Die Instanz

23
1

description

Ein fairer Prozess.

Transcript of Die Instanz

1

Coverfoto Ulrike Kirsch

2

Rolf Kirsch

Die Instanz

3

4

1. Verhandlungstag

Instanz: "Angeklagter Bredenberg, Sie wurden vorgeladen, weil es - ich will es mal so sagen - ein günstiger Zeitpunkt ist, um sich mit Ihnen zu beschäftigen. Ich eröffne also das Verfahren. Es ist bei uns der Brauch, Sie zu fragen, ob Sie diese Instanz anerkennen."

Bredenberg: "Ob ich diese Instanz anerkenne? Ich hatte keine Ahnung, dass ich diese Instanz auch ablehnen kann. Mit anderen Worten, dass ich ablehnen kann, sich mit mir zu befassen, gün-stiger Zeitpunkt hin oder her."

5

Instanz: "Es handelt sich um eine formale Frage. Selbstverständlich können Sie die Instanz ableh-nen. Sie gibt es aber dennoch. Sie als Einwohner des christlich geprägten Abendlandes sind rund-herum von dieser Instanz umgeben. Sie tragen sie sogar in sich, auch wenn Sie es nicht wahrhaben wollen. Sie werden seit Ihrer Geburt von anderen Menschen nach Instanzmaßstäben gewertet und beurteilt. Ihnen sind diese Instanzmaßstäbe täg-lich und in immer anderen Zusammenhängen be-kannt gemacht worden. Sie können gar keine an-deren Maßstäbe mehr denken als unsere Instanz-maßstäbe. Also, Bredenberg, machen Sie keine Schwierig-keiten. Wir würden das Verfahren gerne eröff-nen."

Bredenberg: "Was ist, wenn ich ablehne?"

Instanz: "Wir raten Ihnen nicht dazu. Es ist auch in Ihrem Interesse, wenn wir uns nach mehr als sechzig Jahren mal ganz intensiv mit Ihnen befas-sen. Vielleicht ist ja nicht alles schlecht, was zutage kommt. Gut, ein Risiko ist dabei. Oder scheuen Sie das Risiko, Bredenberg?"

6

Bredenberg: "Nun, im Alter wird man vorsich-tiger."

Instanz: "Hört man immer wieder. Aber wir be-fassen uns selten mit jungen Angeklagten. Wissen Sie, dieser Personenkreis liefert noch zu wenig Material. In der Jugend- und Erwachsenenzeit werden unbedacht jene Missstände produziert, die bei älteren Angeklagten endlich zu Instanzange-legenheiten werden. Also, was ist, Bredenberg?"

Bredenberg: "Ich möchte noch einige Tage über-legen."

Instanz: "Gut, Bredenberg, das Verfahren wird einstweilen nicht eröffnet, noch nicht. Sie erhal-ten in einigen Tagen Nachricht von uns. Sie kön-nen gehen, Bredenberg."

7

2. Verhandlungstag

Instanz: "Freut uns, Bredenberg, dass Sie unserer Einladung gefolgt sind."

Bredenberg: "Einladung? Es klang wie eine Auf-forderung."

Instanz: "Wir haben uns in Ihrem Inneren so sehr festgesetzt, dass Sie jede kleine Bitte von uns als Aufforderung verstehen müssen. Sie können einer Bitte von uns nicht widerstehen. So kommt es, dass Sie eine Bitte von uns als Aufforderung auf-fassen. Schließlich sind wir Ihre persönliche In-stanz, Ihr Gewissen sozusagen."

Bredenberg: "Verstehe, verstehe. Aber wie haben Sie das gemacht, dass ich Ihren Bitten nicht wi-derstehen kann?"

Instanz: "Wir haben früh damit angefangen. Wenn Sie als kleiner Mensch Ihrer ... sagen wir Ihrer Mutter einen kleinen Gefallen verweigert haben, war Ihre Mutter beleidigt undsoweiter undsoweiter. Jedenfalls hat sie ihr Verhalten ge-

8

genüber Ihnen, Bredenberg, so verändert, dass Sie Ihr Bredenberg-Verhalten überprüfen mussten. Denn schließlich waren Sie von Ihrer Mutter ab-hängig. Ohne sie wären Sie verhungert, Breden-berg. Das haben Sie nicht vergessen. Hier begann Ihre Instanz, Bredenberg. Die Bitte Ihrer Mutter wurde zur Aufforderung. Ihre Mutter - übrigens nicht nur sie - hat dafür gesorgt, dass es eine In-stanz für Sie gibt."

