DIE THEORIE DES GÖTTLICHEN SELBSTBEWUSSTSEINS ...Gnosticism and Later Platonism: Themes, Figures,...

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DIE THEORIE DES GÖTTLICHEN SELBSTBEWUSSTSEINS IM ANONYMEN PARMENIDES-KOMMENTAR I. Einleitung Der anonyme Parmenides-Kommentar aus dem Turiner Palimpsest bildet zweifellos ein wertvolles Zeugnis für die uns nur fragmentarisch bekannte Geschichte der Interpretationen dieser Platonischen Schrift im spätantiken Platonismus. Deswegen hat er auch seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer wieder die Aufmerksamkeit der Forschung zur spätantiken Philosophie auf sich gezogen. Man hatte die Hoffnung, darin ein fehlendes Bindeglied entdeckt zu haben, um einige unklare Zusammenhänge zwischen den wenigen erhaltenen Texten dieser Periode besser er- hellen zu können. Dabei wurde allerdings auch immer offensicht- licher, wie geheimnisvoll und vieldeutig dieses Zeugnis ist. Der Kommentar wurde bald als das Werk eines der späteren Neuplato- niker zwischen Iamblichos und Proklos betrachtet, 1 bald dem Por- phyrios zugeschrieben und für eine der philosophischen Quellen der theologischen Schriften des Marius Victorinus gehalten, 2 dann sah man in ihm die philosophische Quelle einiger sethianisch-gnos- tischer Schriften aus Nag Hammadi und vermutete, sein Verfasser 1) Vgl. B. Peyron, Notizia d’un antico evangeliaro bobbiese che in alcuni fogli palimpsesti contiene frammenti d’un greco trallato di filosofia, RFIC 1 (1873) 53–71, hier 57; W. Kroll, Ein neuplatonischer Parmenidescommentar in einem Turiner Palimpsest, RhM, N.F. 47 (1892) 559–627, hier 619; M. Wundt, Platons Parmenides, Stuttgart / Berlin 1935, 24–26; R. Beutler, Plutarchos von Athen, RE XXI/I (1970) 962–975, hier 975; A. Smith, Porphyrios, in: F. Ricken (Hrsg.), Philosophen der Antike, II, Stuttgart 1996, 229–243, hier 233; A. Linguiti, Com- mentarium in Platonis ‚Parmenidem‘, in: Corpus dei Papiri Filosofici Greci e Lati- ni, III, Firenze 1995, 91; M. Baltes, Marius Victorinus. Zur Philosophie in seinen theologischen Schriften, München / Leipzig 2002, 123–125. 2) Vgl. P.Hadot, Fragments d’un commentaire de Porphyre sur le Parmé- nide, REG 74 (1961) 410–438; ders., La métaphysique de Porphyre, in: Porphyre. Entretiens sur l’Antiquité classique, XII, Vandœuvres / Genève 1966, 127–157; ders., Porphyre et Victorinus, I, Paris 1968. RhM 154 (2011) 185–205

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Page 1: DIE THEORIE DES GÖTTLICHEN SELBSTBEWUSSTSEINS ...Gnosticism and Later Platonism: Themes, Figures, and Texts, Atlanta 2000, 141–177; J.D.Turner, Sethian Gnosticism and the Platonic

DIE THEORIE DES GOumlTTLICHENSELBSTBEWUSSTSEINS IM ANONYMEN

PARMENIDES-KOMMENTAR

I Einleitung

Der anonyme Parmenides-Kommentar aus dem TurinerPalimpsest bildet zweifellos ein wertvolles Zeugnis fuumlr die uns nurfragmentarisch bekannte Geschichte der Interpretationen dieserPlatonischen Schrift im spaumltantiken Platonismus Deswegen hat er auch seit der zweiten Haumllfte des 19 Jahrhunderts immer wiederdie Aufmerksamkeit der Forschung zur spaumltantiken Philosophieauf sich gezogen Man hatte die Hoffnung darin ein fehlendes Bindeglied entdeckt zu haben um einige unklare Zusammenhaumlngezwischen den wenigen erhaltenen Texten dieser Periode besser er-hellen zu koumlnnen Dabei wurde allerdings auch immer offensicht-licher wie geheimnisvoll und vieldeutig dieses Zeugnis ist DerKommentar wurde bald als das Werk eines der spaumlteren Neuplato-niker zwischen Iamblichos und Proklos betrachtet1 bald dem Por-phyrios zugeschrieben und fuumlr eine der philosophischen Quellender theologischen Schriften des Marius Victorinus gehalten2 dannsah man in ihm die philosophische Quelle einiger sethianisch-gnos-tischer Schriften aus Nag Hammadi und vermutete sein Verfasser

1) Vgl B Peyron Notizia drsquoun antico evangeliaro bobbiese che in alcuni fogli palimpsesti contiene frammenti drsquoun greco trallato di filosofia RFIC 1 (1873)53ndash71 hier 57 W Kroll Ein neuplatonischer Parmenidescommentar in einem Turiner Palimpsest RhM NF 47 (1892) 559ndash627 hier 619 M Wundt Platons Parmenides Stuttgart Berlin 1935 24ndash26 R Beutler Plutarchos von AthenRE XXII (1970) 962ndash975 hier 975 A Smith Porphyrios in F Ricken (Hrsg)Philosophen der Antike II Stuttgart 1996 229ndash243 hier 233 A Linguiti Com-mentarium in Platonis sbquoParmenidemlsquo in Corpus dei Papiri Filosofici Greci e Lati-ni III Firenze 1995 91 M Baltes Marius Victorinus Zur Philosophie in seinentheologischen Schriften Muumlnchen Leipzig 2002 123ndash125

2) Vgl P Hadot Fragments drsquoun commentaire de Porphyre sur le Parmeacute-nide REG 74 (1961) 410ndash438 ders La meacutetaphysique de Porphyre in PorphyreEntretiens sur lrsquoAntiquiteacute classique XII Vandœuvres Genegraveve 1966 127ndash157ders Porphyre et Victorinus I Paris 1968

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sei ein mittelplatonischer oder neupythagoreischer Denker vorPlotin gewesen3 Dabei stand nicht nur die Frage der Autorschaftzur Debatte Aus hermeneutischer Sicht ist es wenig uumlberraschenddass im Zusammenhang mit den verschiedenen Hypothesen zurAutorschaft des anonymen Kommentars auch sein Inhalt unter-schiedlich ausgedeutet und umgedeutet wurde Die Relevanz die-ses Textes besteht nicht zuletzt darin dass er ein einzigartiges me-taphysisches Konzept enthaumllt das eine bemerkenswerte Alternati-ve zu den metaphysischen Systemen der uns bekannten Neuplato-niker darstellt Und gerade in diesen ganz eigenen Zuumlgen lassensich einige bekannte Motive ausmachen die im spaumlteren abendlaumln-dischen Denken eine bedeutende Rolle spielten

Der anonyme Kommentar steht eindeutig fuumlr eine sbquometaphy-sische Interpretationlsquo des Parmenides4 Soweit es sich aufgrund dererhaltenen Fragmente des Kommentars beurteilen laumlsst die sichnur auf die zwei ersten Hypothesen des Parmenides beziehen istseine Auslegung des Dialogs und das damit verbundene metaphy-sische Konzept eng mit derjenigen verwandt die wir aus PlotinsEnneaden kennen5 Der sbquoGegenstandlsquo der ersten Hypothese wirdmit dem transzendenten Einen jenseits des Seienden und des Denkens identifiziert Ihre Aussagen werden als eine negativeTheologie verstanden durch die dem ersten Einen alle intelligiblenDenkkategorien abgesprochen werden Die zweite Hypothesemacht dieser Interpretation zufolge sbquodas seiende Einelsquo zum Themad h das intelligible Seiende selbst das zugleich als der goumlttliche re-flexive Intellekt angesehen wird als ein sbquoDenken des Denkenslsquo im

186 Vaacutec l av N ěmec

3) Vgl G Bechtle The Anonymous Commentary on Platorsquos lsquoParmenidesrsquoBern 1999 K Corrigan Platonism and Gnosticism The Anonymous Commentaryon the lsquoParmenidesrsquo Middle or Neoplatonic in J D Turner R Majercik (Hrsg)Gnosticism and Later Platonism Themes Figures and Texts Atlanta 2000 141ndash177J D Turner Sethian Gnosticism and the Platonic Tradition Queacutebec 2001 710ndash711

4) Zur Tradition der sbquometaphysischen Ausdeutunglsquo des Parmenides in der Antike vgl Proklos Commentarius in Platonis Parmenidem 1 (Cousin 635ndash645)J M Dillon Proclusrsquo Commentary on Platorsquos lsquoParmenidesrsquo Translated by G R Mor-row and J M Dillon with an Introduction and Notes by J M Dillon Princeton 1987XXVIndashXXVII 7ndash9 H D Saffrey L G Westerink Proclus Theacuteologie Platoni -cienne II Paris 1974 XIIndashXIX

