Die historische Entwicklung literaturwissenschaftlicher Methoden 3. Die Poetiken der Frühen...

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Die historische Entwicklung literaturwissenschaft licher Methoden 3. Die Poetiken der Frühen Neuzeit

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Die historische Entwicklung

literaturwissenschaftlicher Methoden

3. Die Poetiken der Frühen Neuzeit

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Antike Dichtungslehren Imitations- und Aemulationsforderung Idee der Spracherneuerung die Zwerge auf den Schultern von Riesen

(vgl. die Evangelisten auf den Schultern alttestamentarischer Propheten)

die Bienen und die Seidenraupen 1415 von Poggio Bracciolini in Sankt Gallen Quintilian: Institutio oratoria (92-96 n. Chr.) Franz Loretto: Diese Ausführungen stellen

eine systematische literarhistorisch-kritische Studie dar, die wohl zum Bedeutendsten gehört, was wir von der Antike auf diesem Gebiet besitzen.

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Quintilian Autoren: optima legendo atque audiendo Fertigkeiten: copia rerum ac verborum; quoque loci

sit aptissimum Ex his ceterisque lectione dignis auctoribus et

verborum sumenda copia est et varietas figurarum et componendi ratio, tum ad exemplum virtutum omnium mens derigenda. neque enim dubitari potest, quin artis pars magna contineatur imitatione. nam ut invenire primum fuit estque praecipuuum, sic ea, quae bene inventa sunt, utile sequi.

Vertere Graeca in Latinum veteres nostri oratores optimum iudicabant. [...] et manifesta est exercitationis huiusce ratio. nam et rerum copia Graeci auctores abundant et plurimum artis in eloquentiam intulerunt et hos transferentibus verbis uti optimis licet: omnibus enim utimur nostris.

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Eine neue Kanonbildung Anton Francesco Doni: Libraria, 1550 Seconda Libraria, 1580 Verzeichnis vorbildlicher italienischer Dichter ca. 100 besprechende discorsi Übersetzungen aus anderen Sprachen Lilio Gregorio Giraldi: De poëtis nostrorum

temporum, 1581 Listen (Piemont, Neapel usw.) als Prestigeobjekte Lorenzo Mehus: Historia Litteraris Florentina ab

anno MCXCII usque ad annum MCDXXXIX (1769) ab 1328 Kommentare zur Divina Commedia Commento von Giovanni Boccaccio Liederausgaben von Petrarca → Tre Corone

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Die questione della lingua Von den modernen Literaturen hat zuerst die

italienische einen Kanon ausgebildet. einheitliche italienische Literatursprache Es war die Tat Pietro Bembos, daß er eine

italienische Sprachtheorie aufstellte, die als Norm für die volkssprachliche Dichtung gelten sollte. Die drei großen Toskaner des 14. Jahrhunderts (Dante allerdings nur mit starken Einschränkungen) wurden zu Sprachmustern erhoben.

Autoritäten des Dolce Stil Nuovo der Generation Dantes

Regeln der italienischen Verskunst

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Der vorbildliche Sprachgebrauch Antonio da Tempo: Summa artis rythimici vulgaris

dictaminis, 1332 Gidino da Sommacampagna – Trattato de li rithimi

volgari rhetorische Konzeption der Dichtkunst ab dem 15. Jh. Schriftstellerwörterbücher Pietro Bembo: Prose della volgar lingua, 1525 Alberto Accarigi: Vocabolario, grammatica et

orthographia de la lingua volgare [...] con ispositioni di molti luoghi di Dante, del Petrarca, et del Boccaccio, 1543

Vocabolario degli Accademici della Crusca, 1612 Tre Corone + Ariost und Bembo Aeraria poetica und Reimwörterbücher

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Die Neuausgaben des Kanons philologische Techniken des Humanismus ridotte alla vera lezione elogium = Würdigung des Gesamtwerkes lezioni = Besprechungen einzelner Passagen Giovan Mario Crescimbeni: Storia della volgar poesia,

1698 Gröber: Der Darlegung der Veränderungen in Dichtung

und Dichtungsform von 1184 bis zur Zeit des Verfassers folgen ‚elogi‘ der 100 gefeiertesten älteren und der bekanntesten 50 lebenden Dichter, alphabetische Namenslisten über die übrigen, dann die philologisch kritische Litteratur, Winke für den Dichter. Die schonende Beurteilung stützt sich auf die Meinung der Gebildeten und auf Autoritäten, wie Salviati; Proben aus den Werken der Dichter ersetzen die Charakteristik und die Zergliederung der Werke.

