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DIE LEBENSWERTE STADT: ÖFFENTLICHE RÄUME DER ZUKUNFT Dipl.-Ing. Kerstin Sailer 1 Diplomarbeit von Kerstin Sailer abgegeben im Juli 2003 am Institut für Architektur- und Planungstheorie IAP, Universität Hannover betreut von: Prof. Dr. sc. techn. Barbara Zibell Dr.-Ing. Silke Claus Strategien und Konzepte für Planer/inn/en und Nutzer/inn/en entwickelt am Beispiel des Raumsystems Kröpcke bis Lister Platz in Hannover ÖFFENTLICHE RÄUME DER ZUKUNFT DIE LEBENSWERTE STADT: DIE LEBENSWERTE STADT:

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DIE LEBENSWERTE STADT:ÖFFENTLICHE RÄUME DER ZUKUNFTDipl.-Ing.

Kerstin Sailer

1

Diplomarbeit vonKerstin Sailerabgegeben im Juli 2003

am Institut für Architektur- und Planungstheorie IAP, Universität Hannover

betreut von:

Prof. Dr. sc. techn. Barbara ZibellDr.-Ing. Silke Claus

Strategien und Konzepte für Planer/inn/en und Nutzer/inn/en entwickelt am Beispiel des Raumsystems Kröpcke bis Lister Platz in Hannover

ÖFFENTLICHE RÄUME DER ZUKUNFTDIE LEBENSWERTE STADT:DIE LEBENSWERTE STADT:

DIE LEBENSWERTE STADT:ÖFFENTLICHE RÄUME DER ZUKUNFTDipl.-Ing.

Kerstin Sailer

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Impressum:

Dipl.-Ing. Kerstin SailerHoyerswerdaer Str. 3001099 Dresden

mobil: 0174-9401395mail: [email protected]

Die hier dokumentierte Ausstellung "Die lebenswerte Stadt" basiert auf der gleichnamigen Diplomarbeit der Autorin an der Universität Hannover aus dem Sommersemester 2003.

Die Ausstellung wurde vom 25. Februar 2004 bis zum 28. März 2004 in den Räumen der Bauverwaltung der Stadt Hannover einer breiten Öffentlichkeit aus Stadt-planung, Architektur, Politik, Justiz, Polizei, Gleichstellungsbeauftragten, Wissenschaft und Universität präsentiert.

Zur Neueröffnung des Fachbereiches Architektur am 23. April 2004 wurde die Ausstellung im Rahmen der Präsentation der besten Diplome des letzten Jahres erneut der Hannoveraner Öffentlichkeit gezeigt.

IMPRESSUM

Dipl.-Ing.Kerstin Sailer

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Sind öffentliche Räume die Reste zwischen den Gebäuden? Die Plangrafiken von Hannover zeigen Gebäude und Zwischenräume im Wechsel

IDEEÖffentliche Räume sind die Straßen und Plätze, die Gassen und Wege, die Grün-flächen und Parks einer Stadt. Menschendurchqueren öffentliche Räume oder ver-weilen in ihnen, sie nutzen sie zum Einkauf, aber auch zum Relaxen, als Treffpunkte, als Orte von Freizeit und Sport, Kultur, Festen und Events. Dadurch entfalten öffentliche Räume eine hohe Alltagsrelevanz.

Über die Bedeutung für das menschliche Alltagsleben hinaus ist die symbolische Ebene relevant: öffentliche Räume sind der Ort der Begegnung mit dem Fremden, sie stellen die Bühne für menschliches Handeln, Kommunikation und Interaktion dar, sie ermöglichen Identifikation, Selbstvergewis-serung und Inszenierung, Sehen und Gesehen Werden sowie Hören und Gehört Werden.

Sie symbolisieren Öffentlichkeit und dadurch nach Hannah Arendt Menschsein, denn erst im Öffentlichen schuf sich der Mensch.

Da diese Räume wie kein anderes architek-tonisches oder städtebauliches Element die Verfasstheit einer Gesellschaft widerspiegeln, ist die Zukunft von lebenswerten öffent-lichen Räumen auch die Frage nach der Zu-kunft unserer Gesellschaft und die Frage da-nach, wo die Menschen überhaupt noch Platz und Raum für sich und ihr gemeinsames Han-deln miteinander und nebeneinander haben.

Der Fokus auf öffentliche Räume in der Planung ist nicht neu. Barcelona beispiels-weise hat eindrücklich gezeigt, wie ein gut gestaltetes Netz öffentlicher Räume zu Lebensräumen in der Stadt werden und so Lebensqualität befördern.

IDEE, ZIEL UND KONZEPT DER UNTERSUCHUNG

DIE LEBENSWERTE STADT:ÖFFENTLICHE RÄUME DER ZUKUNFT

ZIELZiel der Arbeit ist es, als planerisches Konzept den Beitrag von öffentlichen Räumen zu einer lebenswerten Stadt begreif-bar und bewertbar zu machen. Der demo-kratische Anspruch einer für alle nutzbaren und offen stehenden Stadt liegt dem zugrunde. Der Fokus der Untersuchung richtet sich dabei auf den gewöhnlichen Alltag eines jeden Menschen in der Stadt.

Eine Schlüsselfunktion spielt Aneignung im Sinne von sich zu eigen machen, in temporären Besitz nehmen, teilhaben und ist als einender Oberbegriff zu verstehen.

Dabei muss nicht jeder Raum zu jeder Zeit für jede Nutzung oder jedes Verhalten offen stehen. Aber es muss öffentliche Räume in der Stadt geben, die jedem und jeder Platz zum Sein bieten. Die Stadt soll also 'menschlicher' und 'lebenswerter' werden. Auftretende Konflikte sind dann mit Toleranz und durch die Aushandlungunterschiedlicher (milieu-, kultur-, alters- oder geschlechtsbedingter) Interessen und Wertvorstellungen zu lösen.

Die vielfältigen, sich permanent vollziehenden Prozesse im öffentlichen Raum sollen dahin-gehend untersucht werden, wie sie die gleich-berechtigte Nutzung von Raum zu steuern vermögen. Aspekte von Aus- und Abgrenzung (1), von Sicherheit (2) sowie von Aneignung und Identifikation (3) werden untersucht, um Einflüsse auf das menschliche Verhalten in öffentlichen Räumen zu extrahieren.

KONZEPTDie drei Themenschwerpunkte werden exemplarisch auf diverse Teilräume der Raumachse vom Kröpcke bis zum Lister Platz in Hannover bezogen. Dieses lineare Raumsystem bietet sehr unterschiedliche Einzelräume aber auch Brüche, die eine solche Untersuchung spannend machen.Für die Möglichkeiten der Intervention und dem Einbringen von Gesten lassen diese Räume genug Offenheit, Leerstellen, Poten-ziale und Anknüpfungspunkte erkennen.

Die Auswahl der jeweiligen Referenzräume für das entsprechende Thema ergibt sich aus ersten Raumbeobachtungen. Es werden jeweils Räume ausgewählt, in denen sich die zu untersuchenden Tendenzen abzeichnen. Themenbefassung und Raumanalyse verzahn-en sich so und ergeben sich parallel.

Methodisch stützt sich die Arbeit auf ein breites Spektrum der empirischen Sozial-forschung. Neben Raumbeobachtungen und Zählungen runden Interviews mit Expert/inn/en aber auch Passant/inn/en die Erkenntnisgewinnung ab.

Aus den Erkenntnissen werden dann einfache Gesten und konzeptuelle Verände-rungsvorschläge entwickelt, um Defizite der Lebensqualität in öffentlichen Räumen aus-zugleichen. Durch das Einbringen bewusst unrealistischer Ideen werden zudem Denk-horizonte eröffnet und Raumpotenziale offengelegt.

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Kröpcke

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Lister Platz

Weißekreuzplatz

Raschplatz

Passerelle

Ernst-August-Platz

Kröpcke

Niki-de-Saint-Phalle-Promenade

Lister Meile

Andreas-Hermes-Platz

Bahnhofsstraße

RAUMACHSE

Die Achse der untersuchten öffentlichen Räume erstreckt sich über eine Länge von etwas mehr als zwei Kilometern vom Kröpcke als Teil der zentralen City bis hin zum Lister Platz in der Oststadt/List. Dabei reihen sich die einzelnen Teilräume wie Perlen einer Kette beinahe linear aneinander.