5) Zu Plotins Interpretation des Parmenides und ihrem Zusammenhang mitseiner Drei-Hypostasen-Lehre vgl E R Dodds The lsquoParmenidesrsquo of Plato and theOrigin of the Neoplatonic lsquoOnersquo CQ 22 (1928) 129ndash142 hier 132ndash134 Dillon (wieAnm 4) XXVII

Sinne der aristotelischen philosophischen Theologie In den erhal-tenen Partien des anonymen Kommentars findet sich kein Anzei-chen fuumlr eine kompliziertere hypostatische bzw innerhypostati-sche Struktur wie sie bei den spaumlteren Neuplatonikern IamblichosTheodoros von Asine Syrianos oder Proklos vorkommt die zwi-schen das transzendente Eine und das Seiende weitere Schichtensetzten und das intelligible Seiende in ein komplexeres System vonSeinsebenen unterteilten Dennoch sind es gerade die erwaumlhntenNuancen in der Abweichung des anonymen Parmenides-Kom-mentars von Plotin durch die er zu einem aumluszligerst interessantenund fuumlr die Geschichte der abendlaumlndischen Metaphysik bedeu-tenden Text wird Zwei Motive die im fuumlnften und sechsten Frag-ment begegnen sind dabei besonders hervorzuheben

(1) Obwohl der Verfasser des anonymen Kommentars das erste Eine als eine transzendente Gottheit jenseits des Seienden unddes Denkens auffasst legt er es im fuumlnften Fragment zugleich alsdas reine Sein aus das dem Seienden selbst vorausgeht (ατ τεναι τ πρ το ντος) Waumlhrend das zweite Eine (der Intellekt)dem intelligiblen Seienden in seiner Substanzialitaumlt gleichgesetztund dementsprechend durch das Substantiv oder das substanti-vierte Partizip (τ ν οσία) bezeichnet wird hat das erste Einekeinen substanziellen Charakter sondern stellt reines Wirken oderreine Taumltigkeit (ατ τ νεργεν καθαρόν) dar die das zweite Einein seinem Sein konstituiert Zum ersten Mal in der Geschichte derPhilosophie findet sich also in dem anonymen Kommentar eineUnterscheidung zwischen dem Sein und dem Seienden und tauchtder Begriff des sbquoreinen Seinsakteslsquo auf Zu dieser Distinktion einespartizipialen Seienden und des Seins im Infinitiv gelangt der Kom-mentator bei seinem Versuch ein Problem zu loumlsen vor das er sich durch die Formulierung aus der zweiten Hypothese des Par-menides gestellt sieht bdquoWenn Eins ist ist es wohl moumlglich dass esist und doch keinen Anteil an der Seiendheit nimmtldquo6 Fuumlr einenVertreter der metaphysischen Interpretation der die erste undzweite Hypothese als Aussagen uumlber die beiden ersten Hypostasenversteht ergibt sich aus der Voraussetzung der Teilnahme des zwei-ten Einen (des Intellekts) an der Seiendheit eine nicht geringeSchwierigkeit Im Rahmen dieser Deutung gilt naumlmlich das zweite

187Die Theorie des goumlttlichen Selbstbewusstseins im Parmenides-Kommentar

6) Platon Parmenides 142c

Eine als die erste Seiendheit (d h das Seiende selbst) Platons For-mulierung scheint so anzudeuten dass der ersten Seiendheit diemit dem zweiten Einen identisch ist noch eine houmlhere Seiendheitvorausgeht an der das zweite Eine Anteil nimmt Dem zweiten Einen geht aber nur das erste Eine voraus das jenseits des Seiendenoder der Seiendheit liegt Was soll also jene Seiendheit sein an derdas zweite Eine teilnimmt wenn es da auszliger dem zweiten Einennichts anderes als das erste Eine gibt Gerade diese Uumlberlegungbringt den Kommentator auf den Gedanken mit dem AusdruckbdquoSeiendheitldquo koumlnne Platon nur das erste Eine selbst meinen Pla-tons Formulierung wolle in Wirklichkeit nichts anderes aus-druumlcken als dass das zweite Eine an dem ersten Einen Anteil hat7Das hieszlige freilich dass Platon hier das Wort οσία in einem unei-gentlichen Sinne verwendet denn bdquodas Eine ist jenseits der Seiend-heit und des Seienden und es ist weder eine Seiendheit noch einAkt sondern es wirkt vielmehr und ist das reine Wirken selbst so-wie das Sein selbst vor dem Seiendenldquo8 Die Teilnahme des zweitenEinen an der Seiendheit von der Platon spricht bedeutet in der Tatdass das zweite Eine ein abgeleitetes Sein aufgrund seiner Teilnah-me an diesem reinen Sein besitzt das mit dem ersten Einen zusam-menfaumlllt9 In diesem Sinne ist das Eine-Sein gleichsam bdquodie Idee desSeiendenldquo (σπερ δέα το ντος)10

(2) Obwohl der anonyme Kommentar (insbesondere imzweiten Fragment) wiederholt die Transzendenz und sbquoInkommen-surabilitaumltlsquo des ersten Einen mit dem zweiten Einen betont werdendas erste und das zweite Eine im sechsten Fragment als zwei ver-schiedene Schichten oder Aspekte einer Gottheit aufgefasst DerVerfasser des anonymen Kommentars betrachtet das zweite Eine ndashganz im Sinne Plotins ndash als den goumlttlichen Intellekt der in einemzeitlosen reflexiven Akt sich selbst in die Vielheit seiner innerenMomente differenziert und sich selbst wieder zur Einheit versam-melt Das erste Eine versteht er dagegen als ein transzendentes Mo-

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7) Anonymus in Platonis Parmenidem 1211ndash12 (Linguiti 126) μεθέξει τοπρώτου τ δεύτερον

8) Anon in Parm 1223ndash27 (Linguiti 126ndash128) τ ν τ πέκεινα οσίαςκα$ ντος ν μampν οκ στιν οδamp οσία οδamp νέργεια νεργε δamp μ(λλον κα$ αττ νεργεν καθαρόν στε κα$ ατ τ εναι τ πρ το ντος

9) Anon in Parm 1227ndash29 (Linguiti 128) ο μετασχν τ ν -λλο ξατο χει κκλινόμενον τ εναι περ στ$ μετέχειν ντος

10) Anon in Parm 1233ndash34 (Linguiti 128)

ment des reflexiven Intellekts das uumlber dessen Teilung in sbquoDen-kendeslsquo und sbquoGedachteslsquo steht als einen Urakt des Intellekts derseinen differenzierten Akten oder Momenten vorausgeht und ihreEinheit stiftet Jene zwei verschiedenen Schichten des Intellekts ndash(a) der innerlich geeinte Denkakt der die Differenz zwischen demDenkenden und dem Gedachten uumlberschreitet und (b) der inner-lich differenzierte Intellekt der seine reflexive Bewegung ausuumlbtindem er durch die einzelnen Phasen Existenz Leben und Denken(0παρξις ndash ζωή ndash νόησις) hindurchgeht ndash entsprechen also demKommentator zufolge den zwei ersten Hypothesen von PlatonsParmenides d h dem ersten und dem zweiten Einen Diese zweiSchichten des Intellekts stellen fuumlr den Verfasser des Kommentarseigentlich zwei verschiedene Perspektiven dar aus denen man dasGoumlttliche betrachten kann als das Eine in sich selbst (ατ τοτο)das die Ebene des intelligiblen Seienden der Reflexivitaumlt und derDifferenz transzendiert und als das seiende Eine d h als den reflexiven Intellekt der sich in die Vielheit seiner Momente ndash Exis -tenz Leben und Denken ndash ausgliedert

Es ist gerade diese im sechsten Fragment auftretende Theoriedes goumlttlichen Selbstbewusstseins die von den Forschern wieder-holt missverstanden und im Eifer ihres Bemuumlhens den Textinhaltmit den Hypothesen uumlber die Autorschaft des Kommentars zu harmonisieren umgedeutet wurde Infolgedessen blieb dieses be-merkenswerte Lehrstuumlck bisher in seiner Originalitaumlt verkannt InAnbetracht dieser Umstaumlnde moumlchte der vorliegende Aufsatz sei-nen Beitrag dazu leisten gerade den Inhalt des sechsten Fragmentszu klaumlren Um eine zuverlaumlssige Textgrundlage zu schaffen wirdzunaumlchst eine Uumlbersetzung des ganzen Fragments angefuumlhrt dersich eine Interpretation einzelner Textabschnitte anschlieszligt Darinwird vor allem versucht detailliert das dargelegte metaphysischeKonzept zu rekonstruieren

