DIE SEGMENTIERUNG HUMAN- UND ......Bleibende neben den vorübergehenden Akten des wirklichen...

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DISKUSSIONSPAPIERE AUS DER FAKULTÄT FÜR SOZIALWISSENSCHAFT RUHR-UNIVERSITÄT BOCHUM DIE SEGMENTIERUNG HUMAN- UND SOZIALWISSENSCHAFTLICHEN WISSENS UND DER TRANSDISZIPLINÄRE BEITRAG DER SOZIALPSYCHOLOGIE von Helmut Nolte Diskussionspapier Nr. 03 – 2 Juli 2003 Korrespondenzanschrift: Prof. Dr. Helmut Nolte Ruhr-Universität Bochum Fakultät für Sozialwissenschaft Sektion Sozialpsychologie und -anthropologie GB 04 / 143 D-44780 Bochum Telefon 0234 - 32 25171 Die Diskussionspapiere aus der Fakultät für Sozialwissenschaft der Ruhr- Universität Bochum werden von der Fakultät für Sozialwissenschaft herausgegeben. Die inhaltliche Verantwortung für die Beiträge liegt bei den Autoren und nicht bei der Fakultät. Die Papiere können bei den jeweiligen Autoren angefordert werden. Die Liste aller Papiere finden Sie auf den Internet Seiten der Fakultät unter http://www.ruhr-uni-bochum.de/sowi/forschung/dkpaper/liste98.htm ISSN 0943 – 6790

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  • DISKUSSIONSPAPIERE AUS DER FAKULTÄT FÜR SOZIALWISSENSCHAFT RUHR-UNIVERSITÄT BOCHUM

    DIE SEGMENTIERUNG HUMAN- UND SOZIALWISSENSCHAFTLICHEN WISSENS UND DER TRANSDISZIPLINÄRE BEITRAG DER

    SOZIALPSYCHOLOGIE

    von Helmut Nolte

    Diskussionspapier Nr. 03 – 2 Juli 2003

    Korrespondenzanschrift: Prof. Dr. Helmut Nolte Ruhr-Universität Bochum Fakultät für Sozialwissenschaft Sektion Sozialpsychologie und -anthropologie GB 04 / 143 D-44780 Bochum Telefon 0234 - 32 25171

    Die Diskussionspapiere aus der Fakultät für Sozialwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum werden von der Fakultät für Sozialwissenschaft herausgegeben. Die inhaltliche Verantwortung für die Beiträge liegt bei den Autoren und nicht bei der Fakultät. Die Papiere können bei den jeweiligen Autoren angefordert werden. Die Liste aller Papiere finden Sie auf den Internet Seiten der Fakultät unter http://www.ruhr-uni-bochum.de/sowi/forschung/dkpaper/liste98.htm ISSN 0943 – 6790

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    GLIEDERUNG

    1 Einleitung: Die Segmentierung der Human- und Sozialwissenschaften ......................3

    2 Die integrativen Anfänge der Sozialpsychologie ..........................................................4

    2.1 Problemstellung und Bezugsrahmen der frühen Sozialpsychologie ........................4

    2.2 Sozialpsychologie als Individualwissenschaft...........................................................6

    2.3 Sozialpsychologie als Sozialwissenschaft ................................................................9

    2.3.1 Die inter-individuellen Wechselwirkungen ......................................................10

    2.3.2 Die kollektiv-psychischen Objektivationen ......................................................11

    3 Die Resonanz der Sozialpsychologie in den frühen Human- und Sozialwissenschaften ..................................................................................................13

    3.1 Die Sozialpsychologie in Diltheys Grundlegung der Geisteswissenschaften ........14

    3.2 Sozialpsychologie und Psychologie ........................................................................15

    3.3 Sozialpsychologie und Geschichte .........................................................................18

    3.4 Sozialpsychologie und Soziologie ...........................................................................20

    4 Die Sozialpsychologie in der gegenwärtigen Konstellation der Human- und Sozialwissenschaften ..................................................................................................26

    5 LITERATUR .................................................................................................................31

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    1 Einleitung: Die Segmentierung der Human- und Sozialwissenschaften

    Die gegenwärtige Struktur der Human- und Sozialwissenschaften ist durch einen Widerspruch gekennzeichnet. Auf der manifesten, institutionellen Ebene bietet sich das Bild einer zusammenhanglosen, immer noch wachsenden Vielfalt von Fächern, Disziplinen und Unterdisziplinen. Sie ist nicht nur in den traditionellen „Standesorganisationen“ der Fächer, sondern auch in der disziplinären Organisation der universitären Lehre und ihrer Studienordnungen verankert. Die Forderung nach fachlicher und interdisziplinärer Kooperation wird zwar allgemein anerkannt, kann sich aber gegen die Konkurrenz um akademische Reputation und materielle Ressourcen nur schwerlich durchsetzen.

    Unterhalb der manifesten, institutionellen Ebene vollzieht sich eine indirekte Assimilation der Fächer und Disziplinen. Sie zeigt sich vor allem darin, dass diese in zunehmendem Maße – unabhängig voneinander – mit den gleichen grundbegrifflichen und theoretischen Themen beschäftigt sind. In den Sozialwissenschaften betrifft dies beispielsweise die Fragen nach den psychologischen bzw. akteurstheoretischen Prämissen sowie nach dem Verhältnis von Handeln und sozialer Struktur, sozialer Mikro- und Makroebene, psychischen und sozialen Systemen; in den Individual- bzw. Verhaltenswissenschaften betreffen die gemeinsamen Themen vor allem das Ineinandergreifen von neuronaler und kognitiv-selbstreferentieller Codierung und Konstruktion von Verhalten, Handeln und Kommunikation.

    Die Angleichung beruht nur zum Teil darauf, dass die Fächer und Disziplinen aus inhaltlichen Gründen über die Spezialisierung und ihre institutionellen Grenzen hinausdrängen; zum Teil ist sie auch das Nebenprodukt institutioneller Konkurrenz. Deshalb nimmt sie auch eher selten die Form interdisziplinärer Kooperation an. Zumeist bleibt es bei einem institutionellen Nebeneinander, obgleich die thematischen Überschneidungen und Gemeinsamkeiten zunehmen. Differenzierungstheoretisch könnte man von einer Segmentierung sprechen.

    Möglicherweise kündigt sich in dem Widerspruch zwischen Abgrenzung und Assimilation eine Neustrukturierung der Human- und Sozialwissenschaften an. Notwendig wäre nicht nur die häufig geforderte, engere Verknüpfung von Individual- und Sozialwissenschaften, sondern auch ein stärkerer theoretischer Bezug beider Fächergruppen auf ihren je spezifischen Gegenstand, d. h. eine Bündelung der wissenschaftlichen Kräfte, die sich einerseits – unter Einschluss der Naturwissenschaften – mit dem Individuum und seinem inneren und äußeren Verhalten und Handeln befassen, andererseits mit dem „Sozialen“, d. h. mit der Interaktion zwischen individuellen und kollektiven Akteuren und den daraus resultierenden sozialen Gebilden und Strukturen.

    Der folgende Beitrag beschäftigt sich mit der Frage, welchen Stellenwert die Sozialpsychologie in dieser Entwicklung einnimmt und ob sie zu einer möglichen Neustrukturierung einen Beitrag leisten könnte. Wie ich zeigen möchte, lag der Rede von Sozialpsychologie von Anfang an eine doppelte Intention zugrunde. Sie zielte nicht nur auf die Begründung eines Fachs, sondern mehr noch auf eine fächerübergreifende, integrierende Problemstellung.

    Aufgrund ihrer integrierenden Problemstellung hat die frühe Sozialpsychologie in den sich entwickelnden Human- und Sozialwissenschaften eine vielfältige Resonanz gefunden,

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    nicht nur in der Psychologie und Soziologie, sondern auch in der Geschichtswissenschaft und Ethnologie sowie in der Geisteswissenschaft Diltheys. Ihr verdankt es sich auch, dass die Sozialpsychologie bis in die fünfziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts der Kooperation der Fächer und der Gründung fächerübergreifender Forschungsinstitute wie des Institute of Human Relations und des Department of Social Relations wichtige Anstöße gegeben hat (Sahakissian 1975).

    Später, als das Fach Sozialpsychologie sich selber in getrennte Disziplinen spaltete, ist die Intention von Sozialpsychologie als einer integrierenden Problemstellung verloren gegangen. Erst in jüngerer Zeit, im Zuge einer Neuorientierung des Fachs, suchen einige Sozialpsychologen wieder an diese Intention anzuknüpfen.

    Meine Überlegungen zielen weniger auf den Beitrag der Sozialpsychologie als Fach, schon gar nicht auf die Etablierung eines neuen Super-Faches, sondern auf die Wiedergewinnung der sozialpsychologischen Problemstellung. Sie würde es erlauben, die explizit sozialpsychologischen Beiträge des Fachs mit den implizit sozialpsychologischen Beiträgen aller anderen Fächer in einem gemeinsamen Bezugsrahmen zu diskutieren und gegebenenfalls theoretisch zu verknüpfen. Dies könnte helfen, die angesprochene Segmentierung der Fächer aufzubrechen zugunsten einer Kooperation, die zu neuen Formen der Arbeitsteilung und der strukturellen Differenzierung führt.

    Im Folgenden untersuche ich zunächst die Entstehung der Sozialpsychologie als Fach und Problemstellung (1) und ihre Resonanz in den frühen Human- und Sozialwissenschaften (2). Abschließend erörtere ich den möglichen Beitrag der sozialpsychologischen Problemstellung im gegenwärtigen Kontext der Human- und Sozialwissenschaften (3).

    2 Die integrativen Anfänge der Sozialpsychologie

    2.1 Problemstellung und Bezugsrahmen der frühen Sozialpsychologie

    Die Entwicklung einer wissenschaftlichen Psychologie und das Bestreben, die idealistischen und romantischen Geistbegriffe aus ihrem metaphysisch-spekulativen Kontext zu lösen und auf eine erfahrungswissenschaftliche Grundlage zu stellen, machten die psychologische Orientierung in den Sozial-, Kultur- und Geschichtswissenschaften der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts populär. In Opposition zur individualistischen Gesellschaftstheorie des Utilitarismus, der die Gesellschaft aus den Eigeninteressen der Individuen ableitete, gingen die holistisch-organologischen Gesellschaftstheorien von den kollektiven Bewusstseins- und Willensformen aus, die den individuellen Dispositionen vorgegeben sind. Wie Max Weber (1922) mit der ihm eigenen Schärfe analysiert hat, wurde dabei die idealistische Metaphysik häufig durch eine neue, „psychologische Metaphysik“ ersetzt, indem eine Kollektivpsyche oder Kollektivpersönlichkeit hypostasiert wurde, die nach eigenen Entwicklungsgesetzen das gesellschaftliche Leben und die historischen Formen des Zusammenlebens und Wirtschaftens bestimmen (Weber 1922: 56). – Demgegenüber zeichnete sich die Entstehung der Sozialpsychologie dadurch aus, dass sie den Irrationalismus der organologischen Gesellschaftsauffassung politisch und wissenschaftlich ablehnte und die Hypostasierung einer Sozialpsyche ausdrücklich zurückwies.

    Die Rede von Sozialpsychologie als Bezeichnung eines wissenschaftlichen Programms lässt sich auf die sechziger und siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts zurückverfolgen

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    (Sganzini 1913; Geck 1928,1929; Nolte 1984, 1989; Laucken 1994, 1998; Jüttemann 1995). Sie taucht zum ersten Mal 1864 in einem Artikel des italienischen Philosophen Carlo Cattaneo auf, in dem dieser die Umrisse einer neuen Psychologie, einer "Psicologia delle menti associate", entwirft. Der tschechische Pädagoge G. A. Lindner verwendet die Bezeichnung Sozialpsychologie im Untertitel seines Werkes "Ideen zur Psychologie der Gesellschaft als Grundlage der Sozialwissenschaft", das 1871 in deutscher Sprache erscheint, in tschechischer Sprache möglicherweise schon früher (Laucken 1994). Im Jahre 1875 schließlich legt der österreichische Nationalökonom und Soziologe E. F. Schäffle im ersten Buch seines Werkes "Bau und Leben des sozialen Körpers einen "Grundriss der Sozialpsychologie" vor.