Lage der Achse im Stadtgefüge Hannovers

Ernst-August-Platz

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NIKI-DE-SAINT-PHALLE-PROMENADE2001/2002 aus alter Passerelle des Abschnitts Kröpcke bis Bahnhof entstanden, Umbauten durch Büro Venneberg&Zech wegen Problemen des Einzelhandels, Drogenszene-Treff und insgesamt schlechtem Ruf;Eigentümerin: HRG Grundstücksgesellschaft, jetzt schicke Einkaufs-promenade, Branchenmix; große Eröffnungsfeier, bejubelt als Meilenstein und Rettung des Einzelhandels;

"ein weiteres Glanzstück in Hannover" (DORIS SCHRÖDER-KÖPF 2002)

BAHNHOFSSTRASSEMitte 19. JH. im Rahmen Laves'scher Stadtplanung entstanden, zentral auf den Bahnhof ausgerichtete Straße;frühere Boulevard-Bäume mussten Straßenbahn weichen; hoher Anteil an Fußgänger/inn/en;Beengtheit: zentrales Motiv für Umgestaltung in 70er Jahren: zweigeschossige Fußgängerzone;2002: sanfte Modernisierung durch Detaillösungen: neue Sitzbänke, Entfernen der Pflanztröge;

"zentrale Nord-Süd-Achse, Hauptlebensader der Stadt"

ERNST-AUGUST-PLATZ / BAHNHOF klassizistische Platzgestaltung mit sternförmig zulaufenden Straßen durch Laves 1847, zeitgleich mit Bau des Bahnhofs; Neukonzeptionierung 2000 zur EXPO: integriertes Einkaufszentrum (Bahn-hofspassage) und attraktiver, ebenerdiger Weg in die Oststadt; von Autover-kehr befreit, urbane Atmosphäre, viel gelobtes Beleuchtungskonzept dem Sternenhimmel nachempfunden (Büro Ohrt/von Seggern)

"Tor zur Stadt, Visitenkarte, Repräsentation"

PASSERELLE 1998 / 2002erste Idee: 1966 von Hanns Adrian; städtebauliches Konzept mehrfach prämiert; mit Jubel und Festen eingeweiht; spätere Kritik: Fußgänger/inn/en in Untergrund verbannt, Imageverfall, Treffpunkt Drogenszene, massive Gestaltung; dunkel; Stück Bahnhof - Raschplatz: heute entmietet, Umbau analog Promenade geplant, Verzögerungen;

"Schmuddel- und Sorgenkind" (HAZ)

DIE TEILRÄUME - CITY: früher, heute und zukünftig

KRÖPCKEbenannt nach dem Oberkellner des früheren Café Kröpcke;zentraler innerstädtischer Platz im Herzen Hannovers, Nabel der Stadt, Umschlagplatz, Verkehrsknotenpunkt, Geschäftszentrum, Fußgängerzone;Zukunft: Diskussionen um Umbau des 70er-Jahre-Baus "Kröpcke-Center";

"Generationen von Hannoveranern und Hannoverfreunden haben hier immer wieder ihre Stadt erkannt." (JANZEN 1998)

19301930

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20022002

200220021998

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RASCHPLATZ Bahnhofsrückseite; Ergebnis der Verkehrsplanung der 50er und Neuordnung der Innenstadt als zweigeschossige Fußgänger/inn/enanlage in den 70ernEinweihung 1976 als 'Jahrhundertereignis' gefeiertspäter: Belebung nie erreicht; Kritik an fehlenden fußläufigen Verbindungen auf Nullebene; erste Verbesserungen 2000: Stege erweitert und durchlässig ge-macht; Eigentümerin HRG und Stadt: Ideenwettbewerb, 1. Preis: Gerkan, Marg & Partner (-1 Ebene abgeschafft, Boulevard, Stadtwald): Umsetzung unklar

"überdimensioniert und isoliert" (JANZEN 1998)

LISTER MEILE ehemals "Alte Celler Heerstraße", 1972 umbenannt durch AnwohnerInnen-Initiative; über zwei Kilometer lang;Ausfall- und Hauptverkehrsstraße der 50er Jahre, durch Neuordnung in 70ern weitgehend autofreie Fußgängerzone;seit 1975 jährliches Straßenfest, 1979 Sonderpreis 'Stadtgestaltung und Denkmalschutz'

"lebendige, zentrale Einkaufsstraße, Stadtteiltreff mit ganz eigener Atmosphäre" (ZUR NEDDEN 1998)

ANDREAS-HERMES-PLATZ früher: Standort des Gerichtsgefängnisses, das für Cityring/Raschplatz weichen musste; heutige Ränder entstanden nach und nach (Pavillon 1977; Bankgebäude 1989/90)Gestaltung: Ende 80er: Freiflächenwettbewerb, Gewinner Büro Wehberg ('grün & natürlich; Bäume, Brunnen, Wasserwand, Kontrast zu Raschplatz');ungünstige städtebauliche Situation: Pavillon und Café Mezzo nicht zu Platz orientiert; fehlende Nutzung

"weitgehend unbekannt, leer und verlassen"

WEISSEKREUZPLATZ nach Gasthaus "Zum Weißen Kreuz" benannt, 1880 im Rahmen der Erschließung des Steintorfeldes angelegt in strenger Zweiteilung: rechteckiges Wasserbasin und Terrasse;1939: Repräsentation zugunsten von nutzbarem Freiraum aufgegeben; 1978: nach Wettbewerb als Grünanlage neu gestaltet (Büro Haag: 'Charakter durch Nutzung')aktuelle Planung: sanfte Umgestaltung durch Programm 'Hannover schafft Platz'

"80er: Ort der Kommunikation und alternativen Atmosphäre" (JANZEN 1998)

"2003: Schandfleck, von Randgruppen besetzt" (NEUE PRESSE, 23.06.03)

LISTER PLATZ 1955 / 1998Treffpunkt von sieben Straßen aus allen Himmelsrichtungen, Schlusspunkt der Fußgängerzone in Lister Meile;1949 bereits 28.000 Autos binnen 24 Stunden gezählt1964 weiter ausgebaut, später: Bauten für U-Bahn-Abgänge mit massivem Beton-Tonnendach (Blickbeziehungen verbaut); Austauschen des Dachs von Stadt Hannover derzeit gewünscht, aber mangels Geld nicht umgesetzt;

"seit jeher von Verkehr geprägt"

DIE TEILRÄUME - CITY/OSTSTADT: früher, heute und zukünftig

1975

19711971

19001900

199819981955

nach 1972nach 1972vor 1972vor 1972

bald?

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Die Auswahl genau jener Räume zwischen Kröpcke und Lister Platz für die Unter-suchungen zur lebenswerten Stadt können aus historischer, stadträumlicher wie pers-pektivischer Sicht begründet werden.

HISTORISCHHistorische und stadträumliche Perspektive stehen in kausaler Abhängigkeit zueinander. Die heutige Situation der öffentlichen Räume in Hannover sowie die sich daraus ergebenden Planungsaufgaben sind nur im Rückblick auf die jeweiligen, damaligen Bedingungen zu verstehen.

Wichtige Voraussetzungen zur Entstehung der heutigen Stadtgestalt wurden in den vergangenen Jahrzehnten v.a. durch das nationalsozialistische Regime, Krieg und Kriegsfolgen sowie den Wiederaufbau gelegt.

Bereits 1938/39 entstand die Idee, das Straßensystem mit Hilfe von großen Achsen und Durchbrüchen in das Netz der Reichs-autobahnen zu integrieren. (DURTH 1992)

Diese Verkehrsplanung lebte fort: zunächst in den Wiederaufbauplänen des Stadtbau-rates Elkart von 1944, später in den Konzepten von Hillebrecht, der ab 1948 als Stadtbaurat folgte. Ein Netz von Tangenten sollte die gesamte Innenstadt wie einen Markt umschließen und Nähte zwischen City und den Wohngebieten bilden. Den Verkehrstangenten wurde eine "den Stadt-körper gliedernde und gestaltende Aufgabe" zugesprochen. (DURTH 1992)

Das 1951 beschlossene Konzept wurde bald von der Öffentlichkeit als "Wunder von Hannover" gefeiert. (DER SPIEGEL 1959)

"Heute häufen sich die abfälligen Äuße-rungen, von denen die bösartigste von Vittorio Magnago Lampugnani stammt, dem ehemaligen Direktor des Deutschen Archi-tekturmuseums. Er behauptete 1983, dass es durch den Wiederaufbau in Hannover ge-lungen sei, die ehemals baulich geschlossene und funktional durchmischte Stadtstruktur in ein unansehnliches Konglomerat mono-funktionaler Inseln zu verwandeln, die dank gigantischer Verkehrsströme unablässig vom Fahrstrom umspült werden." (AUFFAHRT 2001)

Schwarzplan von Hannover

BEGRÜNDUNG DER RAUMAUSWAHL

PERSPEKTIVISCHFür die gesamtstädtische Entwicklung ist die ausgewählte Achse (auch 'Lavesachse' ge-nannt) von besonderer Bedeutung. Die "Hauptlebensader" der Stadt (STADTPLANUNGS-

AMT) gruppiert wichtige Entwicklungspunkte der Stadt um sich herum, etwa den Bahnhof, das Ernst-August-Carreé, die neue Niki-de-Saint-Phalle-Promenade etc. und strahlt nach außen in die gesamte Stadt ab.

In Zukunft sind gerade an dieser wichtigen Nahtstelle zwischen City und Oststadt (am Raschplatz und Andreas-Hermes-Platz) neue Konzepte vonnöten, denn hier tritt der Bruch überdeutlich zu Tage und ist noch immer gestalterisch unbefriedigend gelöst.

STADTRÄUMLICHAn genau diese Feststellungen knüpfen seit einigen Jahren verstärkt verfolgte und populär gewordene planerische Ansätze, die die Brüche in der Stadt überwinden und getrennte Stadtteile in ein Ganzes zusammenführen wollen.

Schon früher hatte man in Hannover erkannt, dass der Cityring zwar die Innenstadt von Verkehr entlastet hatte, aber gleichzeitig Linden, die Nord-, Ost- und Südstadt von der Mitte abgetrennt hatte. In den 70er Jahren sollte diesem Problem mit dem Bau der unter dem Bahnhof führenden Stadtbahnlinien, den Fußgänger/inn/enanla-gen am Raschplatz und der Passerelle begegnet werden. (ZUR NEDDEN 1998)

Neuere Planungsansätze gehen jedoch weiter. Der internationale Planungswork-shop "Stadträume am Cityring" (2001) bei-spielsweise thematisierte das Verbindungen schlagen und Überwinden als Strategien.

Die Stadtentwicklung und -planung in Hannover arbeitet derzeit ebenso an Verbesserungen der räumlichen Situation, so wurde durch den umgebauten Klagesmarkt 2000 eben jene angestrebte Verbindung zwischen City und Nordstadt gestärkt.

