beginnt das Gebüsch.“ Mama schaute aus dem Fenster. „Stimmt, haben sie sich da versteckt?“ „Genau“, antwortete er, „im Innern ist ein großer Hohl-raum. Dort warten sie, bis die beiden Dijkstras auftauchen. Sobald sie da sind, werden sie so laut wie möglich durch die Zweige brechen, stehen bleiben und die beiden anstar-ren.“ „Und Jaap bedient die Anlage mit der Stimme des Kapi-täns“, ergänzte Hanjo und lächelte. „Genau, ich hoffe, er hat dort alles im Griff.“ „Wann willst du mit deinem Kollegen eingreifen?“, fragte Heike. „Wir warten unten im Erdgeschoss hinter der angelehnten Eingangstür. Sobald wir von Jaap ein Zeichen bekommen, stürmen wir raus, Jaap schaltet die Scheinwerfer an und wir nehmen sie fest. Ich schätze, die beiden werden froh sein, wenn wir sie vor der Rache des Kapitäns schützen.“ Hanjo klatschte begeistert in die Hände. „Eine wirklich starke Idee, die hätte von mir kommen kön-nen!“ Plötzlich surrte Gerrits Handy. „Was ist los?“, fragte er. Dann wandte er sich an uns. „Es ist soweit, mein Kollege meldet, die beiden werden je-den Augenblick da sein. Also, verhaltet euch so, wie ich’s euch erklärt habe.“ Er lief schnell nach unten, um ihm die Tür zu öffnen. Wir griffen nach den Nachtgläsern, die Gerrit für jeden von uns besorgt hatte, und stürzten an die Fenster. Auch ich konnte den hellen Leuchtturmplatz gut erkennen. Der Wind heulte noch immer ziemlich kräftig und schüttelte das Gebüsch und die Bäume gehörig durcheinander, der Regen klatschte laut gegen die Fensterscheiben. „Ich sehe niemand“, sagte Pit, der direkt neben mir stand.

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„Wahrscheinlich sind sie noch nicht da oder sie stehen im Schutz des Gebüschs und warten ab“, antwortete ich. „Doch, da vorne, links am Weg, der auf die Straße führt, ich glaube, da stehen sie!“, wisperte Meike aufgeregt. „Papa, Rainer und Uli müssten doch eigentlich auftau-chen. Verdammt, wo bleiben die denn?“ „Bleib ruhig“, meinte Mama, Jaap und Gerrit machen das schon.“ „Jetzt kann ich die Dijkstras deutlich sehen“, flüsterte Kat-ja, „sie stehen unter dem großen Baum. Sie glotzen genau auf die Leuchtturmtür. Was ist, Papa? Du musst mit dei-nem Kapitän endlich auftauchen, sonst hauen sie wieder ab.“ Den letzten Satz sagte sie zu sich selbst. Auf einmal drängten sich Papa, Uli und Rainer durch das Gebüsch. Am Rande des Platzes blieben sie im Halbdun-kel stehen. Durch die immer noch zuckenden Blitze konn-ten wir sie gut erkennen. „Wie sehen die denn aus? Das gibt’s doch gar nicht!“, murmelte Hanjo fassungslos. Auch ich konnte es kaum glauben. Rainer, der Kapitän, hatte sich an Papa und Uli festgekrallt und stand oder hing zwischen ihnen. Er sah schrecklich aus. Soweit ich es von hier oben erkennen konnte, hatte er ein aschfahles Gesicht. Wieder zuckte ein Blitz am Himmel. Rainer starrte mit leerem Blick in die Richtung der beiden Dijkstras. Er trug alte, große Stiefel, die ihm über die Knie reichten. Seine Hose war zerrissen, offenbar auch sein Hemd oder Pullover, alles hing ihm in Fetzen vom Körper. In der Brust steckte ein Messer. „Das glaube ich nicht“, stammelte Olli, „ist das wirklich Pa-pa? Der sieht ja aus wie eine lebende Leiche.“ Die beiden Matrosen schienen schwer an ihrem Kapitän zu tragen. Die Haare hingen ihnen in wirren Strähnen ins Gesicht. Ihre Füße steckten in den typischen holländischen

