Die Originalausgabe erschien - Suhrkamp Verlag · die Piñata einschlug, und hattedie anderen Jungs...

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Die Originalausgabe erschien unter dem TitelThe Bones of Grace bei Canongate Books, Great Britain

Copyright © , Tahmima AnamAll rights reserved

Erste Auflage Deutsche Erstausgabe

© der deutschen Ausgabe Insel Verlag Berlin

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere dasdes öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung

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Satz: Satz-Offizin Hümmer GmbH,WaldbüttelbrunnDruck: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm

Printed in GermanyISBN ----

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Ich habe dich heute gesehen, Elijah. Du hast die Straße über-quert. An der Ecke von Massachusetts Avenue und HarvardStreet gibt es ein Gebäude, das wie eine Miniaturausführungdes Flatiron Building in New York aussieht. Du hattest demGebäude den Rücken zugekehrt, und als der kleine weiße Fuß-gänger zu blinken begann, bist du vomBürgersteig auf die Stra-ße getreten – da habe ich dich bemerkt. Du hast eine kleineHandbewegung gemacht, so als hättest du mich erkannt undwürdest mir winken. Aber es war nur eine unbedeutende Be-wegung, die nichts zu sagen hatte, eine Geste der Abwehr ge-gen die kalte Novemberluft, und bevor dumeinen Blick bemer-ken konntest, flüchtete ich.Ich wusste, dass es nur eine Frage der Zeit war, bevor wir

einander über den Weg laufen würden. Cambridge, MA, isteine kleine Stadt, der Radius ist beschränkt. Seit drei Monatenbin ichwieder da und habe jeden Tag gehofft und nicht gehofft,dass du es bist im flüchtig erahnten grauenMantel, dass es dei-ne Beine sind in einem Paar weiter Hosen. Dass deine Stimmevor mir einen Kaffee bestellt.Diana hat mich wieder hergelockt. Sie ist hier in meiner

Hand – oder zumindest ein kleiner Teil von ihr. Ihr Fußknöchelist heller und leichter, als ich gedacht hatte – er hat im Laufeder Jahrmillionen an Gewicht verloren. Aber dass sie über-haupt hier ist, hier in diesem Labor, in dieser Stadt, in dermein Traum von ihr begann – und mein Traum von dir –,das ist wie einWunder. Als wir sie in Dera Bugti zurückließen,

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glaubte ich, ich würde sie nie wiedersehen. Ich glaubte, derWal auf Beinen würde für immer im Sand begraben und dasRätsel ewig ungelöst bleiben. Aber zu Beginn des Jahres erhieltich einen Brief auf Urdu, den meine Mutter mir widerwilligübersetzte:

Liebe Miss Zubaida Haque,

hier ist ein Geschenk von unserem verstorbenen Freund Zam-zam. Ich verstehe nicht, warum jemand bereit ist, für so etwaszu sterben, aber vielleicht verstehen Sie es ja. Er hat einen Briefherausgeschmuggelt, in dem er mich gebeten hat, seinen Schatzzu heben und an Sie zu schicken.Mir bleibt keine andere Wahl, als die Pflicht gegenüber mei-

nem verstorbenen Bruder und Kampfgefährten zu erfüllen.Wir haben die Wüste nach Ihrer Diana abgesucht, und jetztschicken wir sie Ihnen zu, ein Stück nach dem anderen. Ichweiß nicht, welche Bedeutung diese Knochen haben, aber wennSie diese Zeilen lesen,wissen Sie, dass unser Freund einen letztenWunsch hatte, und meine Aufgabe ist es, ihn zu erfüllen.

Ich wollte nicht glauben, dass dieser Brief echt war – konnte eswirklich sein, dass Zamzam mir nach so vielen Jahren desSchweigens half zu vollenden, was wir zusammen begonnenhatten? Aber es gab keine andere Erklärung für die Nachrichtdes Fremden – außerdem kannte er ihren Namen: Diana. Ichantwortete mit der genauen Anschrift des Fachbereichs undbot meine Hilfe bei der Begleichung der Transportkostenund dem Ausfüllen der Formulare an, die Fossilien das Passie-ren von Grenzen ermöglichen. Dann stieg ich ins Flugzeug,kam hierher nach Boston und wartete.Als der Pappkarton ankam, war er dick mit Klebeband um-

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wickelt. Darin lag in zerknülltem Zeitungspapier, ummanteltvon rotem Sedimentgestein, das Sprunggelenk aus Dianas Fuß.Als ich die Verpackung in der Hand hielt, brannten mir dieTränen in den Augen. Ich wusste augenblicklich, dass damitmein lang gehegter Traum in Erfüllung ging. Und es ist zu-gleich mein letzter Appell an dich. Diana zuliebe bin ich hierweggegangen, und Diana zuliebe bin ich zurückgekehrt. Fürmich ist sie der Geist des Kommens und Gehens, ein Leucht-feuer, das mich über die Kontinente und durch die Zeiten leitet.Ich lebe in der Hoffnung, dass sie mich zu dir zurückführenwird.Im Kopf schreibe ich diese Geschichte wohl schon seit ge-

raumer Zeit; aber als ich Dianas Knochen zum ersten Mal inder Hand hielt, wurde ich von einer Wortlawine überrollt,und ich lief schnell heim, um sie aufzuschreiben. Lange habeich auf diesen Augenblick gewartet, Elijah, auf den Tag, an demich Rechenschaft ablegen kann, und Zamzam hat mir meinenWunsch aus dem Grab heraus erfüllt. Diana ist hier, ich habedich gesehen, und jetzt kann ich alles erzählen – nicht nurvon dir, der Liebe meines Lebens, und nicht nur von Ambulo-cetus, sondern auch von Anwar, dem Mann, der mich zu mei-ner Mutter führte, und von der Grace, dem Schiff, das vor un-seren Augen zu Staub zerfiel. In meiner Geschichte geht es umeinen Wal, eine Frau und ein Kind, einen Konzertflügel undeinen Mann, der so lange und inständig nach seiner Geliebtensuchte, bis er schließlich mich fand. Aber du hast mich zu frühunterbrochen. Ich bin noch nicht so weit, und erst, wenn ichfertig erzählt habe, wird es einen Ort geben, an dem wir unswieder begegnen können.

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Präludien

Der erste Satz, den ich zu dir sagte,war: »An meinem neuntenGeburtstag habe ich erfahren, dass ich adoptiert bin.« Und duhast geantwortet: »Aristoteles war Waise.« Und ich habe er-widert: »Und der Prophet Mohammed auch.« An jenem Kon-zertabend riefen die Musik und die Hitze des Spätsommersden Tag in meinem Gedächtnis wach, an dem meine Elternmir gestanden hatten, dass ich ein Adoptivkind war. Etwasin der Art hatte ich allerdings von früh auf schon geahnt. Icherinnere mich,wie meine Eltern mir nach demKindergeburts-tag, als alle Gäste heimgegangen und nur noch der Geruchnach Brathähnchen, die abgerissenen Ecken von Geschenkpa-pier und zertretene Kartoffelchips zurückblieben, erzählten,dass sie mich zwei Jahre nach ihrer Hochzeit, fünfzehn Jahrenach dem Krieg, adoptiert hatten. Ich habe später fast nie anmeinen neunten Geburtstag gedacht, aber als ich dich kennen-lernte, Elijah, stand er mir auf einmal wieder ganz deutlich vorAugen. Mein Vater hatte eine Piñata für mich gebastelt, diedie Bonbons auf den Rasen spuckte, und einer meiner Klassen-kameraden hatte sich den Stock geschnappt, mit demman aufdie Piñata einschlug, und hatte die anderen Jungs damit bis ineine schattige Ecke des Gartens verfolgt, wo dick und verfilztSpinnweben hingen. Ich weiß noch, dass ich zwischen meinenEltern saß, als sie mir die Geschichte erzählten, einer hielt mei-