II Fragment 6 Text und Uumlbersetzung

13 Fol 90v

μή δυνά]μενον ες 6αυτν εσελθεν τίνι γ7ρ βλέπει 6αυτν τν εσελ-θεν μ δυνάμενον ε μ τlt 6νί κα$ τίνι 6αυτόν ες gtν εσέρχεσθαιδυνατε τίς στιν οτος μφοτέρων φαπτόμενος κατ7 τ ατ ν τlt μεμερισμένB τίς λέγων Cτερον εναι τ νοον κα$ τ νοούμενον

189Die Theorie des goumlttlichen Selbstbewusstseins im Parmenides-Kommentar

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βλέπων πότε 6νοται τ νοον τlt νοουμένB κα$ τί πότε ο δύ-ναται δDλον οEν τι α0τη νέργεια παρF κείνας παναβεβηκυαπάσαις κα$ χρωμένη ατας πάσαις Gς Hργάνοις πάντων φαπτομέ-νη κα$ κατ7 τ ατ κα$ ν οδεν$ οEσα 6κάστη μampν οEν τIν-λλων πρός τι πέπηγε κα$ κατ7 τ εδος πάντως ατlt κα$ κατ7 τνομα τέτακται α0τη δamp οδενός στι δι οδamp εδος οδamp νομα χει οδamp οσίαν ν οδεν$ γ7ρ κρατεται λλF οδamp μορφοται Kπό τινοςντως οEσα παθς κα$ ντως χώριστος 6αυτDς ο νόησις οEσα ονοητόν οκ οσία λλF πέκεινα πάντων κα$ πάντων ατία ltgtσύζυ-γος σπερ μampν τοίνυν ρασις μampν το κουστο οκ φάπτεται ltοδFκο το ρατοgt οδF μφότεραι το γευστο οδamp οδεν 6κάστη τι6τέρα στ$ν τDς 6τέρας οδF τι κουστν Cτερον το ρατο -λλη δFστ$ν δύναμις παναβεβηκυα τούτων L τατα διακρίνει κα$ τ τα-τν ατIν γιγνώσκει κα$ τ Cτερον κα$ τν οσίαν κα$ πάθος L κα$δύναται πασIν φάπτεσθαι χρDσθαι δamp ατας Gς Hργάνοις δι7 τκρείττονF εναι κα$ παναβεβηκέναι ατIν ο0τως κα$ δύναμις καθFLν ρM νος μ δυνάμενος

14 Fol 90r

εσελθεν ες 6αυτν 6τέρα Nν εOη τDς νοήσεως κα$ το νοουμένου πι-νοίP διαφέρουσα κα$ πέκεινα τούτων οEσα πρεσβείP κα$ δυνάμεικα$ ο0τως ν ν κα$ Qπλον ldquoτ ατ τοτοrdquo νεργείP 6αυτο διαφέρεικα$ Kπάρξει κα$ κατ7 -λλο -ρα Cν στιν Qπλον κατF -λλο δamp ατ6αυτο διαφέρει τ γ7ρ το 6νς διαφέρον οχ ν κα$ τ το QπλοCτερον οχ Qπλον ν μampν οEν στιν κα$ Qπλον κατ7 τν πρώτην κα$ldquoατ τοτοrdquo ατο τοαύτου δέαν δύναμις R τι κα$ χρ Hνομάζειννδείξεως ltχgtάριν -ρρητον οEσαν κα$ νεννόητον οχ ν δamp οδampQπλον κατ7 τν 0παρξιν κα$ ζων ltκα$gt τν νόησιν κα$ τ νοον κα$τ νοούμενον Kπάρξει τ δamp νοον Rν νο[ς μετε]ξ[έλθS] π τDςKπάρξεως ες τ νοον Tνα πανέλθS ες τ νοητν κα$ 6αυτν OδSστ$ν ζωή δι όριστος ltgt κατ7 τν ζωήν κα$ πασIν οσIν νερ-γειIν κα$ Gς κατ7 μampν τν 0παρξιν 6στIσα Nν εOη νέργεια κατ7 δampτν νόησιν ες αKτν στραφεσα νέργεια κατ7 δamp τν ζων κ τDςKπάρξεως κνεύσασα νέργεια κα$ κατ7 τοτο Cστηκεν Uμα κα$ κι-νεται κα$ ν 6αυτlt στιν κα$ ν -λλB κα$ λον στ$ν κα$ μέρη χεικα$ τατόν στι κα$ Cτερον κατ7 δamp ψιλν ατο τ ν κα$ οWον πρIτονκα$ ντως τ ν οXτε Cστηκεν οXτε κινεται οXτε τατόν στιν οXτε Cτε-ρον οXτε ν 6αυτlt στιν οXτε ν -λλB τι δamp οXτε νοούμενον οXτε νεργον οXτε ες 6αυτ οXτε ες -λλο 11

13 Fol 90v

er kann nicht in sich selbst hineingehen Wodurch denn sieht er sichselbst wie er in sich selbst nicht hineingehen kann wenn nicht durchdas Eine Und wodurch denn sieht er sich selbst in den er nicht hin-

190 Vaacutec l av N ěmec

11) Anon in Parm 131ndash1435 (Linguiti 128ndash134)

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eingehen kann Und wer ist derjenige der die beiden als Identisches imgeteilten [Intellekt] beruumlhrt Wer ist derjenige der sagt das Denkendesei etwas anderes als das Gedachte Wer ist derjenige der sieht wanndas Denkende sich mit dem Gedachten vereinigt und wann es sich nichtvereinigen kann Offensichtlich ist es der Akt selbst der sich auszliger jenen [Akten] befindet der uumlber sie alle hinausgeht und der sie alle alsseine Organe gebraucht der Akt der alle anderen [Akte] als Identischesberuumlhrt und der in keinem [jener Akte] enthalten ist Jeder von [den anderen Akten] ist gewiss auf etwas fest gerichtet und dazu durchausgeordnet entsprechend seiner Gestalt und seinem Namen waumlh renddieser Akt zu nichts gehoumlrt deswegen hat er auch keine Gestalt keinenNamen und keine Seiendheit Er wird in keiner Hinsicht beherrscht erwird aber auch von nichts gestaltet da er wirklich unversehrt und wirk-lich ungetrennt von sich selbst bleibt und er ist weder das Denken nochdas Gedachte noch die Seiendheit aber er befindet sich jenseits von allem und ist die inkommensurable Ursache von allemGleich wie weder das Sehvermoumlgen das Houmlrbare erfasst noch dasGehoumlr das Sehbare noch die beiden das was gekostet werden kann undgleich wie keines dieser Sinnesvermoumlgen weiszlig dass es sich von einemanderen unterscheidet und dass das Houmlrbare etwas anderes als das Sehbare ist es aber ein Vermoumlgen gibt das uumlber diese Sinnesvermoumlgenhinausgeht das sie alle unterscheidet und ihre Selbigkeit und Anders-heit ihr Wesen und ihren Zustand erkennt und das sie alle beruumlhrenund als seine Organe gebrauchen kann weil es maumlchtiger als sie ist unduumlber sie hinausgeht so duumlrfte wohl auch das Vermoumlgen durch das derIntellekt sieht der

14 Fol 90r

in sich selbst nicht hineingehen kann ein anderes als das Denken unddas Gedachte sein da es sich durch seinen Begriff von beiden unter-scheidet und sich durch seine Wuumlrde und Macht jenseits von beiden befindetUnd so unterscheidet es sich von sich selbst durch den Akt und die Existenz und doch bleibt sbquoes selbstlsquo Eines und Einfaches und unterdem einen Gesichtspunkt ist es das einfache Eine unter dem anderenaber unterscheidet es sich von sich selbst Denn dasjenige das sich vomEinen unterscheidet ist nicht das Eine und dasjenige das anders als dasEinfache ist ist kein Einfaches Unter dem ersten Gesichtspunkt d hsbquoes selbstlsquo in sich selbst gesehen ist es also das Eine und Einfache dieMacht ndash oder wie soll man sie benennen um sie irgendwie zu bezeich-nen obwohl sie nicht ausgesprochen und gedacht werden kann ndashwaumlhrend es weder Eines noch ein Einfaches in Bezug auf die Existenzdas Leben und das Denken istIn Bezug auf die Existenz ist das Denkende zugleich das GedachteWenn aber der Intellekt aus der Existenz hervorgegangen und zumDenkenden geworden ist um zum Gedachten zuruumlckzukehren undsich selbst anzuschauen dann ist das Denkende das Leben Deswegenist [der Intellekt] in Bezug auf das Leben unbegrenzt Und da sie alle