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Holzklumpen, dazu trugen sie weite Hosen und dunkle Umhänge. „Könnt ihr erkennen, was die Dijkstras machen?“, fragte Lara atemlos. „Die bewegen sich gar nicht, die sind genauso fassungslos wie wir“, antwortete Mama. Wir hielten den Atem an, denn jetzt konnten wir die drohende Stimme des Kapitäns hö-ren. Er sprach holländisch. „Wim, Ruud, was habt ihr getan? Du kennst mich, Wim, ich bin der Kapitän, seit Jahrhunderten tragen mich diese beiden Missetäter durch die Dünen. Sie sind alt und ver-braucht und haben ihre Taten gebüßt. Sie sollen endlich ihre verdiente Ruhe bekommen. Du und Ruud, ihr kommt mir gerade recht. Ab heute müsst ihr mich tragen!“ Die Dijkstras traten aus dem dunklen Schatten des Bau-mes heraus und starrten die drei Gestalten an. „Glauben die das, glauben die das?“, stammelte Pit neben mir. „Sie müssen!“, murmelte ich inbrünstig. Aber plötzlich passierte etwas Unerwartetes. Papa begann zu schwanken. Er schien Rainer nicht mehr halten zu kön-nen. „Was ist da los?“, rief Mama, „da stimmt doch was nicht?“ Obwohl die Stimme des Kapitäns immer noch sprach und den beiden Dijkstras weiter drohte, konnten wir deutlich erkennen, dass unsere Väter irgendwie Probleme hatten. Papa hielt sich schmerzverzerrt den Rücken. Außerdem stand er plötzlich in einer merkwürdig gekrümmten Hal-tung. „Oh nein, er hat wieder sein Rückenproblem!“, rief Mama, „die müssen aufhören, sonst kann er sich gar nicht mehr bewegen.“ Sofort rannte sie aufgeregt die enge Wendeltreppe hinun-ter. Inzwischen hatte Jaap den Scheinwerfer eingeschal-tet, der den Leuchtturmplatz in grelles Licht tauchte. Gerrit und sein Kollege stürzten nach draußen und liefen auf die

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beiden Dijkstras zu. Im ersten Moment dachte ich, sie würden sich vielleicht wehren, aber sie blieben stehen und rührten sich nicht. Die Polizisten zückten ihre Handschel-len und nahmen sie ohne Widerstand fest. Jaap versuchte Papa zu helfen, der mit schmerzverzerrtem Gesicht von Rainer und Uli gestützt wurde. Uns hielt es jetzt auch nicht mehr oben. Als ich unten ankam, wankten mir Rainer und Uli mit Papa in der Mitte entgegen. Mama lief besorgt neben ihnen her. „Ich hätte es eigentlich wissen müssen“, sagte sie, „die Feuchtigkeit und der kühle Wind, das konnte nicht gut ge-hen.“ „Du hast deine Matrosenrolle ja sehr eigenwillig interpre-tiert“, grinste Rainer. „Tut mir leid, ich habe es wohl ziemlich versaut“, murmelte Papa, „aber ich habe gehofft, mein Rücken bleibt stabil. Ich hatte schon lange keinen Ärger mehr.“ „Schon lange nicht mehr?“ Mama schüttelte ungläubig den Kopf. „Noch kurz vor dem Urlaub, als du unbedingt den Garten-weg pflastern musstest, hast du doch schon gestöhnt. Abends konntest du dich vor Schmerzen kaum noch be-wegen.“ „Also, alter Mann, was machen wir jetzt mit dir?“, fragte U-li, „vielleicht setzen wir dich hier auf diesen Stuhl?“ „Ja, aber ihr müsst mich vorsichtig runterlassen.“ Laut stöhnend suchte Papa sich mit Ulis und Rainers Hilfe eine Sitzposition, in der er es einigermaßen aushalten konnte. Etwas ratlos standen wir um ihn herum, Mama schob ihm ein Kissen zwischen Stuhllehne und Rücken, damit er gerade sitzen konnte. „Jetzt glotzt mich nicht so an. Wenn man so ein Schwer-gewicht wie diesen Kapitän tragen muss, kann einem schon mal die Bandscheibe rausflutschen. Rainer, du musst dringend abnehmen.“