In nationalen wie internationalen For-schungszusammenhängen wird darüber hinaus der Abbau sozialräumlicher Segrega-tion diskutiert und Vorschläge dazu erarbeitet, etwa in Hannover, Barcelona, Paris, Lyon, etc. (PARAVICINI ET AL 2002) Auchsystemische Denkansätze, die versuchen, zusammenhängende Gebiete zu erfassen und nicht nur punktuell anzusetzen, finden mehr und mehr Anklang. (CHARBONNEAU 1999;

SICILIA 1999)

Es ist also aus historischer und stadt-räumlicher Sicht relevant, sich mit den Brüchen in der Stadt zu befassen und die Verbindungen zwischen City und Stadtteilen auf die Agenda zu setzen, und so einen Blick für die Stadt als Ganzes zu bewahren.

Die ausgewählte Achse öffentlicher Räume verbindet die getrennten Stadtteile City und Oststadt

Oststadt

Zoo-Viertel

Süd-stadt

Linden

Nordstadt

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THEMENÜBERSICHT

NEHMEN SIE PLATZ!

Aneignung von und Identifi-kation mit RäumenUnter welchen Rahmenbedingungen sich Aneignung von und Identifikation mit öffentlichen Räumen herausbilden kann, wird im dritten Themenblock geklärt.

Zunächst wird es um den Prozess der Wahrnehmung gehen, der als erste Voraussetzung von gelungener Aneignung an Hand des Andreas-Hermes-Platzes über-prüft wird.

Orientierung und Lesbarkeit am Raschplatz als zweite Notwendigkeit von Aneignung werden hier nicht weiter ausgeführt. Stattdessen wird der dritte Schritt von Aneignung, nämlich die zu erfolgende Identifikation mit einem Ort thematisiert. Als Beispiel fungiert hierfür die Lister Meile.

Schlussendlich wird der zu vollziehende Aneignungsprozess in Form der beiden Tätigkeiten 'Sitzen' und 'Stehen' betrachtet. Einzelne räumliche Situationen in der Bahnhofsstraße und der Lister Meile zeigen die Bedingungen, Optionen und Hindernisse von Aneignung auf.

ZWISCHEN DEN ZEILEN

Stadt als Botschaft von Aus- und AbgrenzungIm ersten thematischen Schwerpunkt werden Prozesse der freiwilligen und unfreiwilligen Segregation beobachtet, analysiert und interpretiert.

Drei unterschiedliche Aspekte stehen im Mittelpunkt:

Zunächst wird die Zugänglichkeit in den vier innerstädtischen, zusammenhängenden Räumen der Bahnhofsstraße, der Niki-de-Saint-Phalle-Promenade, der Passerelle und des Ernst-August-Platzes thematisiert.

Zweitens wird es um das Thema Zu-gehörigkeit von Nutzer/inn/en zu unter-schiedlichen Gruppen und den damit zusammenhängenden Folgen und Effekten gehen.

Welche konkreten und kleinteiligen Elemente und Gestaltungen im öffentlichen Raum durch eingeschränkte Benutzbarkeit aus- und abgrenzen, wird dann an Hand von “Abwehrdesigns” erforscht.

RAUM BEISST NICHT!

Strategien gegen die Angst in der Stadt Verschiedene Aspekte von Sicherheit werden im zweiten Thema behandelt.

In einem ersten Schritt werden die öffentlichen Räume der Raumachse extrahiert, die von den Nutzer/inn/en mit Angst und Unsicherheit assoziiert werden. Jene Räume, die in Bezug auf ihre Gestaltung als Flächen der Angstprojektion in Hannover genannt wurden, werden darauf aufbauend in einem zweiten Teil untersucht, um Alternativen der Gestaltung und experimentelle Möglichkeiten des Umgangs mit Angst herauszukristallisieren.

Der dritte Aspekt von Sicherheit dreht sich um die Frage der Routenwahl: welche Routen werden konkret vom Kröpcke in die Lister Meile benutzt, wenn aus verschie-denen Wegeführungen gewählt werden kann? Die Ergebnisse werden herausgearbeitet und interpretiert werden.

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CODES AUS DEM FILM MATRIXUm sich im städtischen Alltag zurechtzufinden, muss man die Botschaften zwischen den Zeilen lesen und verstehen können, die oft durch unterschwellige Codes kommuniziert werden.

SICHERHEIT UND ANGST IN DEN MEDIENZeitungstitel aus HAZ, Neuer Presse und taz, 2002/2003

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Per defintionem sollten öffentliche Räume "öffentlich", also allen Menschen zugänglich sein. Doch in öffentlichen Räumen vollziehen sich Begrenzungen der Zugänglichkeit nach sozialen, baulich-räumlichen oder vorschrif-tenbasierten Mustern. Diese sind meist unter-schwellig und mitunter kaum zu registrieren.

Für die Untersuchung wurden einerseits zusammenhängende Räume einer städte-baulichen Einheit ausgewählt, die viele Ge-meinsamkeiten haben. Allerdings unter-scheiden sie sich in ihrer Zugänglichkeit, da Niki-Promenade, Passerelle (Eigentum: HRG) und Ernst-August-Platz (Eigentum: DB) nicht öffentlich gewidmet sind.

Die unterschiedlich intensive Kontrolle in den vier Teilräumen ermöglicht deutliche Ergebnisse hinsichtlich der Begrenzung ihrer Zugänglichkeit.

Folgende Thesen dazu wurden untersucht:

Thesen:Je mehr kontrolliert wird, ...... desto mehr wird nicht vorgesehenes,

aber zulässiges Handeln eingeschränkt,... desto angepasster und konformer wird

das menschliche Verhalten,... desto homogener wird das Publikum,... desto mehr wird non-konformes Ver-

halten vertrieben oder zum Ausweichen gezwungen.

Bahnhofsstraße (blau) bricht aus Alterskontinuität aus

Untersuchungsräume in 3D-Grafik: Bahnhofsstraße, Niki-Promenade, Ernst-August-Platz und Passerelle

Untersuchungsräume im städtischen Kontext:Grundriss der Raumachse

Niki-Promenade (lila) bricht aus Herkunftskontinuität aus

Passerelle (orange) bricht aus Kon-tinuität unauffälligen Verhaltens aus

Passerelle

Niki-Promenade &Bahnhofsstraße

Ernst-August-Platz

LEGENDE:

blau: Bahnhofsstraße, lila: Niki-Promenade

grün: Ernst-August-Platz, orange: Passerelle

ZUGÄNGLICHKEIT

ERGEBNISSE

Bahnhofsstraße:GAR NICHT

HOMOGENISIERT[wenig Kontrolle]

Niki-Promenade:STARK

HOMOGENISIERT[viel Kontrolle]

Passerelle:LEICHTHOMOGENISIERT[viel Kontrolle]

Ernst-August-Platz:SPÜRBARHOMOGENISIERT[sehr viel Kontrolle]

AUS STÄDTEBAULICHER EINHEIT FOLGT KEINE SOZIALRÄUMLICHE EINHEIT! THESE DER HOMOGENISIERUNG DURCH KONTROLLE STIMMT BEDINGT

1Zwischen den Zeilen: Stadt als Botschaft von Aus- und Abgrenzung

Diese Resultate zur differierenden Homo-genität können durch eine Analyse einzelner Nutzer/inn/engruppen bestätigt werden .

Fazit: Das menschliche Verhalten ändert sich beim Übergang vom einen Raum in den nächsten, bzw. Menschen wählen ent-sprechend ihrer Eigenschaften und Vorlieben "ihren" Raum der Durchwegung.

Exemplarisch werden hier die Ergebnisse von These drei zur Homogenität des Publikums präsentiert. Durch Zählungen von Passent/inn/en hinsichtlich der Merkmale Alter, Herkunft, Geschlecht und Verhalten (nach Einschätzungen und Beobachtungen) konnten deutliche Unterschiede festgestellt werden.

Durchschnittsalter: Bahnhofsstraße 35 (40 - 41 in den anderen Teilräumen);

Menschen nicht-deutschen Aus-sehens: Niki-Pro-menade 8% (25% sonst);

Auffälliges (also ab-weichendes, unüblich-es) Verhalten in Be-zug zur Frequentie-rung des Raumes: Pas-serelle 16x so häufig;

Frauen: Niki-Promenade 66%, Passerelle unter 40%; (ohne Grafik);

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Jeder Mensch fühlt sich bestimmten Gruppen zugehörig. Zugehörigkeit wird erst dann problematisch, wenn sie Grundlage für Diskriminierungen wird.

Ob soziale Segregation als Einschluss und Dazugehören empfunden wird oder als Ausschluss und Nicht-Dazugehören, hängt davon ab, ob damit eine Aufwertung ("Klub") oder eine Abwertung ("Ghetto") verbunden ist. (vgl. BOURDIEU 1991)

In einigen öffentlichen Räumen entscheidet die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Nutzer/inn/engruppe über den Zugang und die Möglichkeiten der Inanspruchnahme, in anderen Räumen wiederum spielt Gruppenzugehörigkeit kaum eine Rolle.

Um beide Typen von Räumen in meinen Untersuchungen abzudecken, beziehe ich mich auf den Weißekreuzplatz (Beispiel für Ghettoeffekt), die Niki-Promenade (Beispiel

für Klubeffekt) sowie die Lister Meile als kontrastierendes Beispiel eines Raumes, in dem Gruppenzugehörigkeit keine große Wichtigkeit beigemessen wird.

Eine der elementaren Fragen ist die nach den Mitteln der Aus- und Abgrenzung.

Folgende Thesen dazu wurden untersucht:

Exemplarisch werden hier die Ergebnisse der Untersuchung ausgrenzender Codes auf dem Weißekreuzplatz präsentiert.