    Ein noch früheres Datum (Lazarus 1851) ergibt sich, wenn man - wie es üblich geworden ist - auch die so genannte Völkerpsychologie, die der Philosoph Moritz Lazarus in Zusammenarbeit mit dem Sprachwissenschaftler Heymann Steinthal entworfen hat, der Sozialpsychologie zurechnet. Beide meinen mit der missverständlichen Bezeichnung Völkerpsychologie primär eine Psychologie der Gesellschaft bzw. des Sozialen und Kulturellen überhaupt und nur zum Teil eine ethnologische Psychologie im engeren Sinne. Im angelsächsischen Sprachraum und in entsprechenden Übersetzungen wurde die Völkerpsychologie in der Regel als Sozialpsychologie eingeordnet (Laucken 1994).

    Obgleich die sozialpsychologischen Ansätze unabhängig von einander entstanden sind, weisen sie Gemeinsamkeiten der Problemstellung auf, die es gerechtfertigt erscheinen lassen, sie zusammenzufassen und systematisch auszuwerten. Politisch suchen sie die nationalen Bestrebungen und die Ausbildung des Nationalbewusstseins mit der Idee einer Völkergemeinschaft und dem Ziel einer republikanisch-demokratischen Gesellschaftsordnung zu verbinden. Die geistigen und wissenschaftlichen Grundlagen sind vielfältig. Idealistische und romantische Einflüsse vermischen sich mit der der positivistischen Soziologie, der Ethnographie und Anthropologie sowie vor allem der Psychologie Herbarts (Geck 1929).

    Die wissenschaftliche Perspektive der frühen Sozialpsychologen geht über die Entgegensetzung individualistischer und kollektivistischer Ansätze hinaus. Sie zielt konsequent auf die Wechselbeziehung von subjektivem und objektivem Geist, individuellem und kollektivem Bewusstsein, Einzelnen und sozialer Gesamtheit, Psychischem und Sozialem. Gegenüber Positionen, die Geschichte und Gesellschaft einseitig aus der psychischen Natur der Individuen oder aus dem „Genius“ historischer Persönlichkeiten ableitet, werden die Eigendynamik und Eigenlogik der sozial-kulturellen Prozesse und Strukturen hervorgehoben; gegenüber kollektivistischen Positionen wird betont, dass die gesellschaftliche Realität einschließlich der kollektiven Formen des Psychischen immer auch das Resultat der psychischen Aktivitäten bildet: „Im Hinblick auf den konkreten Moment“ – so heißt es bei Lazarus – „werden wir...behaupten müssen, dass: logisch, zeitlich und psychologisch die Gesamtheit den Einzelnen vorangeht“; im Hinblick auf den realen Ursprung aber "werden wir beide Glieder des Verhältnisses, das Ganze und seine Teile, schlechthin gleichzeitig und zugleich wirkend uns denken müssen" (Lazarus 1862: 419).

    Lazarus verdeutlicht die sozialpsychologische Perspektive am Verhältnis von Sprechakten und Sprache; ganz ähnlich wird 120 Jahre später Giddens (1984: 72 ff.) sein berühmtes Strukturierungstheorem erläutern, das die duale Einheit von sozialem Handeln und

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    sozialer Struktur begründet. Aufgrund ihrer aktuellen Bedeutung möchte ich die Formulierung von Lazarus ausführlicher zitieren:

    "Wo immer mehrere Menschen zusammenleben, ist dies das notwendige Ergebnis..., dass aus der subjektiven geistigen Tätigkeit derselben sich ein objektiver, geistiger Gehalt entwickelt, welcher dann zum Inhalt, zur Norm und zum Organ ihrer ferneren subjektiven Tätigkeit wird. So entspringt aus der subjektiven Tätigkeit des Sprechens, indem sie von mehreren Individuen unter gleichen Antrieben und Bedingungen vollzogen wird und dadurch das Verstehen einschließt, eine objektive Sprache. Diese Sprache steht dann den Individuen als ein objektiver Inhalt für die folgenden Sprechakte gegenüber; sie wird aber auch zugleich zur Norm der Gedanken, und weiterhin selbst zum Organ der weiteren Entwicklung der Sprechtätigkeit in Allen. Aus der Tätigkeit aller Einzelnen ursprünglich geboren, erhebt sich der Inhalt als fertige Tat sofort über die Einzelnen, welche ihm nun unterworfen sind, sich ihm fügen müssen. Die Sprache erscheint als das Seiende und Bleibende neben den vorübergehenden Akten des wirklichen Sprechens, sie ist das Allgemeine gegenüber der individuellen Tätigkeit der Einzelnen" (Lazarus 1865b: 41 f.).

    Die besondere Relevanz der sozialpsychologischen Problemstellung liegt darin, dass sie die Umrisse eines begrifflich-theoretischen Bezugsrahmens vorwegnimmt, der das dualistische Individuum-Gesellschaft-Schema überwindet, indem zwischen die Ebenen von Individuum und Gesellschaft die Ebene der inter-individuellen Wechselwirkungen, also der Interaktion im heutigen Sprachgebrauch, eingezogen wird. Die Individuen nehmen über die Interaktion Einfluss auf die soziale Struktur und die kulturellen Objektivationen; umgekehrt wirken diese über die Interaktion auf die Individuen zurück.

    Später hat die disziplinäre Spezialisierung der Sozialpsychologie wie der Human- und Sozialwissenschaften überhaupt die Abspaltung einseitig individualistischer, interaktionistischer und strukturalistischer Positionen begünstigt. Die frühen Sozialpsychologen haben einen solchen Reduktionismus auf bemerkenswerte Weise vermieden. Sie würdigen mit der gleichen Emphase ebenso die in den Individuen angelegte Aktivität und Kreativität der psychischen Leistungen wie das kontingente, schöpferische Potential der interindividuellen Wechselwirkungen und die autonome Geltung der geistig-kulturellen Objektivationen.

    Aus der sozialpsychologischen Problemstellung und dem implizierten Bezugsrahmen ergeben sich – wie schon Herbart forderte – zwei Aufgabenbereiche der Sozialpsychologie. Die Sozialpsychologie des Individuums erfasst die soziale Bedingtheit und Bezogenheit des Psychischen (Geck 1929: 4; Thomas 1904/05), die Psychologie der Gesellschaft die psychische Bedingtheit und Bezogenheit des Sozialen. Ich spreche im Folgenden von der Sozialpsychologie als Individualwissenschaft und als Sozialwissenschaft. Aufgrund der Wechselbeziehung von Psychischem und Sozialem – Schäffle betont den evolutionär gewachsenen Zusammenhang von personalem und sozialem System – sind beide Aufgabenbereiche untrennbar miteinander verbunden.

    2.2 Sozialpsychologie als Individualwissenschaft

    Die Sozialpsychologie des Individuums wird darin begründet, dass sich der Mensch in der biologischen Evolution im Vergleich mit allen anderen Gattungen am weitesten von der phylogenetischen Determination des Verhaltens gelöst und den größten Spielraum für die Selbstgestaltung der Lebensbedingungen und damit auch der Individualität gewonnen hat. In der modernen Gesellschaft bildet die Individualität – in den Worten von Lazarus –

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    „das Fundament und die Würde des Menschen und des Menschlichen“ (Lazarus 1862: 436).

    Die Sozialpsychologen stehen psychologistischen Gesellschaftsentwürfen, die den gesellschaftlichen Prozess aus vermeintlichen Entwicklungsgesetzen der Rationalität oder aus einem egoistischen Lust-, Nutzen- oder Machtstreben ableiten, ablehnend gegenüber. In dieser Hinsicht liegt ihnen auch die positivistische Soziologie eines Comte, Mill oder Spencer eher fern. Umso größer ist der Einfluss von Adam Smith, vor allem seines Spätwerks über die „Moral Sentiments“ (Smith 1976). Die Sozialpsychologen heben die Vielseitigkeit und Widersprüchlichkeit der psychischen Anlagen hervor, d. h. die Ambivalenz von rationalen und nicht rationalen Orientierungen, von Selbstsucht und Sympathie, von Eigeninteresse und Gemeinschaftsgefühl. Welche Dispositionen und Dispositionskonstellationen sich durchsetzen, ergibt sich – innerhalb der sozialkulturellen Rahmenbedingungen – aus den Wechselwirkungen der Individuen sowie aus den Erfahrungen, die in ihnen gewonnen werden (vgl. Kaufmann 1984).

    Die „psychologische Anthropologie“ (Lindner 1871: 24) der Sozialpsychologen entspricht ihrem politischen Liberalismus. Sie misstrauen dem radikalen Modell des laissez-faire, lehnen aber auch wie Schäffle den staatszentrierten Ansatz der Kathedersozialisten ab. Stattdessen vertrauen sie auf die ordnungsbildende Kraft der kommunikativen Wechselwirkung und die in ihr liegende Chance moralischer Selbstbindung.

    Im Rahmen dieser Gemeinsamkeit werden die politischen und anthropologischen Akzente durchaus unterschiedlich gesetzt. Lindner, der dem Utilitarismus näher steht, sucht die Sozialität des Menschen eher rationalistisch zu begründen. Erst mit der Entwicklung der Arbeitsteilung entstünden die "vernünftigen Vorstellungen", die die Selbstsucht einschränken und zum Kompromiss mit anderen anstiften (Lindner 1871: 30). Von da an werde das Individuationsstreben durch das "Prinzip der Kombination" kontrolliert, demzufolge "einer den Anderen sucht, um an ihm die natürliche Ergänzung seiner eigenen Persönlichkeit zu finden" (Lindner 1871: 33).

    Demgegenüber betrachten Lazarus und Steinthal die Geselligkeit des Menschen als ebenso ursprünglich wie die Selbstsucht. Die Geselligkeit ist für sie schon in der Leiblichkeit begründet; durch diese seien die Menschen spontan, schon vor allen "vernünftigen Vorstellungen", in Sympathie und gegenseitigem Verständnis miteinander verbunden. Lazarus und Steinthal setzen sich damit von allen Positionen ab, die die Geselligkeit erst nachträglich einführen. Ihre Kritik richtet sich auch gegen Herbart, der die Geselligkeit in der Arbeit begründet sieht:

    "Herbart denkt bloß an gemeinsames Arbeiten. Wäre es bloß dies, ich meine, der Mensch würde so wenig Sprache geschaffen haben, wie die Bienen und die Ameisen...Das Verständnis war da vor der Mitteilung, und Mitteilung war Sein, Leben. Was der Eine dachte, dachte der Andere und sprach der Andere aus, wie der erste: das war Sympathie" (Lazarus und Steinthal 1860: 11).

    Die anthropologischen Prämissen, wie sie im Vorhergehenden skizziert wurden, gingen vor allem aus der Auseinandersetzung mit dem Utilitarismus hervor. Die Sozialpsychologie enthält aber noch eine weitere anthropologische Komponente, die sich wohl vor allem den Einflüssen Herders und Schleiermachers verdankt. Sie betrifft die schöpferische Aktivität des Individuums (vgl. Joas 1992), die ausdrücklich als eine

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    eigenständige Kraft verstanden wird, die sich nicht auf den „Antrieb der Nützlichkeit“ reduzieren lässt (Lazarus 1865a: 484 f.).

    Der Gedanke der schöpferischen Aktivität des Individuums entspringt vor allem dem Bemühen, den Idealismus Hegels und Humboldts von seinen metaphysischen Voraussetzungen zu lösen und auf eine empirische Grundlage zu stellen (Lazarus 1865a). Für die Sozialpsychologen haben die objektiven Ideen – nicht als reine, sondern als historische, in der Geschichte sich verwirklichende Ideen – nur in den schöpferischen Leistungen der Individuen, in den psychischen Akten und den aus ihnen resultierenden Produkten, eine reale Existenz. Sie können sich nur verwirklichen, indem die Individuen sich selbst in ihnen verwirklichen (Lazarus 1865a: 437, 466). Die schöpferische Aktivität der Individuen manifestiert sich dementsprechend in dreierlei Form: in der Produktion geistiger und materieller Werke, in der Gründung und Gestaltung von Institutionen und in der Entwicklung und Vollendung der eigenen Persönlichkeit (Lazarus 1865a: 461ff.).