191Die Theorie des goumlttlichen Selbstbewusstseins im Parmenides-Kommentar

Akte sind duumlrfte es sich wohl in Bezug auf die Existenz um einen ver-bleibenden Akt handeln in Bezug auf das Denken um einen zu sichselbst zuruumlckgekehrten Akt und in Bezug auf das Leben um einen Aktder von der Existenz abgewichen ist Und dementsprechend befindetes sich in Ruhe und zugleich in Bewegung in sich selbst und in einemanderen es ist Ganzes und hat Teile es ist dasselbe und ein anderesAber in Bezug darauf was an ihm das bloszlige Eine und gleichsam dasEine im primaumlren und wahrhaftigen Sinne ist befindet es sich weder inRuhe noch in Bewegung es ist weder dasselbe noch ein anderes wederin sich selbst noch in einem anderen Da es aber weder gedacht nochwirkend ist und zwar weder auf sich selbst noch auf ein anderes

III Interpretation

Der Intellekt der bdquonicht in sich selbst hineingehen kannldquo

Obwohl das Verstaumlndnis des ersten Abschnitts dadurch er-schwert wird dass der Anfang des ersten Satzes fehlt aus dem das Subjekt fuumlr die folgende Partizipialfuumlgung hervorgehen wuumlrdewird aus der Formulierung in den Zeilen 1335ndash141 (νος μ δυνά-μενος εσελθεν ες 6αυτYν) zumindest klar dass es sich um den Intellekt handeln muss Weiter ergibt sich aus dem Satz in den Zei-len 137ndash9 dass mit dem Intellekt der bdquonicht in sich selbst hinein-gehen kannldquo der Intellekt in einem Zustand gemeint ist in dem ersich als Denkender nicht mit sich selbst als dem Gedachten ver-einigen kann Unter dem Intellekt bdquoder in sich selbst hineingehenkannldquo duumlrfte hingegen ein Zustand zu verstehen sein in dem ersich als Denkender mit sich selbst als dem Gedachten vereinigtAus dem Text wird aber nicht besonders klar unter welchen Um-staumlnden ein Intellekt in einen Zustand geraten kann in dem erauszligerstande waumlre sich als Denkender mit sich selbst als dem Gedachten zu vereinigen Nach Pierre Hadot bezeichnet dieserAusdruck jenes transzendente Moment des Intellekts das der re-flexiven Erkenntnis vorausgeht und mit dem ersten Einen selbstzusammenfaumlllt12 Der Intellekt vermoumlchte in dieser Phase nicht insich selbst hineinzugehen weil er sich noch nicht in Denkendesund Gedachtes differenziert hat was als Grundvoraussetzung der

192 Vaacutec l av N ěmec

12) Vgl Hadot Porphyre et Victorinus (wie Anm 2) I 133ndash134 Dieser In-terpretation von Hadot schlieszligt sich auch Alessandro Linguiti an Vgl Linguiti (wieAnm 1) 193 ff

reflexiven Erkenntnis gelten darf Um durch die Bewegung desDenkens in sich selbst hineingehen zu koumlnnen muumlsste der Intellektzunaumlchst durch die Bewegung des Lebens aus sich selbst hervorge-hen und sich somit in die Vielheit seiner Akte entfalten was abererst auf der Ebene des reflexiven Intellekts oder des zweiten Einengeschieht Das erste Eine als der Intellekt der bdquonicht in sich selbsthineingehen kannldquo muumlsste sich folglich zuerst als reflexiver Intel-lekt konstituieren um sich selbst reflexiv erfassen zu koumlnnen

Dieser Interpretation widersprechen aber deutlich die For-mulierungen des Kommentators denen zufolge auch der Intellektbzw eines seiner Momente das bdquonicht in sich selbst hineingehenkannldquo durch jenes houmlhere Erkenntnisvermoumlgen gesehen wird dasdem Einen selbst gleichgesetzt wird (131ndash4 139) Der Intellekt indem Zustand in dem er bdquonicht in sich selbst hineingehen kannldquowird ausdruumlcklich als bdquoder geteilte Intellektldquo (136) bezeichnet derschon in sich selbst als in denjenigen in den er nicht hineingehenkann und denjenigen der nicht hineingehen kann differenziertwird (132ndash4) In diesem Intellekt ist also schon eine Unterschei-dung des Denkenden und des Gedachten vorausgesetzt (136ndash7)Die Wendung dass er bdquonicht hineingehen kannldquo bezeichnet gera-de den Zustand in dem dieser Denkende nicht imstande ist sichmit dem Gedachten zu vereinigen Das Eine wird hingegen als jener houmlhere Akt des Intellekts aufgefasst der die beiden Momentein ihrer Identitaumlt und Andersheit fasst und als solcher uumlber die bei-den Momente hinausgeht (134ndash5 1310ndash13) Nicht zuletzt sprichtgegen Hadots Deutung gerade die Tatsache dass der Intellekt(νος) als Subjekt der Partizipialkonstruktion μ δυνάμενος εσελ-θεν ες 6αυτYν zu vermuten ist Es ist wenig wahrscheinlich dassder Kommentator bereit waumlre das erste Eine ausdruumlcklich als sbquoIn-tellektlsquo zu bezeichnen Wenn Hadot bei seiner Interpretation dessechsten Fragments wiederholt zwei Intellekte (bdquoles deux Intelli-gencesldquo) bzw zwei Zustaumlnde des Intellekts (bdquoles deux eacutetats de lrsquoIntelligenceldquo) erwaumlhnt13 geht er von seiner Annahme aus wo-nach der bdquoIntellekt der nicht in sich selbst hineingehen kannldquo mitdem Einen identisch waumlre Diese Redeweise scheint aber demKommentator selbst fremd zu sein

Eine alternative Interpretation hat Gerard Bechtle vorge-schlagen Bechtle meint gerade umgekehrt der Intellekt der bdquonicht

193Die Theorie des goumlttlichen Selbstbewusstseins im Parmenides-Kommentar

13) Vgl Hadot Porphyre et Victorinus (wie Anm 2) I 133ndash138 II 107ndash113

hineingehen kannldquo sei mit dem reflexiven Intellekt identischwaumlhrend der Intellekt der bdquoin sich selbst hineingehen kannldquo mitdem (ersten) Einen selbst als der transzendenten Wurzel des re-flexiven Intellekts zusammenfalle14 Diese Deutung begegnet den-noch einer aumlhnlichen Schwierigkeit wie die oben skizzierte Inter-pretation Hadots In der Zeile 137ndash9 heiszligt es naumlmlich dass jenervereinigende Akt der mit dem Einen selbst identifiziert wird denIntellekt sowohl in dem Zustand bdquosiehtldquo in dem er bdquonicht hinein-gehen kannldquo als auch in dem Zustand in dem bdquodas Denkende sichmit dem Gedachten vereinigtldquo d h in dem er gerade bdquoin sich selbsthineingehtldquo Daraus ergibt sich dass dieser houmlhere Akt sich vonbeiden Zustaumlnden des Intellekts unterscheiden muss Es ist also offensichtlich dass mit dem bdquoIntellekt der nicht in sich selbst hineingehen kannldquo weder das Eine als transzendentes Moment desIntellekts noch der reflexive Intellekt als solcher gemeint sind Wasmag diese Formel dann bedeuten

Nach dem Ausklammern der beiden erwaumlhnten Interpreta-tionen bleibt grundsaumltzlich nur noch die Moumlglichkeit dass dieseFormel einen Zustand oder eine Phase des reflexiven Intellektsbzw einen seiner Akte bezeichnet Um welche Phase oder welchenAkt des reflexiven Intellekts es sich handelt wird durch den Satzin Zeile 1418ndash20 angedeutet bdquoWenn aber der Intellekt aus der Existenz hervorgegangen (μετε]ξ[έλθS) und zum Denkenden ge-worden ist um zum Gedachten zuruumlckzukehren (πανέλθS ες τνοητόν ndash woumlrtlich um ins Gedachte zuruumlckzugehen)15 und sichselbst anzuschauen dann ist das Denkende das Lebenldquo Es liegtnahe dass der bdquoIntellekt der nicht in sich selbst hineingehenkannldquo mit dem Leben als dem Akt des Intellekts identisch ist deraus der Existenz hervorgegangen ist oder genauer gesagt mit demin die Existenz und das Leben gespaltenen Intellekt sbquobevorlsquo erdurch die Ruumlckbewegung des Denkens zu sich selbst zuruumlckkehrtWaumlhrend die Existenz als bdquoder in Ruhe verbleibende Aktldquo denAusgangszustand des Intellekts darstellt in dem das Denkende mitdem Gedachten zusammenfaumlllt differenziert sich der Intellektdurch die Bewegung des Lebens in die Existenz als das Gedachte

194 Vaacutec l av N ěmec

14) Vgl Bechtle (wie Anm 3) 185ndash186 191ndash19615) Der Kommentator verwendet hier die Verba μετεξέρχομαι und πανέρ-