Sechs unterschiedliche Gruppen von Nutzer/inn/en wurden am Weißekreuzplatz beobachtet:Senior/inn/en * junge Menschen auf Stein-mauer sitzend * Jugendliche auf Grasfläche * Hundehalter/inn/en * Trinker(innen) * Punks

Auffällige Gruppen: Hundehalter/inn/en (Schmutz/Kot) * Trinker (laut, Alkohol) * Punks (laut, Alkohol, Kleidercodes)

Dominant: Kombination der drei auffälligen Gruppen (zufällige Anwesenheit, keine semantische Absicht)

zur Nutzung eingeladen: gesellschaftlichnicht integrierte Randgruppen, "Szene"

Codes: Schmutz, auffälliges, lästiges Verhal-ten, ungepflegtes/ungewöhnliches Aussehen

Frage: fühlen sich Passant/inn/en zur Nutzung eingeladen?

JANEIN

JA-Gründe: Grün Atmosphäre

NEIN-Gründe: Publikum, 'Penner' Gestaltung

37,5 %62,5 %

78 %33 %

60 %40 %

Dies ist das Wesen der Diskriminierung: Meinungsbildung über andere Menschen, die nicht auf individuellen Leistungen beruht, sondern vielmehr auf Zugehörigkeit zu einer Gruppe mit vermeintlichen Eigenschaften. AUS DEM FILM "PHILADELPHIA"

Thesen:

Je dominanter, exklusiver oder auffälliger eine Nutzung ist, desto mehr verteidigt sie ihren Raum durch ausgrenzende Codes. Gruppenzugehörigkeit gibt den Ausschlag, ob man zur Nutzung eingeladen ist oder davon abgehalten wird.

Je gleichberechtigter eine Nutzung ist, desto mehr einladende Codes sind vorzufinden. Gruppenzugehörigkeit spielt dann keine relevante Rolle.

Untersuchungsräume im städtischen Kontext:Grundriss der Raumachse

Weißekreuzplatz

Niki-Promenade

Lister Meile

ZUGEHÖRIGKEIT

ERGEBNISSE

WEISSEKREUZPLATZ IST (TROTZ UNABSICHTLICHKEIT) OKKUPIERT, CODES DER DOMINANTEN NUTZUNG WIRKEN HOCHGRADIG AUSGRENZEND; THESE STIMMT FÜR WEISSEKREUZPLATZ

WEISSEKREUZPLATZ:

abgegrenzter Raum,mit ausladenden Codes verteidigt

1Zwischen den Zeilen: Stadt als Botschaft von Aus- und Abgrenzung

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Nützlichkeit (utilitas) ist nach dem ersten Architektur-'Theoretiker' Vitruvius eine der drei wichtigen Säulen von Architektur.

Die Frage nach der Benutzbarkeit von öf-fentlichen Räumen stellt die Funktion in Zusammenhang mit dem menschlichen Verhalten und der Aneignung des Raumes.

Benutzbarkeit kann durch viele Faktoren eingeschränkt werden, etwa Enge, mangelnder Freiraum, fehlende Toleranz für eine bestimmte Nutzung, abschreckende Signale oder gar Gleichgültigkeit (Leere, mangelnde Pflege).

Ein spezieller Fall der Aus- und Abgrenzung durch Benutzbarkeit ist das so genannte 'Abwehrdesign'. Darunter ist eine Form der Gestaltung im Mikrozusammenhang zu begreifen, der unterschwellig und subtil neben der Einladung an eine gängige Nutzung zusätzlich die Verhinderung einer

anderen, unerwünschten Nutzung einge-schrieben ist.

Drei Formen von Abwehrdesign sind im Untersuchungsgebiet vorzufinden: zum einen die skaterunfreundliche Gestaltung der Treppenanlage am Andreas-Hermes-Platz sowie zum anderen die 'pennersicheren' Bänke am Lister Platz und in der Bahnhofsstraße.

Daher sollte die These überprüft werden:

Reaktionen der Nutzenden:Freude über neue Sitzgelegenheiten: 45 %

Gestaltung mit Unterteilungen positiv: 66 %, "viel Platz", "Intimität", "Ein-Personen-Bank"

Abwehrdesign erkannt & dechiffriert: 0 %

"Ach so ist das?" bei Hinweis auf Abwehr

Verhinderung des nächtlichen Lagerns durch Obdachlose als positiv empfunden: 56 % egal: 44 %

Verständnis für Geschäftsleute: 22 %

Verständnis für schwierige Lage der Obdach-losen: 22 %

Reaktion der Ausgegrenzten:bleiben den Bänken fern, nehmen sie nicht einmal tagsüber zum Sitzen in Anspruch

These:

Wenn mit einer Raumgestaltung über den augenfälligen Zweck hinaus bestimmte Ziele der Abschreckung oder Verhinderung von Nutzungen verknüpft werden, dann spüren die Menschen diese subtile Haltung, wodurch die Attraktivität und Lebendigkeit der Räume begrenzt wird.

Untersuchungsräume im städtischen Kontext:Grundriss der Raumachse

Treppengeländer am Andreas-Hermes-Platz

Bänke in der Bahnhofsstraße

Bänke amLister Platz

BENUTZBARKEIT

ERGEBNISSE

MENSCHEN MACHEN SICH WENIG GEDANKEN UM GESTALTUNG DES ÖFFENTLICHEN RAUMES, ABWEHRDESIGN NICHT LESBAR, HÖCHSTENS VON "AUSGEGRENZTEN", THESE IST NICHT HALTBAR

OBDACHLOSER:

durch Abwehrdesignausgegrenzt

PASSANT/INN/EN:

zur Nutzung ein-

geladen,

Abwehrdesign

nicht erkannt

Exemplarisch werden hier die Ergebnisse der Untersuchung der nutzungsabwehrenden Bänke in der Bahnhofsstraße präsentiert.

Bänke:2002 aufgestellt durch die Stadt Hannover, dreigeteilt in je 80 cm lange Abschnitte, geräumig Platz für eine Person oder für zwei, die sich gern haben müssen; Abwehr geplant, durchgesetzt von Geschäftsleuten in der City

Nutzung:hohe Frequenz, gut angenommen, vielfältige Tätigkeiten, bunt gemischtes Publikum, Ver-weildauer: 5-60 min.

1Zwischen den Zeilen: Stadt als Botschaft von Aus- und Abgrenzung

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ßt nicht: Strategien gegen die Angst in der Stadt

Wie ein Mensch einen Raum wahrnimmt, hängt also nicht nur vom physikalisch gebauten Raum (Gestaltung, Form, Material) und dem sozialen Raum (Positionierung der anwesenden Menschen) ab, sondern auch we-sentlich davon, auf welche Art und Weise die übermittelten Informationen des gebauten und sozialen Raumes interpretiert werden.

Relevant für die als sicher empfundene Wahrnehmung von öffentlichen Räumen sind folgende Faktoren: die Tatorte von Kri-minalität; die Anwesenheit von Ordnungs-kräften, also die Kontrolldichte; die Belebtheit tags / nachts und die Qualität der mensch-lichen Interaktionsdichte; spezifisch fremd-artige Milieus und 'Szenetreffs'; 'Angsträume'.

Dieses komplexe Bündel an Einflussfaktoren soll hinsichtlich der Empfindung von Angst in öffentlichen Räumen ansatzweise ent-schlüsselt werden.

WAHRNEHMUNG

ERGEBNISSE UND INTERPRETATION DER RÄUME

ANGSTRÄUME SIND NICHT AUTOMATISCH TATORTE. KOMBINATION AUS (UN-)BELEBTHEIT, ATMOSPHÄRE UND GESTALTUNG IN PASSERELLE UND AM RASCHPLATZ PROVOZIERT ANGST

Tatorte:besonders belastet: Kröpcke (viele Menschen, Anonymität), Passerelle & Raschplatz (geringe soziale Kontrolle), Weißekreuzplatz (viele Menschen, Problemgruppen)

Kontrolle Polizei:besonders im Blickpunkt: Passerelle & Raschplatz, Weißekreuzplatz, Andreas-Hermes-Platz (Beschwerden, Notwendigkeit polizeilicher Anwesenheit/präventive Präsenz)

Kontrolle private Sicherheitsdienste und Überwachungskameras:Bahnhof und Ernst-August-Platz: Bahn-schutzgesellschaft BSG; Niki-Promenade, Passerelle, Raschplatz: Protec

Belebtheit / Qualität menschliche Dichte:Attraktoren: Treffpunkte Kröpcke-Uhr, "unterm Schwanz", U-Bahn-Stationen, Spiel-

plätze und Brunnen, Discos & Kneipen am Raschplatz, Eisdielen;besonders belebt tags: Ernst-August-Platzund Bahnhof, Kröpcke, Bahnhofsstraße, Niki-Promenade, U-Bahn-Stationenbesonders belebt nachts: Raschplatz, Kröpcke, Bahnhofsstraße, Niki-Promenadebesonders heterogen: Kröpcke, Bahnhofs-straße, Ernst-August-Platz, Passerelle, Raschplatz, Andreas-Hermes-Platz

Szene- und Milieutreffs:Lister Meile (Obdachlose, Eltern/Kinder), Weißekreuzplatz (Punks, Trinker/inn/en), Andreas-Hermes-Platz (russ. Aussiedler/inn /en), Raschplatz (Partyszene), Bahnhofsstraße (Bettler/inn/en, Punks)

'Angsträume':tagsüber/nachts: Passerelle (keine Ausweich-, viele Versteckmöglichkeiten), tagsüber: Raschplatz (dunkle, unübersichtliche Tunnel)

Weil jede Wahrnehmung infolge Kultur, Erziehung und Persönlichkeit anders ist, wird der objektive Architekturraum auf der Subjektseite je anders aufgenommen. FRANZ XAVER BAIER, 1996

EinrichtungKamerasviele Streifen

wenige St.äsenz mit

Vielfalt

heterogen

homogenspezifische

Milieu-Treff-

2Ra

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Der Zusammenhang Sicherheit und Gestal-tung ist sehr zwiespältig und kann nicht mit einfachen Rezepten, Standards oder Krite-rienlisten bewältigt werden, wie es lange genug der Stand der Auseinandersetzungen um eine "sichere Stadt" war und noch ist.

