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aus: Leibesübungen – Praxis. Ständige Beilage der Zeitschrift „Leibesübungen“. 1965, Heft 8, 15-20 Klaus Wiemann Die Körperstellreflexe und ihre Bedeutung für das Geräteturnen Aus dem Komplex der Körperstellreflexe wird bei bewegungstechnischen Betrachtungen zum Gerätturnen vielfach eine Gruppe von Reflexen herausgenommen und ihnen eine besondere Bedeutung für das Gelingen von Turnübungen zugeschrieben: die Halsmuskel- und Halssehnenreflexe. Betrachtet man diese Reflexgruppe isoliert ohne Beachtung ihrer Stellung in der Gesamtheit der Körperstellreflexe, so besteht die Gefahr, daß bei der Analyse von Turnübungen die Mitbewegung des Kopfes falsch gedeutet wird. Verallgemeinert man dazu die aus dieser einseitigen Betrachtungsweise gewonnenen Ergebnisse, so sind Fehlgriffe bei der Aufstellung methodischer Forderungen unvermeidlich Um die Bedeutung der Körperstellreflexe und somit der Halstonusreflexe für das Gerätturnen richtig abgrenzen zu können, ist eine Beachtung der Biologie der Körperstellreflexe unbedingt erforderlich: Ein Reflex oder Reflexbogen ist die Verbindung eines Sinnesorgans durch das Nervensystem mit einem Erfolgsorgan. Zu den Sinnesorganen, die Ausgangspunkt der Körperstellreflexe sind, gehören der optische und statische Sinn und der Muskelsinn. Erfolgsorgan der Körperstellreflexe ist die Skelettmuskulatur. Die nervösen Verbindungen laufen zum Teil über das Zwischen- und Mittelhirn (Nucleus ruber), zum Teil über die Medulla. Eine wichtige Stellung innerhalb der Körperstellreflexe nimmt der Muskelsinn ein, der ein Teil des propriorezeptorischen Sinnes ist, also des Sinnes, der Eindrücke über den Zustand innerhalb des Organismus vermittelt. Die verschiedenen Rezeptoren des Muskelsinnes, seien es die in den Muskeln selbst sitzenden Muskeln- und Sehnenspindeln, die auf Änderungen des intramuskulären Längen- und Spannungszustandes reagieren (Hoepke), oder die in den Muskelfaszien gelagerten Lamellenkörperchen, vermitteln Eindrücke, über die Spannung oder den Kontraktionszustand der Muskeln. Zu dieser Rezeptorengruppe gehören auch diejenigen Sinnesorgane, die Ausgangspunkt für die oben erwähnten Halsmuskel- und Halssehnenreflexe sind. In der gesamten Halsmuskulatur sitzen nämlich Muskelspindeln und Lamellenkörperchen in erhöhter Zahl. Bei ihrer Reizung werden Reflexe ausgelöst, die die Muskulatur des Rumpfes in charakteristischer, später genauer zu beschreibender Weise beeinflussen. Aber der Muskelsinn allein kann keine Erklärung für die Aufgabe der Körperstellreflexe liefern, dazu bedarf es der Betrachtung des den Körperstellreflexen ebenfalls angeschlossenen optischen und statischen Sinnes. Vor allem die reflektorische Verbindung der Rezeptoren in der Augenmuskulatur mit der Muskulatur des Rumpfes und der Gliedmaßen läßt eine der vornehmlichsten Bedeutungen der Körperstellreflexe klar erkennen: Der Körper wird durch Reflexketten gezwungen, dem sich durch die Sinnesorgane orientierenden Kopf zu folgen (Buddenbrock). Diese Erscheinung läßt sich bei allen Wirbeltieren, vor allem aber bei denjenigen, die sich hauptsächlich durch den Gesichtssinn orientieren, feststellen: Richten sich die Augen nach oben (Abb. 1, Phase a), wird durch einen ersten Reflexbogen, der an den

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aus: Leibesübungen – Praxis. Ständige Beilage der Zeitschrift „Leibesübungen“. 1965, Heft 8, 15-20