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ne rechte Hand, der andere meine linke: Sie hätten sich so sehrein Baby gewünscht, und dann sei dasWunder geschehen, undsie hätten mich gefunden. Ich weiß noch, dass mir urplötzlichspeiübel wurde und mein Erbrochenes von den vielen Bon-bons orange gefärbt war. An diese Farbe erinnere ich mich be-sonders deutlich, weil wir damals abends kein Wasser in derWC-Spülung hatten und ich sechs Becher voll aus dem Eimerin die Schüssel gießenmusste, bis alles abgeflossen war. An die-sem schwülheißen Abend in Cambridge waren diese Erinne-rungen mit einem Mal wieder da. Es war Spätsommer, kurzvor Semesterbeginn, und der Campus wie ausgestorben. Ichwar mit den letztenVorbereitungen für meine Forschungsreisebeschäftigt, auf der ich nach einem vollständigen Skelett desUrwals Ambulocetus natans graben würde, und meine Erinne-rung vermischte sich mit den Gedanken an den Auszug ausder Wohnung, die mir bevorstehende Reise, die Ausgrabung,an die Vorfreude auf den Augenblick, in demwir das Fossil fin-den und ans Licht der Welt bringen würden – eine Revolutionfür unser Verständnis vom Verhältnis zwischen Festland undMeer. Zwischen der Erinnerung und der Erwartung tat sichein Spalt auf, eine Pause, in der sich alles verlangsamte, einZwischenmoment,weder hier noch dort – und in diesen Spaltfielst du: ein Mann mit Klavierhänden und Wintergeruch amKragen.An diesem Abend war ich bei einem Konzert im Sanders

Theater. Ich hatte bereits einige Abende in dem holzgetäfeltenKonzertsaal verbracht und genoss jetzt, kurz vor meiner Abrei-se, diesen Luxus als eine Art Coda auf meine sieben Jahre inAmerika. Ich verlor mich in der klassischen Musik, die michtrotz der für die Ohren einer Bengalin ungewohnten Klängeimmer berührte. Hinterher vergaß ich die Musik meist wieder,außer einmal, als Yo-Yo Ma Bachs Cellosuiten spielte. Es war

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eher ein Interview als ein Konzert, und er spielte nur am Endeein paar Minuten, aber die waren reinste Magie und das einzi-ge Mal, dass ich mir wünschte, ich könnte dieses Gefühl mitjemandem teilen.Als ich an die Kasse kam, erfuhr ich, dass Präludien und

Fugen von Schostakowitsch auf dem Programm standen.Schostakowitsch kannte ich nur dem Namen nach, über dieMusik wusste ich nichts. Ich sah einen Flügel auf der Bühne,dann ging das Licht aus, und zu meiner Überraschung trateine zierliche Frau hinter dem Vorhang hervor. Sie war nichtmehr jung, vermutlich über sechzig, trug einen langen Rockund die Haare in einem grauen Knoten imNacken. Sie begannmit kurzen Stücken, jedes nicht länger als fünf Minuten. Ichfand die Musik nicht schlecht, aber auch nicht besonders auf-regend. Die Stücke begannenmit einem romantischen Auftaktund wurden dann allmählich distanziert, fast intellektuell. Ichkonnte wenig damit anfangen. Irgendwann bemerkte ich denMann, der zu meiner Linken saß: Dich, Elijah, wie du mit denFingern auf dein Knie trommeltest, das abgewetzte Materialdeiner Jeans, deine Füße in den Sandalen und den Leinenbeu-tel unter deinem Sitz.Ich habe dir zwar mehrmals einen Blick von der Seite zuge-

worfen, aber du hast nicht zurückgeschaut. Abgesehen von derKlavierhandwar alles an dir sehr reglos. Diese Reglosigkeit ver-wunderte mich. Ich folgte deinem Blick, der konzentriert aufden Scheinwerferkegel mit dem Instrument in der Mitte ge-richtet war, auf die über die Tasten fliegenden Finger der Pia-nistin, und die Ernsthaftigkeit deines Blicks veranlasste mich,es dir gleichzutun und richtig hinzuhören. Am Ende vonFuge Nr. spürte ich ein kleines Beben in meiner Brust, undnach Nr. , die erst zart, dann triumphal war, wurde der Tre-mor in mir immer stärker, stieg nach oben und schnürte mir

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am Ende des Stücks die Kehle zu. In diesem Augenblick warendie Erinnerungen alle wieder da: der Kindergeburtstag, dasGeständnis meiner Eltern, dass ich in jener Nacht zwischen ih-nen schlafen durfte, der besorgte Atem der beiden über mei-nem Gesicht. Bevor ich wusste, wie mir geschah, liefen mirim Konzert die Tränen über das Gesicht, und ich konnte mitknapper Not einen lauten Seufzer unterdrücken, als das nächs-te Stück begann. Ich schlang die Arme ummich,versuchte, das,was ausbrechen wollte, einzudämmen, und da hast du schließ-lich doch denKopf gedreht und gesehen, dass ich weinte. TrotzDunkelheit sah ich dem Umriss deines Gesichts an, dass duernst, aber in keiner Weise beunruhigt warst. Du hast deineHand auf den Ärmel meiner Bluse gelegt, und die Wärme dei-ner Berührung strahlte vonmeinemOberarm bis über die Schul-tern aus. Erst beruhigte mich deine Berührung, doch dann, alsdas Stück zu Ende war und du deine Hand wegzogst, empfandich eine schreckliche Verlassenheit – niemand wohnte mehr inmeinem Körper als die Einsamkeit.Wir wechselten die ersten Sätze miteinander. Im Nachhin-

ein betrachtet seltsam, sich einander so vorzustellen, aber da-mals erschien es mir völlig natürlich. Deine Stimme klang tiefund entspannt in der Stille. Du nahmst meine Hand, und dasBlut floss in die Finger, sammelte sich unter der Haut, als woll-te es herausspringen und sich mit deinem vermischen, und sosaßen wir bis zur Pause da. Das Herz hämmerte in meinerBrust, als die erste Hälfte zu Ende war und das Licht im Saalanging.In der plötzlichen Helligkeit fiel mir als Erstes auf,wie weiß

du warst, dass du blaue Augen und einen Bart hattest, der we-der ungepflegt noch besonders gestutzt aussah. Ich rieb mirdie Spuren der Tränen aus dem Gesicht. Ich zog meine Handschnell zurück, als ich die anderen Zuschauer sah, die hinaus