Menschen projizieren ihre Angst - wovor auch immer - auf bauliche Räume, auch wenn klar ist, dass Raum nicht beißt und Angst vielmehr auf sozialen Gegebenheiten beruht.

Im Mittelpunkt der folgenden Untersuchung wird nicht die ewig gleiche Frage stehen, was Menschen sich als Maßnahmen gegen die Angst in der Stadt wünschen, auch nicht

die zur Genüge beantwortete Frage nach den Gestaltungselementen, die als Projektionsflächen für Angst dienen (nämlich alle nur denkbaren!).

Stattdessen werden zwei Aspekte fokussiert:

Die Frage nach dem "eigentlichen Ort" (VON

LÜDINGHAUSEN 1999), an dem die Menschen statt des 'Angstraumes' gerne wären, soll Ideen für einen anderen Umgang liefern.

G E S T A L T U N G

ERGEBNISSE

DIE VORSTELLUNG VOM "EIGENTLICHEN ORT" FÖRDERT ZWEI GEWÜNSCHTE TENDENZEN ZU TAGE: 1. SICH WOHLFÜHLEN IM ÖFFENTLICHEN RAUM, 2. NEUES ERLEBEN, SPANNUNG

weitgehend übereinstimmende Raumein-drücke der Passant/inn/en

schmutzig, dreckig, nicht sauber: 43 %dunkel: 30 %nicht einladend, ungemütlich: 30 %

meist negative Attribute, vereinzelt positive Rückmeldungen (z.B. schön leer, kein Gedrängel, luftig, kühl)

Wunschorte:Zuhause (Feierabend, Ruhe, Geborgenheit, Erholung von Menschenmassen, Distanz, Kühle im Sommer);Natur (Ruhe, Abgeschiedenheit, Erholung, Distanz);Urlaub, Meer (Exotik, Aufregung, neue Erlebnisse, Spannung, Abenteuer)

Es kann nicht darum gehen, eine völlig nischen-, charakter- und in der Folge seelenlose Architektur zu fordern - und das im Namen der Sicherheit! BAUDEPARTEMENT BASEL-STADT 1998

Untersuchungsräume im städtischen Kontext:Grundriss der Raumachse

Raschplatz

Passerelle

Wie bezeichnen Passant/inn/en spontan mit drei Phrasen den wahrgenommenen Raum?

Wo würden sich die Befragten zu diesem Zeitpunkt am liebsten aufhalten?

der_ortdreckig, dunkel, klein

die_personSchülerin, 14

der_wunschortZuhause, weil da ist es kühl

der_ortverzettelt, drückend, angstmachend

die_person (OHNE FOTO)

Studienrätin, 52der_wunschortHannover, am liebsten Eilenriede

der_ortnichts, uneindeutig, nicht unangenehm

die_personDipl.-Ingenieur, 31

der_wunschortInsel, Südsee, Meer und Palmen

2Raum beißt nicht: Strategien gegen die Angst in der Stadt

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Die Bezeichnung eines Weges als Route impliziert zweierlei: zunächst eine gewisse Wahl zwischen verschiedenen Möglichkeiten, von A nach B zu gelangen. Andererseits ist ein gewöhnlicher Weg vor allem dann eine Route, wenn er wichtige Orte des alltäg-lichen Lebens verbindet und entsprechend oft genutzt wird. Routen werden dabei oft situa-tionsabhängig (Tag - Nacht) wahrgenommen.

In der Sicherheitsdebatte der planenden Disziplinen spielen Routen als Verbindungen zwischen Wohngebieten und Arbeitsstätten sowie als sicher zu gestaltendes Wegenetz in der Stadt eine große Rolle.

Der Fokus auf die Routen zwischen Kröpcke und Lister Meile bietet sich aufgrund der vielen Wahlmöglichkeiten auf zwei Ebenen sowie der Relevanz dieser Verbindung zwischen City und Oststadt an. Viele Brüche (Cityring, Eisenbahn) werden auf diesem

Weg von wahrscheinlich Tausenden von Menschen jeden Tag überwunden, die sich alle "ihren Weg" bahnen.

Implizit stellt sich bei dieser Untersuchung auch die Frage nach Angst und Unsicherheit, da an Hand der gewählten Route der tagtägliche Umgang mit Unsicherheit erzeugenden Strukturen bzw. unangenehmer Gestaltung nachvollzogen werden kann.

R O U T E N WA H L

ERGEBNISSE

SOWOHL ROUTENWAHL ALS AUCH ROUTENWECHSEL HAT NUR BEDINGT MIT SICHERHEIT ZU TUN; ROUTEN SIND PERSONEN- UND SITUATIONSABHÄNGIG (TAGESZEIT, WETTER, LAUNE...); WECHSELN VON ROUTEN IST NICHT GESCHLECHTSABHÄNGIG;

Zählungen von Passant/inn/enströmen an zwei wichtigen Entscheidungsorten für oder gegen eine Route ergaben eine relative Unabhängigkeit von Sicherheitsaspekten.

Unterirdische Routen: bevorzugt von 50% bzw. 57%, davon überdurchschnittlich viele Frauen, Ältere und Menschen alleine; (die gemeinhin als angstanfälliger gelten!!)

ausschlaggebend: Bequemlichkeit, wich-tige Vernetzung von Orten unterirdisch (U-Bahn), bessere "Landung" in Lister Meile, schnellere Wege möglich, Vermeidung un-schöner Situationen (Raschplatzhochstraße)

Befragungen: oberirdische Routen bevor-zugt, aber Hamburger Allee unattraktiv, wird besonders von Jungen / Mobilen gemieden;

"Bereiche hinter dem Bahnhof sind unschön und uninteressant"; "Niki-Promenade ist zu steril"; "die alte Passerelle war irgendwie wohnlicher"; "ich brauche Licht und Luft";

Attraktivität einer Route: interessante Geschäfte (70%), viel los (30%), wenig los (30%); je 20%: Orientierung, Helligkeit, moderne Architektur, Atmosphäre

Routenwechsler: Männer: 50%, Frauen: 50%

Untersuchungsräume im städtischen Kontext:Grundriss der Raumachse

Kröpcke bis Lister Meile

Entscheidungspunkt

Thesen:

Wenn sich Menschen auf den Weg vom Kröpcke in die Lister Meile machen, dann benutzen sie mehrheitlich oberirdische Routen statt unterirdische Wege.

Frauen benutzen mehrheitlich ihnen be-kannte, vertraute Routen, während Männer mehrheitlich ihre Routen wechseln und neue Wege entdecken.

2Raum beißt nicht: Strategien gegen die Angst in der Stadt

?

Kröpcke Ernst-August-Platz Bahnhof Raschplatz

Wege der Männer in Grundriss und Schemaschnitt

LEGENDE:Student, 26Fotograf, 27Softwareentwickler, 28Krankenpfleger, 28Kulturwissenschaftler, 32Angestellter, 41Lister Tor

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Dass Wahrnehmung von unterschiedlichen Faktoren abhängt, wurde bereits erläutert. Darüber hinaus aber nehmen Menschen vieles überhaupt nicht wahr:

"Das Gehirn ist selbstreferentiell und selbst-explikativ, es kann nur sich selbst prä-sentieren und 'Wirklichkeit' konstruieren. Bewusst wird also nur, was bereits vor-handen, gestaltet und geprägt ist. Das Gehirn leistet Komplexitätsreduktion." (VOIGT 1999)

Auf öffentliche Räume übertragen kann festgehalten werden, dass die meisten Menschen nur die Räume in der Stadt wahrnehmen, die sie gewohnt sind.

Man lernt Räume üblicherweise dadurch kennen, dass man sie regelmässig durch-quert, weil sie auf der Strecke von einem Startpunkt zu einem Endpunkt liegen, bei-spielsweise die Wege zwischen Arbeitsplatz und Wohnung. Oder man sucht Räume

zielgerichtet auf, weil sie Einrichtungen be-herbergen, die man benötigt, etwa Banken, Geschäfte, kulturelle Einrichtungen etc. Eine dritte Möglichkeit besteht im ziellosen Flanieren, Umherziehen Entdecken.

An Hand des weitgehend unbekannten, aber so zentral gelegenen Andreas-Hermes-Platz soll gezeigt werden:

WAHRNEHMUNG

ERGEBNISSE

ES GIBT FÜR DIE MEISTEN MENSCHEN SCHLICHT KEINEN GRUND DIESEN RAUM WAHRZUNEHMEN, IHM BESONDERE AUFMERKSAMKEIT ZU SCHENKEN, GESCHWEIGE DENN IHN SICH ANZUEIGNEN; WAHRNEHMUNG IST ERSTE UND ENTSCHEIDENDE VORAUSSETZUNG VON ANEIGNUNG

Form, Sichtbarkeit und Nutzung als wichtige Charakteristika für die Wahrnehmung von Architektur sind beim Andreas-Hermes-Platz nicht ausgeprägt.