Klaus Wiemann

Die Körperstellreflexe und ihre Bedeutung für das Geräteturnen Aus dem Komplex der Körperstellreflexe wird bei bewegungstechnischen Betrachtungen zum Gerätturnen vielfach eine Gruppe von Reflexen herausgenommen und ihnen eine besondere Bedeutung für das Gelingen von Turnübungen zugeschrieben: die Halsmuskel- und Halssehnenreflexe. Betrachtet man diese Reflexgruppe isoliert ohne Beachtung ihrer Stellung in der Gesamtheit der Körperstellreflexe, so besteht die Gefahr, daß bei der Analyse von Turnübungen die Mitbewegung des Kopfes falsch gedeutet wird. Verallgemeinert man dazu die aus dieser einseitigen Betrachtungsweise gewonnenen Ergebnisse, so sind Fehlgriffe bei der Aufstellung methodischer Forderungen unvermeidlich Um die Bedeutung der Körperstellreflexe und somit der Halstonusreflexe für das Gerätturnen richtig abgrenzen zu können, ist eine Beachtung der Biologie der Körperstellreflexe unbedingt erforderlich: Ein Reflex oder Reflexbogen ist die Verbindung eines Sinnesorgans durch das Nervensystem mit einem Erfolgsorgan. Zu den Sinnesorganen, die Ausgangspunkt der Körperstellreflexe sind, gehören der optische und statische Sinn und der Muskelsinn. Erfolgsorgan der Körperstellreflexe ist die Skelettmuskulatur. Die nervösen Verbindungen laufen zum Teil über das Zwischen- und Mittelhirn (Nucleus ruber), zum Teil über die Medulla. Eine wichtige Stellung innerhalb der Körperstellreflexe nimmt der Muskelsinn ein, der ein Teil des propriorezeptorischen Sinnes ist, also des Sinnes, der Eindrücke über den Zustand innerhalb des Organismus vermittelt. Die verschiedenen Rezeptoren des Muskelsinnes, seien es die in den Muskeln selbst sitzenden Muskeln- und Sehnenspindeln, die auf Änderungen des intramuskulären Längen- und Spannungszustandes reagieren (Hoepke), oder die in den Muskelfaszien gelagerten Lamellenkörperchen, vermitteln Eindrücke, über die Spannung oder den Kontraktionszustand der Muskeln. Zu dieser Rezeptorengruppe gehören auch diejenigen Sinnesorgane, die Ausgangspunkt für die oben erwähnten Halsmuskel- und Halssehnenreflexe sind. In der gesamten Halsmuskulatur sitzen nämlich Muskelspindeln und Lamellenkörperchen in erhöhter Zahl. Bei ihrer Reizung werden Reflexe ausgelöst, die die Muskulatur des Rumpfes in charakteristischer, später genauer zu beschreibender Weise beeinflussen. Aber der Muskelsinn allein kann keine Erklärung für die Aufgabe der Körperstellreflexe liefern, dazu bedarf es der Betrachtung des den Körperstellreflexen ebenfalls angeschlossenen optischen und statischen Sinnes. Vor allem die reflektorische Verbindung der Rezeptoren in der Augenmuskulatur mit der Muskulatur des Rumpfes und der Gliedmaßen läßt eine der vornehmlichsten Bedeutungen der Körperstellreflexe klar erkennen: Der Körper wird durch Reflexketten gezwungen, dem sich durch die Sinnesorgane orientierenden Kopf zu folgen (Buddenbrock). Diese Erscheinung läßt sich bei allen Wirbeltieren, vor allem aber bei denjenigen, die sich hauptsächlich durch den Gesichtssinn orientieren, feststellen: Richten sich die Augen nach oben (Abb. 1, Phase a), wird durch einen ersten Reflexbogen, der an den