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in die Pause gingen, und fragte mich, ob mich jemand erkannthatte. Du hast gefragt, ob ich ein Glas Wasser wollte, und ichhätte gern ja gesagt,wollte aber nicht, dass du auf Nimmerwie-dersehen verschwindest. Schließlich wurde es wieder dunkelund das Konzert ging weiter. Das Publikum wirkte jetzt unru-hig; auf den schmalen Holzbänken direkt vor der Bühne rutsch-ten die Zuschauer herum. Ich dachte wieder über das ThemaHerkunft nach. Nicht so sehr darüber,wo ich herkam, sonderndass ich inmeinen fünfundzwanzig Lebensjahren so selten dar-über nachgedacht hatte.Wie wenig Fragen ich gestellt hatte –im Grunde gar keine, wahrscheinlich, weil ich so glühend vonmeinen Eltern geliebt wurde, eine Liebe, die ich bis zu diesemAugenblick fraglos erwidert hatte.Während mir noch all dieseGedanken durch den Kopf gingen, endete das Konzert mit denenergisch über die Tasten fliegenden Pianistinnenfingern undeinem triumphalen Höhepunkt in schwierig zu greifenden Ak-korden. Die Zuschauer sprangen begeistert auf, einHain stehen-der Gestalten, und der Applaus dauerte lange, doch als keineZugabe kam, ging irgendwann das Licht an und das Konzertwar zu Ende. Als der Zuschauerraum sich leerte, standen auchwir auf. Du hast einen Schritt auf mich zugemacht und dichein wenig zurückgebeugt, damit die anderen Leute dem Aus-gang zustreben konnten. Ich atmete deinen Geruch ein: Holz-späne und schneebedeckte Bäume. Ein Kaltwettergeruch andiesem heißen, schwülen Abend.Wir musterten einander. Du hast den Blick auf mich gerich-

tet, als seien wir die beiden letzten Menschen auf der Welt.Noch nie hatte mich jemand so angesehen, mit einem so offe-nen, klaren Blick. Die meisten Menschen wollen immer amliebsten an mindestens zwei Orten zugleich sein – du nicht.Du standest da, als wärest du am Boden festgewachsen. Ichkonnte diesen Blick nur schwer ertragen, deswegen sagte ich:

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»Gut. Na dann. Tschüs.« Darüber hast du gelacht, und ich lach-te erleichtert mit.Wir gingen zum Ausgang, und ich hätte dicham liebsten gefragt, ob du die Nacht mit mir verbringen willst.Aber ich schlug dann doch nur vor, beim Koreaner eine TasseTee trinken zu gehen. Ich hatte noch nichts gegessen,war abernicht hungrig, und duhast Essen auch nicht erwähnt.Wir gingendie Mass Ave hinauf und bestellten einen Eistee, ich meinenmit Tapiokaperlen darin. Du hast mich fragend angesehen, undich erklärte, dass ich Bubble Tea in Bangkok kennengelernthätte, was nicht weit von Dhaka in Bangladesch entfernt sei,woher ich stammte. »Eine süße Überraschung unten im Tee«,sagte ich. »Probier’s mal.«Du hast mir Dinge über dich erzählt, die damals unwichtig

schienen, die ichmir aber später ins Gedächtnis zurückrief, alsich unser Zusammentreffen zu verstehen versuchte. Du hasterzählt, du hättest einen Springbrunnen aus leeren Plastikfla-schen gebaut und vor ein paar Jahren an einer szenischen Le-sung von Ulysses teilgenommen, die hundertsechsundsiebzigStunden dauerte. Ich merkte, dass ich versuchte, ähnlich ex-zentrische Geschichten zum Besten zu geben, wobei ich garnicht so schlecht abschnitt, angefangenmit der Beichte meinerEltern, und dass die Adoption danach nie wieder erwähnt wur-de, und ich auch nie fragte, weil ich mit dem Instinkt des Kin-des wusste, dass das Thema damit erledigt war.Du hattest gerade das Philosophiestudium abgebrochen und

deine Promotion an den Nagel gehängt.Warum,wollte ich wis-sen, und du hast geantwortet, so als sei es dir erst in diesemAu-genblick bewusst geworden, es bedeute dir nichts mehr.Washattest du vor? Du warst dir nicht sicher. Vielleicht würdestdu reisen, dir die Welt ansehen. Oder ein paar Jahre lang Kla-vier üben. Sehr selbstsicher hast du gewirkt, in deiner Haltung,mit deinen sorgsam abgewogenen Worten. Das war erstaun-

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lich, denn eigentlich klang es nach jemandem, der nur wenigAmbitionen oder Überzeugungen hat, dem sich nirgendwoWiderstand bietet, der ziellos in einemMeer unendlicher Mög-lichkeiten treibt.Ich sah mich um und merkte, dass wir die beiden letzten

Gäste im Café waren. Ich wollte vorschlagen, woanders hinzu-gehen, fand dann aber doch, wir sollten warten, bis das Caféschloss und uns zum Aufbruch zwang. Dein Blick war immernoch sehr direkt auf mich gerichtet, und ich rutschte auf mei-nem Stuhl herum. Dir schienen Gesprächspausen nichts aus-zumachen, aber ich hatte das Bedürfnis, die Stille zu füllen, des-wegen erzählte ich von meiner Ausgrabung. »Ich gehe nächsteWoche nach Pakistan«, sagte ich. »Wir grabenWalfossilien aus.«Ich erzählte dir, dass ich Teil einer Expedition sein würde, dienach den versteinerten Knochen desAmbulocetus natans such-te – dem schwimmenden Laufwal. »Wir hoffen sehr, dass wirdas vollständige Skelett in die USA bringen können. Die Be-ckenknochen sind besonders aufschlussreich.« Ich passte meinSprechtempo deinem an. JedesWort war langsam und bedacht.Ich fragte nach deiner Herkunft, und du hast mir die Ge-

schichte einer perfekten amerikanischen Familie erzählt. Dei-ne Eltern waren beide Profs in Harvard, mittlerweile geschie-den, aber immer noch beste Freunde, es gab drei Brüder undeine jüngere Schwester, Haus amPorter Square, Flügel imWohn-zimmer, selbstgemachte Limonade im Kühlschrank und eineKüche, die nach Holz und Kamille duftete. Kein Wunder,dass du nicht wusstest, wo es langgehen sollte. Du brauchtestdich gegen niemanden durchzusetzen und wurdest umherge-trieben wie ein buntes Blatt im Wind. Dann hast du gesagt:»Letzten Monat ist meine Großmutter gestorben. Ich gehe je-den Abend ins Sanders und höre Musik.Wenn es im Sandersnichts gibt, gehe ich zur Boston Philharmonic, manchmal

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auch ins Kino oder zu Shakespeare in the Park oder Open-Air-Konzerten an der Hatch Shell.« Zum Zeichen meines Beileidsberührte ich deine Fingerknöchel mit meiner teekalten Hand.Die Berührung schien dich zu freuen, aber es kam nichts zu-rück. Ich sagte, dass noch keiner meiner Angehörigen gestor-ben sei. Dann sagte ich: »Das klingt jetzt sicher seltsam. Aberals ich mich eben daran erinnert habe, wie ich von meinerAdoption erfuhr, das kam mir auch ein bisschen wie Sterbenvor. Als würde sich herausstellen, dass der Mensch, der ichmein Leben lang gewesen bin, eine Fälschung ist, ein Ge-spenst.«»Das muss schwer sein, dieses Nichtwissen.«»Ich fühle mich sehr allein auf der Welt.«»Ich glaube, Einsamkeit gehört zum Menschsein dazu.Wir

sehnen uns nach Zusammengehörigkeitsgefühl, nach Verbin-dung, aber wir stecken in unserem eigenen Körper fest. Wirwollen den anderen ganz und gar kennen, aber das geht nicht.Wir können nur die Hände nach einander ausstrecken.«