Form: uneindeutig, ursprüngliche Gestaltungs-intention eines grünen Gegenpols zum Rasch-platz nicht ablesbar, Eindruck einer ungenutz-ten und wüsten Brache trotz guter einzelner Gestaltungselemente (Bäume, Brunnen, Wasserwand)

Sichtbarkeit: gering; Platz liegt auf keiner Hauptwegeachse

Nutzung: nur Rückseite des Pavillons, fußläufiger Eingang zu Bank (PKW-Nutzende erschliessen Bank von anderer Seite), wenige Aufenthaltsmöglichkeiten, keine Attraktoren (weder Intimität, noch Belebtheit);

Name als weiteres identitätsbildendes und prägendes Merkmal: weitgehend unbekannt;

Untersuchungsräume im städtischen Kontext:Grundriss der Raumachse

Andreas-Hermes-Platz

... dass ein öffentlicher Raum weitgehend unbekannt bleibt, wenn er weder entlang häufig genutzter Routen liegt, noch selbst Attraktionspunkte bietet.

... dass ein Raum nur mangelhafte Möglich-keiten der Aneignung bietet, wenn er kaum wahrgenommen wird.

3Nehmen Sie Platz! Aneignung von und Identifikation mit Räumen

Das Nicht-Wahrnehmen von etwas beweist nicht dessen Nicht-Existenz. DER DALAI-LAMA

Andreas-Hermes-Platz im Grundriss mit detaillierter Gestaltung

DG-Bank

Rasch-platz

Raschplatzhochstraße

Pavillon

HochhausLister Tor

Café Mezzo

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Identifikation mit einem Ort bedeutet, die eigene Identität in Übereinstimmung mit der Identität eines Ortes zu bringen. Es basiert auf dem emotionalen Zugehörigkeitsgefühl zu einem Ort. (BECKER / KEIM 1978)

Der Begriff 'Identität von Raum' ist in der Fachwelt umstritten, die Positionen reichen von "Raum hat weder Persönlichkeit noch Identität" (IPSEN 1999) hin zu der Benennung von identitätsstiftenden räumlichen Faktoren wie Eigenart, gestalterische Einheit, örtliche Bedeutung, Unverwechselbarkeit, Gebrauchs-spuren, Geschichte, etc. (SCHMIDT 1997; KIL 1995)

Diese Merkmale wiederum lassen sich vor allem auf soziale Faktoren zurückführen.

"Identifikation mit einem Ort ist letztlich das Resultat sozialer Prozesse und damit verbun-dener Kommunikation. Die Stadt, ihre Räume und ihre Fassaden bieten die Bühne für soziale Prozesse, für Begegnung, für Kommu-

nikation. Der Ort bietet damit Gelegen-heiten zur Identifikation." (SCHMIDT 1997)

Um jene Faktoren konkret benennen zu können und nachvollziehbar zu machen, die Identifikation mit einem Raum erlauben und damit seine Aneignung fördern, wird den Nutzungsbedingungen in der Lister Meile nachgegangen. Folgende Elemente des theo-retischen Diskurses sollen überprüft werden:

IDENTIFIKATION

ERGEBNISSE

LISTER MEILE IST EIN ORT VIELFÄLTIGER NUTZUNG UND ANEIGNUNG, U.A. DURCH HOHE EIGENIDENTITÄT DES RAUMES UND GUTE IDENTIFIKATIONSMÖGLICHKEITEN

Untersuchungsräume im städtischen Kontext:Grundriss der Raumachse

Lister Meile

3Nehmen Sie Platz! Aneignung von und Identifikation mit Räumen

Architektur insgesamt ist und bleibt ein Produktionsversuch menschlicher Heimat - vom gesetzten Wohnzweck bis zur Erscheinung einer schöneren Welt in Proportion und Ornament. ERNST BLOCH, PHILOSOPH

Überangebot an Gelegenheiten der Begeg-nung, Interaktion und Kommunikation;qualitative und nutzbare Freiräume;örtliche Eigenart, Unverwechselbarkeit;Gewöhnung und Gebrauchsspuren;räumliche Einheit durch Grenzziehungen;persönliche Bindungen und Erinnerungen;soziale Beziehungen, Netzwerke;Erschwinglichkeit, Offenheit, Toleranz;

Überangebot / Gelegenheiten:"In der Lister Meile gibt es viele Angebote, das ist sehr schön. Man kann sich immer auch draußen hinsetzen."

KRANKENSCHWESTER, 58

"Hier ist immer was los, das ist nett, auch abends kann man noch bummeln."

CHEMIKERIN, 36

"Tschibo ist der Treffpunkt der Kulturen."ARBEITSLOSE, 51

nutzbare Freiräume: Fußgängerzone, Kinderspielbereiche

Eigenart / Unverwechselbarkeit:"Die Lister Meile ist einzigartig, hier spiegelt sich das ganze Leben. Ich sitze jeden Tag hier, Zuhause ist mir nur langweilig."

RENTNERIN, 78

Gewöhnung / Gebrauchsspuren:"Meine Familie wohnt seit Generationen hier."

EINZELHANDELSKAUFMANN, 46

räumliche Einheit: rötlicher Bodenbelag

persönliche Bindungen:"Ich wohne nicht mehr in der List, aber ich bin noch oft hier in der Lister Meile."

KRANKENSCHWESTER, 58

soziale Beziehungen / Toleranz:"Man kennt sich und trifft sich. Konflikte gibt es keine, die Penner sind doch immer dieselben."

EINZELHANDELSKAUFMANN, 46

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Aneignung ist Inanspruchnahme, temporäre Teilhabe an und Inbesitznahme von Raum.

Raumaneignung hat aber nicht nur mit eigenen Wünschen zu tun, sondern ist Abbild gesellschaftlicher Machtverhältnisse, rivalisie-render Ansprüche und sozialer Konflikte.

Nicht jeder Mensch verfügt über dieselben Voraussetzungen, um sich Raum anzueignen. Nicht nur Alter spielt eine Rolle, sondern auch Geschlecht, nicht nur finanzielle Möglichkeiten, sondern auch Herkunft, Habitus und Auftreten sowie Ansehen und Akzeptanz durch andere Nutzer/inn/en.

Doch selbst wenn jemand über alle diese Formen von Kompetenzen und Kapital ver-fügt, vollzieht sich Aneignung nicht automatisch.

Der vorgefundene soziale und bauliche Raum muss attraktiv und anziehend erscheinen,

zudem muss eine konkrete Gelegenheit und genug Offenheit für die gewünschte Aneig-nungshandlung vorhanden sein.

Ob und wie sich Menschen nun den konkreten öffentlichen Raum aneignen können und wollen, soll am Beispiel zweier elementarer und alltäglicher Nutzungen aufgezeigt werden: das Verweilen in Form des Sitzens und Stehens.

Orte in der Bahnhofsstraße und Lister Meile, die sich in Beobachtungen als Sitzplätze oder Stehplätze erwiesen haben, werden fokus-siert hinsichtlich dieser Fragen:

A N E I G N U N G

ERGEBNISSE

SITZPLÄTZE: WEITGEHEND GUT GESTALTET FÜR ANEIGNUNG; STEHPLÄTZE: NUR MITTELMÄSSIG GESTALTET, WENN ÜBERHAUPT BEDACHT; ANEIGNUNG DADURCH EINGESCHRÄNKT

Untersuchungsräume im städtischen Kontext:Grundriss der Raumachse

Lister Meile

Bahnhofsstraße und Niki-Promenade

3Nehmen Sie Platz! Aneignung von und Identifikation mit Räumen

Die Aneignung des Raumes ist das Resultat der Möglichkeiten, sich im Raum frei bewegen, sich entspannen, ihn besitzen zu können, etwas empfinden, bewundern, träumen, etwas den eigenen Wünschen, Ansprüchen gemäßes tun zu können. PAUL-HENRY CHOMBART DE LAUWE 1977

Welche Bedingungen und Kriterien fördern oder behindern das Stehen oder Sitzen im öffentlichen Raum?

Was genau macht es aus, dass räumliche Situationen und Strukturen gerne genutzt werden?

SITZEN:Bedarf an Optionen ohne Konsumzwang;

Ausrichtung: Blick muss in belebte Zonen weisen, Rücken sollte geschützt sein;

Grundversorgung an klassischen Holzbän-ken in geringen Abständen für Ältere wichtig; unkonventionell (auf Mauern, Brunnen, Pollern, Stufen, etc.) ist zusätzlich wichtig für junge Leute oder in Phasen hoher Frequentierung

STEHEN:benötigt Gestaltung und das gewisse "Etwas";

Ausrichtung: Blick in belebte Zonen, nach hinten anlehnen oder nach vorne abstützen;

Grundversorgung selten gewährleistet, weil kaum planerisches Augenmerk auf gutes Stehen gerichtet wird. bevorzugte Zonen: Ränder, Fassaden, Über-gangszonen von einem Raum in den nächsten;

KRITIK DER STEHPLÄTZE IN LISTER MEILE / BAHNHOFSSTRASSE:

*

*

Stehplatz an ÜbergangszoneManko: fehlende Radständer verbauen beste Plätze Notlösung mangels besserer Optionen Stehplatz mit Stütze nach vorne

Stehplatz mit Stütze nach hinten, Notlösung statt Genuss

Stehplätze werden höchst selten sorg-fältig gestaltet, Stehen erfolgt daher kaum oder pragmatisch in den am wenigsten unschönen Situationen;

eher Notlösung als explizite Form der Raumaneignung, weitergehende Belebung der öffentlichen Räume dadurch verhindert;

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VORSCHLÄGE UND DENKANSTÖSSE

Strategien und KonzepteAus den thematischen Untersuchungen lassen sich Notwendigkeiten und Voraussetzungen für eine lebenswerte Stadt ableiten.