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Propriorezeptoren der Augenmuskulatur beginnt, der Kopf durch Kontraktion der dorsalen Halsmuskulatur gehoben, um der Blickrichtung folgen zu können (Abb. 1, Phase b). Durch die damit verbundene Veränderung des Spannungszustandes der Halsmuskulatur werden die in dieser Muskulatur liegenden Rezeptoren gereizt und dadurch weitere Reflexbögen ausgelöst, die bewirken, daß durch Kontraktion der Rückenmuskulatur die Rumpfwirbelsäule ebenfalls dem Kopf folgt (Abb. 1, Phase c). Gleichzeitig bestehen noch reflektorische Verbindungen zwischen den Rezeptoren der Augen- und Halsmuskulatur einerseits und den motorischen Endplatten der Muskulatur der Gliedmaßen andererseits. Diese Reflexbögen rufen bei der Aufwärtsbewegung der Augen und des Kopfes ein Strecken besonders der vorderen Extremitäten hervor. Richten sich dagegen die Augen abwärts, läßt reflektorisch die Spannung der dorsalen Halsmuskulatur nach, so daß auch hier der Kopf der Bewegungsrichtung der Sinnesorgane folgen kann. Die damit verbundene Reizung der Halsmuskelrezeptoren bedingt eine Tonusverstärkung der ventralen Rumpfmuskulatur und eine Abnahme der Spannung der Rückenmuskulatur und der Streckmuskeln der Extremitäten, die sich entsprechend beugen. Ähnlich wirken die Reflexketten bei einer Seitwärtsdrehung der Augen. Durch Tätigkeit der entsprechenden Seite der Halsund Rumpfmuskulatur folgen auch hier Kopf, Hals und Rumpf dem sich ausrichtenden Sinnesorgan. All diese Reflexerscheinungen zur Körperstellung und -haltung zeigen folgende bedeutende Eigenschaften: 1. Entsprechend ihrer Aufgabe laufen die Körperstellreflexe von vorn nach hinten - in cranio-caudaler Richtung - über den Körper, gleichgültig, ob die Reflexbögen direkt in der Augenmuskulatur oder etwa erst durch willkürliches Bewegen des Kopfes in der Halsmuskulatur ausgelöst werden. In keinem Falle aber laufen die Reflexketten in umgekehrter Richtung. So hat zum Beispiel eine willkürliche Spannungsänderung der thorakalen oder lumbalen Rückenmuskulatur keine reflektorische Wirkung auf die Halsmuskulatur.

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2. Zur Auslösung der einzelnen Reflexbögen ist eine bestimmte Reizstärke nötig. Eine Augendrehung hat nur dann eine Mitbewegung des Kopfes zur Folge, wenn eine bestimmte Reizschwelle für die Rezeptoren der Augenmuskulatur überschritten wird. Gleiches gilt auch für die übrigen Reflexbögen der Körperstellreflexe. Das bedeutet, daß die Auslösung der Reflexe um so weiter caudaler Richtung über den Körper läuft, je stärker der auslösende Reiz ist. 3. Die einzelnen Reflexbögen der Körperstellreflexe sind nicht unbedingter Natur, sondern können durch kortikale (willkürliche) Impulse unterdrückt oder abgeändert werden. 4. Beachtenswert ist eine ausgeprägte Kompensation bei Schädigung, Operation oder Fixierung (Buddenbrock). Allerdings tritt diese Kompensation nicht direkt auf, nachdem durch Schädigung oder Eingriff (meistens Hirnschnitt) Reflexbögen zerstört wurden, sondern sie entwickelt sich allmählich durch langsame Ausbildung neuer bedingter Reflexbögen. Die gleiche Erscheinung tritt bei Fixierung auf. Wird zum Beispiel durch eine Schiene Kopf und Hals festgestellt, werden die anfänglichen Bewegungsstörungen durch Ausbildung neuer Reflexbögen zunehmend ausgeglichen. Diese in vielen Tierversuchen eingehend erforschten Körperstellreflexe wirken in entsprechender Weise auch beim Menschen. Allerdings erfahren sie eine - wenn auch geringe - Abänderung durch die Tatsache, daß der Mensch den Körper aufgerichtet hält. Aber auch hier haben die Körperstellreflexe die Aufgabe, den Körper dem sich hauptsächlich durch den Gesichtssinn orientierenden Kopf folgen zu lassen. Auch hier wirken die Reflexe nur in cranio-caudaler Richtung, können durch bewußte Impulse beeinflußt werden, und die Stärke des auslösenden Reizes ist für den Grad der Reflexausbreitung caudalwärts von Bedeutung. Entsprechend den Ergebnissen aus Versuchen mit Wirbeltieren muß auch beim Menschen eine Kompensationsmöglichkeit der Körperstellreflexe angenommen werden. Allerdings läßt sich diese Ausgleichsfähigkeit weniger leicht nachprüfen, da beim Menschen die Versuche durch Operationen (Hirnschnitte) wegfallen. Ebenso ist es mit organisatorischen Schwierigkeiten verbunden, Elemente der Körperstellreflexe des Menschen für eine ausreichend lange Zeit durch Fixierung auszuschalten, um die zunehmende Kompensation verfolgen zu können. So leiden alle dem Verfasser bekannten Versuche unter dem Fehler, daß die Fixierung nur für kurze Zeit beibehalten wurde. Krestownikow stellte zum Beispiel die Halswirbelsäule durch einen Kopfhalfter fest, ließ die Versuchspersonen zweimal eine Slalomstrecke durchfahren und verglich die Laufzeiten mit denen, die ohne Kopfhalfter gefahren wurden (Nöcker). Auch Krestownikows Versuche mit Geräteturnern (Ukran) und Jazkowskis Experimente mit Skispringern (Nöcker) scheinen diesem Nachteil zu unterliegen. Wenn man bedenkt, welch lange Zeit zur Bildung der dynamischen Stereotypen für die vollendete Ausführung solcher Bewegungen nötig war, muß man den Versuchspersonen bei Fixierung durch Kopfhalfter - was im Endeffekt einer Unterbrechung der gebildeten Reflexketten gleichkommt - eine angemessene Zeit einräumen, in der durch dauerndes Üben die Unterbrechung durch Bildung neuer bedingter Reflexbögen kompensiert werden kann. Erst in diesem Falle lassen sich schlüssige Untersuchungsergebnisse über den Grad der Kompensation und damit auch über die allgemeine Bedeutung der Körperstellreflexe für Bewegungsabläufe erzielen. Die Körperstellreflexe haben bei allen landlebenden Wirbeltieren eine zweite Aufgabe. Wird der Körper aus der Normallage gebracht, so sorgen die Körperstellreflexe dafür, daß zuerst der Kopf und anschließend der Körper wieder in die Normallage