    Das Vorbild für die schöpferische Individuation bilden zunächst die innovativen Leistungen herausragender Persönlichkeiten. Die Sozialpsychologen folgen aber keineswegs dem Geniekult ihrer Zeit, sondern heben die unterschiedlichen gesellschaftlichen Formen der Ideenverwirklichung hervor (Schäffle 1875). In traditionalen Gesellschaften, in denen die Mehrheit der Bevölkerung vom dem verfügbaren Wissen ausgeschlossen ist, bleibt die Ideenverwirklichung auf die Angehörigen kleiner, geschlossener Eliten beschränkt; in modernen, demokratisch orientierten Gesellschaften hängt sie stärker von den „symbolisch vermittelten Wechselwirkungen“ zwischen den Ideenproduzenten und Autoritäten und der Gesamtbevölkerung ab, wobei dem Kommunikationsmittel der Presse und der Institution der Öffentlichkeit eine zentrale Vermittlungsfunktion zukommen (Schäffle 1875: 435). Die Innovatoren schöpfen aus der Breite und Vielfalt des gesellschaftlichen Wissens und sind darauf angewiesen, dass die Bevölkerung sich von ihren Ideen angesprochen und angezogen fühlt. Auch die Prozesse der Aneignung und Verinnerlichung von Ideen, in denen die Individuen von ihrer Gedanken- und Meinungsfreiheit Gebrauch machen, wird von den Sozialpsychologen als schöpferische Aktivität betrachtet.

    Das Idealbild der bürgerlich-demokratischen Gesellschaft bildet den Hintergrund für das frühe Interesse der Sozialpsychologen an den Besonderheiten der sozialen Massen, wobei unter Massen nicht nur spontane Versammlungen von Individuen, sondern auch das verstreute Publikum der Kommunikationsmedien verstanden wird. Sie sehen die Gefahr, dass in der Masse die schöpferische Aktivität der Individuen im Umgang mit der historisch gewonnenen Wahlfreiheit verloren geht. Die Masse wird aber zunächst nicht als eine naturhafte Bedrohung perhorresziert. Am Anfang der Massenpsychologie steht vielmehr die Befürchtung, dass die Ideenproduzenten und Autoritäten die Macht, die ihnen durch ihre Position und gegebenenfalls durch herausragende individuelle Fähigkeiten zufällt, dazu missbrauchen, die De-Individuierung planmäßig zu fördern.

    Die Versuchung, die Massen zu verführen, droht von zwei Seiten. Zum einen kann die politische Führung im Interesse der Machtkonzentration und Zentralisierung danach streben, die öffentliche Meinung unter ihre Kontrolle zu bringen und durch populistische Maßnahmen die intellektuell begründete Meinungsvielfalt zu verhindern (Schäffle 1875: 463). Zum anderen führt die privatwirtschaftliche Nutzung der Presse zu einem Konkurrenzkampf um Leser und Inserenten. Schäffle beklagt bereits, „die eigentlich einflussreiche großstädtische Tagespresse… (sei) größtenteils in die Hände des

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    Spekulations-, sogar des Börsen- und Bankkapitals gelangt und in erster Linie Erwerbsmittel geworden“ (Schäffle 1875: 465). Er weiß aber auch, dass das Problem durch eine Verstaatlichung des Pressewesens nicht gelöst würde.

    Der Gedanke der schöpferischen Aktivität und Selbstverwirklichung der Individuen diente den Sozialpsychologen zunächst dazu, ein empirisches, nicht metaphysisches Konzept der Ideenverwirklichung zu entwerfen, das der Produktion und Institutionalisierung sowie dem Wandel von Ideen und Idealen nachgeht. Sie generalisieren diesen Ansatz zu einem Modell der Entstehung und des Wandels der sozial-kulturellen Welt überhaupt. Dabei geht es nicht mehr nur um das Verhältnis zwischen allgemeinen und persönlichen Ideen, sondern von kollektiven und individuellen Mustern des Vorstellens, Fühlens und Wollens ganz allgemein.

    In die Entwicklung des „objektiven Geistes“ bzw. der sozial-kulturellen Welt wird nun neben dem Faktor der Genialität auch die „schöpferische Tüchtigkeit“ (Lazarus 1865b: 73) jedes Einzelnen aufgenommen, d. h. all derjenigen, welche innerhalb der vielen Formen des geistigen Zusammenlebens „dergestalt tätig sind, dass sie nicht bloß nachahmend, das Gegebene wiederholend und erhaltend, sondern selbständig schaffend, frei ergänzend und gestaltend zu Werke gehen…“ (Lazarus 1865b: 73). Diese schöpferische Tüchtigkeit schließt die lernende Aneignung der überindividuellen, objektiven Bedeutungsgehalte ebenso ein wie die Berufsarbeit und die Arbeit an sich selbst.

    Schließlich findet sich der Gedanke der schöpferischen Individualität in dem Konzept eines individuellen Bewusstseins bzw. eines persönlichen Ichs wieder, das die vielfältigen, aus unterschiedlichen zeitlichen und sachlichen Kontexten stammenden Erfahrungen und Bedeutungsgehalte durchdringt und zusammenhält und alle sozialen, von außen kommenden Vorstellungen reflektiert, d. h. in subjektiver Weise filtert. Die Sozialpsychologen kommen hier der Unterscheidung von „I“ und „Me“ in den Selbst-Konzepten von James und Mead sowie den neueren Konzepten der Selbstreferenz und der Sozialisation als „Selbstsozialisation“ (Luhmann) nahe.

    Die Sozialpsychologie des Individuums wird mit einem Konzept der gesellschaftlichen Differenzierung verbunden. Demnach nehmen das Individualitätsbewusstsein und die Bedeutung des Individualitätsbegriffs selbst „in verschiedenen Zeiten und je nach den verschiedenen Völkern und Gesellschaften eine völlig verschiedene Gestaltung an“ (Lazarus 1862: 407). Die moderne Gesellschaft als Zusammenhang formal freier und gleicher „Privateigentümer“ erzeugt bei ihren Angehörigen die Fiktion einer Entgegensetzung von Individuum und Gesellschaft, die die tatsächliche Abhängigkeit der Individuen voneinander und vom gesellschaftlichen Ganzen überdeckt. Das Selbstbewußtsein kann infolgedessen aus zwei Quellen schöpfen: aus dem materiellen und geistigen Besitz der Individuen und aus deren Teilhabe an der gesellschaftlichen Gesamtheit. Im Extremfall, als „Selbstlinge“, betrachten die Individuen die Gesellschaft als Mittel zur Erhaltung und Mehrung ihres privaten Besitzes, den sie allein ihrer Persönlichkeit zurechnen. Als Bürger dagegen schränken sie sich in ihrer individuellen Beliebigkeit selber ein, indem sie soziale Verantwortung übernehmen.

    2.3 Sozialpsychologie als Sozialwissenschaft

    Ich komme nun zum zweiten, sozialwissenschaftlichen Aufgabenbereich der frühen Sozialpsychologie: zur Psychologie des Sozialen bzw. der Gesellschaft. Zwei Kristallisationsformen bzw. Ebenen des Sozialen werden unterschieden: zum einen die

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    flüchtigen Formen der inter-individuellen Wechselwirkungen, die Simmel später als die „mikroskopischen Einheiten“ des Sozialen bezeichnen wird; zum anderen die aus ihnen resultierenden und auf sie wiederum zurückwirkenden festeren und dauerhafteren Formen des Sozialen.

    2.3.1 Die inter-individuellen Wechselwirkungen

    Bei der Erforschung der inter-individuellen Wechselwirkungen schließen die Sozialpsychologen an Herbart an, der sie in Analogie zum psychischen Kräftespiel der Vorstellungen als soziale Auseinandersetzung zwischen individuellen Interessen konzipiert. Sie weisen aber dessen mechanistische Darstellungsweise zurück (Lindner 1871: 20) und begreifen die Wechselwirkung als Kundgabe und Kundnahme von Vorstellungen, d. h. als Kommunikation.

    In diesem Sinne einer kommunikativen „Assoziation“ von Vorstellungen versteht Cattaneo die Sozialpsychologie, wenn er von einer "Psicologia delle menti associate" spricht. Dabei interessieren ihn vor allem die sozialen Prozesse der Bejahung und Verneinung, die der „Evolution“ des Wissens zugrunde liegen. Für Lindner (1871: IV) bildet die Sozialpsychologie die "geistige Doppelgängerin der Volkswirtschaftslehre"; dem volkswirtschaftlichen Verkehr als Austausch von Gütern und Dienstleistungen entspreche in der Sozialpsychologie der "Austausch von Gedanken und Gesinnungen". Einen ähnlichen Vergleich zieht Schäffle; in Anlehnung an Schleiermachers hermeneutische Konzeption der Symbolisierung als Wechselseitigkeit von Bezeichnen und Verstehen beschreibt er die kommunikationsvermittelnden Zeichen und Symbole - analog zu den "Sachgütern" des wirtschaftlichen Verkehrs - als "Idealgüter der Darstellung und Mitteilung:

    "Für den sozialen Körper ist das geistige Ineinanderfließen aller Teile ein durchaus realer Prozess allseitigster Ideenmitteilung durch Sprache, Wort, Schrift und Druck, durch Gesang, Dichtung, Kunstwerke, Monumente, Signale, Zeichnungen jeder Art. Derselbe vollzieht sich real in Produktion, Umsatz, Veröffentlichung und Verbrauch all der genannten so mannigfachen Symbole" (Schäffle 1875: 422).

    Die kommunikativen Wechselwirkungen zwischen den Individuen werden von den Sozialpsychologen als die Grundeinheiten des Sozialen hervorgehoben. Sie bilden gleichsam den Stoff, der das Soziale im Innersten zusammen hält. Dies gilt insbesondere für die modernen, stark gegliederten Gesellschaften. Die Sozialpsychologen gehen davon aus, dass die Wechselwirkungen den vereinzelten Individuen ihre Abhängigkeit voneinander und von der sozialen Gesamtheit vor Augen führen. Sie sollen bewirken, dass der Einzelne „das Bewusstsein der Anderen und…das der Gesamtheit in sein Selbst aufnimmt“ (Lazarus 1862:426).

    Mit der Gliederung der Gesellschaft wächst nicht nur die Vielfalt, sondern - dank moderner Kommunikationsmittel - auch die Reichweite der Wechselwirkungen. Lazarus glaubt für seine Zeit feststellen zu können, dass "ein Zug der Gemeinsamkeit, der Gegenseitigkeit und der Wechselwirkung durch das Leben und die Wissenschaft geht"; er fügt ausdrücklich hinzu, dass dies auch Kampf und Streit als spezifische Formen der Verbindung nicht ausschließt (Lazarus 1862: 395).

    Den inter-individuellen Wechselwirkungen kommt auch insofern eine Sonderstellung vor, als sie zwischen dem Bewusstsein und Wollen der Einzelnen und dem sozialen

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    Bewusstsein und dem Gesamtwillen des Staats vermitteln. Hier zeigt sich der politische Hintergrund der Sozialpsychologie: das Idealbild einer Demokratie, in der die Bürger die politischen Entscheidungen und die kulturellen Orientierungen der Gesellschaft kontrollieren. Es enthält den Gedanken einer deliberativen Öffentlichkeit, in der die Vorstellungen und Ideen nicht nur nach sozialer Macht und bloßer Stimmenmehrheit gewichtet werden, sondern auch nach ihrem argumentativen, objektiv-geistigen Gehalt. Lindner versteht die Psychologie der Gesellschaft deshalb auch als eine Politische Psychologie.

    Die Aufgabe einer demokratischen Kontrolle „von unten" bezieht sich auch auf die kulturellen Leitvorstellungen und Ideen von Gesellschaft und Staat. Beispielsweise erwartet Lindner von den Bürgern, dass sie sich gegen eine „krankhafte Steigerung" des nationalen Selbstbewusstseins wehren; das kollektive Vorstellen, Wollen und Handeln der Gesellschaft als Nation soll an ein "kosmopolitisches Selbstbewußtsein" gebunden werden, „durch welches sich das Wir auf die ganze Menschheit ausdehnt" (Lindner 1871: 209ff.).

    Zwei Grundtypen der Wechselwirkung bzw. Kommunikation von Vorstellungen zwischen Individuen und Kollektiven werden unterschieden. Lindner bezeichnet sie als innere und äußere Assoziation. Im Falle der äußeren Assoziation verbinden sich die Vorstellungen ohne Rücksicht auf "innere Evidenz und logische Folgerichtigkeit" (Lindner 1871: 140) nach den Erfolgschancen, die beispielsweise die Mehrheitsmeinung oder die Meinung einflussreicher Autoritäten versprechen.