χομαι die aus derselben Wurzel wie εσέρχομαι gebildet sind wobei das πανέρχο-μαι wahrscheinlich mit dem εσέρχομαι synonym ist

und ins Leben als das Denkende wobei das Hervorgehen des Le-bens in die Ruumlckbewegung des Denkens wieder transformiert wer-den muss damit bdquodas Denkende zum Gedachten zuruumlckkehrtldquoErst in dieser Endphase der reflexiven Bewegung wird also der Zu-stand erlangt in dem das Denkende sich mit dem Gedachten wie-der vereinigt d h der bdquoIntellekt in sich selbst hineingehtldquo Es sindgerade diese Phasen oder Akte ndash Existenz Leben und Denken ndashdie das Eine als der Urakt des Intellekts bdquoin ihrer Identitaumlt und An-dersheit fasstldquo und als bdquoseine Organe gebrauchtldquo (1310ndash13) DasEine als die transzendente Wurzel des reflexiven Intellekts ist dieGrundvoraussetzung dafuumlr dass der reflexive Intellekt sich in jederPhase der Identitaumlt aller seiner Akte bewusst ist und dass er als der Denkende sich selbst als den Gedachten identifizieren kannauch wenn er in die verschiedenen Momente gespalten ist Das Einewird so als ein uumlber-reflexiver Akt begriffen der die Einheit undIdentitaumlt der verschiedenen Akte oder Momente des reflexiven In-tellekts garantiert und ihre gegenseitige Selbstidentifizierung er-moumlglicht Folglich ist es auch das Eine das gewaumlhrleistet dass derreflexive Intellekt bdquoin sich selbst hineingehen kannldquo

Vergleich mit dem Gemeinsinn

Diese Interpretation wird durch den folgenden Textabschnittbekraumlftigt in dem jenes houmlhere Vermoumlgen des Intellekts das mitdem Einen selbst zusammenfaumlllt mit dem aristotelischen sbquounter-scheidenden Sinnesvermoumlgenlsquo verglichen wird Hier lehnt sich derKommentator eng an eine Stelle aus dem dritten Buch De animaan16 wo Aristoteles die Frage aufwirft wie sich Unterschiede zwi-schen den verschiedenen Sinnesempfindungen feststellen lassen17

Bei der Loumlsung dieser Frage erlaumlutert Aristoteles dass jedes Sin-nesvermoumlgen sich jeweils auf die ihm zugehoumlrigen Wahrneh-mungsgegenstaumlnde oder Wahrnehmungsqualitaumlten bezieht aberkeinem das Wahrnehmbare fassbar ist fuumlr das die anderen Sinnezustaumlndig sind Demgemaumlszlig kann jeder Sinn zwar die Unterschiedezwischen den ihm zugehoumlrigen Wahrnehmungsgegenstaumlnden be-

195Die Theorie des goumlttlichen Selbstbewusstseins im Parmenides-Kommentar

16) Aristoteles De anima 426b8ndash2217) Vgl H-J Horn Studien zum dritten Buch der aristotelischen Schrift De

anima Goumlttingen 1994 39

urteilen keines der getrennten Sinnesvermoumlgen aber ist imstandedie Gegenstaumlnde quer durch mehrere Wahrnehmungsbereiche ndashz B das Weiszlige und das Suumlszlige ndash zu unterscheiden Da es sich aberimmer um Wahrnehmbares handelt muumlssen auch die Unterschie-de zwischen Wahrnehmungsgegenstaumlnden die in den Kompetenz-bereich verschiedener Sinne fallen durch ein Sinnesvermoumlgen fest-gestellt werden das von den uumlbrigen Sinnen abgegrenzt ist Gera-de dieses eigentuumlmliche Sinnesvermoumlgen nennt Aristoteles sbquodas unterscheidendelsquo (τ κρνον) Wenn es auch nirgends explizit ge-sagt wird scheint er dieses Vermoumlgen mit dem sbquogemeinsamen Sinnlsquo( κοιν αOσθησις) gleichzusetzen18 Diesem sbquogemeinsamen Sinnlsquoschreibt er weitere Funktionen zu wie etwa die Wahrnehmung sbquoge-meinsamer Wahrnehmungsgegenstaumlndelsquo die von mehreren Sinnenzugleich erfasst werden aber auch ein elementares Selbstbewusst-sein das jeden Wahrnehmungsakt begleitet (wie z B mein Sehaktvon dem Bewusstsein begleitet wird dass ich sehe)19

Gerade an diese Motive der aristotelischen Psychologie knuumlpftder Kommentator an mit der Parallele die er zwischen der Sinnes-wahrnehmung und dem Intellekt zieht Aumlhnlich wie die Sinnes -vermoumlgen ist auch der reflexive Intellekt in seine verschiedenen Momente oder Akte aufgespalten von denen jeder seine eigeneFunktion und seinen eigenen Kompetenzbereich besitzt weshalbaber auch keiner imstande ist sich auf die anderen Akte und auf dasvon ihnen Intendierte zu beziehen und sie in ihrer Andersheit undIdentitaumlt zu erkennen Deshalb muss es auch auf der Ebene des In-tellekts ein besonderes Vermoumlgen ndash aumlhnlich dem sbquounterscheidendenlsquooder sbquogemeinsamenlsquo Sinn ndash geben das von allen Vermoumlgen oder Ak-ten des reflexiven Intellekts verschieden ist und uumlber sie hinausgehtGenau wie der sensus communis ist es ein aktiver Keim des Intellektsder alle differenzierten Akte beruumlhrt sie als seine Organe gebrauchtund diese zugleich vereinigt und ihre Selbigkeit stiftet Und ebensowie der sbquogemeinsame Sinnlsquo muss dieser vereinigende Akt uumlber allenAkten ein einziger sein ja er faumlllt mit dem (ersten) Einen zusammen

196 Vaacutec l av N ěmec

18) Zum sbquogemeinsamen Sinnlsquo siehe z B Aristoteles De an 425a27 ZurGleichsetzung des sbquounterscheidenden Sinneslsquo mit dem sensus communis bei Aristo-teles vgl z B A-E Chaignet Essai sur la psychologie drsquoAristote Bruxelles 1966375 378ndash381 Diese Identifikation zieht allerdings D W Hamlyn in Zweifel VglAristotle De Anima Books II and III Translated with Introduction and Notes byD W Hamlyn Oxford 2002 128ndash129

19) Vgl Chaignet (wie Anm 18) 375ndash382

Der Vergleich mit dem sbquogemeinsamenlsquo Sinn wirft ein klaumlren-des Licht auf die vorausgehende Passage (131ndash23) Der Kommen-tator schreibt dem Einen in seinem Bezug auf die Akte des reflexi-ven Intellekts eine aumlhnliche Funktion zu wie sie der sensus com-munis als Organ des elementaren Selbstbewusstseins ausuumlbt dasdie Wahrnehmungsakte begleitet Das Eine begleitet die einzelnenAkte des reflexiven Intellekts und vereinigt sie so alle in sich selbstals in einem einzigen Zentrum Als dieses uumlber-reflexive und Ein-heit stiftende Moment bildet das Eine einen konstitutiven und er-moumlglichenden Grund des reflexiven Selbstbewusstseins des Intel-lekts Auf den ersten Blick scheint der Vergleich insoweit zu hin-ken als die Wahrnehmungsakte ausschlieszliglich auf die aumluszligeren Gegenstaumlnde gerichtet und im Prinzip nicht zu einem Selbstbezugfaumlhig sind waumlhrend durch die Akte des reflexiven Intellekts sichgerade der denkende Selbstbezug vollzieht in dem bdquoder Denkendesich mit dem Gedachten vereinigtldquo Der Kommentator scheintdennoch davon uumlberzeugt zu sein dass die differenzierten Akte desreflexiven Intellekts an sich auszligerstande sind diesen Selbstbezugzu bewirken und zu gewaumlhrleisten Die unabdingbare Grundbe-dingung der Moumlglichkeit des reflexiven Selbstbezuges wie er imdurch die Dreiheit der Akte strukturierten Intellekt realisiert wirdstellt gerade das mit dem Einen identifizierte houmlhere Vermoumlgenoder der vereinigende Akt dar der alle differenzierten Akte beglei-tet und ihre Einheit und Selbigkeit in der Vielheit und Andersheitgarantiert Das Selbstbewusstsein auf der Ebene des reflexiven Intellekts das sich durch die Dualitaumlt des Denkenden und des Gedachten auszeichnet ist so in einem houmlheren oder tieferen nicht-reflexiven oder uumlber-reflexiven Selbstbewusstsein gegruumlndet des-sen Quelle und Subjekt das transzendente Eine selbst ist

Das Eine und die Dreiheit von sbquoExistenz ndash Leben ndash Denkenlsquo

Aus dem Gesagten wird auch ersichtlich dass das Eine von allen Strukturmomenten oder Akten des reflexiven Intellekts ingleichem Maszlige verschieden sein muss und mit keinem von ihnenidentifiziert werden kann Aus diesem Grund ist auch die Inter-preta tion Hadots abzulehnen wonach das Eine schlieszliglich mitdem ersten Glied der Dreiheit von sbquoExistenz ndash Leben ndash Denkenlsquoidentisch sein soll Diese Auslegung gruumlndet sich auf die Annahme