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zurückgeführt wird (Buddenbrock). Maßgeblich für diese Leistung sind Reflexbögen zwischen dem Statolithenorgan und dem Bogenapparat einerseits und der Augenmuskulatur andererseits. Verliert ein Tier also die normale Körperstellung, regulieren die Statolithen- und Labyrinth-Augenreflexe durch entsprechende Gegendrehung der Augen und des Kopfes die Beibehaltung des Gesichtsfeldes. Im Anschluß daran wird durch die oben beschriebene reflektorische Verbindung der Augen- und Halsmuskulatur mit der Rumpfmuskulatur auch die Körperstellung reguliert. Wieweit diese Labyrinth- und Statolithenreflexe bei der menschlichen Bewegung von Bedeutung sind, läßt sich schwer entscheiden, da sie wie auch bei verschiedenen Affen (Buddenbrock) meistens von optischen Reflexen überdeckt sind. Im folgenden soll nun die Bedeutung der Körperstellreflexe des Menschen für Bewegungen, die außerhalb des naturgegebenen Bewegungsvolumens liegen, nämlich für Gerätübungen, abgegrenzt werden. Bei allen Turnübungen handelt es sich um Bewegungen, bei denen durch vorherbestimmte Bewegungsakte ein festgelegtes Bewegungsziel erreicht werden soll. Im Vordergrund steht in jedem Fall die geforderte Körperhaltung und Bewegungsform ohne Rücksicht auf das natürliche Orientierungsbedürfnis in den verschiedenen Körperlagen, die während der Übung eingenommen werden müssen. So ist die Orientierung bei den meisten Geräteübungen auf den Lage-, Bewegungs- und Muskelsinn beschränkt, während der optische Sinn zum großen Teil den bewegungsführenden Einfluß einbüßt. Deutlich wird diese Tatsache bei Anfängern, die, sobald ihnen durch eine ungewohnte Körperstellung die Möglichkeit zur optisch regulierten Beibehaltung des Gesichtsfeldes genommen wird, die "Orientierung verlieren". Es ist also nicht verwunderlich, daß man bei der Suche nach Geräteübungen, bei denen die gesamte Kette der Körperstellreflexe in ihrer natürlichen Form von der Augenmuskulatur caudalwärts zur Wirkung kommt, nur einige wenige Übungen findet: Handstandüberschlag rückw. und Salto rückw. gestreckt am Boden, alle Vorwärtsrollen und die Übungen, die eine Vorwärtsdrehung um die quere Schwerpunktachse zeigen (Wiemann). Diese Übungen beginnen mit einer orientierenden Augendrehung in Bewegungsrichtung, was nacheinander ein Folgen des Kopfes und der Hals- und Rumpfwirbelsäule nach sich zieht. Außerdem werden teilweise die Arme in der für die Körperstellreflexe charakteristischen Weise beeinflußt (s. o.). Für diese und die folgende Gruppe von Übungen muß die oben unter 2. angeführte Bedingung methodisch angewendet werden: Je stärker der auslösende Reiz, desto intensiver die Reflexwirkung in caudaler Richtung. Soll nämlich eine Übung unter starker Extremstellung der Wirbelsäule im Sinne einer Dorsalflexion (Überstreckung bis zur Hohlkreuzhaltung) oder Ventralflexion (Einrollen des Rumpfes und Abwinkeln im Hüftgelenk) ausgeführt werden, muß diese Stellung durch ein einleitendes, möglichst intensives Bewegen des Kopfes dorsal- oder ventralwärts ausgelöst werden. Dabei muß vielfach das natürliche Bedürfnis zur optischen Orientierung unterdrückt werden, so bei allen mit gestrecktem Körper geturnten Vorwärtsüberschlägen. Beim Handstandüberschlag vorwärts am Boden versucht der Anfänger, durch ein Einrollen des Kopfes in Bewegungsrichtung möglichst schnell ein senkrecht stehendes Bild zu gewinnen, um sich über die Lage des Körpers im Raum orientieren zu können (Abb. 2a). Diese reflektorische Bewegung muß sowohl der Wirkung der Augen-, als auch der Statolithen- und Labyrinthreflexe zugeschrieben werden. Durch das Einrollen des Kopfes wird auf Grund der Körperstellreflexe die für den Handstandüberschlag verlangte Bogenspannung (Dorsalflexion) des Rumpfes aufgelöst. Dieser Orientierungsreflex wird am zweckmäßigsten unterbunden, wenn dem Übenden ein neuer Orientierungspunkt gegeben wird, der so lange wie möglich anzuschauen ist