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Aristoteles: Peri poetikes Curtius: Die klassizistischen Tendenzen des

Cinquecento liefen sich tot in langwierigen Diskussionen über die Poetik des Aristoteles.

lateinische Übertragung von Giorgio Valla 1498 EA des griechischen Textes bei Aldo Manuzio

1508 griechisch-lateinische Ausgabe – Alessandro

Pazzi 1536 in Anlehnung an Plato mimesis – Nachahmung der Natur zwei naturgegebene Ursachen: angeborene

Anlage und Freude

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Aristoteles: Peri poetikes Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit Da der Dichter ein Nachahmer ist, wie ein Maler oder

ein anderer bildender Künstler, muß er von drei Nachahmungsweisen, die es gibt, stets eine befolgen: er stellt die Dinge entweder dar, wie sie waren oder sind, oder so, wie man sagt, daß sie seien, und wie sie zu sein scheinen, oder so, wie sie sein sollten.

das oberste Gebot der Natürlichkeit Man muß auch bei den Charakteren – wie bei der

Zusammenfügung der Geschehnisse – stets auf die Notwendigkeit oder Wahrscheinlichkeit bedacht sein, d.h. darauf, daß es notwendig oder wahrscheinlich ist, daß eine derartige Person derartiges sagt oder tut, und daß das eine mit Notwendigkeit oder Wahrscheinlichkeit auf das andere folgt.

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Aristoteles: Peri poetikes Demzufolge enthält jede Tragödie

notwendigerweise sechs Teile, die sie so oder so beschaffen sein lassen. Diese Teile sind: Mythos, Charaktere, Sprache, Erkenntnisfähigkeit, Inszenierung und Melodik.

Handlung (= Mythos), Charaktere und Erkenntnisfähigkeit

Inszenierung Melodik der Dichtung und die Sprache eleos und phobos (Mitleid und Schrecken)

Gadamer: Jammer und Schauder reinigende Wirkung – katharsis Fuhrmann: Dichtung – darauf läuft seine Lehre

hinaus – steckt nicht an, sondern impft.

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Kommentare Francesco Robortello: In Librum Aristotelis De

Arte Poetica Explicationes, 1548 Lodovico Castelvetro: La Poetica d’Aristotele

vulgarizzata et sposta, 1570 Giulio Cesare Scaligero: Poetices libri septem,

1561 Errichtung eines ganzen Regelgebäudes Die Tragödie versucht, sich nach Möglichkeit

innerhalb eines einzigen Sonnenumlaufes zu halten oder nur wenig darüber hinauszugehen.

Jean Chapelain: Lettre sur la règle des vingt-quatre heures, 1630

unité de temps, de lieu, d’action

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Ständeklausel [...] jene bis ins 18. Jahrhundert gültige

Maxime, daß den verschiedenen Gattungen der Dichtung je verschiedene ständisch bedingte Stoffbereiche und je verschiedene hierzu passende Stilarten zu eigen seien: das Epos und die Tragödie nähmen sich im erhabenen Stil der Schicksale von Göttern, Heroen und Königen an; dem Lehrgedicht kommen sowohl in stofflicher als auch in stilistischer Hinsicht die mittlere Stufe zu; Komödie und Hirtendichtung teilten sich in die niedrige Sphäre und stellten in schlichter Stilart die Taten und Leiden der gemeinen Leute dar.