197Die Theorie des goumlttlichen Selbstbewusstseins im Parmenides-Kommentar

die Existenz als einer der Akte des reflexiven Intellekts falle mitdem sbquoSeinlsquo zusammen das im fuumlnften Fragment mit dem Einenselbst gleichgesetzt wurde20 Diese Identifizierung des sbquoSeinslsquo mitder sbquoExistenzlsquo laumlsst sich aber in keinem der erhaltenen Fragmentedes Kommentars belegen und waumlre mit dessen metaphysischemKonzept auch kaum vereinbar Der eigentliche Grund fuumlr HadotsGleichsetzung dieser zwei Termini ist die Tatsache dass sie beidein den theologischen Schriften des Marius Victorinus ndash insbeson-dere in Adversus Arium 1b ndash zusammenzuflieszligen scheinen Geradein der genannten Schrift erhebt Marius Victorinus die Dreiheit vonsbquoSein (bzw Existenz) ndash Leben ndash Denkenlsquo zum zentralen konzeptu-ellen Modell fuumlr seine Eroumlrterung der Wesensgleichheit von VaterSohn und heiligem Geist Im Rahmen seiner Transponierung derchristlich-theologischen Problematik auf den Boden einer (neu-)platonischen metaphysischen Prinzipienlehre fasst Victorinus denGottvater als das transzendente bdquoEine ohne Existenzldquo (inexsisten-tialiter unum) auf dem durch die negative Theologie u a Sein Existenz Seiendes Substanz Denken abgesprochen werden21 dasaber von der affirmativen Theologie zugleich als bdquodreimaumlchtigerGeistldquo (tripotens spiritus) gepriesen wird der die Vermoumlgen desSeins des Lebens und des Denkens in sich einschlieszligt Unter die-sem Gesichtspunkt wird Gottvater primaumlr als das reine Sein (esse)betrachtet das in seiner transzendenten Einheit und Verborgenheitdas Leben und das Denken in ihrer potenziellen Praumlexistenz be-inhaltet22 Der Sohn und der Heilige Geist werden dann geradedem aktualisierten und geaumluszligerten Leben (vita) und Denken (in-

198 Vaacutec l av N ěmec

20) Vgl Hadot Porphyre et Victorinus (wie Anm 2) I 13321) Marius Victorinus Adversus Arium 1499ndash18 (CSEL LXXXIIII 143)

Ante omnia quae vere sunt unum fuit sive unalitas sive ipsum unum antequam sitei esse unum unum ante omnem exsistentiam ante omnem exsistentialitatem ante ipsum ν hoc enim unum ante ν ante omnem igitur essentitatem substantiamsubsistentiam et adhuc omnia quae potentiora unum sine exsistentia sine substan-tia sine intellegentia

22) Marius Victorinus Adv Ar 1501ndash15 (CSEL LXXXIIII 144ndash145) Hicest deus hic pater praeintellegentia praeexsistens et praeexsistentia tripotens inunalitate spiritus tres potentias couniens exsistentiam omnem vitam omnem etbeatitudinem sed ista omnia et unum et simplex unum et maxime in potentia eiusquod est esse hoc est exsistentiae potentia vitae et beatitudinis 1523ndash9 (CSELLXXXIIII 148) Deus potentia est istarum trium potentiarum exsistentiae vitaebeatitudinis hoc est eius quod est esse quod vivere quod intellegere Et quod estesse primum et secundum quod est esse secundum ipsum vivere et intellegere sineulla unitione sed simpliciter simplicitas et istud manifestum

tellegentia bzw sapientia beatitudo) gleichgesetzt die zugleich alszwei Phasen des bdquoHervorgehensldquo (progressio) und der bdquoRuumlckkehrldquo(regressus) begriffen werden durch die das zweite Eine ndash das bdquoEinein der Existenzldquo (exsistentialiter unum) ndash konstituiert wird23 SeinLeben und Denken zeigen sich so als die drei Phasen ndash VerharrenHervorgehen und Ruumlckkehr24 ndash in denen sich die goumlttliche Sub-stanz aus ihrer transzendenten Wurzel in die Vielheit und Anders-heit hinein entfaltet um die urspruumlngliche Selbigkeit mit ihremtranszendenten Grund wiederherzustellen und sich selbst als einreflexiv denkendes Wesen zu konstituieren25 Die substanzielleIdentitaumlt von Sein Leben und Denken wird dabei durch ihr ge-genseitiges Ineinandersein ermoumlglicht Jedes Glied impliziert diezwei anderen auf seine eigene Art und Weise Ihre Differenz ergibtsich dagegen daraus dass in jeder Phase jeweils ein Glied der Drei-heit uumlber die anderen herrscht und in den Vordergrund tritt26

Obwohl man eine konzeptuelle Verwandtschaft zwischenAdversus Arium 1b und dem anonymen Parmenides-Kommentarkaum bestreiten kann ndash diese besteht besonders darin dass in bei-den Texten das erste Eine mit dem reinen Sein identifiziert wirddas sich vom Seienden bzw dem seienden Einen abgrenzt und dassdie Dreiheit sbquoExistenz ndash Leben ndash Denkenlsquo eine zentrale Rolle beider Eroumlrterung der reflexiven Bewegung bzw der Konstitution desIntellekts spielt ndash sind auch einige wesentliche Unterschiede nichtzu verkennen Im anonymen Kommentar kann vor allem keineAnwendung der Dreiheit auf das erste Eine nachgewiesen werdenSein Verfasser setzt zwar das Eine dem reinen Sein gleich das alsreine Wirksamkeit verschieden ist vom substanziellen Seienden

199Die Theorie des goumlttlichen Selbstbewusstseins im Parmenides-Kommentar

23) Marius Victorinus Adv Ar 15110ndash27 (CSEL LXXXIIII 146ndash147)Potentia enim progrediente ista motio nusquam requiescens quippe vita quaesit infinita et ipsa in vivificatione veluti foris apparuit Vita autem filius vita mo-tio a vitali praeexsistentia vita exsistentia Ista igitur exsistentia totius exsistentiaeest vita et iuxta quod vita motus quasi femineam sortita est potentiam hoc quodconcupivit vivificare Sed quoniam ista motio una cum sit et vita est et sapien-tia vita conversa in sapientiam et magis in exsistentiam patricam magis autem retromotae motionis in patricam potentiam et ab ipso viltrgtificata vita recurrens in patrem vir effecta est Descensio enim vita ascensio sapientia Vgl auch 15220ndash35(CSEL LXXXIIII 148ndash149)

24) Marius Victorinus Hymnus 371ndash74 (CSEL LXXXIIII 297) Statusprogressio regressus o beata trinitas

25) Vgl Marius Victorinus Adv Ar 1577ndash21 (CSEL LXXXIIII 155ndash156)26) Vgl Hadot Porphyre et Victorinus (wie Anm 2) I 239ndash246

und er spricht dem Einen auch eine Art uumlber-reflexives Denken zunie aber wendet er die Dreiheit sbquoSein ndash Leben ndash Denkenlsquo auf das erste Eine an nicht einmal im Sinne einer potenziellen und uumlber-substanziellen Praumlexistenz (praeexsistentia ndash praeviventia ndash prae -intellegentia) wie es Victorinus in Adversus Arium 1b und imzweiten Teil von Adversus Arium 4 tut27 oder im Sinne der reinenAkte (esse ndash vivere ndash intellegere) wie es insbesondere im ersten Teilvon Adversus Arium 4 geschieht28 Die Dreiheit erscheint im Kom-mentar nur in substanzieller Form und bleibt der Ebene des Intel-lekts immanent Im fuumlnften Fragment kritisiert der Kommentatorsogar ausdruumlcklich die Chaldaumlischen Orakel oder ihre Auslegerweil sie der houmlchsten Gottheit eine trinitarische Struktur zuwei-sen29 Manche seiner Formulierungen erwecken dabei den Ein-druck dass er bei seiner Kritik ein aumlhnliches theologisches Kon-zept im Auge gehabt haben mochte wie es uns gerade in AdversusArium 1b begegnet Das Eine wird vom Kommentator keineswegsals Ausgangsglied der Dreiheit aufgefasst aus dem das Leben her-vorginge und zu dem das Denken zuruumlckkehrte wie es in Adver-sus Arium 1b begriffen wird Dementsprechend ist das Eine auchnicht sbquoder Gegenstandlsquo des Erkennens des zweiten Einen in demdas zweite Eine zugleich sich selbst in seiner potenziellen undtranszendenten Praumlexistenz erfasst sondern es ist der Akt der inallen drei Akten oder Momenten wirkt der ihre Einheit stiftet undzugleich uumlber sie hinausgeht Auch wenn der Kommentator dasEine mit dem Sein identifiziert setzt er nie das Sein mit der Exis -tenz gleich und nichts scheint davon zu zeugen dass die Existenzmit dem transzendenten Moment des Intellekts (dem ersten Einen)zusammenfallen sollte30 Der Verfasser des anonymen Kommen-tars verwendet im Gegenteil unterschiedliche Ausdruumlcke um dieverschiedenen Tatsachen hervorzuheben Waumlhrend der TerminussbquoSeinlsquo dem ersten Einen als der Ursache oder der sbquoIdeelsquo des intelli-giblen Seienden vorbehalten ist soll das Wort sbquoExistenzlsquo das ersteMoment der reflexiven Bewegung des Intellekts oder des zweiten