    Im Falle der inneren Assoziation werden die Vorstellungen nach dem Kriterium der „inhaltlichen oder logischen Zusammengehörigkeit“ (Lindner: 176), d.h. nach ihrem „objektiven geistigen Gehalt“ (Lazarus 1865b: 70), verbunden: „Wenn also irgendein gegebener objektiver geistiger Gehalt von anderen Personen her sich einer Person so unweigerlich aufdringt, dass sie den Einfluss desselben im eigenen Geiste nicht vermeiden kann, dann hat dieser Einfluss die gleiche Notwendigkeit, als wenn er aus der eigenen früheren Tätigkeit des Subjekts herstammte“ (Lazarus 1865b: 70).

    Für Lazarus und Steinthal entspricht der äußeren Assoziation das bloße „Zusammensein“, der inneren Assoziation das „geistige Zusammenleben“: „ Geistiges Zusammenleben also heißt wirklich Gemeinschaft des Lebens haben, d.h. dass, was geistig in dem Einen vorgeht, auch wirklich mindestens zur Kenntnis des Anderen gelangt. Bloßes Zusammensein in einem Lande, in einer Stadt, selbst in einem Hause heißt noch nicht Zusammenleben“ (Lazarus 1865b: 11f.).

    2.3.2 Die kollektiv-psychischen Objektivationen

    Die dauerhafteren, strukturellen Objektivationen, die aus den Interaktionen und den zugrunde liegenden psychischen Leistungen resultieren, umfassen zum einen die Herrschafts-, Macht-, Eigentums- und Arbeitsverhältnisse zwischen den Individuen, zum anderen die geistigen, ideellen Objektivationen, d. h. die institutionalisierten Muster des Vorstellens, Fühlens und Wollens. Die Sozialpsychologen heben als ein charakteristisches Merkmal der modernen Gesellschaft bereits die Herausbildung spezifischer, „geistiger“ Teilbereiche wie Religion, Brauch und Sitte, Recht, Wirtschaft, Wissenschaft, Kunst usf. hervor; sie sehen darin vor allem eine kulturelle Gliederung, d. h. eine Institutionalisierung von Ideen (Lazarus 1865b; Lessing 1985a, 1985b).

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    Das wissenschaftliche Interesse der frühen Sozialpsychologen gilt vorrangig den geistig-ideellen Objektivationen. Dabei bedienen sie sich kollektiv-psychologischer Redewendungen, in denen Kollektiven eigene Wissens- und Gedächtnisstrukturen sowie spezifische Muster des Vorstellens, Fühlens und Wollens, der Aufmerksamkeit und Phantasie zugeschrieben werden. Sie unterstellen damit keineswegs eine reale, überindividuelle Psyche; es geht ihnen im Gegenteil darum, metaphysische Konzepte des „objektiven Geistes“, „Volksgeistes“, Kollektivbewusstseins usf. auf eine empirische Grundlage zu stellen. Sie haben damit schon früh eine Konzeption von Kollektiven als Akteuren eigener Art entworfen; aus Furcht vor einer Reifizierung des Kollektivbewusstseins ist sie lange übersehen worden.

    Die sozialpsychologische Problemstellung, die von einer psychologistischen und kulturalistischen Reduktion gleich weit entfernt ist, zeigt sich darin, dass einerseits die Eigenständigkeit und Eigenlogik der sozialkulturellen Objektivationen akzentuiert werden, gleichzeitig aber auch die Eigenleistung der Individuen, die diese in psychischen Akten „vollziehen“. Die kollektiven Vorstellungen werden von den Individuen nicht einfach reproduziert, sondern auf vielfältige Weise subjektiv gedeutet. Auf Grund dessen bildet, wie Lindner herausstellt, die Annahme eines einheitlichen kollektiven oder sozialen Bewusstseins „eigentliche eine Fiktion oder, besser gesagt, ein Ideal…“. Streng genommen gebe es so viele Versionen des sozialen Bewusstseins wie es Individuen gibt, die sich an ihm orientieren. Die Fiktion hat allerdings, wie Lindner hinzufügt, insofern reale Wirkungen, als sie von vielen Individuen in psychischen Akten tatsächlich vollzogen wird (Lindner 1871: 94 ff.). Er kommt damit dem viel zitierten Theorem des Sozialpsychologen Thomas nahe, demgemäß jene Situationen, die als real definiert werden, auch in ihren Konsequenzen real sind (Thomas 1931: 331 f.).

    Lazarus hat sich in einer sozialpsychologischen Studie zur Welt des „objektiven Geistes“ genauer mit dem ontologischen Status der kollektiv-psychologischen Tatbestände befasst (Lazarus 1865b; Lessing 1985a, 1985b). Der objektive Geist führt kein eigenes psychisches Dasein und hat schon gar nicht ein eigenes Bewusstsein. In ideeller Form, d. h. abgesehen von seinen materiellen und institutionellen Manifestationen, existiert er nur in der psychischen Tätigkeit der Individuen, „als wirklich vollzogene oder vollziehbare Akte des psychischen Lebens“ (Lazarus 1865b: 44). Er ist insofern nichts anderes als die Gesamtheit aller „Anschauungen, Überzeugungen, Gesinnungen, Denkformen, Gefühlsweisen etc.“, die in einer Gesellschaft „verbreitet, dauernd und charakteristisch sind, als das Vorhandene dem einzelnen Geist gegenüberstehen und auf ihn wirken“ (Lazarus 1865b: 53).

    Zu den ideellen Objektivationen gehören auch die „objektiven geistigen Gehalte“ des Bewusstseins und Denkens. Sie folgen immanenten Kriterien, d. h. „ den in ihrem eigenen Inhalt gelegenen Gesetzen und Antrieben“ (Lazarus 1865b: 13). Die Vorstellungen werden danach ausgesucht, erhalten und fortgebildet, verbunden und getrennt, ob sie – in den o. a. Worten Lindners – den Kriterien der „inhaltlichen oder logischen Zusammengehörigkeit“ entsprechen.

    Das sozialpsychologische Konzept des objektiven Geistes ist über den in die USA emigrierten Ethnologen Boas in die Cultural Anthropology eingegangen (Geck 1928; Martindale 1960); sie stellt der sozialen Struktur der Gesellschaft die symbolisch vermittelten Muster des Verhaltens, Glaubens, Denkens und Fühlens als Kern der Kultur gegenüber. Heute wird das, was Lazarus und Steinthal dem „objektiven Geist“ zurechnen,

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    als Kultursystem (Geertz 1983), als „Ordnung symbolischer Ordnungen“ (Schmidt 1994) oder auch als Struktur der normativen Erwartungen und Deutungsmuster (Schimank 2000) bezeichnet; am nächsten kommt ihm wohl Poppers Konzept der objektiven Welt (Popper 1974; Meleghy 1993; Haller 1999). In allen Fällen wird die ideelle Ordnung nicht als reines Symbol- oder Zeichensystem konzipiert, sondern als Form und Resultat von Handeln und Interaktion (Fröhlich und Mörth 1998).

    Die ideellen Objektivationen manifestieren sich in Institutionen und materiellen „Verkörperungen“ aller Art. Zu den Institutionen gehören die angeführten kulturellen Teilbereiche der Gesellschaft. Zu den materiellen Verkörperungen gehört zum einen der menschliche Körper selbst, wie er sich in den kulturellen Mustern des Körpergebrauchs zeigt, etwa in typischen motorischen und vokalen Gesten, Geschicklichkeiten und Manieren (Lazarus 1865b: 51f.); darüber hinaus umfassen sie alle materiellen Artefakte, die von Menschen „zum realen oder symbolischen Gebrauch“ hergestellt werden: Schriften und Dokumente ebenso wie Tausch- und Verkehrsmittel, Bauten, Werkzeuge und Maschinen ebenso wie Kunstwerke (Lazarus 1865b: 44, 53f.; Lessing 1985).

    Die Gesamtkonzeption des subjektiven und objektiven Geistes und dessen materieller Verkörperungen kommt Poppers Modell von subjektiver, objektiver und physischer Welt nahe. Dies betrifft auch die kausale Verknüpfung der Welten. Der Einfluss der ideell-kulturellen Objektivationen erstreckt sich über die verschiedenen Ebenen der sozialen Welt auf die psychische Welt und über diese auf die materielle Welt der leiblichen Körper und Dingkörper. Die je höheren Realitätsebenen bleiben aber von den je unteren Ebenen als ihrem „Substrat“ (Schäffle 1875) abhängig; bei Schäffle deutet sich bereits der von Parsons (1978) entwickelte Gedanke einer doppelten Hierarchie von oben und von unten an (vgl. Popper 1972; Meleghy 1993; Haller 1999).

    3 Die Resonanz der Sozialpsychologie in den frühen Human- und Sozialwissenschaften

    Die Anfänge der Sozialpsychologie haben in der frühen Entwicklung der Human- und Sozialwissenschaften – vor allem über Lazarus und Schäffle – eine breite Resonanz gefunden. In vielen Fächern gab es Versuche, die Sozialpsychologie als Hilfswissenschaft oder Unterdisziplin auszudifferenzieren: als psychologische Sozialpsychologie, als soziologische Sozialpsychologie oder Psycho-Soziologie, als Historische Sozialpsychologie und Ethno-Psychologie. In einigen Fällen, wie bei Tarde und vor allem Mead, nahm die Sozialpsychologie eine eher transdisziplinäre Gestalt an; in anderen Fällen, wie bei Durkheim, Tönnies, Simmel und Dilthey, wurde sie aufgegriffen und integriert, ohne sie explizit als solche auszuweisen oder ihr gar einen eigenständigen wissenschaftlichen Status zuzuweisen. Im sozialwissenschaftlich-ökonomischen Methodenstreit zwischen Menger und Schmoller werden Schäffle und Lazarus erwähnt, aber nur am Rande, ohne ihre vermittelnde Problemstellung zu erkennen (Menger 1969: 170; Schmoller 1919a: 31, 49, 64, 124 f., Schmoller 1919b: 755).

    Im Folgenden untersuche ich die Resonanz und Weiterentwicklung der Sozialpsychologie im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert, also innerhalb jenes Zeitraums, der im kulturgeschichtlichen Diskurs als „Achsenzeit“ (Oexle 1996: 15) herausgehoben wird. Damit ist auch das Jahr 1908 eingeschlossen, das gerne als symbolisches Datum markiert wird, weil in ihm die Publikation der sozialpsychologischen Lehrbücher von McDougall und Ross mit dem Erscheinen von Simmels „Soziologie“ zusammenfällt, in der

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    sich dieser grundsätzlich mit den Herausforderungen der Sozialpsychologie auseinandersetzt.

    Meine Skizze beansprucht keine Vollständigkeit im wissenschaftsgeschichtlichen Sinne, sondern folgt systematischen Aspekten; es geht mir vor allem um die Frage, wie die fächerübergreifende Problemstellung der Sozialpsychologie in den Prozess der Fächerdifferenzierung aufgenommen und in welcher Weise dabei der in ihr enthaltene „dreidimensionale“ Bezugsrahmen von Individuum, Interaktion und sozial-kultureller Struktur aufrechterhalten und weiterentwickelt oder auch preisgegeben wurde.

    3.1 Die Sozialpsychologie in Diltheys Grundlegung der Geisteswissenschaften

    Diltheys Grundlegung der Geisteswissenschaften ist zumindest in ihren Anfängen nachweislich auch von der Sozialpsychologie von Lazarus und Steinthal beeinflusst worden (Lessing 1985). Aus Briefen des jungen Dilthey geht hervor, dass er Lazarus, mit dem ihn eine enge Freundschaft und ein intensiver Gedankenaustausch verbanden, wichtige Anregungen verdankte. Später wird Lazarus nicht mehr erwähnt, auch dann nicht, als Dilthey selber eine Konzeption des objektiven Geistes entwickelt, die der von Lazarus nahe kommt (Lessing 1985).