Das war dem, was ich ein oder zwei Stunden zuvor gespürthatte, als du mich berührt und dann die Hand wieder wegge-zogen hattest, so ähnlich, dass ich sagte: »Ich glaube, so wasSchönes hat noch nie jemand zu mir gesagt.« Du hast gelä-chelt, und deine Lippen verschwanden imBart. Du hast gesagt,wie froh du seist, die Gelegenheit zu haben, das Richtige zu sa-gen. Dann wolltest du mehr über Dhaka wissen. »Ich kenneniemanden aus Bangladesch. Ich kenne eigentlich überhauptkeine waljagenden Schostakowitsch-Fans, weder aus Bangla-desch noch sonst irgendwoher.« Das fand ich eine sehr schmei-chelhafte Beschreibung meiner Person. Ich meinte, du solltestdoch kommen und dir das Land selbst anschauen. Das wür-dest du gerne tun, hast du erwidert. Ich erzählte, dass meineEltern sich während des Unabhängigkeitskrieges kennenge-

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lernt hatten, dass dieser Krieg ihr Leben, und auch meines, be-stimmte. Ich ratterte eine Kurzfassung der Geschichte unseresLandes herunter, die ich in den vergangenen sieben Jahren oftzum Besten gegeben hatte.Das Café schloss, und wir traten hinaus in die Nacht, die

mittäglich heiß und unter den Straßenlampen taghell war.Wirbewegten uns ganz langsam in Richtung meiner Wohnung. Esschien unendlich viele Dinge zu geben, die noch gesagt werdenkönnten.Wir blieben anmeiner Straßenecke stehen undmoch-ten uns noch nicht trennen. Hätte ich in diesem Augenblickeine Vorahnung von dem haben können, was kommen sollte?Dass ich dir das Herz brechen und meine Mutter finden würde,Grace, Anfang und Ende, die Schiffsabwracker, die Entde-ckung der Liebe, der Verzicht auf die Liebe, Anwar,meineMut-ter. Aber wir verabschiedeten uns einfach und verabredetenuns für den nächsten Morgen. Als wir uns trennten, merkteich,wie ich mich innerlich von der Frage nach meiner Geburtlöste und greifbareren Dingen zuwandte, der bevorstehendenGrabung, dem in der Erde auf mich wartenden Fossil, den Lip-penpflegestiften und Zeitschriften, die ich vor dem Abflug nochkaufen musste.Duwirst dich wahrscheinlich fragen, genauwie ich so oft, in

welchem Augenblick wir uns eigentlich verliebt haben.War esauf derGrace, als du für michKlavier gespielt hast, oder vorher,als ich dich durch die fingerverschmierte Glasscheibe am Chit-tagong Airport sah, oder war es imWohnzimmer deiner Eltern,oder beimAbschied an diesem ersten Abend, an dem ichmich,von Schostakowitsch beflügelt, umdrehte, um dir hinterherzu-sehen, wie du gemächlich in deinen Sandalen und Hippieho-sen davongingst?Eins kann ich dir jetzt schon sagen: Am ersten Abend war es

nicht. An jenem Abend glaubte ich nämlich noch nicht an die

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Liebe. Ich wusste natürlich, dass es sie gab. Ich wusste, dass diemeistenMenschen ihr Leben um dieses »Liebe« genannte Prin-zip organisieren, und glaubte auch nicht, dass ich es schaffenwürde, ihr gänzlich aus dem Weg zu gehen. Aber ich war da-von überzeugt, dass ich in einer Zeit lebte, in der eine große Lie-be unmöglich war. Das hatte mit meinen Eltern zu tun und demKrieg, an dem sie teilgenommen hatten; meine Eltern warenmein Vorbild, ihre Beziehung war mein Modell für das, waszwischen zwei Menschen möglich ist. Sie hatten die Vorstel-lung fest in meinem Kopf verankert, dass die große, epischeLiebe, die Stoff von Legenden und Liedern ist und von einerLeidenschaft getragenwird, die Schönheit und Jugend zu über-dauern vermag, nur anderen Menschen passiert. Menschen,die vor meiner Zeit gelebt haben, unter schwierigen, aber ver-zauberten Umständen. Ich glaubte nicht, dass ich völlig im-mun dagegenwar – natürlich würde ich lieben und geliebt wer-den –, aber ich hatte mich in dem historischen Augenblickmeines Lebens eingerichtet, in dem alles ein bisschen kleinerund zahmer ausfiel. Tiefe Wunden und gebrochene Herzen,das war einmal.Hättest du mich gefragt, ich hätte dir nicht einen einzigen

Grund für dein Interesse an mir nennen können. Ich erklärtees mir so: (a) Ich würde Stoff für eine amüsante Anekdote ab-geben. Stellt euch vor,würdest du sagen, ich habe eine Paläon-tologin aus Bangladesch kennengelernt, und wir haben zusam-men Schostakowitsch und Nina Simone gehört, und sie stehtauf Anna Karenina. Oder (b) du hattest Mitleid mit mir. Oder(c) du warst inWirklichkeit ein unsympathischer Außenseiter,der verzweifelt nachGesellschaft suchte, und ichmerkte es nurnicht. Es gab natürlich noch eine weitereMöglichkeit, nämlichdie, dass dein Interesse an mir aufrichtig war und von Herzenkam – aber so etwas konnte ich nicht denken, weil ich dann

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mein gesamtes Selbstbild hätte kippen und zugeben müssen,dass du nach mir gesucht hattest, und das war unvorstellbar.In der Zwischenzeit hat mein Selbstbild noch mehr gelitten,

aber mittlerweile weiß ich es: Du hast mich geliebt. Du hastmich von Anfang an geliebt.Vielleicht fandest du mich schönoder interessant, aber es war mehr als das. Obwohl du äußer-lich so ganz anders warst als ich, waren wir uns im Grundesehr ähnlich. In mir hast du all das verkörpert gesehen, was duselbst fühltest: Dass du in die falsche Familie geboren wordenwarst, dass es Dinge in dir gab, die noch nie zum Ausdruck ge-kommen waren, und dass du sie möglicherweise mir würdestsagen können. Mit anderenWorten: Wir ähnelten uns sehr undauch wieder gar nicht. Und du warst weise genug, das von An-fang an zu sehen, bloß ich war blind dafür.

Als ich auf unsere Wohnung zukam, hörte ich Musik hinausauf die Straße schallen – meine Abschiedsparty. Die hatte ichganz vergessen. Ich rief Bettina an, die Anthropologin, mit derich seit dem ersten Studienjahr in Cambridge zusammenwohn-te, meine beste Freundin.»Wo bleibst du?«, fragte sie.»Ich habe jemanden kennengelernt.«»Amphibie?« »Amphibie« war unser Codewort für Leute

wie uns. Bettina war eine in Queens geborene Argentinierin, inBuenos Aires aufgewachsen, als ihre Eltern beschlossen, in dieHeimat zurückzugehen, hatte in Paris studiert und war dannmehrere Jahre durch die Welt gezogen, mit dem Rucksackdurch China, wo sie vom Affen gebissen wurde, schließlichwar sie hier in Cambridge gelandet. Ihre Eltern waren mittler-weile, durch die Erfahrungen auf der turbulenten Südhalbku-gel geläutert, in die USA zurückgekehrt und wohnten in Asto-ria, New York. »Amphibien« nannten wir Menschen wie uns,