Bredenberg: "Heute bin ich alt. Heute hätte ich die Wahl, eine Instanz abzulehnen."

Instanz: "Machen Sie sich keine Illusionen, Bre-denberg. Sie können uns vertagen, aber nicht vollends ablehnen. Neben Ihren Erfahrungen aus frühester Kindheit haben wir ja zusätzlich theo-retische Arbeit geliefert, zum Beispiel Kinder-gottesdienste, Poesie-Album-Verse undsoweiter undsoweiter. Wir haben mit allen Mitteln gearbeitet, damit auch Sie eine Instanz haben, die Ihnen sagt, was aus unserer Sicht erlaubt ist oder nicht."

Bredenberg: "Was ist, wenn Ihre Sicht einer

9

Überprüfung bedarf?"

Instanz: "So weit wollen wir nicht gehen. Die Sit-zung wird vertagt. Sie werden erneut geladen, Bredenberg."

3. Verhandlungstag

Instanz: "Die Sitzung ist eröffnet."

Bredenberg: "Ich schließe hiermit die Sitzung."

Instanz: "Diese Renitenz, Bredenberg, kennen wir schon. Wir wissen auch, woher dieser Wider-standsgeist kommt. Sie denken und denken und denken. Das ist weiter nicht schlimm. Sie denken allerdings immer, was wäre, wenn alles anders wäre. Sie akzeptieren nicht die Wirklichkeit, wie sie ist. Immer wollen Sie es anders haben."

Bredenberg: "Sie kennen mich gut."

10

Instanz: "Kein Wunder, wir beschäftigen uns seit der Geburt mit Ihnen, Bredenberg, übrigens nicht immer zu unserer Freude. Die Sitzung ist wieder eröffnet."

Bredenberg: "Hiermit schließe ich die Sitzung. Zunächst muss geklärt werden, nach welchen Maßstäben hier geurteilt werden soll."

Instanz: "Wir dachten, dass die Maßstäbe klar sind. Sie sind Mitglied des christlichen Abend-landes. Wir haben durch Erziehung und durch theoretische Untermauerung in allen Ihren Le-bensphasen Maßstäbe gesetzt. Das sind unsere Maßstäbe. Unsere gemeinsamen Maßstäbe. Wir eröffnen die Sitzung erneut."

Bredenberg: "Ich schließe die Sitzung für heute. Ich bin aber bereit, mich in der nächsten Sitzung versuchsweise - das heißt unter Vorbehalt - auf die Ihnen bekannten Maßstäbe einzulassen. Unter Vorbehalt."

Instanz: "Wir sind Ihr Gewissen, Bredenberg, hören Sie doch, Ihr Gewissen, Ihre Instanz. Freu-

11

en Sie sich, dass Sie eine Instanz haben. Sie sollten sich freuen."

Bredenberg: "Ich hatte die Sitzung geschlossen."

Instanz: "Sie hören von uns."

4. Verhandlungstag

Instanz: "Schön, Sie wiederzusehen, Breden-berg."

Bredenberg: "Nun, ich denke, wir können uns jetzt öfter begegnen, nachdem Augenhöhe be-steht."

Instanz: "Wie bitte?"

Bredenberg: "Sie haben während der letzten Sit-zung erfahren müssen, dass ich in der Lage bin, eine Sitzung zu beenden."

12

Instanz: "Bredenberg, wir sind Ihre Instanz. Wir bestimmen, wann wir uns melden und wir be-stimmen die Maßstäbe Ihrer Beurteilung."

Bredenberg: "Ersparen Sie mir erneute Tests. Wir wollen weiterkommen. Wenden wir uns den Maßstäben zu, nach denen Sie mich verurteilen wollen."

Instanz: "Nicht so voreilig, Bredenberg. Nicht die Maßstäbe sind es, über die wir zu Gericht sitzen, sondern Sie sind es, Bredenberg, über den die Verhandlung eröffnet wurde."