    Diltheys Entwurf der Geisteswissenschaft als einer die „Absperrung der Fächer“ (Dilthey 1957a: 147) überschreitenden Gesamtwissenschaft von Mensch, Geschichte und Gesellschaft baut auf der Architektonik der Sozialpsychologie von Lazarus und Steinthal auf. Das Modell des persönlichen, autobiographischen Zusammenhangs führt die Sozialpsychologie des Individuums weiter; die Erforschung der „äußeren Organisationen der Gesellschaft“ betrifft die Strukturierung der Wechselwirkungen zwischen Individuen und Kollektiven, die Konzeption der „Systeme der Kultur“ geht der Ausdifferenzierung des „objektiven Geistes, d. h. den erwähnten kulturellen Teilbereichen der Gesellschaft, nach.

    In allen Fällen handelt es sich um sinnhafte Wirkungszusammenhänge mit je eigenen Strukturierungs- und Konsistenzregeln (Hahn 1999). Sie sind horizontal und – aufgrund hierarchischer, insbesondere staatlicher Organisation – auch vertikal miteinander verbunden (Lieber 1965). Die übergeordneten Einheiten bleiben aber von den je untergeordneten Einheiten abhängig, so dass sich neben den Wirkungsketten „von oben nach unten“ gegenläufige Wirkungsketten „von unten nach oben“ entwickeln.

    Die Wechselwirkungen innerhalb und zwischen den Sinnzusammenhängen folgen einer Ursächlichkeit ganz besonderer Art, nämlich dem „Spiel der Motive und Zwecke“: „Daher das theoretische Grundproblem dieses ganzen Erkenntnisgebietes die besondere Natur der ursächlichen Beziehungen ist, welche im Individuum zwischen seinen Motiven walten, in höherer Ordnung dann zwischen Individuen oder zwischen den zusammengesetzten Totalkräften der Gesellschaft und der Geschichte. Der Wassersturz setzt sich aus homogen stoßenden Wasserteilchen zusammen; aber ein einziger Satz, der doch nur ein Hauch des Mundes ist, erschüttert die ganze beseelte Gesellschaft eines Weltteiles durch ein Spiel von Motiven in lauter individuellen Einheiten, deren keine mit der anderen vergleichbar ist: so verschieden ist das in der Vorstellung auftretende Motiv von jeder anderen Art der Ursachen“ (Dilthey 1957b: 64).

    Die Erreichbarkeit der autonomen Sinnzusammenhänge füreinander beruht auf Verstehensleistungen, die die Handlungen und Kommunikationen und deren materielle und ideelle Resultate im Hinblick auf ihre subjektive und objektive Bedeutung

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    interpretieren. Aufgrund der selbstreferentiellen Gebundenheit des Verstehens weichen die Deutungen notwendig von den Intentionen der Akteure und Sprecher ab, so dass ein Deutungsüberschuss entsteht, der zur Dynamik der individuellen und soziokulturellen Entwicklung beiträgt (vgl. Frank 1986).

    Diltheys Konzeption enthält den Gedanken, dass der individuell-psychische Sinnzusammenhang des Bewusstseins und Erlebens und die sozialen Sinnzusammenhänge füreinander Umwelten bilden (Dilthey 1957a: 212; Hahn 1999). Einerseits machen sich die Kultursysteme die „lebendige, aber vorübergehende Tätigkeit der Personen“ zunutze; sie haben die Fähigkeit, „die Einwirkungen von Individuen, die rasch vergänglich sind…“, …“auf eine mehr dauernde oder sich wiedererzeugende Weise aufzubewahren und zu vermitteln“ (Dilthey 1959: 50 f.). Die einzelnen Individuen werden dabei zu einem „Kreuzungspunkt der verschiedenen Systeme“, gehen aber in diesen nicht auf, sondern können ihrerseits „in bewusster Willensrichtung und Handlung auf die Einwirkungen derselben“ reagieren (Dilthey 1957b: 63). Das Selbst, das die wechselnden Zustände „durch das Bewusstsein der Selbigkeit der Person als einheitlich“ erkennt, findet sich „bedingt von einer Außenwelt und zurückwirkend auf dieselbe“ (Dilthey 1957a: 200).

    Zur Umwelt der Individuen als selbstreferentiell geschlossener Sinnzusammenhänge gehört für Dilthey auch die organische Welt. Denn als eigenständige Lebensform hat sich das Seelenleben „innerhalb der organischen Welt und ihrem Stufenreich aufsteigender Entwicklungen“ herausgebildet. In diesem Grenzbereich, daran lässt Dilthey keinen Zweifel, muss die Geisteswissenschaft mit der Naturwissenschaft zusammenarbeiten.

    Später, im Prozess der wissenschaftlichen Disziplinierung, ist der integrierende Bezugsrahmen Diltheys in den Hintergrund gedrängt worden. Auch die Weiterführung der geisteswissenschaftlichen Methode, als Hermeneutik und als verstehendes bzw. interpretatives Paradigma, geriet unter den Druck subjektivistischer und kulturalistischer Reduktion. In jüngerer Zeit hat vor allem die Auseinandersetzung mit dem (Post-) Strukturalismus zu einer Wiederaneignung der verdrängten Wurzeln der Human- und Sozialwissenschaften und damit auch zu einer Rückbesinnung auf die integrierende Problemstellung Diltheys geführt (Frank 1986; Oexle 1996; Alexander 1987). In diesen Zusammenhang lassen sich auch die Überlegungen einordnen, die Systemtheorie Luhmanns gegen den Strukturalismus abzugrenzen und an Diltheys Grundlegung der Geisteswissenschaften anzuschließen (Hahn 1999; Kneer und Nassehi 1991).

    3.2 Sozialpsychologie und Psychologie

    Wundt weist den fächerübergreifenden Anspruch der Völkerpsychologie von Lazarus und Steinthal zurück und ordnet sie als eine Unterdisziplin in die Psychologie ein (Sganzini 1913). Als ethnologische, historisch-kulturelle und soziale Psychologie soll sie die physiologische Psychologie, die von der sozialen Eingebundenheit des Menschen abstrahiert und sich auf das Laborexperiment stützt, methodologisch und theoretisch ergänzen.

    In theoretischer Hinsicht führt Wundts Völkerpsychologie das sozialpsychologische Programm weiter. Dabei wird auch der implizierte Bezugsrahmen ausgebaut. Die Hypothesen der „schöpferischen Synthese“ und der „Heterogonie der Zwecke“ akzentuieren die Aktivität und das Entwicklungspotential des Individuums. Die inter-individuellen Wechselwirkungen werden als Basis des Sozialen hervorgehoben, die zwischen der individuellen Ebene und der Ebene der geistig-kulturellen Objektivationen

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    vermittelt. Die Hypothese der „historischen Resultanten“ trägt der Kontingenz der individuellen und interaktiven Leistungen und ihren nicht intendierten und nicht voraussehbaren Wirkungen Rechnung.

    Wundt hat dieses Programm nicht verwirklicht, weil er die Sozialpsychologie – wie Weber (1922: 52 ff.) bedauert – in den Dienst einer Geschichtsphilosophie gestellt hat. Die sozialpsychologischen Charakterisierungen der Kulturen werden als eigendynamische Strukturen hypostasiert, die den kulturellen Fortschritt der Menschheitsgeschichte in Analogie zu den Entwicklungsgesetzen der menschlichen Lebensalter determinieren. Dabei werden die individuelle und die kollektive Ebene „kurzgeschlossen“: die Eigenständigkeit der Interaktionsebene verblasst, die psychische Aktivität der Individuen beschränkt sich auf den Vollzug der kollektiven Formen.

    Im Zuge der fachwissenschaftlichen Ausdifferenzierung der Psychologie wird deren völkerpsychologische Überdehnung bei Wundt zurückgenommen. Das Interesse wendet sich primär dem Individuum zu, wobei Wundts Einsicht übernommen wird, dass streng genommen alle Psychologie Sozialpsychologie ist (Geck 1929). Die Psychologie des Sozialen wird weitgehend den Sozialwissenschaften zugewiesen, ohne gänzlich auf sie zu verzichten. Es bleibt das Bewusstsein, dass die Sozialpsychologie des Individuums und die Psychologie des Sozialen zusammen gehören.

    Der britische Psychologe McDougall (1908, 1920) sucht der doppelten Aufgabenstellung der Sozialpsychologie gerecht zu werden, indem er mit der Sozialpsychologie des Individuums beginnt, um sich später der Eigenständigkeit und dem Kollektivbewußtsein von Gruppen zuzuwenden. Das Erstwerk war nur als eine Einführung in die Sozialpsychologie des Individuums gedacht, weil es sich auf die grundsätzliche Frage beschränkte, wie die natürlichen Antriebe und Reaktionsmuster des Menschen individuell und sozialkulturell geformt werden (Laucken 1994).

    Die Diskussion um Definition und disziplinäre Zuordnung der Sozialpsychologie spitzt sich mit der um die Jahrhundertwende aufkommenden Massenpsychologie zu. Soll sie sich nur mit der Wirkung der sozialen Masse auf den Einzelnen befassen oder auch mit der Entstehung und gesellschaftlich-politischen Erzeugung von Massen? Die psychologische Sozialpsychologie beschränkte sich schließlich auf die erstgenannte Aufgabenstellung, während die zweite einer soziologischen Massen- oder Kollektivpsychologie überlassen wurde (Geck 1928, 1929).

    Stoltenberg (1914, 1922) und Baldwin (1911; vgl. Geck 1928) bemühen sich um die Ausdifferenzierung einer psychologischen und soziologischen Sozialpsychologie. In den Worten von Baldwin hat es die psychologische Sozialpsychologie mit der „Dialektik des persönlichen Wachstums“ zu tun, d. h. mit den sozialen Voraussetzungen des Selbst, die soziologische Sozialpsychologie mit der „Dialektik des sozialen Wachstums“, d. h. mit den psychischen Voraussetzungen sozialer Gebilde. Baldwins Forschungen zum „persönlichen Wachstum“ (1895, 1897), in denen er untersucht, inwieweit die Vorstellung des Ich von den Vorstellungen der Anderen, die Vorstellung der Anderen aber von denen des eigen Selbst erfüllt sind, hat vor allem in den USA eine nachhaltige Wirkung ausgeübt und auch Mead beeinflusst.

    Mead nimmt im Prozess der Fächerdifferenzierung eine Sonderstellung ein. In den Vorlesungen zur Vergleichenden Psychologie und Sozialpsychologie, die er ab 1900 am Department für Philosophie der Universität Chicago hielt, entwickelt er eine Konzeption

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    der Sozialpsychologie, die sich von der Psychologie ausgehend über das gesamte Feld der Human- und Sozialwissenschaften erstreckt. Er war deshalb nur schwer in die sich ausbildende Fächerstruktur einzuordnen. Noch heute reklamieren ihn die Soziologen stärker für sich als die Psychologen.

    Mead, der in den Jahren 1888/1889 in Leipzig und Berlin studierte und unter anderem auch bei Wundt und Dilthey Vorlesungen besuchte, verknüpft die US-amerikanischen Strömungen des Pragmatismus und der funktionalistischen Psychologie mit den europäischen Traditionen, in denen auch die Anfänge der Sozialpsychologie wurzeln (Mead 1980). Er kommt deshalb trotz mancher Unterschiede der frühen Sozialpsychologie sehr nahe, wenn auch deren direkte Einflüsse gering sind und vor allem über Dilthey und Wundt vermittelt werden (Joas 1980).

    Aus der Problemstellung der idealistischen und romantischen Philosophie übernimmt Mead – unter Ablösung des spekulativen und metaphysischen Hintergrunds – das Modell eines „dialektischen“ Verhältnisses von Subjekt und Objekt, wobei er Hegels Begriff des objektiven Geistes und Schleiermachers Begriff der persönlichen Eigentümlichkeit verbindet (Joas 1980). Die transzendentalen Bestimmungen des Ich werden – wie Joas hervorhebt – auf die Ebene einer empirischen Psychologie transponiert, ohne die „Geltungsfrage“ aufzugeben: das Psychische wird nicht auf die Privatheit des Individuums beschränkt, sondern auch auf die Erzeugung objektiver Geltung bezogen.

    Obgleich Mead an der konstitutiven Funktion des Ichs festhält, ist er zeit seines Lebens um den Nachweis bemüht, dass das Ich ursprünglich – nicht erst nachträglich, wie Lazarus und Steinthal (1860: 5) an Herbart monieren – sozial konstituiert wird. Aufgrund dessen entwirft er – in Weiterführung der Psychologie von James und Baldwin – ein bipolares bzw. dialogisches Modell des Selbst. Die Differenzierung von „I“ und „Me“ trägt dem Gedanken der Gleichzeitigkeit und Gleichursprünglich von Selbstreferenz und Fremdreferenz Rechnung.