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(Abb. 2). Diese methodische Hilfe ist erfolgreicher als die Forderung einer willkürlichen Auslösung der entsprechenden Reflexbögen in der Hals- und Rumpfmuskulatur. Ähnliches gilt für die Kopf- und Nackenüberschläge und im entgegengesetzten Sinne für die Rolle rückw. am Boden und für den gehockten Salto rückwärts.

Gerade bei der letztgenannten Übung nimmt noch mancher fortgeschrittene Turner den Kopf zwecks Orientierung in den Nacken. Sogar Methodiker fordern diese Bewegung, obwohl sie eine schlechte Hockphase zur Folge hat. Bei exakter Ausführung des Salto rückwärts wird spätestens direkt nach Verlassen des Bodens der Kopf auf die Brust genommen, um die gesamte Ventralflexion des Körpers reflektorisch zu unterstützen. Abbildung 3 zeigt sogar schon beim Absprung während des Aufrichtens aus der Radwende eine leichte Ventralbewegung des Kopfes. Die Haltung des Kopfes kann aber nicht nur für die Haltung des Rumpfes von Bedeutung sein, sondern sie beeinflußt auch die Stellung der Arme bzw. den Tonus der Armmuskulatur. Beim Felgaufschwung am Reck werden durch eine Ventralflexion der Halswirbelsäule nicht nur die ventrale Bauchmuskulatur, sondern auch die Beuger und Retraktoren der Arme durch die Körperstellreflexe angesprochen. Sobald jedoch bei dieser Übung der Kopf in den Nacken genommen wird, strecken sich die Arme und die Übung mißlingt. Bei der folgenden Gruppe von Turnübungen wird dieser Einfluß der Halstonusreflexe auf die Armmuskulatur besonders beachtet, obwohl die Körperhaltung eine andere Kopfstellung erfordern würde: Bei den Schwungstemmen rückwärts soll die Abschwungphase mit leicht gewinkeltem Hüftgelenk geturnt und sollen zu Beginn der Aufschwungphase die Beine nach hinten zur Hohlkreuzhaltung des Rumpfes geschwungen werden (Abb. 4). Damit der Turner bei der Schwungstemme aber in den Stütz oder gar in den Handstand gelangen kann, muß er den Körper mit den Armen kräftig, auf den Stützpunkt zu und über ihn hinaus reißen. Um dabei die Tätigkeit der Arme reflektorisch zu unterstützen, wird der Kopf trotz starker Dorsalflexion der Rumpfwirbelsäule ventralwärts bewegt (Abb. 4).