Bredenberg: "Wenn Sie so weitermachen, bin ich gehalten, die Sitzung vorerst wieder zu schlie-ßen."

Instanz: "Wir sehen, Bredenberg, dass Sie ein Querkopf sind. Unter gewissen Umständen wol-len wir Ihnen gerecht werden. Sie sollen ja zum Schluss der Verhandlung das über Sie verhängte Urteil nachvollziehen können. Also werden wir uns zunächst mit den von Ihnen in Frage ge-stellten Maßstäben befassen. Allerdings denken

13

wir, dass Sie auf Zeit spielen wollen."

Bredenberg: "Mir geht es eher darum, dass Sie begreifen, dass Ihre Maßstäbe, die Maßstäbe Ih-res christlichen Abendlandes nichts weiter sein könnten als Einbildungen. Wenn Sie zu dieser Einsicht Zeit brauchen, ist sie gut genutzt."

Instanz: "Treiben Sie es nicht zu weit, Breden-berg. Die Sitzung ist unterbrochen. Sie dürfen nun gehen."

5. Verhandlungstag

Bredenberg: "Hiermit eröffne ich die Sitzung."

Instanz: "Bredenberg, bitte, das ist unsere Aufgabe."

Bredenberg: "Ich dachte, dass Sie begriffen ha-ben, dass Sie eine abgeleitete Größe sind, sozu-

14

sagen eine Funktion von mir."

Instanz: "Wir verstehen nicht."

Bredenberg: "Einfach gesagt: wenn es mich nicht gäbe, gäbe es keine Instanz. Oder noch einfacher: Kein Bredenberg - kein Bredenberg-Gewissen."

Instanz: "Nun wissen wir, was Sie meinen. Diese Bemerkung gibt uns die Gelegenheit zu einer kleinen Belehrung. Lieber Bredenberg, wenn es Sie nicht gäbe, gäbe es doch die anderen Men-schen, für die eine Instanz Grundlage und Rich-tung wäre. Da Sie sich aber den anderen Men-schen angeschlossen haben oder den anderen Menschen angeschlossen wurden, gibt es auch für Sie eine Instanz."

Bredenberg: "Aber ..."

Instanz: "Allenfalls wäre richtig, wenn es gar keine Menschen gäbe, dass auf eine Instanz ver-zichtet werden müsste."

Bredenberg: "Heißt das, dass ...?"

15

Instanz: "Das heißt, dass Sie im Verbund mit der Menschheit an sich stehen, dass diese von dieser Menschheit bewirkte Instanz - weil es sich aus ihrem Zusammenleben und aus ihrem derzeitigen Wissen um die Dinge so ergibt - auch eine In-stanz ist, die sich ebenfalls in Ihrem Gehirn nie-dergelassen hat. Mit anderen Worten: Das, was alle Menschen im großen Ganzen für richtig oder falsch halten, ist der derzeitige Maßstab auch für Sie, ob Sie nun wollen oder nicht."

Bredenberg: "Also sind Sie doch eine abgeleitete Größe, eine von der Menschheit abgeleitete Grö-ße, die sich in mein Gehirn gefressen hat."

Instanz: "Das ist etwas drastisch formuliert. Seien Sie doch froh, dass Sie nicht allein sind. Wir ma-chen in der nächsten Woche weiter. Die Sitzung ist geschlossen."

16

6. Verhandlungstag

Bredenberg: "Da bin ich wieder."

Instanz: "Schön, dass wir Sie nicht mehr rufen müssen und Sie ein Interesse an uns gefunden haben."

Bredenberg: "Nun, da Sie sich mittlerweile als abgeleitete Funktion verstehen, also als etwas, was es nur gibt, weil es uns Menschen gibt, macht dieses meinen Umgang mit Ihnen leichter. Schließlich traten Sie zu Beginn der Verhandlung so auf, als hätten Sie uns erfunden. Dabei ist es genau umgekehrt."

Instanz: "Jubilieren Sie nicht voreilig, Breden-berg. Unsere Abhängigkeit von der Existenz der Menschheit ist uns voll bewusst. Diese Einsicht ändert jedoch nichts daran, dass wir zwar eine ab-geleitete Funktion der Menschheit sind, Ihnen persönlich als Individuum aber unabhängig gegenüberstehen.