    Das dualistische Individuum-Gesellschaft-Schema wird durch die auch in demokratischen Motiven begründete Konzeption einer symbolisch vermittelten Kommunikation überwunden. In diesem Zusammenhang hebt Mead ebenso wie die frühen Sozialpsychologen auch den Beitrag von Adam Smith hervor; er sieht in ihm sogar den Ursprung der Sozialpsychologie (Joas 1980).

    Die weitere Entwicklung der psychologischen Sozialpsychologie kann hier nicht dargestellt werden. Es ist bemerkenswert, dass die Grenze zur Sozialwissenschaft zunächst offen blieb; denn schon mit den Reaktionen der Individuen beginnt die Re-Produktion sozialer Strukturen und Prozesse und damit der Übergang zu einer Psychologie des Sozialen. Vor allem die Gruppenpsychologie hat deshalb bis in die fünfziger Jahre immer auch wichtige sozialwissenschaftliche Beiträge geliefert. Erst später differenzierte sich mit der nomologisch-experimentalwissenschaftlichen Sozialpsychologie eine individualistische Variante aus, die sich von der Sozialwissenschaft strikt abgrenzte und partiell mit Sozialpsychologie schlechthin gleichsetzte. Gegenwärtig mehren sich die Stimmen, die die psychologische Sozialpsychologie wieder an die Sozialwissenschaft annähern wollen oder gar als eine Sozialwissenschaft betrachten. Zudem haben sich zahlreiche andere psychologische Forschungsrichtungen und Unterdisziplinen entwickelt, die die restriktive Gegenstandsdefinition einer nomologischen Sozialpsychologie überschreiten.

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    3.3 Sozialpsychologie und Geschichte

    In der Geschichtswissenschaft wird die frühe Sozialpsychologie von den Ansätzen einer kultur- und sozialgeschichtlich orientierten Geschichtsschreibung aufgegriffen, die sich ausgangs des 19. Jahrhunderts in Europa und den USA als Korrektiv einer überwiegend politik- und diplomatiegeschichtlichen Geschichtsforschung entwickelt. Die „Neue Geschichtsschreibung“ zeichnet sich durch ihre fächerübergreifende Perspektive aus; um die Konstellation vielfältiger Wirkungsfaktoren zu erfassen, verbindet sie die Geschichtswissenschaft mit Psychologie und Soziologie ebenso wie mit Wirtschaftswissenschaft und Geographie. Die historische Sozialpsychologie ist in diesem Kontext vor allem als eine Geschichte der Psyche bzw. des sozialen Bewusstseins oder der Mentalitäten gedacht (Bloch et al. 1977; Schorn-Schütte 1984; Haas 1994).

    Ich beschränke mich hier auf den sozialpsychologischen Ansatz von Lamprecht, dem international einflussreichsten, aber auch umstrittensten Vertreter der „Neuen Geschichtsschreibung“. Wie bei Wundt, an dem er sich psychologisch orientiert, klaffen auch bei Lamprecht sozialpsychologische Programmatik und Forschung auseinander. Während das sozialpsychologische Programm die dynamische Wechselbeziehung individualpsychischer und kollektivpsychischer Faktoren betont, steht die historische Forschung im Dienst einer naturwissenschaftlich verbrämten Geschichtsphilosophie. Im Rahmen der geschichtsphilosophischen Spekulation werden die sozialpsychischen Charaktere historischer Epochen und Entwicklungsstufen in geschichtsbildende Kräfte umgedeutet, die „mit derselben biologischen Kausalität, die auch das Einzelleben bestimmt, die sozialpsychischen Entwicklungsstufen des geschichtlichen Lebens hervorbringt“ (Lamprecht 1905: 1). Die angedeutete Kritik Webers an den „psychologischen Metaphysikern“ geht mit Lamprecht besonders scharf ins Gericht (Weber 1922: 52).

    Im Schatten dieses Verdikts sind die methodologischen und theoretischen Aspekte des sozialpsychologischen Programms Lamprechts häufig verkannt worden. Er stellt zunächst der „individualpsychologischen Methode“ der traditionellen Geschichtswissenschaft die „kollektivpsychologische Methode“ gegenüber. Während jene am Menschen vornehmlich das Singuläre, seine Persönlichkeit betone, erfasse diese den Menschen als Typus – also in solchen psychischen Merkmalen, die er mit den Angehörigen eines historisch-kulturellen Lebenszusammenhang oder sozialen Tätigkeitsbereichs teilt (Lamprecht 1897,1974).

    In diesem Zusammenhang führt Lamprecht bereits den Habitusbegriff in die Sozialpsychologie ein, der später von Elias aufgegriffen und in jüngerer Zeit bei Bourdieu zu einer theoretischen Schlüsselkategorie avanciert ist. Der Habitus umfasst für Lamprecht die tief eingeprägten, überwiegend unbewusst wirkenden Dispositionen von größerer zeitlicher und räumlicher Reichweite. Zudem bezieht er sich nicht nur auf einzelne psychische Merkmale, sondern auf eine Lebensform, in der mentale Schemata mit Verhaltens- und Handlungsmustern eine Einheit bilden (Haas 1994: 395 ff.).

    Lamprechts sozialpsychologischer Ansatz wurde von vielen seiner Kollegen als Ausdruck eines theoretischen Kollektivismus gedeutet, der den Einzelnen als bloßes Produkt der Gesellschaft betrachtet. Mag er zumal in seiner frühen Geschichtsschreibung einer solchen Kritik Vorschub geleistet haben (Haas 1994), so verfolgt er doch zumindest in seinen theoretisch-methodologischen Reflexionen eine gänzlich andere Konzeption. Er

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    wendet sich ausdrücklich gegen einen milieutheoretischen Determinismus und hebt – in Anlehnung an Wundt – die Autonomie und Spontaneität der psychischen Organisation bei der Verarbeitung der Umweltreize hervor. Gerade historische Übergangszeiten zeichnen sich für Lamprecht durch eine Aufnahmebereitschaft für neue Reize aus. In solchen Konstellationen – daran lässt er keinen Zweifel – kommt es auch auf innovative Persönlichkeiten an, die die Veränderungschancen ergreifen.

    In Auseinandersetzung mit seinen Kritikern arbeitet Lamprecht die Sozialpsychologie zu einem theoretischen Ansatz aus, der zwischen der „individualpsychologischen“ und „kollektivpsychologischen“ Methode vermittelt: „Ziehen wir… die Summe unserer Ausführungen, so ergibt sich: die Methode der individualistischen, auf das Singuläre, den Menschen als eminente Persönlichkeit gerichteten älteren Geschichtsforschung und die Methode der kollektivistischen, auf das Generische, den Menschen als Gattungswesen gerichteten jüngeren Geschichtsforschung sind vom Standpunkte der allgemeinen Wissenschaftslehre gleich berechtigt: sie ergänzen sich gegenseitig und keine von beiden kann entbehrt werden“ (Lamprecht 1897: 887, 1974: 268 ).

    Die vermittelnde Perspektive der Sozialpsychologie zeigt sich darin, dass sie „dreierlei Entwicklungsfaktoren“ unterscheidet, die nicht aufeinander reduzierbar sind: „die natürlichen, die sozialpsychischen und die individuellen: von ihnen wirken die beiden letzteren, die eigentlich geschichtlichen Kräfte, in gleicher Weise ursächlich“ (Lamprecht 1974: 298).

    Dementsprechend betont Lamprecht, dass die Individuen nicht im Typus, d .h. in der sozialpsychischen Form des Habitus, aufgehen: „Besteht aber in jeder sozialen Bildung ein Gesamtwillen, ein Gesamtgefühl, ein Gesamtkomplex von Vorstellungen und Begriffen, so ist es gestattet, die Personen, welche dieses Gebilde ausmachen,…als identisch zu betrachten; sie lassen sich, als Mitglieder dieses Gebildes, als regulär ansehen und auf einen Typus reduzieren…Sie besitzen abgesehen von ihren typischen Eigenschaften auch noch rein individuelle: je lockerer das Gebilde sie umschließt, umso mehr wird dies der Fall sein“ (Lamprecht 1974: 264).

    In Orientierung an Spencer, Schäffle und Simmel verbindet Lamprecht seine Sozialpsychologie mit einer historischen Skizze der gesellschaftlichen Differenzierung. Er führt die Entwicklung der sozialpsychischen Faktoren bis auf die frühen, noch eng ineinander verschränkten Formen der sprachlichen, wirtschaftlich-politischen, religiösen und ästhetisch-künstlerischen Tätigkeit zurück. Im Prozess der Gesellschaftsgeschichte sind daraus – getragen von entsprechenden Eliten, Ständen und Berufsgruppen – die deutlich voneinander abgegrenzten sozialpsychischen Vorstellungs- und Begriffskomplexe von Wirtschaft und Politik, Religion, Recht, Wissenschaft und Kunst hervorgegangen.

    Aus dem Prozess der gesellschaftlichen Differenzierung leitet Lamprecht – den Anregungen Simmels folgend - eine Typisierung der Individualitätsformen ab: „Im Beginn der Entwicklung zeigt sich die Wirkung des noch nicht zu stärkerer Intensität und Differenzierung seines Inhalts entwickelten Diapasons der sozialpsychischen Faktoren darin, dass fast nur die sozialen Gruppen als Ganze einen besonderen psychischen Charakter aufweisen. Die einzelnen Personen gehen noch fast ganz im Charakter ihrer Gruppe auf: sie sind noch Exemplare des Gruppenindividuums“ (Lamprecht 1974: 325). Demgegenüber wächst in den modernen, hoch differenzierten Gesellschaften der

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    individuelle Anteil, der sich außerhalb der Mitgliedschaftsstrukturen entfalten kann; die individualpsychischen Kräfte gewinnen an Vielfalt und Intensität. Die Universalgeschichte bzw. der Zivilisationsprozess insgesamt werden durch einen Trend der Individualisierung charakterisiert (Schorn-Schütte: 283 f.).

    Die historische Sozialpsychologie setzt sich zunächst in der kollektivpsychologischen Forschung der so genannten „Annales-Schule“ (Bloch et al. 1977) und der aus ihr hervorgehenden Mentalitätenforschung fort, später auch in der autobiographisch orientierten, stark psychoanalytisch geprägten Psycho-Historie (Wehler 1971). Seit den siebziger Jahren wird die sozialpsychologische Problemstellung vor allem in der „Historischen Anthropologie“ fortgeführt. Nipperdey sucht unter dieser Bezeichnung einen begrifflich-theoretischen Bezugsrahmen, der die Faktoren Person und Persönlichkeit, Struktur und System, Sozialisation und Lebenswelt auf nicht reduktionistische Weise verbindet und damit die Schwankungen der disziplinären Sozialpsychologie zwischen Psychologismus und Kulturalismus vermeidet (Nipperdey 1973).

    Gegenwärtig wird die theoretische Debatte um einen integrierenden Bezugsrahmen historischer Forschung im Kontext einer Historischen Kulturwissenschaft fortgeführt, die die Einseitigkeit der vorherrschenden, sozialwissenschaftliche Orientierung ausgleichen will. Hardtwig und Wehler (1996: 12) konzedieren, dass bei der sozialwissenschaftlichen „Modernisierung“ der Geschichtswissenschaft „die Welt der subjektiven Erfahrungen, der Wahrnehmungs- und Deutungsmuster, der verhaltensleitenden Formen symbolischer Verständigung und der Formen, in denen sich das Bedürfnis nach Wissen um Sinn und Ordnung der Wirklichkeit artikuliert“, auf der Strecke blieb. Oexle (1996) verbindet die kulturwissenschaftliche Orientierung mit einer „reflektierenden Vergewisserung“ der wissenschaftlichen „Achsenzeit“ zwischen 1880 und 1930; dabei interessieren ihn insbesondere die fachübergreifenden Problemstellungen einschließlich der frühen Verbindung von Sozialpsychologie und Kulturgeschichte.