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Außer den bisher besprochenen Bewegungen gibt es noch eine große Gruppe bewegungsverwandter Übungen, bei denen aus einer mehr oder weniger starken Hüftbeugung der Körper heftig gestreckt wird: die Kippen und Felgen. Die Streckung beginnt bei diesen Übungen aus sehr ähnlichen Ausgangspositionen - aus einer Kipplage, einem Sturzhang oder Sturzhangschwung -, bei denen der Rücken zur Erde hinweist, während sich die Beine oberhalb des Rumpfes befinden (Abb. 5).

Von hier aus kann die Streckung einmal nach vorn oben, zum anderen mehr oder weniger senkrecht nach oben oder gar nach hinten oben führen (Abb. 5). All diese Kipp- und Felgbewegungen beginnen, gleichgültig in welcher Richtung sie erfolgen, mit einer Streckung im Hüftgelenk. Erst im Laufe der weiteren Streckbewegung löst sich auch die durch die gesamte Körperbeugung bedingte Ventralflexion der Wirbelsäule auf. Je nach der Richtung der Übung wird die Streckbewegung noch bei einer schwachen Beugestellung des Körpers gebremst (Abb. 5a, b), oder sie führt zur völligen Streckung des Körpers, wobei Rumpf und Beine annähernd mit der Längsachse zusammenfallen (Abb. 5 c). In Ausnahmefällen endet die Bewegung sogar in einer Hohlkreuzhaltung (Abb. 5 d). Da aber bei all diesen Übungen die Streckbewegung im Hüftgelenk beginnen muß und sich in cranialer Richtung fortsetzt, kommen die Körperstellreflexe und somit auch die Halsreflexe, die nur in caudaler

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Richtung arbeiten, bei der Auslösung und Durchführung dieses Bewegungsaktes nicht zur Wirkung. So wird im allgemeinen bei der Ausführung der Kipp- und Felgbewegungen der Kopf sowohl zu Beginn als auch im Laufe der Streckung entweder auf der Brust oder locker in Verlängerung der Wirbelsäule gehalten (Abb. 6). Selbst bei manchen Übungen, die eine Streckbewegung bis zum kreuzhohlen Körper zeigen, beobachtet man, daß der Kopf in Ventralhaltung verharrt (Abb. 7). Wird bei einzelnen Übungen der Kopf doch in den Nacken genommen, so ist diese Bewegung von geringer Intensität, damit keine reflektorisch bedingten Fehlbewegungen entstehen. Außerdem läßt die Tatsache, daß die Dorsalflexion des Halses nicht zu Beginn, sondern erst im Laufe der Streckbewegung einsetzt, erkennen, daß damit die Körperstellreflexe nicht betätigt werden. Der Sinn ist entweder eine optische Orientierung über die Lage des Körpers im Raum (nur bei Anfängern), oder ein Richten des Blickes auf das Gerät zwecks Griffwechsel (zum großen Teil auch nur bei Anfängern), oder ein abschließender Handstand verlangt eine leicht Dorsalhaltung des Kopfes. In diesen Fällen sollte man sich im Hinblick auf methodische Anweisungen davor hüten, die Kopfbewegung für die Auslösung der Felg- und Kippbewegungen verantwortlich zu machen.