200 Vaacutec l av N ěmec

27) Vgl z B Marius Victorinus Adv Ar 42318ndash34 (CSEL LXXXIIII 260)28) Vgl z B Marius Victorinus Adv Ar 464ndash7 (CSEL LXXXIIII 231ndash

232) 489ndash30 (CSEL LXXXIIII 235ndash236) 42126ndash28 (CSEL LXXXIIII 257)29) Vgl Anon in Parm 91ndash1011 (Linguiti 118ndash120)30) Darauf hat schon Andrew Smith hingewiesen Vgl ders Zπόστασις and

0παρξις in Porphyry in F Romano D P Taormina (Hrsg) Hyparxis e hyposta-sis nel neoplatonismo Firenze 1994 33ndash41 hier 41

Einen bezeichnen im Unterschied zum sbquoSeiendenlsquo das als Benen-nung fuumlr die ganze Hypostase dient Im anonymen Kommentarfindet man auch kein Anzeichen fuumlr das Prinzip eines wechsel -seitigen Ineinanderseins (und des Vorherrschens) von Existenz Leben und Denken das eine zentrale Rolle in Adversus Arium 1b3 und 4 ndash und im spaumlteren Neuplatonismus uumlberhaupt ndash spielt

Dialektik der negativen und affirmativen Theologie

Auch die ganze Problematik der sbquoInkommensurabilitaumltlsquo bzwsbquoKommensurabilitaumltlsquo des ersten Einen mit dem zweiten Einen be-handelt der Verfasser des Kommentars anders als Marius Victori-nus in Adversus Arium 1b31 Dem Kommentator zufolge zeigt sichdas Goumlttliche bdquounter dem einen Gesichtspunktldquo (κατF -λλο bzwκατ7 τν πρώτην δέαν) d h bdquoes selbst in sich selbst gesehenldquo alsdas einfache Eine das bdquonicht ausgesprochen und gedacht werdenkannldquo bdquounter dem anderen Gesichtspunktldquo (κατF -λλο) hingegenwird es als der in sich durch Reflexion differenzierte Intellekt be-trachtet der sich in die Vielheit seiner Akte ndash Existenz Leben undDenken ndash hinein entfaltet Wie der Schluss des sechsten Fragmentsbezeugt entsprechen diese zwei Gesichtspunkte der ersten und derzweiten Hypothese des Parmenides Trotz der sbquoontologischen Dif-ferenzlsquo zwischen dem ersten Einen und dem Intellekt (dem zwei-ten Einen) die in den vorausgehenden Fragmenten immer wiederemphatisch hervorgehoben wurde meint also der Kommentatordass sich beide Hypothesen auf eine einzige Gottheit beziehen diedas transzendente Eine und den reflexiven Intellekt als ihre zweiSchichten oder Momente einschlieszligt Der Verfasser des Kommen-tars scheint also die beiden Hypothesen als eine Art sbquodialektischelsquoTheologie zu verstehen die das Goumlttliche unter zwei verschiede-

201Die Theorie des goumlttlichen Selbstbewusstseins im Parmenides-Kommentar

31) Die Dialektik der sbquoInkommensurabilitaumltlsquo (bdquolrsquoincoordinationldquo) und sbquoKom-mensurabilitaumltlsquo (bdquola coordinationldquo) des Einen betrachtet Hadot als einen der Haupt -zuumlge der sbquoporphyrianischen Metaphysiklsquo Entsprechend seiner Hypothese dass derVerfasser des anonymen Kommentars Porphyrios sei den er zugleich fuumlr die grie-chische Quelle haumllt aus der Marius Victorinus geschoumlpft hat meint er dass der an -onyme Parmenides-Kommentar und die theologischen Schriften des Marius Victo-rinus ndash insbesondere Adversus Arium 1b ndash auch in diesem Punkt uumlbereinstimmenVgl Hadot La meacutetaphysique de Porphyre (wie Anm 2) 131 ff ders Porphyre etVictorinus (wie Anm 2) I 139ndash141 259ndash260

nen Aspekten zum Thema macht Vielleicht koumlnnte man auch uumlbereine Art sbquoDialektik der Kommensurabilitaumlt und Inkommensurabi-litaumltlsquo des Einen selbst sprechen insofern der Gesichtspunkt derzweiten Hypothese deren Gegenstand eigentlich der reflexive Intellekt ist zugleich eine neue Perspektive oumlffnet aus der sich das erste Eine in seiner Bezogenheit auf die differenzierten Aktedes Intellekts zeigt Erscheint das (erste) Eine unter dem ersten Gesichtspunkt als inkommensurabel und relationslos so dass manihm jedwede Beziehung zum Intellekt ndash sogar die der Andersheit ndashverweigern muss32 stellt es sich unter dem anderen Gesichtspunktder die Aufmerksamkeit auf das zweite Eine oder den Intellektlenkt zugleich als der einheitsstiftende Akt uumlber den differenzier-ten Akten des reflexiven Intellekts als der konstitutive Urgrundseines Selbstbewusstseins heraus Freilich ist Hadots Ansichtzuruumlckzuweisen die sbquodialektischelsquo Theologie des anonymen Kommentars sei mit dem entsprechenden Konzept in AdversusArium 1b identisch33 Die theologische Auffassung in AdversusArium 1b kann insofern als sbquodialektischlsquo bezeichnet werden als dasEine unter zwei verschiedenen Aspekten behandelt wird in sichund auf das von ihm Verursachte bezogen Das Eine zeigt sich soeinerseits als inkommensurabel und in seiner absoluten Differenz-losigkeit allen gegenstaumlndlichen Kategorien des menschlichenDenkens enthoben andererseits in Bezug darauf wessen Ursprunges ist als universale Ursache die selbst auf eine transzendente undpotenzielle Weise alles ist was aus ihr hervorgeht Waumlhrend unterdem Gesichtspunkt der negativen Theologie dem Einen u a SeinExistenz Leben und Denken abgesprochen wird erweist es sichunter dem Gesichtspunkt der affirmativen Theologie als erste Phase der Selbstkonstitution der goumlttlichen Substanz bzw des Intellekts und als erstes Glied der Dreiheit von sbquoSein ndash Leben ndashDenkenlsquo Als das Sein selbst enthaumllt es in sich auf transzendenteund potenzielle Weise die beiden anderen Glieder ndash Leben undDenken ndash und vereinigt sie in seiner unterschiedslosen Einheit ImVergleich mit dem anonymen Kommentar faumlllt nun auf dass beiVictorinus beide Gesichtspunkte den Methoden der negativen undaffirmativen Theologie entsprechen die ausschlieszliglich auf das ers -te Eine angewandt werden also auf das Eine der ersten Hypothese

202 Vaacutec l av N ěmec

32) Vgl Anon in Parm 31ndash35 (Linguiti 100ndash102)33) Vgl oben Anm 31

des Parmenides das mit Gottvater identifiziert wird Das zweiteEine d h das Eine der zweiten Hypothese das Victorinus demSohn gleichsetzt wird erst spaumlter zum Thema34 und ist nicht in dieDialektik der negativen und affirmativen Theologie einbezogenIm anonymen Kommentar hingegen entsprechen die beiden Ge-sichtspunkte der ersten und der zweiten Hypothese die das den reflexiven Intellekt (das zweite Eine) und seinen uumlber-reflexivenGrund (das erste Eine) umschlieszligende Goumlttliche in seinen beidenAspekten oder Schichten behandeln Obwohl also sowohl in Ad-versus Arium 1b als auch im anonymen Kommentar eine Art sbquoDia-lektik der Kommensurabilitaumlt und Inkommensurabilitaumltlsquo des Einenvorkommt geht es offensichtlich um zwei verschiedene Variantenderen Unterschiedlichkeit wieder die Differenzen zwischen denbeiden metaphysischen Konzepten klar hervortreten laumlsst35

Schlussfolgerungen

Gerade die erwaumlhnten Unterschiede verwischt nun Hadotum den Inhalt des sechsten Fragments mit seiner Hypothese inEinklang zu bringen dass der Verfasser des anonymen Kommen-tars (naumlmlich Porphyrios) mit der griechischen Quelle der theolo-gischen Schriften des Marius Victorinus identisch sei Dabei pro-