    3.4 Sozialpsychologie und Soziologie

    In der Soziologie haben sich gerade Gründergestalten wie Tönnies, Durkheim und Simmel, die sich in besonderer Weise um die Eigenständigkeit ihres Fachs bemühen, von der frühen Sozialpsychologie herausgefordert und angeregt gefühlt.

    Sowohl Tönnies wie Durkheim zählen Schäffle zu ihren frühen Lehrern. Durkheims erste Publikation überhaupt befasst sich mit Schäffles „Bau und Lebens des sozialen Körpers“ (Durkheim 1885). Er verteidigt Schäffle gegen den Vorwurf einer biologischen Reduktion des Sozialen; das Soziale werde vielmehr als eine geistige Realität höherer Ordnung betrachtet, die aus der Wechselwirkung der Individuen hervorgeht und ihrerseits das Bewusstsein der Individuen durchdringt (Gephart 1982: 3).

    In seiner Eröffnungsvorlesung „Einführung in die Sozialwissenschaft“ an der Universität Bordeaux von 1887/1888 bezieht sich Durkheim ausdrücklich auf die Sozialpsychologie von Lazarus und Steinthal als die „Völkerpsychologie der Deutschen“. Er charakterisiert die Sozialpsychologie als eine Sozialwissenschaft, die sich mit dem Kollektivbewußtsein befasst, d. h. mit jenen besonderen Phänomenen, die zwar „psychologischer Ordnung“ sind, sich aber dennoch aus der Individualpsychologie erheben, „weil sie das Individuum unendlich übersteigen“; gemeint sind die „gemeinsamen Ideen und Gefühle, die von einer Generation zur anderen weitergegeben werden und die zugleich die Kontinuität des kollektiven Lebens sichern“ (Durkheim 1981: 45).

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    Zu diesem Zeitpunkt macht Durkheim keinen Unterschied zwischen der Sozialpsychologie im Sinne einer Kollektivpsychologie und der Soziologie. Noch zehn Jahre später, also nach der fachwissenschaftlichen Begründung der Soziologie in den „Regeln der soziologischen Methode“ (Durkheim 1991), setzt er „die Soziologie in ihrer Gesamtheit“ mit Kollektivpsychologie gleich. Der Ausdruck Kollektivpsychologie wird nur aus terminologischen Gründen verworfen, weil „das Wort Psychologie schon immer die Wissenschaft von der Psyche des Individuums bezeichnet“ (Durkheim 1967a: 82).

    Auf Grund der Bemühungen Durkheims, gegenüber der Psychologie die irreduzible, „objektive“ Realität der sozialen Tatsachen als Gegenstandsbereich einer autonomen Soziologie zu begründen, ist lange Zeit übersehen worden, in welchem Maße sein vermeintlicher Objektivismus bzw. Soziologismus von Anfang an durch eine sozialpsychologische Perspektive gebrochen wird (vgl. König 1961: 37). Auch Durkheims Kritik der Psychologie richtete sich nicht gegen die Psychologie überhaupt, sondern gegen eine physiologische Psychologie, die den sozialen Charakter des Bewusstseins unterschlägt.

    Durkheim spricht sich deutlich gegen eine Hypostasierung des Kollektivbewusstseins aus. Träger des Kollektivbewusstseins sind die handelnden und zusammen wirkenden Individuen mit ihren psychischen Aktivitäten und inter-psychischen Verflechtungen; die „individuellen Psychen“ bringen es hervor, „indem sie zusammentreten, sich durchdringen und verschmelzen“ (Durkheim 1961: 187f.).

    Die sozialpsychologische Perspektive Durkheims zeigt sich auch darin, dass der Begriff des Kollektivbewusstseins keineswegs deterministisch verstanden wird. Durkheim meint damit vor allem solche sozialen Tatsachen, die – mit den unterschiedlichsten Graden der Verbindlichkeit – als vorgegeben, von „außen“ kommend, erfahren werden oder erfahrbar sind. Die sozialen Einflüsse werden also subjektiv „gebrochen“. Sie führen nicht zwingend dazu, dass soziale Erwartungen befolgt, kollektive Meinungen als eigene übernommen werden. Durkheim attestiert dem Individuum eine persönliche Moral, die sich gegebenenfalls im Namen einer gewollten, künftigen Kollektivität gegen die bestehende, abgelehnte Kollektivität richtet. In diesem Sinne ist für ihn „das Prinzip der Auflehnung dasselbe wie das des Konformismus“ (Durkheim 1967b: 120; Adorno 1967).

    Wie sich zeigt, existieren in Durkheims Werk unreflektiert zwei widersprüchliche Auffassungen von Soziologie nebeneinander. Die „offizielle“, strenge Soziologie hält sich an die Regeln der soziologischen Methode, die die sozialen Phänomene an jenem Punkt betrachtet, an dem sie sich vom Psychischen losgelöst haben; in diesem Kontext wird Soziales nur aus Sozialem erklärt. Die zweite, informelle Soziologie, die sich von den Anfängen bis ins Spätwerk kontinuierlich durchhält, entzieht sich solchen Regeln und ist mehr oder weniger sozialpsychologisch.

    Am unmittelbarsten wirkt sich der Einfluss der frühen Sozialpsychologie auf Simmel aus. Lazarus ist der erste und einer der wichtigsten akademischen Lehrer Simmels. Der junge Simmel würdigt „Lazarus‘ tiefsinnige und bedeutsame Lehre vom objektiven Geist, welche zuerst die Aufmerksamkeit darauf lenkte, welche unermessliche Rolle für die Bildung des geistigen Inhalts im Individuum die Gedanken aller vorangegangenen Individuen spielen, die in Worten, Institutionen, Werken und Werkzeugen, Fertigkeiten etc. einen Körper gewonnen haben – ein ungeheurer Vorrat aufgespeicherter geistiger Tätigkeit, losgelöst von dem Subjekte, das sie schöpferisch vollzogen, unabhängig von dem Einzelnen, der

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    sie vollzieht, von eigentümlich ideeller Existenz und doch in jedem Augenblick sich jedem Einzelnen zur Reproduktion und Verwendung darbietend“ (Simmel 1886: 501).

    Zu den wichtigsten Aufgaben, die nach einer Verbindung von Psychologie und Soziologie verlangen, gehört für den jungen Simmel der Nachweis, „wie es logisch und psychologisch möglich ist“, dass psychisches Geschehen, „ein subjektiver, dem logischen Beweise unzugänglicher Vorgang, mit dem Anspruch auf eine Geltung auftreten könne, die, wie bei dem ästhetischen und sittlichen, doch über die bloß subjektive Geltung hinausweist“ (Simmel 1886: 492).

    Die Vermittlung zwischen den sozialkulturellen Objektivationen und den psychischen Vorgängen leisten für Simmel die Wechselwirkungen zwischen den Individuen. Er entdeckt „ein ewiges Fliessen und Pulsieren, das die Individuen verkettet, auch wo es nicht zu eigentlichen Organisationen aufsteigt. Hier handelt es sich gleichsam um die mikroskopisch-molekularen Vorgänge innerhalb des Menschenmaterials, die aber doch das wirkliche Geschehen sind, das sich zu jenen makroskopischen, festen Einheiten und Systemen erst zusammenkettet oder hypostasiert“ (Simmel 1992a: 33). – Zu den psychischen Leistungen, die das mikroskopische und makroskopische Geschehen verbinden, gehören für Simmel auch die Schemata der alltäglichen Wahrnehmung, die die Beziehungen zwischen den Individuen und den gesellschaftlichen Gruppen in Analogie zum Bild der innerpsychischen Relationen gestalten und verstehen (Simmel 1992b: 850 ff.).

    Die Gemeinsamkeiten zwischen Lazarus und Simmel enden, wo die fachwissenschaftliche Begründung und Abgrenzung der Soziologie auf dem Spiel steht. Um eine „Konfundierung mit der Soziologie“ (Simmel 1992c: 625) zu vermeiden, lehnt Simmel die Bezeichnung Sozialpsychologie im Sinne einer Psycho-Soziologie, die sich mit der psychischen Bedingtheit und Bezogenheit des Sozialen befasst, strikt ab; dennoch hat er zur Problemstellung selbst wichtige Beiträge geleistet, auf die noch heute zurückgegriffen wird.

    Simmel akzeptiert die Sozialpsychologie nur als eine Individualwissenschaft, die sich mit „der seelischen Beeinflussung durch das Vergesellschaftetsein“ (1992c: 630) befasst; als solche verweist er sie formal in die Psychologie – anders als Weber, der die Erforschung des sozialen Individuums mit der Methodik der Sozialenquete durchaus als Forschungsgebiet der Soziologie gelten lässt (Weber 1909).

    Die Abgrenzung des soziologischen Gegenstandsbereichs beruht auf einer wissenschaftlichen Abstraktion, die von der Verflechtung zwischen Psychischem und Sozialem absieht. Simmel bedient sich der Unterscheidung zwischen Form und Inhalt. Die soziologische Abstraktion bezieht sich nur auf die sozialen Formen, abgetrennt von den psychischen Vorgängen, in denen sie vollzogen werden. Als soziale Formen begreift Simmel zunächst die Beziehungsformen, d. h. die Typen der Wechselwirkung wie Freundschaft, Feindschaft, Konkurrenz, Über- und Unterordnung usf. Es handelt sich dabei für ihn um die grundlegenden, gesellschaftsbildenden Formen des Sozialen. Aus ihnen kristallisieren sich neben den Sozialstrukturen die „Kulturformen“ heraus; sie bestehen „wie die Sprache, die Rechtsnormen, die sittlichen Imperative…ihrem Inhalte und Sinne nach…, unabhängig von der Vollständigkeit oder Unvollständigkeit, Häufigkeit oder Seltenheit, mit der sie in den empirischen Bewußtseinen erscheinen“ (Simmel 1992c: 627).

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    Die soziologische Abstraktion bildet für Simmel nur einen spezifischen methodologischen Aspekt, in dem sich die sozialwissenschafliche und soziologische Forschung keineswegs erschöpfen. In der „unlösbaren Einheit des sozialen Lebens“ und in der „historischen Totalität“ gehören für ihn soziale Form und psychischer Stoff zusammen wie Form und Materie. Die soziologische Abstraktion führt zu einer hoch differenzierten Formenlehre. Aber sie kann Entstehung und Wandel der sozialen Formen ebenso wenig erklären wie die Dynamik, die der Erhaltung der sozialen Formen zugrunde liegt (Simmel 1992a: 16 ff.).

    Die implizit sozialpsychologische Problemstellung Simmels zeigt sich auch in seiner Kritik an einer geisteswissenschaftlichen Abstraktion, die die Kulturformen nur in ihrem reinen, von den Individuen losgelösten Inhalt betrachtet. Dabei behandelt er die Psyche nicht mehr nur als bloßen Stoff, sondern selbst als Form: Geist ist der objektive Inhalt dessen, was innerhalb der Seele in lebendiger Funktion bewusst wird; Seele ist gleichsam die Form, die der Geist, d. h. der logisch-begriffliche Inhalt des Denkens, für unsere Subjektivität, als unsere Subjektivität, annimmt…Darin liegt die Größe wie die Grenze der Seele gegenüber dem einzelnen, in ihrer selbständigen Gültigkeit und sachlichen Bedeutsamkeit betrachteten Inhalt ihres Bewusstseins“ (Simmel 1989a: 647).

    Ebenso selbstverständlich, wie Simmel in der konkreten Forschung die soziologische Abstraktion zugunsten der psycho-sozialen Problemstellung überschreitet, setzt er sich auch über die fachstrategische Ausweisung der sozial-psychischen Problemstellung aus der Soziologie in die Psychologie hinweg. Als Begründung führt er an, die Psychologie allein sei mit diesem „unermesslich ausgedehnten Gegenstand“ überfordert (Simmel 1992c: 630).