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Neue Gattungen Problem von deren Situierung Pastoraldichtung von Sannazaro bis Tasso lateinische Vorbilder in der Bukolik Giambattista Guarini: Pastor fido, 1590 tragicommedia pastorale ein poetisches Monster von der Tragödie die großen Charaktere,

die glaubhafte Handlung, die bewegenden Gefühle, die Gefahr aber nicht den Tod

von der Komödie die Annehmlichkeiten, das zurückhaltende Lachen, den guten Ausgang

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Frankreich François Ier und Caterina de’ Medici –

italienisches Bildungsgut 1539 Ordonnance de Villers-Cotterêts Claude de Vaugelas: Remarques sur la langue

française, 1647 die Sprache des Hofes Thomas Sebillet: Art poëtique françoys pour

l’instruction des jeunes studieus et encor peu avancez en la Poësie françoyse, 1548

Joachim Du Bellay: Deffence et illustration de la langue françoise, 1549

Sperone Speroni: Dialogo delle lingue, 1542 Antikenverehrung und nationales Pathos →

innutrition der eigenen Literatursprache

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Die französische Nationalliteratur Claude Fauchet: Recueil de l’origine de la langue et

poésie française, 1581 über 100 Dichter vor 1300 Honoré d’Urfé: L’Astrée, 1607-24 Jean Chapelain: Dialogue de la lecture des vieux

romans, 1647 Phérotée de La Croix: Art de la poésie française ou la

Méthode de connoître et de faire toute sorte de vers, 1675

Claude Barbin: Recueil des plus belles pièces des poètes françois, 1692

elogium für Dichter des 16. und 17. Jh. Guillaume Colletet: Histoire des poètes français, 1659 400 Dichter, nur 8 vor 1500

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Charles Sorel Bibliothèque

française, 1664 (21667)

für Boileau z.B. beginnt die Klassik mit François Malherbe

Sorel: De la connaissance des bons livres, 1671

verurteilt heroischen Roman, Pastoralroman und galante Literatur

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Nicolas Boileau Chapelain décoiffé, 1665 Longinus: Peri Hypsous

(Traité du sublime ou du merveilleux dans le discours), 1674

Boileau: L’Art poétique, 1674

natürliche Begabung, die Kenntnis erlernbarer Regeln und die Orientierung an der Vernunft

höchste Stilqualität der clarté

vraisemblance l’utile durch plaire et

toucher gegen die

italienischen Modelle Zu seinem

ästhetischen Dogma hatte er das Sublime erhoben, das ästhetische Normen von überzeitlicher Geltung voraussetzt und Stilgesetze verbindlich macht.

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Longinus: Vom Erhabenen auf den einzelnen literarischen Fall abstimmen In Longinus verbinden sich die platonische

Auffassung der Poesie als Inspiration, der stoische Gedanke, dass zwischen Adel des Denkens und Höhe des Stiles ein Zusammenhang bestehe, und die aristotelische sowie die schulrhetorische Hervorhebung technischer Gesichtspunkte.

große Ideen in edler Sprache Druckausgabe durch Francesco Robortello 1554 immaginazione, ispirazione oder natura privilegiata furor poeticus, Talent oder Genie [...] ob eine Kunstlehre des Erhabenen oder Tiefen

möglich ist, da manche meinen, es sei ganz verkehrt, solche Vorzüge in technische Regeln zu bringen.

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Longinus: Vom Erhabenen keine Anleitung zur Produktion Die Sache ist aber nicht leicht zu fassen, ist

doch literarisches Urteil erst die letzte Frucht vieler Erfahrung.

Dann nämlich ist Kunst am Ziel, wenn sie Natur scheint; die Natur wieder ist vollendet, wenn sie die Kunst unmerkbar einschließt.

keine normativen Rezepte Analyse des literarischen Kunstwerks Niedergang der nach absoluten Regeln

ausgerichteten Literaturbetrachtung

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Die Querelle des Anciens et des Modernes Charles Perrault: Poème sur le siècle de Louis le

Grand, 1687 die historische Relativität der ästhetischen Mittel keinen absoluten Kanon der Ästhetik Geschmack Voltaire: Le Temple du goût, 1733 Konfrontation zwischen vernunftorientierten

Regeln und der Frage des wandelnden Geschmacks

Malheureux qui toujours raisonne,Et qui ne s’attendrit jamais.Dieu du Goût ton divin PalaisEst un séjour qu’il abandonne.