Die Institutionen sollen sich nun gemeinsam auf den Weg machen

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Beim Thema Inklusion steht die Schweiz noch am Anfang eines gemeinsam in der zivilen GEsellschaft zu entwickelnden Wegs. Für die Institutionen und Organisationen gilt es nun, Wissen aufzubauen, Partizipationsmöglichkeiten zu schaffen und in Haltungsfragen einen Perspektivenwechsel einzuläuten. Zentraler Orientierungspunkt ist dabei die UN-Behindertenrechtskonvention.

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INFOS INSOS | Dezember 2013

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Inklusion | Friedemann Hesse, Experte für Inklusionsprozesse, über das Paradigma der Inklusion

«Die Institutionen sollen sich nun gemeinsam

INFOS INSOS: Friedemann Hesse, Handaufs Herz: Wie inklusiv denken undhandeln Sie in Ihrem Alltag?Friedemann Hesse: Bei meiner Arbeit istmir Inklusion und der inklusive Einbezugder Bewohnerinnen und Bewohner sowieder Mitarbeitenden sehr wichtig. Kon-kret versuche ich, Vielfalt und Lernen imHandlungsalltag zu fördern. Dies etwaindem ich auch Visionen wie Inklusioneine reale Chance gebe und die Mitarbei-tenden dabei unterstütze zu prüfen, wiedas Inklusions-Paradigma bei den ein-zelnen Bewohnerinnen und Bewohnernim Rahmen von Entwicklungsprozessenkonkret umgesetzt werden könnte.

Sie setzen sich seit mehreren Jahrenmit dem Thema Inklusion auseinander.Woher dieses frühe Interesse?Während meiner Erstausbildung interes-sierte ich mich erstmals fürs Thema In-klusion. Richtig greifbar wurde für michdas Thema schliesslich 2010, als ich am

15. Weltkongress von Inclusion Interna-tional in Berlin teilnahm. Mir wurde dortklar, wie wichtig die interinstitutionelle,nationale und internationale Vernetzungund der Austausch mit Menschen mit Be-hinderung zum Abbau von gesellschaft-lichen wie gedanklichen Barrieren ist.Gleichzeitig wurde mir bewusst, was

Beim Thema Inklusion steht dieSchweiz am Anfang. Laut Friede-mann Hesse gilt es in den Instituti-onen nun, Wissen aufzubauen,Partizipationsmöglichkeiten zuschaffen und in Haltungsfrageneinen Perspektivenwechsel einzu-läuten. Zentraler Orientierungs-punkt ist dabei die UN-Behinder-tenrechtskonvention.

echte, lebendig gelebte Inklusion grund-sätzlich bedeutet. Nämlich: Formen fürgemeinsame Begegnungen zu finden undBeziehungen aufzubauen, um die beste-henden Herausforderungen sowie Frage-stellungen im Dialog zu bearbeiten.

Was bedeutet Inklusion für Sie alsMensch?Ich bringe mich ein, erlaube mir exklusiveine Meinung und respektiere inklusivdie des Anderen. Ich versuche den Men-

schen − ob mit oder ohne Behinderung− als individuelles Wesen zu sehen, wel-chem das gleiche Recht zu leben zustehtwie mir.

Inklusion ist das aktuelle Thema inder Arbeit mit Menschen mit Behinde-rung. Doch widersprechen sich Inklu-sion und das Leben in einer Instituti-on nicht fundamental?Der Prozess der Inklusion ist zu verste-hen als eine Form der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention und alspermanenter Lernprozess. Er geschiehtnicht «aus heiterem Himmel», sondernwird durch alle Gesellschaftsmitgliedergeleistet, gelebt und mitgestaltet. ImVordergrund steht nicht die Frage, ob esInstitutionen braucht oder nicht. Viel-mehr geht es um die Frage, wie die Ins-titutionen Mitgestaltungsmöglichkeitenschaffen und ihre Dienstleistungen aninklusiven Prozessen ausrichten können.Ziel muss es sein, die Rechte der Men-schen zu respektieren und zu achten undihre Pflichten sowie die allgemeinenRahmenbedingungen gemeinsam zu be-wältigen. Letztlich liegt der konkreteZugang zum Thema in der eigenen Hal-tung und in der praktischen Umsetzungin den Alltagsstrukturen.