Aus- und Abgrenzungen können und sollen in der lebenswerten Stadt nicht verhindert werden, denn sie sind menschlich. Allerdings ist eine Stadt nur dann lebenswert für alle darin lebenden Menschen, wenn Aus- und Abgrenzungen nicht systematisch, grundsätzlich und immerwährend in densel-ben Mustern verlaufen und öffentliche Räume in der Stadt dadurch zu No-Go-Areas für bestimmte Menschen werden. Den Interessen und Bedürfnissen unterschiedlicher Gruppen und Individuen muss (sozialer wie baulicher) Raum zugestanden werden.

Sicherheit scheint für unsere vergleichs-weise geordnete, sichere Gesellschaft nicht der wichtigste oder gar einzig entschei-dende Faktor zu sein. Allerdings hängt Sicherheit von diversen Einflüssen ab, wie Belebtheit, Intensität von Kontrolle, An-wesenheit anderer Menschen etc., so dass Sicherheit oft implizit eine Rolle spielt und für die Idee der lebenswerten Stadt dem-entsprechend berücksichtigt werden sollte.

Aneignung und Identifikation sind Prozesse, die in einer lebenswerten Stadt von hoher Relevanz sind. Vielfältige Nutzungen, intensiv oder flüchtig, aufhaltend oder durch-querend, individuell oder kollektiv, vorge-sehen oder spontan entdeckt, signalisieren Le-bendigkeit und gute Gestaltung. Die Spiel- und Handlungsräume der Menschen werden da-durch erweitert, öffentliche Räume werden zu Lebensräumen und Öffentlichkeit als elemen-tarer Ausdruck von Menschsein entsteht.

Charakter der VorschlägeDie Vorschläge, die ich für die defizitären Räume im Folgenden unterbreite, haben kon-zeptuellen Charakter. Sie sind nicht gemeint als konkrete oder eins zu eins umsetzbare Entwürfe, sondern sie wollen vielmehr Handlungsspielräume zeigen sowie Denk-horizonte eröffnen und erweitern.

Sie sind bildhaft, arbeiten mit Gesten,wecken Assoziationen, gehen spielerisch mit Problemen und Konflikten um und verweisen durch ihre 'Unmöglichkeit' über sich selbst hinaus auf eine abstrakte Ebene, um Potenziale der Räume zu verdeutlichen.

DefiziteIm Sinne der lebenswerten Stadt bestehen sowohl Defizite hinsichtlich der Berücksichti-gung der Interessen bestimmter Gruppen von Menschen, als auch räumliche Defizite, die es auszugleichen gilt.

Vor allem an folgende Gruppen und Menschen muss gedacht werden:

*

*

*

*

*

Funktionierende öffentliche Räume sehe ich in den Teilräumen der Niki-Promenade, der Bahnhofsstraße, der Lister Meile und des Lister Platzes. Für defizitär dagegen halte ich den Ernst-August-Platz, die Passerelle, den Raschplatz, den Andreas-Hermes-Platz und den Weißekreuzplatz.

Es sind die Begegnungen mit den Menschen, die das Leben lebenswert machen. GUY DE MAUPASSANT (1850-1893)

Defiziträume im städtischen Kontext:Grundriss der Raumachse

Weißekreuzplatz

Andreas-Hermes-Platz

Raschplatz

Passerelle

Ernst-August-Platz

marginalisierte und mittellose Gruppen, wie Obdachlose, Bettelnde und Trin-ker/inn/en. Sie benötigen Freiraum und öffentlichen Raum, in dem sie "sein" dürfen.

auffällige, unangepasste Jugendlicheund Punks. Beständige Ausgrenzung und Vertreibung erzeugt nur verzweifelte Gegenreaktionen.

Menschen mit geringer Kaufkraft be-nötigen Räume, an denen sie ohne Konsum-zwang gleichberechtigt teilhaben können;

alte Menschen brauchen gut ausgestatte-te Raumnetzwerke zum Pausieren und Niederlassen, die zudem Orientierung und Sicherheit vermitteln;

Kinder brauchen öffentliche Räume, in denen sie die Welt (der Erwachsenen) erfahren können, anstelle abgegrenzter Spielplatzghettos;

Ernst-August-Platz: schlechte Sitzgelegenheiten Passerelle: weitgehend leer und dunkel Raschplatz: ungefasste Ränder, leere Mitte Andreas-Hermes-Platz: ungenutzt und öde Weißekreuzplatz: Nutzungskonflikte

DIE DEFIZITRÄUME

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ERNST-AUGUST-PLATZ: MOBILE STÜHLE

VORSCHLAG

Als Strategie der Aufwertung und Verbes-serung der mangelhaften Sitzsituation am Ernst-August-Platz schlage ich - wie auch schon das Büro Ohrt/von Seggern - mobile Stühle als starke Geste für offene Aneignung und die Aufforderung zum Platznehmen vor.

Vorteile: florierende Kommunikation, hohe Identifikation, steigende Verweildauer, Freude gerade bei älteren Menschen, flexible Nutzung, genaues Austarieren für den besten Sitzplatz möglich; (VON SEGGERN 2002)

oben: Originalfoto des Ernst-August-Platzesunten: Fotomontage des Ernst-August-Platzes mit

mobilem Gestühl aus dem südfranzösischen Cannes

MOBILE STÜHLE LADEN ZUR ANEIGNUNG UND ZUM AUFENTHALT EIN; DIE LOCKERHEIT DER GESTE VERBESSERT DIE GESAMTE ATMOSPHÄRE IM SINNE DER LEBENSWERTEN STADT

Experimente mit den Stühlen zeigen, dass das lockere Sitzen auf dem Platz, an Stellen mit gutem Blick und zum 'Sehen und Gesehenwerden' möglich ist und 'ankommt'. Die offene, lebendige Atmosphäre gewinnt. HILLE VON SEGGERN 2002

Tor zur Stadt, Begegnung mit dem Fremden, Repräsentativität, Sammel- und Verteiler-becken für Ankommende und Abfahrende

einheitliche Platzgestaltung, viel Bewegungs- und Aufenthaltsraum durch wenige, klare Gestaltungselemente, Attraktoren: Brunnen / Eiscafé / Treffpunkt "unterm Schwanz"

mangelnde oder schlecht positionierte Sitzgelegenheiten ohne Konsumzwang

CHARAKTER

STÄRKEN

DEFIZIT

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PASSERELLE: LIEGELANDSCHAFT UND WELLNESSZONE

VORSCHLAG

Um die Stärken der jetzigen Passerelle zu erhalten und durch neue Qualitäten zu er-gänzen, wird eine ruhige, gemütliche Liege-landschaft vorgeschlagen, die das Ausruhen, Entspannen und Relaxen sowie Distanz zu den Menschenmassen der City ermöglicht.

Vorteile: intime Oase für gestresste City-gänger/inn/en, ideal für die beim Shopping platt gelaufenen Füße; Nischen und Versprünge der Passerelle genutzt; Wände als Projektionsflächen für Filme und Musik;

oben: Originalfoto der Passerelleunten: Fotomontage der Passerelle mit IKEA-Sessel 'Karlskrona'

und Liegepolstern des österreichischen EXPO 2000-Pavillons

KLEINE GESTEN WIE DIESE KÖNNEN AUSREICHEN, UM DER PASSERELLE EINEN NEUEN, GUTEN RUF ZU VERSCHAFFEN UND DENNOCH QUALITÄTEN WIE RUHE UND DISTANZ ZU BEWAHREN

Der Ausbau einer weiteren schicken Shopping- und Konsummeile wäre an dieser Stelle fehl am Platz und schädlich für die Wegebeziehungen zwischen City und Oststadt. Gerade für Menschen mit geringer Kaufkraft, für Ältere ohne Ellbogen zum Drängeln, für Jugendliche mit Skate- und Kickboards, für Kita-Gruppen, für Eltern mit Kinderwägen etc. ist die Passerelle ein wichtiges Wegeangebot. SAILER 2003

Tunnel, Unterführung, unbelebt; Ort der Durchwegung; 70er Jahre Flair; Beton, massiv, drückend; schlechter Ruf als Ort von Kriminalität und Drogenszene

ruhig, kühl; schnelle und bequeme Alternative zum hektischen Bahnhofs-durchgang

schmuddeliger, abweisender Eindruck; ge-miedener Angstraum; schlechter Ruf

CHARAKTER

STÄRKEN

DEFIZITE

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RASCHPLATZ: WALD

VORSCHLÄGE

Aneignung benötigt Sitzgelegenheiten. Mobile Stühle wie am Ernst-August-Platz können so-wohl die schwierige Standortentscheidung er-leichtern, als auch den Zusammenhalt zwischen Bahnhofsvorderseite und -rückseite stärken.

Zudem schlage ich eine dichte, waldartige Begrünung vor. Die entstehende Irritation kann helfen, das Potential des Platzes zu ver-deutlichen. Je nach Anordnung können die Bäume die Zweigeschossigkeit überbrücken, aber auch Ränder wie Mitte formen.

oben: Originalfoto des Raschplatzesunten: Fotomontage des Raschplatzes

mit Stadtwald Eilenriede aus Hannover

UNGEWÖHNLICHE UND IRRITIERENDE IDEEN (WALD INMITTEN VON URBANITÄT) LEGEN POTEN-ZIALE OFFEN; ANEIGNUNG UND ATTRAKTIVITÄT WERDEN GESTÄRKT

Was wäre schöner, als sich nach einem spannenden Kinobesuch dem Rauschen der Blätter im neuen Raschplatzwald hinzugeben und aufeinem mobilen Stuhl sitzend, mit Freunden und Freundinnen den Abend ausklingen zu lassen? SAILER 2003

urban; Partyszene und deren Attraktoren (Kinos, Restaurants, Discos, Clubs); 70er Jahre Flair; Beton, massiv;

zentral; charmant, urban, belebt bei Nacht;

mangelnde Orientierungsmöglichkeiten; mangelhafte Gestaltung durch leere Mitte und ungefasste Ränder; fehlende Aneignung und fehlende Attraktionen bei Tag;

CHARAKTER

STÄRKEN

DEFIZITE

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ANDREAS-HERMES-PLATZ: STRAND STATT WÜSTE

VORSCHLÄGE

Als Vorbild meines Vorschlages, einen Strand am Andreas-Hermes-Platz entstehen zu lassen, fungiert eine temporäre Installation von 1999 am Berliner Alexanderplatz, die eine vor-handene ungenutzte Fläche mit einfachen Mitteln manipulieren und neu codieren wollte, um Entwicklungspotenzial aufzuzeigen.