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die zwischen allen Stühlen saßen und mit einem Bein immerirgendwo ganz anders standen. »Nein«, antwortete ich. »Siehtnach einem waschechten Ostküsten-Ami aus.«»Wenn du mir fremdgehen willst, Süße, dann komm bitte

mit ein bisschen was Spannenderem.«Ich versuchte, mir Rashids Gesicht vorzustellen und etwas

wie Zärtlichkeit oder Erregung aus meinem Gedächtnis her-aufzubeschwören, aber nichts kam. Ich sagte: »Rashid und ichsind ja nicht verheiratet oder so.«»Wo bist du? Ich höre Musik.«»Ich steh vor der Tür.«»Das können wir später ausdiskutieren. Komm rein.«Im Sommer zuvor hatte Bettina eine Klimaanlage imWohn-

zimmer installiert, sodass es in der Wohnung kühler war alsdraußen, obwohl viele Leute darin waren. Ich ließ den Blickdurchs Zimmer gleiten und sah meine Laborpartnerin, Kyung-Ju, und ein paar andere Doktoranden aus unserem Fachbe-reich, aber diemeistenwarenAnthropologen, coole und häufigdepressive Sozialwissenschaftler, die in Kleingrüppchen ins Ge-spräch vertieft waren. Bruchstücke der Unterhaltungen bekamich mit: Klagen über den neuen Fachbereichsleiter, ein Artikelfür eine Fachzeitschrift, der abgelehnt worden war, ein neuesSeminar über Semiotik, was für ein Hochstapler Slavoj Žižeksei. Ich kannte die Leute gut, sie hingen oft bei uns in derWoh-nung ab, tranken Tee und machten ironische Bemerkungen,wenn wir zusammen fernsehschauten. Meine Kommilitonenaus dem Institut für organismische und Evolutionsbiologie hin-gegen betranken sich am Wochenende lieber, schlüpften insLabor und schliefen ihren Rausch zwischen den Regalen mitderWirbellosensammlung aus. Bettina witzelte oft, ich sei im fal-schen Studiengang gelandet, aber ich fand Naturwissenschaft-ler angenehm unkompliziert; man konnte unter ihnen leben,

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ohne zu viel von sich preiszugeben, und mich zu versteckenwar damals das, was ich am liebsten tat.Die Leute wurden auf mich aufmerksam, als ich mich zwi-

schen ihnen hindurchdrückte, irgendwo in der Küche wurdegejohlt. Die mich in jeder Hinsicht (Größe, Knochenbau, Mas-se) überragende Bettina zogmich an sich, dassmir fast die Luftwegblieb, und drückte mir einen Plastikbecher Sangria in dieHand. »Na los, erzähl schon!«, sagte sie und band ihre dickenHaare zu einem Pferdeschwanz zusammen.Ich fischte eine Orangenscheibe aus meinem Becher. »Es war

total seltsam. Ich habe der Musik zugehört, neben mir saß einTyp, und ich fing an zu weinen.«

»Ich hab’s ja gewusst«, sagte Bettina und fächelte sich Luftzu. Sie tat immer so, als gäbe es in puncto Männer nichts, wassie überraschte. Ich trank einen kräftigen Schluck Sangria undfolgte ihr ins Wohnzimmer. Bettina und ich hatten uns zu Be-ginn des ersten Wintersemesters in Harvard kennengelernt,als ich auf demWeg zumMuseum für vergleichende Zoologieeine Abkürzung durch die Tozzer Library nehmen wollte. Ichbetrat die Bibliothek, erwartete ganz normal Bücher auf Rega-len, fand mich aber stattdessen in einem sehr dunklen Raumwieder. Als ich weitertappte, ging das Licht an, und ich standurplötzlich vor einem riesigen Totempfahl, der zwei oder dreiStockwerke hoch im Lesesaal aufragte. Ich bekam einen sol-chen Schreck, dass ich einen kleinen Schrei ausstieß, was diewenige Schritte hinter mir gehende Bettina hörte und zumSchießen komisch fand.Wir unterhielten uns, und Bettina erwähnte, dass sie eine Mit-

bewohnerin suche. Ich wohnte zu diesem Zeitpunkt in einemwinzigen Wohnheimzimmerchen, dessen Wände so dünn wa-ren, dass ich nachts hörte,wie meine Nachbarin, Doktorandinder politischen Philosophie, ihre Zahnspange mit einem Kli-

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cken einsetzte.Wie sich herausstellte, war die eigentlich vorge-sehene Mitbewohnerin gerade abgesprungen – eine Jurastu-dentin mit Freund in New York, die nur ein paar Tage pro Wo-che in Boston gewesen wäre – Abwesenheit war eigentlich dasgrößte Plus, mit dem eine Mitbewohnerin punkten konnte.In den ersten paar Wochen wussten wir noch nicht recht,

was wir miteinander anfangen sollten, weil Bettina selbst schonden gesamten Sauerstoff in derWohnung aufzubrauchen schien.Aber es dauerte nicht lang, bis sich ein wenig Zärtlichkeit zwi-schen uns entwickelte. Ich kochte für uns beide, und Bettinawar hingerissen von dem einzigen Gericht, das ich richtig gutkonnte, Dal mit pikant gewürztem Omelett. Als ich mir dannin der ersten Kältewelle des Jahres eine Grippe zuzog, kochteBettina mir Ingwertee und machte mich mit Fernsehserien be-kannt, von denen ich bis dahin nichts geahnt hatte, Buffy – ImBann der Dämonen und Gilmore Girls. Danach gingen wir amWochenende zusammen bei Trader Joe’s einkaufen, manchmalauch zusammen ins Kino und besuchten sogar jeweils ein Se-minar der anderen (ich begleitete sie zu Homi Bhabhas Semi-nar über Melancholie und sie kammit zumir in die analytischePaläontologie. Bettina meinte, ich hätte es besser getroffen, undich musste ihr zustimmen).Die Wohnung, ein Apartment mit zwei Schlafzimmern an

der Trowbridge Street, hatten Bettinas Eltern ihr gekauft, alssie Doktorandin wurde. Nach den ersten Semesterferien brachteich ein paar Sachen aus Dhaka mit, eine Uhr aus bunten Zeit-schriftenröllchen, ein mit kleinen Spiegeln verziertes Stück Stoff,das wir zwischen Küche und Wohnzimmer hängten.Wir fan-den ein altes Sofa auf der Straße und schleppten es mit Hilfevon Bettinas damaligem Freund, einem Masterstudenten ausden Erziehungswissenschaften, nach oben. Als Bettina genugvon ihrem Freund hatte, wurde er vor die Tür gesetzt, aber

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das Sofa behielten wir und nannten es ihm zu Ehren Edvar.Einen Sessel bekamen wir von Bettinas Tante geschenkt undnannten ihn Maude. Die Wohnung war gemütlich und vielmehr ein Zuhause, als ich es mir je von Amerika erträumt hat-te. Als ich mich bei unserer Party umschaute, wurde mir weh-mütig klar, dass es lange dauern würde, bis ich wieder meineeigenen vier Wände haben würde.»Die Paläontologen bleiben mal wieder unter sich«, mecker-

te Bettina und ließ sich auf Maude fallen.»Die Anthropologen geben sich aber auch mal wieder alle

Mühe, möglichst abschreckend zu wirken.«»Schaffen sie nicht.«Ich trank noch einen Schluck Sangria und merkte, wie sich