Sie leiten das Wohnheim Titlis derSSBL. Wie leben Sie und Ihr Team kon-

kret Inklusion und Teilhabe im insti-tutionellen Alltag?Ich möchte dies am Beispiel der Hausord-nung illustrieren: Wir haben in der SSBLfür die Bewohnerinnen und Bewohner dieHausordnung überarbeitet und diese spe-ziell in unterstützte Kommunikation über-setzt. Früher stand dort: «Der Bewohnerdarf nach Absprache mit dem Betreuungs-personal Besuch empfangen». Heute hin-gegen gilt im Sinne einer personenzent-rierten Haltung: «Die Bewohner habendas Recht, Besuch zu empfangen, undrespektieren das Zusammenleben.» Wirerlebten anschaulich, wie das Personal inder Auseinandersetzung mit der neuenHausordnung, die nun die Rechte der Be-wohner explizit nennt, einen Perspekti-venwechsel vollzog.

Früher stand in der Agogik der Fürsor-gegedanke im Vordergrund. Wie an-spruchsvoll ist es, Mitarbeitende fürsInklusionsthema zu begeistern?Der Grundgedanke, dass der Mensch imMittelpunkt unserer Arbeit steht, istheute wie damals derselbe. Menschen fürdie Vision der Inklusion zu begeistern,heisst in erster Linie, Ängste vor Begriff-lichkeiten durch Wissen abzubauen, sichgemeinsam auf den Weg zu machen unddas eigene Handeln immer wieder zu re-flektieren. Wichtig ist zudem, dass Mit-

arbeitende im Rahmen von konkretenProjekten und eines gemeinsamen Dia-logs sich das spannende Neuland inklu-siver Prozesse erschliessen können, dasssie aber auch Wertschätzung für ihrebisher geleistete Arbeit erfahren.

Einige Institutionen versuchen be-reits, Inklusion zu leben. Wo stehendie Schweizer Institutionen heute inBezug auf dieses Paradigma?Als Vertreter der Institutionen ist dies

Friedemann Hesse (37)gilt in der Schweiz als Experte fürInklusionsprozesse und istinternational gut vernetzt. Dergebürtige Deutsche arbeitet bei derStiftung für SchwerbehinderteLuzern (SSBL) als Institutionsleiterdes Wohnheims Titlis. Bild | zvg

«Inklusion ist einpermanenter Lern- undVeränderungsprozess, dernicht aus ‹heiterem Himmelgeschieht›.»

«Wir stehen in Sacheninklusiver Prozesse noch amAnfang. Nun braucht esKommunikation, Vertrauenund Austausch.»

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INFOS INSOS | Dezember 2013

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Von der Exklusion zurVision der Inklusion:«Wir sollten respektvollmit den Menschenrech-ten umgehen undVielfalt eine Chancegeben», sagt FriedemannHesse. Bild | Wikipedia

und seine Implikationen für die Arbeit der Institutionen

gemeinsam auf den Weg machen»

die bekannte «Gretchenfrage», die ichmit dem Aufruf beantworten möchte:«Zusammen erreichen wir mehr.» Damitmeine ich, dass wir in der Schweiz in Sa-chen inklusiver Prozesse noch immer amAnfang stehen und es nun Kommunikati-on, Vertrauen und gegenseitigen Aus-tausch braucht, um weiterzukommen.Auch Verbände wie INSOS sind hier inhoher Verantwortung. Wichtig erscheintmir eine aktive, konstruktive Auseinan-dersetzung mit der Thematik, welcheauch praktische Empfehlungen zur Pro-zessplanung und für die Qualitätsent-wicklung hervorbringen sollte. Ohne Pro-zesse gibt es keine Veränderung.