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„Er hat Recht“, nickte Uli zustimmend und schaute auf Rainers gewaltigen Bauch. „Das viele Wasser in deinen Klamotten hat dich sogar noch schwerer gemacht.“ Papa konnte schon wieder grinsen. „Die Rache des dicken Kapitäns habe ich überstanden, mit dem Hexenschuss werde ich jetzt auch noch fertig. Seht lieber nach, was passiert ist.“ Er deutete mit dem Kopf zur Tür. Draußen standen die beiden Dijkstras mit gesenktem Kopf und Handschellen aneinander gefesselt unter dem großen Baum. Als Gerrit uns kommen sah, stieß er Wim an. „Ich vermute, du kennst diesen Mann und einige der Kinder.“ Er zeigte dabei auf Rainer. „Das ist nicht der Kapitän, wie du inzwischen wohl gemerkt hast, sondern der, mit dem du in deinem Wohnzimmer über die zerschossene Scheibe gesprochen hast. Ihnen und den anderen hier hast du zu verdanken, dass wir euch auf die Schliche gekommen sind.“ Wim Dijkstra schaute uns müde an, er schämte sich. Es schien ihm peinlich zu sein, vor uns in Handschellen ste-hen zu müssen. Sein Sohn grinste frech, ihm machte es offenbar weniger aus. „Wim ist froh endlich erwischt worden zu sein. Ihn und Ruud bringen wir gleich mit dem Polizeiwagen nach Nes. Es wird noch eine lange Nacht für mich und meinen Kolle-gen“, sagte Gerrit lächelnd zu uns. „Aber sollten wir nicht als Zeugen zur Verfügung stehen?“, fragte Hanjo erstaunt. „Eure Aussagen können später zu Protokoll genommen werden, Wim hat versprochen freiwillig zu gestehen. Ich glaube, wir können in Ruhe nach Hause fahren“, meinte Jaap schmunzelnd.

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In der Zwischenzeit war der Polizeiwagen gekommen. Gerrits Kollege führte die beiden zum Auto und ließ sie hinten einsteigen. „Wo ist der verletzte Matrose?“, fragte Jaap. „Im Leuchtturm, er lässt sich pflegen“, antwortete Uli. Pa-pa saß noch immer auf seinem Stuhl, während Mama sei-nen Rücken massierte. Gerrit und Jaap brachten Papa nach Hause. Wir halfen noch, die Sachen in den Leucht-turm zu räumen, anschließend fuhren wir zurück nach Hol-lum. Papa saß auf der Couch und wartete auf uns, denn er konnte sich wegen der Schmerzen nicht alleine ausziehen. Mama half ihm und Meike und ich brachten ihm eine Wärmflasche. Dann konnten wir endlich in unsere warmen Betten kriechen und schlafen.