Wein und Zucker warm in meinem Körper ausbreiteten. JederVorwand war mir recht, um über dich sprechen zu können.»Dieser Typ. Ich habe ihn noch nie auf dem Campus bemerkt.Scheinbar macht er einen Doktor in Philosophie.«»Und wie heißt er?«, wollte Bettina wissen.»Elijah Strong.«Bettina verdrehte die Augen. »Nicht wahr, oder?«»Doch, echt wahr. Außer, er hat mir einen falschen Namen

genannt. Meinst du, den Namen hat er sich ausgedacht?«»Auf jeden Fall. Aber dafür gibt’s wenigstens Pie.«Ich ließmir unser Gespräch noch einmal durch den Kopf ge-

hen: Meiner Meinung nach war dein Name ungelogen ElijahStrong. Später am selben Abend googelte ich deinen Namenund fand ein Foto von dir ohne Bart, auf dem du unglaublichjung aussahst. Einen Augenblick dachte ich, das seist du nicht,aber natürlich warst du es doch. »Pie?«»Pie wie American Pie! Ich habe den Ofen in dieser Bruthit-

ze angeworfen, um dich zurück an die heimischen Gestade zulocken.«

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Monatelang hatten wir debattiert, ob ich nach meiner Aus-grabung an die Uni zurückkehren sollte. Ich hatte mich schließ-lich dagegen entschieden. Ich konnte meine Doktorarbeit ge-nauso gut in Dhaka schreiben, da war ich der Grabungsstättenäher und außerdem bei Rashid. Ich würde nicht nach Cam-bridge zurückkehren, obwohl ich wusste, dass die Welt vollmit gescheiterten Doktoranden war, die ihre Dissertation nichtfertig geschrieben hatten. Meine Zwiegespaltenheit wurde nochdadurch verschlimmert, dass ich nicht in dein Land auswan-dern wollte – anders als so viele aus meiner Heimat hatte ichnie davon geträumt, in Amerika zu leben. Als Jugendlichewar ich einmal mit meinen Eltern in New York gewesen. MeinVater hatte einen Cousin in Long Island, und wir wohntenim Gästezimmer von dessen zweistöckigem Haus in der Näheder Autobahn. Ich erinnere mich an beeindruckend weicheTeppichböden und große Zimmer, in denen es nach gebrate-nen Zwiebeln roch. Ich fragte mich damals,warum alle Frauenmit Kopftuch herumliefen und warum über jeder Tür ein Bil-derrahmen mit arabischen Schriftzeichen hing. Als ein We-cker zu denGebetszeiten laut lossang, als sei er ein Azaan, krin-gelte ich mich vor Lachen. Meine Mutter ermahnte mich, aberich merkte genau, dass sie die Familie insgeheim auch unmög-lich fand und ganz allgemein davon überzeugt war, dass Immi-granten Verräter an ihrem Heimatland waren.Mehr wusste ich nicht über Amerika, bevor ich in dem klei-

nen College-Ort eintraf, in dem ichmeinen Bachelorabschlussmachen wollte – das war, bevor meine Eltern Geld hatten, unddieses College bot mir als Einziges ein Stipendium an. Diesevier Jahre bedeuteten elendig kalteWinter und schrecklich ein-same Wochenenden als eine der ausländischen Studierenden,die dort ohne Auto feststeckten. Erst als ich die Paläontologieund meinen Wal entdeckte, bildete sich bei mir eine Vorstel-

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lung von einer unabhängigen Existenz heraus, in einem Land,wo Menschen ihr Leben den Knochen von Tieren weihten, dieviel, viel älter waren als jedes menschliche Streben und Erin-nern. Trotzdemwurde ich das Bild des Hauses auf Long Islandnicht los: wie verzweifelt die Immigranten an ihren Landsleu-ten klebten. Meinen Eltern und Rashid erzählte ich nichts vondenVerlockungen eines amerikanischen Lebens; Freundinnenwie Bettina erklärte ich, dass ich mich auf keinen Fall irgend-wo anders als in Dhaka niederlassen würde. Dort lebten meineEltern, ich war ihr einziges Kind, sie hatten den Krieg mitge-macht. Alles andere wäre Verrat gewesen; meine Verpflichtun-gen ihnen gegenüber wogen schwerer.Kyung-Ju und Brian, ein junger Mann aus unserer Gruppe,

standen zusammen, und ich drängelte mich zu ihnen durch.Meine Laborpartnerin Kyung-Ju war sturzbetrunken, die dün-nen blauschwarzenHaare klebten ihr in der Stirn. »Hallo«, sag-te sie. »Alles klar für die große Grabung?«»Willst du nicht mal aufhören zu trinken?«Kyung-Ju krallte die Finger in die Luft. »Ich bin der asiati-

sche Tiger. Ich bin der asiatische Tiger.« Die Missgunst, diesich unterschwellig bei uns im Labor breitgemacht hatte, alsich und nicht die anderen den Platz bei der Grabung in Pakis-tan bekommen hatte,war im Lauf des Jahres offenem Groll ge-wichen. Mir wurde unterstellt, ich sei nur deswegen ausgewähltworden, weil ich einen islamischen Namen hatte und ein paarBrocken Urdu konnte. Seit Kriegsausbruch in Afghanis-tan war Dera Bugti im westlichen Suleimangebirge eine No-go-Zone, aber der Expeditionsleiter, Professor BartholomewJones, hatte rätselhafterweise trotzdem eine Grabungserlaub-nis erhalten. Verlief die Sache erfolgreich, hatten wir guteAussichten auf wesentliche neue wissenschaftliche Erkenntnis-se.

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Alle Doktoranden in meinem Fachbereich hatten sich umdie Teilnahme beworben. Ich hatte bis zum letzten Tag mitdem Einreichen meiner Bewerbung gewartet und lud meinenEssay erst wenige Minuten vor der mitternächtlichen Frist hoch.Statt die vielen Fähigkeiten anzuführen, die ich bei der Gra-bung einbringen würde, verfasste ich eine atmosphärischeSchilderung der Welt, in der Ambulocetus gelebt haben könn-te: die Landschaft des unteren Eozäns nach dem Aussterbender Dinosaurier, Heimat des Wales, der laufen und schwimmenkonnte, ein Wasser- und Landwirbeltier zugleich, ein Wesen,das seine Zwiespältigkeit genoss und sich sowohl den Verlo-ckungen des Wassers wie der Sicherheit des Landes anheim-gab. Ich hatte den Aufsatz abgeschickt und dann einfach nichtmehr daran gedacht. Ich redetemir ein, dass ich die Forschungfür meine Promotion in der Bibliothek würde absolvieren müs-sen, glaubte aber insgeheim doch, dass ich die glückliche Ge-winnerin sein würde, nicht wegen meines Namens, sondernweilAmbulocetus einWesen voller Poesie war und nach jeman-dem verlangte, der es verstand. Kyung-Ju hatte mir zwar gratu-liert, als die Entscheidung bekanntgegeben wurde, aber ichwusste, dass es für sie besonders schlimmwar. Sie studierte ver-bissener als ich,verfügte über ein enzyklopädischesWissen desEozäns und hatte täglich an ihre Eltern zu berichten, die sichim Gegensatz zu meinen intensiv für ihre Studienerfolge inte-ressierten.Ich versuchte, Kyung-Ju den Plastikbecher wegzunehmen.