Welches sind für die Institutionen diegrössten Herausforderungen?Vielfach gibt es die Befürchtung, etwasvon aussen übergestülpt zu bekommenoder den Halt der institutionalisiertenAbläufe zu verlieren. Eine weitere Her-ausforderung liegt darin, dass Inklusionals Lern- und Veränderungsprozess nieabgeschlossen ist und jede Veränderung

am Anfang auch strukturelle Unterstüt-zung sowie finanzielle Mittel braucht.

In der Öffentlichkeit ist der Begriff In-tegration für viele verständlich. Docher hat nur wenig mit Inklusion zu tun.Wie gelingt es, in einer Gesellschaftinklusives Denken anzustossen?Die Gesellschaft wird sich mehr mit demeigenen inklusiven Kulturverständnis imSinne der UN-Behindertenrechtskonven-tion auseinandersetzen müssen, um dieUmsetzung von Inklusion zu prüfen.Hierfür ist die Bereitschaft erforderlich,respektvoll gegenüber dem Anderen undsensibel mit dem neuen Thema umzuge-hen. Jeder Einzelne entscheidet mit, obdas Thema der Inklusion und die Umset-zung im Alltag eine Chance bekommt.Die Institutionen können hier als Dienst-leister in der Begleitung und Assistenzvon Menschen mit Behinderung Sicher-heit und Orientierung geben. Denn inden letzten Jahren konnte in den Insti-tutionen gemeinsam Wissen aufgebautwerden. | Interview: Barbara Lauber

Rolf Maegli ist kein Gegner der UN-Behin-dertenrechtskonvention. Im Gegenteil:«In der Stiftung für SchwerbehinderteLuzern orientieren wir uns stark an denWerten der Konvention, also an Autono-mie, Selbstbestimmung, Teilhabe undInklusion. Die Konvention beinhaltet denAuftrag, sich auch als Institution ständigzu verbessern», betont der SSBL-Direk-tor. Auch deswegen lasse die SSBL in Rat-hausen 90 Plätze bauen. Davon werdenallerdings nur 21 frisch geschaffen; dieübrigen 69 Plätze ersetzen bestehende,die den heutigen Ansprüchen nicht genü-gen. «In Rathausen können die Bedürf-nisse von Menschen mit schwerer Behin-derung und zunehmender Pflegebedürf-tigkeit sowie mit profundem auto- oderfremdaggressivem Verhalten optimal be-rücksichtigt werden», betont Rolf Maegli.

Für eine differenzierte Debatte«Mit dem Neubau setzen wir uns Kritikaus», sagt Maegli. «Kritiker werfen unsSeparation vor.» Aber die SSBL führe auchweiterhin in 15 Gemeinden Wohngrup-pen. Er wehrt sich deshalb gegen eine«radikale, fundamentalistische Auslegungvon Inklusion» und fordert eine «diffe-renzierte Debatte», die auf die besondereSituation der Betroffenen Rücksichtnimmt. «Wenn die Umsetzung einer Ideewichtiger wird als die konkrete Situationder Betroffenen, wird aus einer Idee eineIdeologie. Dann besteht die Gefahr, dassman individuelle Bedürfnisse übergeht.»Bei Menschen mit schwerer Behinderunggehe es darum, sie zu befähigen, selberEntscheidungen zu fällen, und im Lebens-alltag Auswahlmöglichkeiten zu schaffen.«Ihre Wünsche und Bedürfnisse müssen inEinzelanalysen systematisch erfasst wer-den und unser oberster Massstab sein»,betont Maegli. Die SSBL sei diesbezüglichu.a. mit einem Modell individualisierterLeistungsplanung gut unterwegs. | blbwww.ssbl.ch

Inklusion | Schwere Behinderung

SSBL setzt aufWahlmöglichkeitenSSBL-Direktor Rolf Maegliplädiert für eine differenzier-te Debatte über Inklusion beiMenschen mit schwererBehinderung.