    Zu den ersten sozialwissenschaftlichen Arbeiten Simmels gehört – unter ausdrücklichem Verweis auf Lazarus und Steinthal – die Untersuchung des Verhältnisses von Individualität und sozialer Differenzierung. Er ordnet sie selber als „sociologische und psychologische Untersuchungen“ ein (Simmel 1989a: 109 ff.). Später gibt Simmel der Sozialpsychologie des Individuums eine kritische Wendung, die über Lazarus und Steinthal hinausgeht. Er wendet sich dem Problem zu, dass die kulturellen Objektivationen, die vom Individuum verinnerlicht werden, sich dem „eigentlichen Kern seiner Persönlichkeit“ entfremden können; die Seele wäre dann gleichsam nicht mehr „Herr im eigenen Hause“, fände in sich selbst keine Heimat mehr (Simmel 1989b: 529). Er sieht „die Kulturobjekte immer mehr zu einer in sich zusammenhängenden Welt erwachsen, die an immer wenigeren Punkten auf die subjektive Seele mit ihrem Wollen und Fühlen hinuntergreift“; dabei treten Menschen und Dinge nicht nur auseinander, ihr Verhältnis kann sich sogar umkehren: „materielle wie geistige Objekte bewegen sich jetzt eben selbständig, ohne personalen Träger oder Transporteur“ (Simmel 1989b: 520 ff.).

    Andererseits geht Simmel davon aus, dass sich auch in einer solchen Entfremdung „unsre Persönlichkeit nicht vollkommen auflöst“, sondern „das Gefühl eines von all diesen Verschlingungen und Einbeziehungen unabhängigen Fürsichseins (bewahrt - H. N.), das man mit dem logisch so unsichern Begriff der Freiheit bezeichnet“; es gehört für ihn zum „Apriori des empirischen sozialen Lebens“, „…dass die individuelle Seele nie innerhalb einer Verbindung stehen kann, außerhalb deren sie nicht zugleich steht, dass sie in keine Ordnung eingestellt ist, ohne sich zugleich ihr gegenüber zu finden“ ( Simmel 1992a: 53 ff.).

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    Die Doppelgleisigkeit von formaler, reiner Soziologie und informeller, latent sozialpsychologischer Soziologie, wie sie Durkheim und Simmel auszeichnet, liegt anderen Mitbegründern der Soziologie, insbesondere im nordamerikanischen Kontext des Pragmatismus, eher fern. In Europa hat vor allem Tarde eine Gegenposition vertreten. In Opposition zu Durkheim konzipiert er die Soziologie von vornherein und ausdrücklich als Sozialpsychologie. Seine „Études de psychologie sociale“ erscheinen bereits 1898.

    Tarde fasst die Sozialpsychologie vor allem als Psychologie des Sozialen. Die Basis des Sozialen bilden für ihn die intermentalen Beziehungen; aus ihnen leitet er die Dynamik der gesellschaftlichen Entwicklung ab, in der die kollektiven Vorstellungen und Gefühle übernommen, infrage gestellt und verändert werden. Tarde bezeichnet seine Sozialpsychologie deshalb auch als „intermentale Psychologie“ (Tarde 1901).

    Der wichtigste Beitrag Tardes aus heutiger Sicht liegt - wie Moscovici (1984a) eindrucksvoll rekonstruiert hat – in der Verbindung von Massenpsychologie und Soziologie. Sein primäres Interesse gilt den sozialen Formen der Massenbildung sowie den Bedingungen und Möglichkeiten der politischen Kontrolle und Steuerung der Massen in demokratischen Gesellschaften. Dabei unterscheidet er von den spontanen Massenversammlungen und Massenbewegungen, mit denen sich vor allem Le Bon beschäftigt, die zerstreute Masse bzw. das zerstreute Publikum, das durch die modernen Massenmedien hervorgebracht wird. Als Adressaten der Massenmedien sind die Individuen zwar räumlich getrennt, aber durch „anonyme“ Wechselwirkungen verbunden, die gemeinsame Einstellungen und emotionale Reaktionen hervorbringen.

    Aus der Verbindung der Massenpsychologie mit den frühen Forschungen zur öffentlichen Meinung (Geck 1929) entwickelt Tarde eine „Psychologie der Öffentlichkeit“, die – wie Moscovici (1984a) herausstellt – bereits die Konturen der gegenwärtigen „Öffentlichkeitsdemokratie“ vorwegnimmt: „Die Neuzeit hat von der Erfindung des Buchdrucks an eine völlig andere Art der Öffentlichkeit hervorgebracht, welche unaufhörlich wächst und deren grenzenlose Ausdehnung eines der markantesten Kennzeichen unserer Epoche ist. Man hat die Psychologie der Massen geschaffen; was noch zu schaffen bleibt, ist die Psychologie der Öffentlichkeit“ (Tarde 1910, zit. Moscovici 1984a: 245).

    Indem Tarde die Massenpsychologie und die Psychologie der öffentlichen Meinung, die sich mit den flüchtigeren Formen der sozialen Aggregation und des kollektiven Bewusstseins befassen, mit der Soziologie der sozialen Gebilde und Institutionen, unter einem Dach integriert, entwirft er eine einheitliche Konzeption der gesellschaftlichen Dynamik. Die Gesellschaft stellt sich ihm als eine permanente Oszillation zwischen unterschiedlichen sozialen Aggregatzuständen dar. In den Organisationen als gleichsam künstlichen, disziplinierten Massen werden die Individuen auf das gesellschaftlich erreichte Niveau der Intelligenz und der Rationalität gehoben. Als Publikum der Massenmedien drohen sie hinter dieses Niveau zurückzufallen, insofern sie anfällig werden für die Suggestionen der Meinungsmacher. Hinter beiden lauert aus der Sicht Tardes die „rudimentäre“, amorphe Masse als potentielles Objekt politisch gelenkter Massenformationen (Moscovici 1984a: 233 ff.).

    Der nordamerikanischen, pragmatistisch geprägten Soziologie sind disziplinäre Berührungsängste gegenüber der Psychologie fremd. In ihrer Problemstellung ist sie gerade in ihren Anfängen durch und durch sozialpsychologisch. Soziologen wie Ward

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    (1883, 1893) verfolgen mehr oder weniger implizit eine Psychologie der Gesellschaft, die die kollektivpsychischen Kräfte und Strömungen und die Dynamik des sozialen Wandels erklären und gegebenenfalls steuern hilft (Staeuble 1972). Andere wie Thomas, Ellwood und Ross betrachten sich explizit als Sozialpsychologen, wobei sie wie Mead die europäische Tradition der Sozialpsychologie mit dem psychologischen Funktionalismus verbinden (Geck 1928).

    Thomas (1904/05), Ellwood (1898/99) und Ross (1904/05) unterscheiden zwei Bereiche der Sozialpsychologie, von denen es – mit den Worten von Thomas – der eine mit der sozialen Bedingtheit des Psychischen, der andere mit der psychischen Bedingtheit des Sozialen zu tun hat. Beide sind für sie disziplinär nur schwer zu trennen. Als Sozialisationsforscher befassen sie sich mit dem ersten Aufgabenbereich, die Erforschung sozialen Wandels gehört in den zweiten.

    Thomas, der sich auch auf Lazarus und Steinthal bezieht (Martindale 1960), untersucht am Beispiel sozialer Integrationsprobleme, insbesondere der Anpassungsschwierigkeiten von Einwanderern (Thomas und Znaniecki 1918-20), das Spannungsverhältnis von Psychischem und Sozialem. Er erklärt jeden Effekt, ob auf der individuellen oder sozialen Ebene, aus den Wechselwirkungen zwischen subjektiven und objektiven Faktoren, d. h. zwischen den Einstellungen („attitudes“), die in der Selbstbestimmung des Individuums gründen, und den überindividuellen Werten; später wird er auch von subjektiven und objektiven Definitionen der Realität sprechen (Thomas 1931). Die Dynamik sowohl der Persönlichkeit wie der Institutionen und sozialen Gebilde wird darauf zurückgeführt, dass die Wechselwirkungen auf beiden Seiten Prozesse der Desorganisation und Reorganisation auslösen (Helle 1977: 58ff.).

    Ellwood greift die Unterscheidung von psychologischer und soziologischer Sozialpsychologie auf. Die missverständliche Rede von einer soziologischen Sozialpsychologie übernimmt er nur deshalb, weil sie sich offensichtlich bereits durchgesetzt hat. Angemessener fände er die Bezeichnung Psycho-Soziologie oder psychologische Soziologie. Als ihren Gegenstand betrachtet er die Prozesse der Entstehung und Gestaltung des Sozialen, wobei er ihr auch praktische Beiträge zu einer sozialreformerischen Gesellschaftspolitik zutraut (Geck 1928: 76; Staeuble 1972: 30f.).

    Ross führt zunächst Ellwoods Ansatz weiter. In seinem ersten Werk (Ross 1901) entwirft er eine Konzeption der sozialen Kontrolle, die die politische Klassenkontrolle durch ein Höchstmaß an Selbstregulierung und Selbstkontrolle der Individuen ersetzen soll. Im Jahre 1908 legt er das erste Lehrbuch der Sozialpsychologie in den USA vor. Es lehnt sich eng an die Sozialpsychologie Tardes an, fällt aber hinter deren Systematik und Erklärungsleistung zurück. Es beschränkt sich auf die Beschreibung kollektiv-psychischer „Lagen und Bewegungen“ wie Massenbewegungen, Bräuche, Konventionen, Moden und öffentliche Meinungen, in denen die Individuen durch „Gleichförmigkeit im Fühlen, Glauben, Wollen…und…Handeln“ verbunden sind.

    In der Folgezeit ist es der soziologischen Sozialpsychologie nicht gelungen, eine allgemein anerkannte, fachlich-disziplinäre Identität zu gewinnen. Dies lag vor allem daran, dass der Anspruch einer Psycho-Soziologie oder psychologischen Soziologie, die dazu beiträgt, Entstehung und Wandel sozial-kultureller Strukturen und Gebilde zu erklären, aufgegeben wurde. Zudem zerfiel sie in einseitig interaktionistische und strukturalistische Ansätze. Erst in neuerer Zeit gibt es Versuche einer Reintegration.

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    4 Die Sozialpsychologie in der gegenwärtigen Konstellation der Human- und Sozialwissenschaften

    In der Einleitung wurde die These vertreten, dass die Human- und Sozialwissenschaften sich in einer Übergangsphase befinden. Unterhalb der manifesten und nominellen Differenzierungen vollzieht sich eine latente Assimilation, die sich in einer Zunahme der gleichen begrifflich-theoretischen Problemstellungen äußert. Dabei sind in allen Fächern und Disziplinen – in den Individualwissenschaften wie in den Sozialwissenschaften – theoretische Reflexionen in Gang gekommen, die die Entgegensetzung individualistischer und sozialstrukturalistischer bzw. kulturalistischer Positionen zu überwinden suchen.

    In der Soziologie wird ein neuer Theorietyp diskutiert, der die angeführten theoretischen Reflexionen in einem formalen Bezugsrahmen zusammenfasst (Mouzelis 1995; Balog 2001). Wie Mouzelis am Beispiel von Giddens und Bourdieu nachweist, muss ein solcher Bezugsrahmen gleichzeitig die analytische Interdependenz und Autonomie von Disposition, Interaktion und sozialer Struktur wahren. Ohne die Dimension der Interaktion droht die theoretische Vermittlung von Individuum und Gesellschaft auf einen Strukturalismus zurückzufallen, der die Aktivität der Individuen auf die Reproduktion der gesellschaftlichen Bedingungen beschränkt.

    Aufgrund ihrer ursprünglichen Problemstellung kann die Sozialpsychologie zur Entwicklung eines allgemeinen, begrifflich-theoretischen Bezugsrahmens beitragen. Anders als in den Anfängen der Human- und Sozialwissenschaften ist ihr Integrationspotential gegenwärtig noch nicht zum Tragen gekommen, weil sich das Fach zwischenzeitlich selber in individualistische, interaktionistische und strukturalistische Forschungsrichtungen aufgespalten hatte. Allmählich aber lösen sich die starren Fronten auf und machen Annäherungen vielfacher Art Platz.

    Für Graumann (1990: 5f.) gehört die Verhältnisbestimmung von Psychischem und Sozialem zu den Grundfragen sozialpsychologischen Denkens. Schon Lindesmith und Strauss (1968) lassen keinen Zweifel daran, dass sich eine solche Problemstellung nicht nur auf den Einfluss der sozialen Strukturen auf die Individuen beschränkt, sondern umgekehrt auch die Beeinflussung und Veränderung sozialer Strukturen durch die Individuen einschließt. Diese Auffassung setzt sich in der Definition der Sozialpsychologie bei Rosenberg und Turner (1981) fort. Stryker hat schon 1981, also vor dem erwähnten, soziologischen Beitrag von Mouzelis, das Konzept eines formal-theoretischen Bezugsrahmens entw