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Das Fest

Am nächsten Morgen schien die Sonne durch unser Schlafzimmerfenster. Meikes Bett war – wie meist – schon leer. Ich schlug meine Bettdecke zurück, streckte mich und ging nach unten. Von draußen hörte ich Stimmen, al-so mussten Mama, Papa und Meike auf der Terrasse sit-zen. „Guten Morgen, Langschläferin.“ Die drei grinsten mich an. „Weißt du, wie spät es ist?“, fragte Papa, der etwas steif auf seinem Stuhl saß. „Keine Ahnung“, antwortete ich, „aber wenn ihr mich schon so fragt, ist es sicher nicht mehr früh am Morgen.“ „Genau!“, rief Meike mit Triumph in der Stimme, „du kannst dich gleich wieder hinlegen, es ist schon fast wie-der Abend!“ „Du spinnst“, knurrte ich sie an, „jetzt sagt mir schon, wie spät ist es?“ „Es ist gleich drei“, antwortete Mama, „nach der letzten Nacht ist es kein Wunder, dass du so lange geschlafen hast.“ Erschrocken ließ ich mich auf den Stuhl fallen. Erst jetzt fiel mir auf, dass die drei nicht beim Frühstück saßen, sondern Kekse, Kaffee und Kakao vor sich stehen hatten. „Wie lange seid ihr denn schon auf?“, fragte ich mit Blick auf Papa. „Schon ein bisschen länger, ich hab’ mich gegen zehn heute Morgen aus dem Bett gequält.“ „Wie geht es deinem Rücken?“ Mir kam die Szene von letzter Nacht wieder in den Sinn. „Ich hoffe, ich kann mich bald wieder normal bewegen, Mama hat mich zum Arzt gebracht. Er hat mir eine Spritze

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gegeben, die ganz gut anschlägt“, antwortete Papa. Ich war erleichtert. Mein Magen begann laut zu knurren. „Ich muss erst mal was essen“, sagte ich. Mit einer großen Schüssel Müsli kam ich zurück auf die Terrasse. „Oh“, meinte Papa erstaunt, „das müsste doch für den Rest des Tages reichen, oder?“ „Lass noch Platz für heute Abend“, grinste Meike, „Jaap hat uns zu einem Fest eingeladen, er will die Rückkehr der Galionsfigur mit uns feiern.“ Es ärgerte mich, wenn sie sich darüber lustig machten, wie viel ich im Augenblick essen konnte. Ich wunderte mich ja selbst manchmal. „Wie spät findet das Fest denn heute Abend statt?“, knurr-te ich möglichst unfreundlich. „Um sieben sollen wir im Museum sein“, antwortete Papa lächelnd. „Und wie bekommen wir dich nach Buren? Du kannst doch kaum laufen.“ Das saß. Die Frage war zwar gemein, aber Papa hatte es verdient. Er ließ sich aber nicht aus der Ruhe bringen. „Es wird schon“, antwortete er, „bis heute Abend werde ich wieder laufen wie ein junger Gott.“ Ich vertiefte mich wieder in meine Müslischüssel. „Ich hätte Lust vorher noch einen kleinen Ausflug zu ma-chen“, meinte Mama, „das Wetter ist ja wieder besser, wie wär’s mit einer Wattwanderung? Die Zeit reicht noch, wenn wir gleich losgehen.“ „Nein, ich nicht!“ Meike winkte ab. „Außerdem kann Papa ja gar nicht mitgehen. Ich will lieber zum Strand und einfach schwimmen.“ „Ich auch“, murmelte ich kauend, „das ist eindeutig die bessere Idee.“ Mama zuckte mit den Schultern. „Na gut, aber Papa und ich bleiben hier. Ihr müsst alleine zum Strand fahren.“