Das, was die Menschheit als Moral und Ethik ent-

17

wickelt und zur Überwachung uns als Instanz übergeben hat, hat für Sie Bedeutung."

Bredenberg: "Welche?"

Instanz: "Da Sie mit anderen Menschen auskom-men wollen, haben die erfundenen Regeln auch Bedeutung für Sie. Die Instanz in Ihrem Gehirn, die wir haben entstehen lassen, ist eine abgelei-tete Funktion aller Instanzen in den anderen Ge-hirnen, ist eine abgeleitete Funktion des durch die Menschheit gebildeten Regelwerks. Damit Sie das tun und lassen, was sie tun und lassen sollen, bevor Sie es tun oder lassen, haben wir uns in Ihrem Gehirn eingenistet, als Vorsichtsmaßnahme sozusagen."

Bredenberg: "Es hat nicht immer funktioniert."

Instanz: "Das haben wir auch festgestellt. Und genau deswegen gibt es diesen Prozess."

Bredenberg: "Was nützt es, wenn man sich nach-träglich mit Verstößen gegen das Regelwerk be-fasst? Der Verstoß ist geschehen und nicht mehr

18

rückgängig zu machen."

Instanz: "Die nachträgliche Befassung macht Ih-ren Umgang mit Ihrer Instanz etwas sensibler, für die Zukunft."

Bredenberg: "Ich komme wieder."

7. Verhandlungstag

Instanz: "Nun, Bredenberg, wir setzen die Ver-handlung fort, wenn Sie gestatten."

Bredenberg: "...mit der gemeinsam gefundenen Grundlage, dass der Maßstab relativ ist, bezogen auf die gesamte Menschheit, aber dennoch zur Beurteilung des einzelnen Individuums tauglich ist ..."

Instanz: "So ist es, Bredenberg."

19

Bredenberg: "...und sofern beachtet wird, dass der Maßstab auch hinsichtlich der Zeit und des Ortes relativ ist."

Instanz: "Sie geben wohl nie auf, Bredenberg?"

Bredenberg: "Nun, ich halte es für bedeutsam, festzustellen, dass der Maßstab zur Beurteilung von Gut und Böse in der Antike oder im Mittel-alter ein anderer war ..."

Instanz: "Gewiss, Bredenberg, aber ..."

Bredenberg: "... und der Maßstab in Indien oder in Japan ebenfalls nicht der mitteleuropäische Maßstab ist ..."

Instanz: "Zweifellos, Bredenberg, aber ..."

Bredenberg: "... und die Verknüpfung beider Ausgangspunkte, nämlich Zeit und Ort, einen Maßstab erzeugt, der mit unserem überhaupt nicht mehr zu vergleichen ist. Nehmen wir zum Beispiel die Azteken ..."

20

Instanz: "Bredenberg, Bredenberg, hören Sie auf. Wir befinden uns in Europa im 21. Jahrhundert. Die derzeitige Auffassung von Gut und Böse ist der Maßstab, an welchem Ihr Verhalten gemessen werden wird. Können wir das Verfahren nun fort-setzen?"

Bredenberg: "Wir können das Verfahren fortset-zen, wenn es der Instanz deutlich geworden ist, auf welch schwankendem Boden sie sich befin-det."

Instanz: "Zu allen Zeiten war die Lüge eine Lüge und die Wahrheit die Wahrheit. Der Boden ist nicht so schwankend, wie Sie ihn darzustellen versuchen, Bredenberg."

Bredenberg: "Ich will nur, dass das Folgende deutlich wird: So wie mein Verhalten Gegenstand eines Verfahrens ist, in welchem ein nur relativ richtiger Maßstab angelegt wird, so kann dieser Maßstab gerade wegen seiner Relativität in einem anderen Verfahren selbst Gegenstand einer Ver-handlung werden."

21

Instanz: "Wir vertagen uns, bevor die Frage nach dem Maßstab für diese Verhandlung in Ihrem Gehirn Platz greift."

Bredenberg: "Schon geschehen ..."

Instanz: "Oh Gott ..."

Bredenberg: "Darauf sollten wir auch noch zu sprechen kommen."

22

23