Im spielerischen Bezug auf die aktuelle, beinahe wüstengleiche Situation wird Raum umge-deutet und mit Handtüchern und Sonnen-schirmen zum Strand aufgewertet.

oben: Originalfoto des Andreas-Hermes-Platzesunten: Fotomontage des Andreas-Hermes-Platzes mit Schirmen und

Handtüchern des temporären Projektes "Titanic" von Jörg Rekittke, Berlin

DURCH UMCODIERUNG EINES RAUMES WIRD SEIN ENTWICKLUNGSPOTENZIAL DEUTLICH;BEACH FEELING ALS NEUER ATTRAKTOR UND AUSGANGSPUNKT FÜR RAUMWAHRNEHMUNG

Viele Besucher, die sich auf das Experiment, sich hinzulegen, die Augen zu schließen und einige Minuten zu verweilen, einließen, berichteten hinterher, wie sich innerhalb kürzester Zeit die Geräusche der Straße und des Schienenverkehrs in das angenehme Rauschen eines großen, urbanen Ozeans verwandelten. BAUWELT 1999 ZUM VORBILDPROJEKT "TITANIC" VON JÖRG REKITTKE

Brache, Wüste; groß und leer; Mischung aus Quartiersplatz und zentralstädtischem Platz;

zentral und doch abgeschieden; Potenzial durch Größe und gut erreichbare Lage; einzelne gute Gestaltungselemente (Was-serwand, Brunnen, etc.)

mangelnde Wahrnehmung durch fehlende Attraktionen; mangelhafte Gesamtgestaltung;

CHARAKTER

STÄRKEN

DEFIZITE

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WEISSEKREUZPLATZ: PARADIESPARK DURCH PLANUNGSPROZESS

VORSCHLÄGE

Damit Zusammenleben möglich ist und Nutz-ungskonflikte vermieden werden, ohne dass Eltern, Kinder, Ältere etc. den Weißekreuz-platz für ihre Ansprüche abschreiben müssen, soll ein Planungsprozess initiert werden.

Vorbild ist das Projekt Parkfiction aus Ham-burg, das künstlerisch, konzeptuell und basis-demokratisch die Wunschproduktion ankur-belte und kollektive Prozesse organisierte, um unterschiedliche Interessen füreinander fruchtbar zu machen.

oben: Originalfoto des Weißekreuzplatzesunten: Fotomontage des Weißekreuzplatzes mit

Bildern von Parkfiction von der Documenta 2002

DER PARK VERSPRICHT, WAS DIE WELT SEIN KÖNNTE: WÜNSCHE UND SEHNSÜCHTE KÖNNEN KOMMUNIZIERT WERDEN; INTERAKTION UND BETEILIGUNG ALS MITTEL FÜR TOLERANZ

Eines Tages werden die Wünsche die Wohnung verlassen und auf die Straße gehen. Sie werden dem Reich der Langeweile, der Verwaltungdes Elends ein Ende bereiten. (...) Der Park ist ein utopischer Ort, sein Vorbild ist das Paradies. Der Park verspricht, was die Welt sein könnte.

PROJEKT PARKFICTION, HAMBURG

Mischung aus Quartiersplatz und zentral-städtischem Platz; grün;

grüner Charakter, Bäume; gute und attraktive Fassung durch gründerzeitlichen Städtebau; gute und belebende Lage entlang Lister Meile und am Eingang zum Pavillon;

dominante und abschreckende Nutzung durch Punks, Obdachlose und Trinker/inn/ en; Verschmutzung durch Hundekot;

CHARAKTER

STÄRKEN

DEFIZITE

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SCHLUSSGEDANKEN

Im Vergleich mit der Vitalität der Gesellschaft kommen einem Architekten und Freiraumplaner eher wie ewige Zuspätkommer als wie Avantgardisten vor, vereinzelt gar wie verkalkte Hinterwäldler. Ich liebe Neapel, denn diese Stadt vereint Gegen-sätze - das Schöne und das Hässliche, das Leichtlebige und das Schwere, das Aufgeräumte und das Ungeordnete, kurz: das Doppeldeutige, das Leben selbst.

JEAN-PIERRE CHARBONNEAU, FRANZÖSISCHER PLANER 1999

Eine Stadt, die für ihre Bewohner/inn/en einen hohen symbolischen, wie praktischen Wert hat und dadurch Lebensqualität in und mit Hilfe von öffentlichen Räumen fördert, ist ein wichtiges Ziel für die Zukunft.

Nach dem Soziologen Zygmunt Bauman ist das moderne Leben in seinem Wesen ein Stadtleben. Stadt als Lebensform wird in Theo-rie und Praxis oft als Ort von Fortschritt, Emanzipation, Freiheit und Pluralität gelobt.

Und noch immer wollen 77% der Menschen "citynah" wohnen, wie eine Studie von STERN und Schwäbisch Hall ergab, allen Tendenzen der Suburbanisierung und der Stadtflucht in die Idylle und vorgeblich heile ländliche Welt zum Trotz.

Das Aufregende der Stadt ist jedoch nicht ohne Konfliktlosigkeit erlebbar oder in den Worten von Bauman: "Das Ideal einer glücklichen Stadt verlangt nach einem Kompromiss, der eine subtile Balance zwischen Möglichkeiten und Gefahren ansteuert und einen Ausgleich zwischen widerstreitenden Anforderungen bewirkt."

In diesem Sinne habe ich die Konstitution der öffentlichen Räume in Hannover untersucht, um Bedingungen und Voraus-setzungen für eine lebenswerte Stadt der Zukunft deutlich zu machen.

Attraktivität und Lebensqualität von öffent-lichen Räumen und damit gleichzeitig einer ganzen Stadt hängen nicht nur von Ästhetik

ab, sondern vielmehr von Nutzbarkeit, vielfältigen Angeboten, expliziten Einla-dungen und ausreichend Offenheit auch für spontanes menschliches Handeln.

Nur allzu oft sind beispielsweise Trampelpfade traurige Zeugen dessen, dass andere Dinge im Vordergrund der Planung standen, als die Routen und Alltagswege der Menschen.

Planung schafft und bestimmt Lebensräume und müsste daher mehr als bisher am menschlichen Verhalten ausgerichtet werden. Wenn Architekt/inn/en und Planer/inn/en sich ein wenig dessen zu Herzen nehmen, könnten unsere Städte in Zukunft vielleicht wirklich lebenswerter werden.

DANKE

DANKEAll denen, die diese Ausstellung ermöglicht haben, gilt mein herzlicher Dank.Herrn Michael Heesch, Leiter des Stadtplanungsamtes, danke ich für seinen Einsatz, diese Ausstellung in den Räumlichkeiten der Bauverwaltung zu zeigen. Frau Rita Kulbe von der Stadtverwaltung danke ich für ihr Engagement, für Ausdauer und Geduld bei terminlichen Absprachen, für hilfreiche Tipps und technische Unterstützung.Frau Prof. Dr. Barbara Zibell hat mich nicht nur während meines Diploms ermuntert, meine Ziele zu verfolgen, sondern hat auch maßgeblich dazu beigetragen, dass aus meiner Diplomarbeit eine Ausstellung werden konnte. Für ihr Engagement, die andauernde Motivation und inhaltliche Anregungen bedanke ich mich herzlich.Nicht zuletzt hat sich der Freundeskreis des Fachbereichs Architektur dankenswerter Weise an der Finanzierung der Ausstellung beteiligt. Ohne diese Unterstützung hätte es die Ausstellung nie gegeben.

Natürlich gilt mein Dank an dieser Stelle auch all jenen, die dazu beigetragen haben, dass meine Diplomarbeit zu dem wurde, was sie ist. Prof. Dr. Barbara Zibell hatte stets ein offenes Ohr für mich. Ihrer intensiven und engagierten Betreuung habe ich viel zu verdanken. Meiner Zweitprüferin Dr.-Ing. Silke Claus verdanke ich kritische Fragen und wichtige Anmerkungen zur richtigen Zeit.Planunterlagen stellten die Stadt Hannover sowie die Hannover Region Grundstücksgesellschaft (HRG) zur Verfügung. Für Expert/inn/engespräche und bereitwillige Auskünfte bin ich dem Stadtplanungsamt (Herr Göbel-Groß/Herr Göpel), der Polizeidirektion (Herr Hollstein/Herr von Cyrson), der HRG (Herr Raddatz) sowie zahlreichen Passant/inn/en zu Dank verpflichtet.Ein herzliches Dankeswort möchte ich denen widmen, die auf die eine oder andere Art zum Gelingen beigetragen haben: Bettina Adolphs, Sarita Batra, Ortrun Bertelsmann, Christian Sailer und Jens Seidel.

Trampelpfade über den Weißekreuzplatz: selbst für ältere Menschen keine besondere Regelüberschreitung