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„Klar, wir schauen bei den anderen vorbei und fragen, ob sie mit wollen“, meinte Meike. „Komm Hannah, zieh dich an, ich suche schon mal die Sachen zusammen!“ Schnell hatte Meike die Badetasche gepackt und wir konn-ten starten. „Seid bitte um sechs zurück“, rief Mama uns nach, „damit wir pünktlich nach Buren fahren können!“ Die Franzens ließen sich schnell überreden, nur Hanjo war mit Uli auf einer Wanderung. Die Münstermänner hatten auch Lust. Zusammen verbrachten wir einen schönen Nachmittag am Strand. Ich freute mich, dass endlich alles vorbei war. Die Jagd nach der Galionsfigur fand ich zwar aufregend, aber ganz normale Ferien ohne Abenteuer ge-fielen mir auch. Als wir zurückkamen, ging es Papa schon wieder ganz gut. Wir trafen uns mit den anderen an der Haltestelle. Kurze Zeit später kam der Bus. „Hallo, da seid ihr ja wieder!“ ‚Unser’ Fahrer begrüßte uns mit einem freundlichen Lä-cheln. „Ihr wollt zum Museum, stimmt´s?“ „Genau!“, schrie Olli, „wir feiern unseren Sieg. Das Böse ist endgültig erledigt.“ Er reckte triumphierend die Faust. „Ja, ja, sagte der Busfahrer, Jaap hat es mir erzählt, aber vom Bösen kann man nicht unbedingt reden, glaube ich. Die zwei sind eher arme Schweine.“ „Komm, Olli, setz dich hin!“, zischte ihn Lara an. Wir gin-gen nach hinten durch und noch während wir unsere Plät-ze suchten, fuhr der Bus mit einem Ruck los. Es ging wie-der über die vertraute Strecke. Zuerst hinaus aus Hollum auf den Ballumer Weg, der direkt auf das kleine Dorf zu-lief. Auf dem Kopfsteinpflaster in Ballum rumpelten wir an dem alten Glockenturm vorbei, auf den ich unbedingt noch mal hoch klettern muss. Dann hielten wir fast direkt

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gegenüber unserer Lieblingspommesbude am Kreisver-kehr. Über die Hauptstraße ging es weiter nach Nes. Nach kurzen Zwischenstopps im Dorf und am Fährhafen er-reichten wir Buren. Am kleinen Museum ließ uns der Fah-rer aussteigen. „Viel Spaß noch!“, rief er uns hinterher. Jaap stand wie immer schon an der Haltestelle. „Herzlich willkommen!“, begrüßte er uns fröhlich. „Da das Wetter ja wieder gut ist, werden wir draußen im Hof feiern. Hoffentlich habt ihr Hunger mitgebracht!“ „Und wie“, brüllte Rainer, „ich könnte ganze Wildschweine verputzen, beim Teutates!“ Die Erwachsenen lachten. „Wer ist eigentlich Teutates?“, wollte ich wissen. „Ein Kriegsgott der alten Gallier“, antwortete Rainer, „ob-wohl ich an den gar nicht glaube.“ Als wir das Museum betraten, blieben wir erst mal wie an-gewurzelt stehen. Vor uns an der Wand hing die Galions-figur. „Da staunt ihr, was?“, meinte Jaap, „aber dieser Platz ist für Marijke wie geschaffen.“ „Ich hatte sie gar nicht so groß in Erinnerung“, sagte Pit, „im Dunklen in der Erde konnte man sie nicht so richtig er-kennen. Die sieht voll stark aus.“ Auch unsere Eltern schienen beeindruckt zu sein und sa-hen die Figur mit großen Augen an. Beleuchtet vom hellen Lichtkegel eines Scheinwerfers strahlte sie in ihrer ganzen Schönheit. Die Farbe ihres grünen Kleides kam jetzt richtig zur Geltung, genau wie ihre feuerroten Haare. Es sah aus, als wollte sie uns persönlich die Hand zum Siegeszeichen entgegenstrecken. Sicher freute sie sich, wieder hier im Museum zu sein. „Das ist ihr Platz!“, sagte Jaap stolz, „hier gehört sie hin und hier wird sie vorerst auch bleiben.“ „Ich könnte zwar Wildschweine verputzen, aber die Schönheit dieses Weibes lässt mich meinen Hunger