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Selbst bei einer noch zu besprechenden Gruppe von Übungen, die mit den Felgen verwandte Bewegungsstrukturen zeigen, den freien Überschlägen rückwärts an Reck, Barren und Ringen, beginnt die Streckung im Hüftgelenk. Allerdings können hier zwei Ausführungsarten beobachtet werden. Bei der ersten werden nach einem Anwinkeln des Hüftgelenks zu Beginn der Aufschwungphase die Hüfte und die Rumpfwirbelsäule heftig gestreckt - ohne Beteiligung der Körperstellreflexe (Abb. 8a). Der Kopf wird verhältnismäßig lange ventralwärts gehalten und erst in der letzten Phase der Übung, nach Vollendung der Körperstreckung, zwecks Orientierung schnell dorsalwärts bewegt. Bei der zweiten Ausführungsart wird der Kopf schon zu Beginn der Aufschwungphase in den Nacken genommen und damit die Körperstellreflexe ausgelöst, obwohl im Hüftgelenk noch eine Beugebewegung durchgeführt wird (Abb. 8 b). Im Laufe des weiteren Aufschwunges überträgt sich die Streckbewegung auch auf das Hüftgelenk. Welcher der beiden Bewegungsläufe der von biologischer und mechanischer Sicht zweckmäßigere ist, soll einer späteren eingehenderen Untersuchung vorbehalten bleiben.

Rückblickend kann nun festgestellt werden, daß bei der Anwendung der Biologie der Körperstellreflexe für methodische Überlegungen einige Grundsätze zu beachten sind. So ist es zu vermeiden, die Halsreflexe isoliert zu betrachten, da sie nur ein Glied in der Reflexkette zur Körperstellung- und Körperhaltung sind. Auch sollte nicht jede Veränderung im Spannungszustand der Hals-, Rumpf- und Gliedmaßenmuskulatur schlechthin dem Wirkungsbereich der Körperstellreflexe untergeordnet werden, sondern an Hand der Biologie, die etwas über die Wirkungsweise der Körperstellreflexe aussagt, sind die Übungen, bei denen die Bewegungsakte durch Stellreflexketten ausgelöst werden, genau auszuwählen. Bei der Suche nach methodischen Prinzipien für diese Übungen zeigt wieder die Biologie, daß die Körperstellreflexe am sichersten am natürlichen Ausgangspunkt der Reflexkette und weniger zweckmäßig an einem Zwischenglied zu beeinflussen sind. Außerdem ist bei der methodischen Arbeit zu prüfen, wieweit das Bedürfnis nach optischer Orientierung bei bestimmten Übungen zu unterdrücken ist zum Wohle einer zweckmäßigen Körperhaltung oder Bewegungsform. Ist aber eine optische Orientierung unerläßlich, muß die Intensität der damit verbundenen Kopfbewegung richtig bemessen werden, um ein unerwünschtes Auslösen der Körperstellreflexe zu unterbinden oder zumindest die Spannungsänderung der entsprechenden Muskulatur in den gewünschten Grenzen zu

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halten. Im Hinblick auf die bedingte Natur der Stellreflexe Ist festzustellen, ob bei einer Bewegung die Auslösung einzelner Reflexbögen willkürlich unterdrückt werden muß oder ob bei einer anderen Übung in caudalen Abschnitten des von den Körperstellreflexen beeinflußten Skelettmuskelsystems willkürlich eine andere Haltung oder Bewegung erzeugt werden muß, als der Spannungszustand im cranialen Abschnitt reflektorisch anstrebt. Diese und ähnliche Untersuchungen sollten den methodischen Überlegungen vorangehen und für Bewegungsanweisungen richtungweisend sein. Dabei ist für eine sinnvolle Auswahl des Übungsgutes zu berücksichtigen, daß es dem Anfänger und vor allem dem Jugendlichen weniger leicht gelingt, unter Wahrung der natürlichen Bewegungsabläufe Reflexbewegungen willkürlich zu unterdrücken und zu steuern als dem geübten Kunstturner.

Literatur Buddenbrock, W. von, Vergleichende Physiologie, Band I und ll, Basel 1952 Hoepke, H., Zentrales und vegetatives Nervensystem, Stuttgart 1959 Nöcker, J., Physiologie der Leibesübungen, Stuttgart 1964 Ukran, M. L., Modernes Turntraining, Berlin 1960 Wiemann, K., Mechanische Grundlagen der Vorwärtsdrehungen im Geräteturnen, in: Die Leibeserziehung 8, 1963