Ich wusste, dass sie ein Auge auf Brian geworfen hatte undwollte nicht, dass er sich für sie schämen musste.»Meine Mutter war total sauer«, wimmerte Kyung-Ju und

entzog sich meiner Hand. »Es war schlimm genug, dass ich un-bedingt Paläontologie studieren wollte. Und dann konnte ichnoch nicht mal die Beste sein.«

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»Ich hab einfach nur Glück gehabt.«»Mach dir nichts draus, Kyung-Ju«, tröstete Brian. »Du darfst

hier bei uns bleiben, während unsere Überfliegerin im Dreckrumwühlen muss.«Brian legte mir entschuldigend den Arm um die Schulter.

Sein unrasiertes Kinn streifte meine Wange. Ich roch Whisky.Sein Bart erinnerte mich an das Konzert, an deine Hand aufmeinemArm. Ich gab ein leises Ächzen vonmir. Brian verharr-te einen Augenblick so im Körperkontakt, und ich überlegte,ob ich ihn küssen sollte, weil ich so gern dich geküsst hätte.Während der Orientierungsveranstaltung unseres Fachbereichshatte Brian mich gefragt, ob ich mit ihm ausgehen wolle, aberich hatte lachend abgewehrt und gesagt,wir seien doch geradeerst angekommen und hätten später noch jede Menge Zeit fürRomantik. Danach hatte er mich nicht wieder gefragt, undbald wussten alle über Rashid Bescheid. Ich stieß ihn nun sanftvon mir und drehte Kyung-Ju den Plastikbecher aus der Hand.»Das reicht jetzt. Hier, iss ein paar Cashewkerne«, sagte ich. IchführtemeineKommilitoninzumSofaundschobihrenKopf sanftnach oben, als sie ihn auf die Armlehne sinken ließ.»Ich wollte es aber mehr als du«, jammerte Kyung-Ju mit

brechender Stimme.»Ich flüstere deinen Namen in den Staub«, versprach ich.Ich ging hinaus auf die Veranda und wünschte, du hättest mir

deine Nummer gegeben. Dann hätte ich dich anrufen und dirvon der Party erzählen können, die sichmittlerweile bis hinausauf den briefmarkengroßen Rasen vor unserem Haus erstreck-te,von Kyung-Ju, der der Kopf auf die Arme gesunken war,vonZigaretten- und Obstkuchendüften. Ich zog mein Smartphoneaus der Tasche und fing an, Rashid eine WhatsApp zu schrei-ben, gab aber nachmehreren Zeilen auf,weil ich die widerstrei-tenden Gefühle in meinem Inneren nicht in Worte fassen

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konnte: einerseits Traurigkeit, weil ich Cambridge verlassenmusste, obwohl ich es immer nur als vorübergehenden Wohn-ort angesehen hatte, andererseits eine Ruhelosigkeit, als würdeich am liebsten auf der Stelle verschwinden,weil die Gesprächesich im Kreis zu drehen schienen. Zugleich dachte ich an dieFrau, die mich geboren hatte, weit weg in irgendeiner entfern-ten EckemeinesHeimatlandes, die ich aus Loyalitätmeinen El-tern gegenüber wahrscheinlich nie kennenlernen würde, weildas furchterregendeWort von der »leiblichenMutter« niemalsausgesprochen werden durfte.Bettina kammit zwei ihrer Kommilitoninnen nach draußen.

Die eine war Suzu, die ihre Haare zu blonden Dreadlocks auf-getürmt trug, die andere Chandana, eine Inderin, diemir nichtsonderlich sympathisch war. Ich fragte mich, wer sie eingela-den haben mochte. »Hi, Süße«, sagte Bettina, »wir habendich schon gesucht.«»Ich habe mich um Kyung-Ju gekümmert. Sie hat einen in

der Krone.«»Ich weiß. Hat schon die Küche vollgekotzt.« Bettina lehnte

am Treppengeländer, Suzu zog ein rotes Päckchen aus einemBeutel, den sie um den Hals trug. Chandana setzte sich zu mirauf die Treppe, ein bisschen näher, als mir das lieb war.»Brian bringt sie gerade heim.«»Ich glaube, sie verträgt nicht so viel«, sagte Suzu. »Was hast

du in die Sangria gekippt?«»Nichts«, erwiderte Bettina.»Reine Rebellion«, sagte Suzu. »Wird bei euch getrunken,

Zubaida, da, wo du herkommst?«»Ja und nein«, antwortete ich und dachte an unsere Schüler-

partys, bei denen immer ganz offenAlkohol ausgeschenkt wor-den war. »Offiziell nein. Aber es trinken trotzdem alle.«»Alle? Sicherlich nicht alle. Die Bauern und Textilarbeiterin-

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nen trinken bestimmt nicht«,wandte Suzu ein und steckte sicheine Zigarette an.Ich verdrehte die Augen. »Mit ›allen‹ meine ich natürlich

alle, die ich kenne.«»Zubaida kann Bangladesch-Klischees nicht ausstehen«,

sagte Bettina.»Was für Klischees?«»Na, dass es in dem Land nur Fatwa und Armut gibt«, ant-

wortete Bettina und sah mich dabei fragend an.In mir regte sich der Widerspruchsgeist, also meinte ich:

»Aber sie stimmen doch.«»Mensch, ich fass es nicht. Drei Jahre lang hältst du mir Vor-

träge, und jetzt hast du’s dir auf einmal anders überlegt?« Derscharfe Rauch von Suzus Nelkenzigarette nebelte uns ein.»Aus deinemMund klingt es aber total retro, Suzu«, sagte ich.»Du willst mir also auf einmal klarmachen, dein Land wür-

de in den westlichen Medien korrekt dargestellt?« Bettina ließnicht locker.»Aber so läuft es da doch wirklich! Politische Grabenkämp-

fe, irrwitzige Extremisten, Kinderheirat und demnächst dieKlimakatastrophe. Kein Mensch sollte den Fuß in so ein Landsetzen.«Suzu drehte ihren Daumenring unentwegt im Kreis. »Ich

verstehe nicht, wovon ihr redet.«»Das kommt, weil du dieses Sauzeug da rauchst«, erregte

sich Bettina und wedelte mit der Hand vor ihrem Gesicht her-um. »Zubaida hat jemanden kennengelernt.«Suzu ließ die Nelkenzigarette fallen und trat sie im Gras aus.

»Ich dachte, du hast einen Freund.«»Habe ich ja auch.« Ich wollte nicht darüber reden und dreh-

te mich deshalb zu Chandana um. »Und, wie sieht’s bei diraus?«, fragte ich. »Gibt es jemanden in deinem Leben?« Chan-

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dana war eine der Inderinnen, die sich mit derart viel Silber-schmuck behängen, dass sie bei jedem Metalldetektor einenAlarm auslösen. Sie hatte eine ganze Galerie von Ohrlöchernund trug einen Ring in der Nase, der über ein Kettchen mit demOhrring verbunden war, und bei jeder Handbewegung klim-perten die Armreifen. Bettina hatte sich nicht getraut, übersie zu lästern, bis ich sie »volle Brautausstattung« nannte, weilmeines Wissens nach in Indien nur eine Braut am Hochzeits-tag ihren Nasenring so trug. Ich ging davon aus, dass bei Chan-dana sexuell so einiges lief und sie eines Tages einen Ethnomu-sikologen oder Bildhauer heiraten würde, aber sie antwortete:»Ach, meine Eltern sind sowieso nur einverstanden, wenn icheinen Tam-Bram heirate.«Ich wusste,was damit gemeint war, Suzu und Bettina natür-

lich nicht. »Einen Brahmanensohn aus meinem HeimatstaatTamil Nadu«, erklärte sie.