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vergessen. Der Kapitän, der sie am Bug seines Schiffes führte, muss ein glücklicher Mann gewesen sein“, meinte Rainer bewundernd. Lara und Paula verdrehten die Au-gen. „Du musst noch erzählen, zu welchem Schiff sie jetzt wirklich gehörte“, bat Rainer. „Angeblich soll sie ja vom gestrandeten Schiff ihres Soh-nes gewesen sein. Aber die Geschichte kennt ihr ja schon. Wahrscheinlicher ist allerdings, dass sie von einem der Walfangschiffe stammt. Deshalb war sie vermutlich auch im Besitz der Dijkstras. Aber jetzt lasst uns in den Hof ge-hen, die anderen warten schon auf uns.“ Alle, die bei der Suche nach Marijke geholfen hatten, wa-ren eingeladen. Gerrit und sein Kollege, außerdem ein großer bärtiger Mann mit einer warmen und freundlichen Stimme, der sich uns als Bart de Gee vorstellte, der hol-ländische Schauspieler, der den Kapitän gesprochen hat-te. Er unterhielt sich mit Ellen van Dijk, der Wirtin des Strandcafes von Buren, die der Rixt ihre Stimme gegeben hatte. Jaap strahlte richtig, als er sie uns vorstellte. Alle standen vor einem großen, langen Tisch mit weißer Decke und vielen Köstlichkeiten. In der Mitte des Hofes brannte ein Grillfeuer. Rainer würde also auch seinen Hunger auf Fleisch stillen können. „Oh, wie wunderbar!“, rief er, „ein halbes Wildschwein für den wahren Ameländer Obelix. Jaap, ich danke dir, du weißt, was dicke Männer brauchen!“ „Rainer, ich muss deinen Redefluss mal kurz unterbre-chen“, begann Jaap jetzt und rieb sich die Hände. „Ich möchte euch, meine Freunde, herzlich willkommen heißen. Ich habe euch zu diesem Festabend eingeladen, um mich zu bedanken. Insbesondere bei den Kindern, denn ohne eure Hilfe hätte ich die Galionsfigur niemals zu-rückbekommen. Ich bin froh und stolz eure Bekanntschaft gemacht zu haben. Das Museum hätte ohne euch sein wichtigstes Ausstellungsstück für immer verloren und

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großen Schaden genommen. Zwischen uns hat eine wun-derbare Freundschaft begonnen, auf die ich auch in der Zukunft nicht mehr verzichten möchte. Unsere gemeinsa-men Abenteuer haben uns, wie ich finde, zusammen ge-schweißt und ich hoffe, dies war nicht euer letzter Urlaub auf Ameland. Auch den Eltern gilt mein Dank, ihr habt Großartiges geleistet, genau wie meine holländischen Freunde. Ihr alle habt mich fantastisch unterstützt. Und jetzt wünsche ich euch einen guten Appetit. Nehmt bitte Platz!“ Ich saß am Tisch zwischen Pit und Lara. „Ich weiß gar nicht, womit ich zuerst anfangen soll“, sagte Lara. „Versuchs mal mit dem Matjes, du stehst doch auf Fisch“, riet ich ihr, „oder mach’s wie Pit, der isst alles auf einmal.“ Mit Erstaunen sahen wir auf seinem Teller Fisch, Käse-würfel, Pommes, einen großen Klecks holländischer Ma-yonnaise, kleine Frikadellen und noch vieles mehr. Es schien ihm zu schmecken. Rainer, Papa und Uli standen am Feuer und ließen sich von Jaap mit Grillfleisch versor-gen. Auch alle anderen hatten sich am Tisch einen Platz gesucht. Rainer war wie immer kaum zu bremsen und un-terhielt uns mit seinen Geschichten. Als er gerade mit ei-nem großen Steak beschäftigt war, nutzte ich die Chance, Gerrit zu fragen, ob die Dijkstras gestanden hatten. „Eigentlich darf ich es ja nicht erzählen“, antwortete er, „a-ber ihr sollt es trotzdem wissen. Ich habe sie im Polizeige-bäude in Nes noch lange verhört.“ „Was haben sie zu dem Auftritt des Kapitäns und der Mat-rosen gesagt?“, wollte ich wissen. „Wim hat sich zunächst fürchterlich erschreckt und tat-sächlich gedacht, er hätte eine Erscheinung. Aber als dein Vater wegen der Rückenschmerzen Rainer nicht mehr tragen konnte, wusste er sofort, was gespielt wurde. Trotzdem war er über die Verhaftung richtig erleichtert. Ich