»Aber das ist doch totaler Quatsch«, sagte ich.»Warum?«»Wie soll das funktionieren?«, wollte Bettina wissen.»Alle paar Wochen kriege ich einen Anruf, und irgendein

Arzt oder Banker ist an der Strippe. Er ist wahnsinnig nett undso was von todlangweilig, dass er einen tollwütigen Hund insKoma versetzen würde. Dann haben wir ein Date in einem teu-ren Restaurant, und ich gehe nach Hause und erzähle meinenEltern, dass er nicht der Richtige ist.«»Finden sie das schlimm?«, fragte Suzu.»In was für einem Restaurant?«, wollte ich wissen.»Ach, ich war schon in allen. Craigie on Main, Aujourd’hui.

Die Typen sind ganz scharf auf französisches Essen, auch wennsie Vegetarier sind und nur das Käsesoufflé bestellen können.Einer hat mich extra inMiami einfliegen lassen.Undmeine El-tern freuen sich, dass ich mir Mühe gebe.«

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»Wie schaffst du deine Arbeit?«»Nur mit Ach und Krach. Es ist sehr zeitaufwändig. Bei der

Abschlussprüfung wäre ich fast durchgefallen.«»Und was ist, wenn du dich in jemanden verliebst?«, fragte

Bettina.Chandana und ich sahen uns kopfschüttelnd an. »Letztes

Jahr war ich mit einem weißen Typen zusammen, meine El-tern haben es mitbekommen und sind total ausgerastet.Wirk-lich. MeineMutter musste die Dosis von ihren Blutdruckmedi-kamenten verdoppeln. Es bringt einfach nichts.«»Das ist ja furchtbar«, sagte Suzu.»Na, so schlimmkann es ja nicht sein«, sagte ich. »Craigie on

Main ist ein ausgezeichnetes Restaurant. Rashid hat mich letz-tes Jahr dahin ausgeführt.«»Und den heiratest du, oder was?«, fragte Chandana.»Ja«, sagte ich. Endlich sah ich wieder klar. »Ich kenne ihn

seit meiner Kindheit, meine Eltern lieben ihn. Außerdem ister total sexy, und die Leute sagen mir ständig, was für ein un-glaubliches Glück ich habe.«»Du hättest schon vor Jahren mit ihm Schluss machen sol-

len«, warf Bettina ein.»So einfach ist das nicht, wenn es auch um die Eltern geht«,

wandte Chandana ein.Ich legte den Kopf auf Bettinas Schoß und versuchte mir

einen Augenblick lang vorzustellen, was geschehen wäre, wennich mit Rashid Schluss gemacht hätte.Wir waren seit der Ober-schule zusammen. Als er zum Studieren nach London ging, indem Jahr, bevor ich nach Amerika aufbrach, hatte ich mir einhalbes Jahr Zeit gegeben. Aber ich fand Dhaka ohne ihn lang-weilig, und als ich dann inAmerika auf demCollege war,warenseine Anrufe jeden Morgen, bevor ich in jenem ersten, langenWinter in Neuengland zum Seminar losging, zutiefst tröstlich.

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ImMärz, den ihr als »Frühling« bezeichnet, obwohl der Bodennoch hartgefroren undweißwie ein Begräbnis ist, kam er michbesuchen. Er hatte ein Auto gemietet, war aus Boston zu mirrausgefahren, im Gepäck einen ganzen Koffer voller Köstlich-keiten, die er am Zoll vorbeigeschmuggelt hatte, und wir hat-ten in der Miniküche unten in meinem Wohnheim Kitchariund Kartoffel-Bhorta gekocht. Ich glaube, das war der Augen-blick, in dem ich mich entschied – als ich sah,wie locker er dasLenkrad umfasst hielt,während er mich zwischen den Schnee-verwehungen durch die Straßen chauffierte. Als Rashid seinStudium abgeschlossen hatte, ging er zurück nach Hause, umim Betrieb seines Vaters mitzuarbeiten.Wenn ich in den Feriennach Hause kam,war er immer da. Er lud meine Eltern an ih-ren Geburtstagen und ihrem Hochzeitstag ins Restaurant einund füllte das Loch, das ich hinterlassen hatte. Manchmal gabes Männer, die ich mochte, mit denen ich flirtete, aber nie je-manden, den ichmeinen Eltern vorgestellt hätte, und ich wuss-te, dass ich natürlich irgendwann nach Hause zurückkehrenwürde, egal auf welchen Umwegen.

Und das, Elijah, ist die Geschichte unseres Kennenlernens. Ichhatte viel Zeit, mich damit zu beschäftigen. Ich habe mir jedeSekunde unseres ersten Zusammentreffens immer wieder er-zählt, konnte in diesem Augenblick schwelgen, in dem allesmöglich war.Vielleicht ist deine Erinnerung daran ja so deut-lich wie meine, vielleicht weißt du auch noch, dass ich ein auf-geschürftes Knie hatte und du mich im Café danach gefragthast. Ich erklärte dir, dass ich nie Radfahren gelernt habe undmeine Mitbewohnerin es mir noch schnell vor meiner Abreisebeibringen wollte.Vielleicht erinnerst du dich daran, wie sehrwir beide Nina Simone verehrten, dass dumir erzählt hast, dei-ne Eltern hätten dich mit sechs zu einem Konzert mitgenom-

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men und du hättest es dein Leben lang bereut, dass du alles ver-schlafen hast.Vielleicht erinnerst du dich an alle kleinen Ein-zelheiten so gut wie ich, auch wenn das Gegenteil wahrschein-licher ist. Vermutlich hast du unsere gesamte Begegnung ausdeinem Gedächtnis getilgt und denkst nie mehr an mich,und selbst wenn du es doch tust – selbst wenn du noch weißt,wie du den Zehn-Dollar-Schein vom Bürgersteig aufgehobenhast, der herausfiel, als ich den Schlüssel aus der Tasche zog –,dann nicht voller Zärtlichkeit, sondern voller Bedauern.Wiedem auch sein mag: Hier ist die Geschichte, wie wir uns vordrei Jahren kennengelernt und verliebt und wieder getrennt ha-ben, hier ist das heillose Chaos, das dazwischen geschah. Hierist jedes Detail, wie es sich in meinem Kopf festgefressen unddurch Reue immer tiefer eingegraben hat. Es ist der Versucheiner Entschuldigung für mein Verhalten. Ich möchte dir einenumfassenden Bericht aller Ereignisse geben – wir waren zwarüber weite Strecken dieser Zeit zusammen und ich dachte im-mer, ich würde dir alles erzählen, aber jetzt wird mir klar, dassdu vieles nicht weißt und es immer große Auslassungen undStrecken des Schweigens gab.Viele Dinge hätte man sagen sol-len, brachte aber nicht den Mut dazu auf – selbst, wenn manjemandem so nahe ist, näher, als man je für möglich gehaltenhätte.

Wir hatten uns vor dem Science Center verabredet, aber als ichzehnMinuten zu spät dort ankam,warst du noch nicht da. DieHitze drückte bereits auf den Tag. Der Springbrunnen war an-gestellt, und auf der runden Steinbank tummelten sich ein paarLeute. Eine Frau schob ein Kind im Buggy, einMann im schwar-zen Anzug hielt eine Zeitung mit beiden Händen, auch derClown war da, der sonst am Eingang zur U-Bahn herumhing.Ich wusste nicht genau, was ich tun sollte, deswegen drehte