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glaube, jetzt hat er verstanden, was mit seinem Sohn los ist.“ „Was denn nun?“, murmelte Pit, der sich inzwischen sei-nen Teller zum zweiten Mal gefüllt hatte. „Ruud ist krank“, fuhr Gerrit fort, „er weiß eigentlich nicht, was er tut. Mit Geld kann man ihm nicht helfen. Er braucht Unterstützung von Fachleuten.“ „Na hoffentlich kriegen die das hin“, murmelte Pit mit vol-lem Mund. „Das hoffe ich auch“, nickte Gerrit. „Und was passiert jetzt mit den beiden?“ „Wir bringen sie morgen nach Leeuwarden, um sie dem Richter vorzuführen. Wahrscheinlich werden sie wegen Betruges und Erpressung angeklagt und Ruud wird eine Therapie machen müssen. Ich hoffe Wim kann später sein Geschäft hier auf Ameland wieder eröffnen.“ Gerrit seufzte. „Eigentlich ist er nämlich ein guter Kerl.“ Rainer hatte inzwischen sein Steak verputzt und wieder laut das Kommando am Tisch übernommen. „Man reiche mir mein Wildschwein!“, rief er, „ich muss euch noch eine besondere Geschichte erzählen, die ich extra für den heutigen Abend vorbereitet habe!“ „Papa, weißt du, was auf den Festen am Ende der Asterix und Obelix Geschichten mit Troubadix, dem Sänger, im-mer passiert?“, grinste Lara. „Rainer schaute sie verständnislos an. „Nein, erzähl’ es mir Tochter, berichte mein Kind!“ „Ganz einfach, er wird gefesselt, geknebelt und ruhig ge-stellt. Und jetzt schau mal, was ich hier habe?“ Sie hielt ein Tuch und ein langes Seil hoch, stand vom Tisch auf und stürzte sich lachend zusammen mit Olli und Paula auf ihren Vater.

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„Ihr müsst mir helfen!“, rief er uns zu, „ich muss unbedingt noch diese wunderbare Geschichte erzählen, nur diese eine. Euch entgeht was. Lasst mich…!“ Der letzte Satz wurde von dem Knebel erstickt, den sie ihm in den Mund schoben. Außerdem fesselten sie ihn mit dem langen Seil an seinem Stuhl, bis er nur noch seinen Kopf bewegen konnte. Wir lachten, auch Marlies schien ihren Spaß zu haben. „So, jetzt können wir weiter feiern!“, rief Paula triumphie-rend, „Vielerzählix ist ruhig gestellt!“ Rainer musste aber nicht lange gefesselt und geknebelt auf dem Stuhl sitzen bleiben. Wir hatten bald Mitleid und befreiten ihn schnell wieder. Er versprach den Rest des Abends einfach mitzufeiern und seine Geschichte für sich zu behalten. Das Fest dauerte noch lange. Die Erwach-senen saßen am Tisch und unterhielten sich. Wir Kinder sind irgendwann zum Strand gegangen. Der schöne Abend hatte noch viele Menschen ans Meer gelockt. Eine Weile standen wir bei einer Gruppe von Jugendlichen, die ein Strandfeuer angezündet hatten. Dann lief ich allein ans Wasser. Es war eine wunderschöne Nacht. Über mir der klare Sternenhimmel, vor mir die rauschenden Wellen. Ich stand mit bloßen Füßen im Sand und schloss die Augen. Die Fe-rien waren noch lange nicht zu Ende. Plötzlich schob sich eine Hand in meine, Meike stand ne-ben mir. „Morgen wird bestimmt wieder ein schöner Tag“, sagte sie. Ich nickte. Als wir uns umschauten, bemerkten wir, dass die anderen schon wieder auf dem Rückweg zum Museum waren. Schnell liefen wir ihnen nach.

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