203Die Theorie des goumlttlichen Selbstbewusstseins im Parmenides-Kommentar

34) Marius Victorinus Adv Ar 15022 ff (CSEL LXXXIIII 145)35) Diese sbquoJuxtappositionlsquo oder sbquoDialektiklsquo der negativen und affirmativen

Theologie die das Goumlttliche aus zwei verschiedenen Perspektiven betrachtet wo-bei es sich bald als sbquoinkommensurabellsquo bald als sbquokommensurabellsquo zeigt geht wahr-scheinlich auf die mittelplatonische bzw neupythagoreische Tradition zuruumlck VglJ Mansfeld Compatible Alternatives Middle Platonists Theology and the Xeno -phanes Reception in R van den Broek T Baarda J Mansfeld (Hrsg) Know -ledge of God in the Graeco-Roman World Leiden 1988 92ndash117 Eudoros vonAlexandrien fuumlhrt die beiden Betrachtungsweisen mit aumlhnlichen Ausdruumlcken wieder Verfasser des anonymen Kommentars ein (κατ7 τν νωτάτω λόγον κατF -λλον τρόπον bzw κατ7 τν δεύτερον λόγον) Vgl Simplikios In Aristotelis Physica com-mentaria 15 (CAG IX 18110ndash30) Bei Eudoros geht es dennoch um die spezifischeProblematik der pythagoreischen Prinzipienlehre Er bemuumlht sich die sbquomonistischelsquound sbquodualistischelsquo pythagoreische Lehre zu versoumlhnen indem er das Eine einmal alsdas einzige uumlber alle Gegensaumltze erhabene Prinzip betrachtet einmal als ein Gliedder Grundpolaritaumlt sbquodas Eine ndash die unbestimmte Zweiheitlsquo In Adversus Arium 1bund im anonymen Parmenides-Kommentar wird hingegen dieselbe Methode aufdie Problematik der neuplatonischen houmlchsten Prinzipien angewandt ndash obgleich jeweils auf eine andere Art und Weise

jiziert er das Denkschema von Adversus Arium 1b in den Par-menides-Kommentar hinein und entstellt somit gewissermaszligen das hier enthaltene metaphysische Konzept36 Folglich wurde diebemerkenswerte Theorie des goumlttlichen Bewusstseins wie sie imsechsten Fragment dargelegt ist in ihrer Originalitaumlt bislang kaumuntersucht und nur unzureichend bewertet Auch legen die fest-gestellten Differenzen die Vermutung nahe dass der anonymeKommentar bzw sein Verfasser nicht die direkte Quelle des theo-logischen Werkes von Marius Victorinus ndash oder zumindest seinerSchrift Adversus Arium 1b ndash gewesen sein kann Die Unterschiedelassen sich auch nicht wegdiskutieren wenn man darauf hinweistdass der Kommentar uns nur fragmentarisch erhalten blieb oderVictorinus seine Quelle wesentlich umgedeutet haben koumlnnte um sie seinem christlich-theologischen Anliegen anzupassen Wieschon gezeigt sind mehrere Grundzuumlge der beiden metaphysi-schen Konzepte einfach nicht miteinander kompatibel Und gera-de manche Motive durch die sich das metaphysische Schema inAdversus Arium 1b von dem des anonymen Kommentars abhebtz B das Prinzip des Ineinanderseins (und des Vorherrschens) vonSein Leben und Denken begegnen uns wieder bei den spaumlterenNeuplatonikern freilich mit dem Unterschied dass diese sie aufdie niedrigeren Seinsstufen anwenden ohne das Eine mit einem derGlieder der Dreiheit zu identifizieren Der anonyme Kommentarduumlrfte so wohl auf etwas hindeuten das schon durch die Anwe-senheit verschiedener Varianten eines verwandten metaphysischenKonzepts in den theologischen Schriften des Marius Victorinusdie kaum auf eine einzige Quelle zuruumlckzufuumlhren sind angedeutetwird37 die Existenz einer ganzen Traditionslinie des spaumltantiken

204 Vaacutec l av N ěmec

36) Diese Kritik wird freilich geaumluszligert mit der wesentlichen Einschraumlnkungdass es gerade Hadots groszliges Verdienst war die Eigentuumlmlichkeit und Bedeutungder metaphysischen Lehre des anonymen Kommentars im Rahmen des spaumltantikenPlatonismus erkannt und sie zum ersten Mal detailliert und ndash mit den oben er-waumlhnten Ausnahmen ndash praumlzise rekonstruiert zu haben

37) Im theologischen Werk von Marius Victorinus lassen sich mindestensdrei (bzw vier wenn man auch Candidi epistola 1 dazu zaumlhlt) unterschiedliche Va-rianten eines verwandten metaphysischen Systems ausmachen die wahrscheinlichauf verschiedene Quellen zuruumlckgehen Dies versuchte ich in meinem Aufsatz Me-tafysickeacute systeacutemy v theologickeacutem diacutele Maria Victorina in V Hušek L Chvaacutetal J Plaacutetovaacute (Hrsg) Miscellanea patristica Brno 2007 37ndash71 nachzuweisen Vglauch meine Einleitung zur tschechischen Ausgabe des anonymen Parmenides-Kommentars Anonymniacute komentaacuteř k Platoacutenovu Parmenidovi Praha 2009 49ndash69

(Neu-)Platonismus die von der uns bekannten Hauptstroumlmungabweicht und in deren Rahmen verschiedene Versionen einer aumlhn-lichen metaphysischen Auffassung durchdacht wurden

Prag Vaacutec l av N ěmec

205Die Theorie des goumlttlichen Selbstbewusstseins im Parmenides-Kommentar

Page 2: DIE THEORIE DES GÖTTLICHEN SELBSTBEWUSSTSEINS ...Gnosticism and Later Platonism: Themes, Figures, and Texts, Atlanta 2000, 141–177; J.D.Turner, Sethian Gnosticism and the Platonic

sei ein mittelplatonischer oder neupythagoreischer Denker vorPlotin gewesen3 Dabei stand nicht nur die Frage der Autorschaftzur Debatte Aus hermeneutischer Sicht ist es wenig uumlberraschenddass im Zusammenhang mit den verschiedenen Hypothesen zurAutorschaft des anonymen Kommentars auch sein Inhalt unter-schiedlich ausgedeutet und umgedeutet wurde Die Relevanz die-ses Textes besteht nicht zuletzt darin dass er ein einzigartiges me-taphysisches Konzept enthaumllt das eine bemerkenswerte Alternati-ve zu den metaphysischen Systemen der uns bekannten Neuplato-niker darstellt Und gerade in diesen ganz eigenen Zuumlgen lassensich einige bekannte Motive ausmachen die im spaumlteren abendlaumln-dischen Denken eine bedeutende Rolle spielten

Der anonyme Kommentar steht eindeutig fuumlr eine sbquometaphy-sische Interpretationlsquo des Parmenides4 Soweit es sich aufgrund dererhaltenen Fragmente des Kommentars beurteilen laumlsst die sichnur auf die zwei ersten Hypothesen des Parmenides beziehen istseine Auslegung des Dialogs und das damit verbundene metaphy-sische Konzept eng mit derjenigen verwandt die wir aus PlotinsEnneaden kennen5 Der sbquoGegenstandlsquo der ersten Hypothese wirdmit dem transzendenten Einen jenseits des Seienden und des Denkens identifiziert Ihre Aussagen werden als eine negativeTheologie verstanden durch die dem ersten Einen alle intelligiblenDenkkategorien abgesprochen werden Die zweite Hypothesemacht dieser Interpretation zufolge sbquodas seiende Einelsquo zum Themad h das intelligible Seiende selbst das zugleich als der goumlttliche re-flexive Intellekt angesehen wird als ein sbquoDenken des Denkenslsquo im

186 Vaacutec l av N ěmec

3) Vgl G Bechtle The Anonymous Commentary on Platorsquos lsquoParmenidesrsquoBern 1999 K Corrigan Platonism and Gnosticism The Anonymous Commentaryon the lsquoParmenidesrsquo Middle or Neoplatonic in J D Turner R Majercik (Hrsg)Gnosticism and Later Platonism Themes Figures and Texts Atlanta 2000 141ndash177J D Turner Sethian Gnosticism and the Platonic Tradition Queacutebec 2001 710ndash711

4) Zur Tradition der sbquometaphysischen Ausdeutunglsquo des Parmenides in der Antike vgl Proklos Commentarius in Platonis Parmenidem 1 (Cousin 635ndash645)J M Dillon Proclusrsquo Commentary on Platorsquos lsquoParmenidesrsquo Translated by G R Mor-row and J M Dillon with an Introduction and Notes by J M Dillon Princeton 1987XXVIndashXXVII 7ndash9 H D Saffrey L G Westerink Proclus Theacuteologie Platoni -cienne II Paris 1974 XIIndashXIX

5) Zu Plotins Interpretation des Parmenides und ihrem Zusammenhang mitseiner Drei-Hypostasen-Lehre vgl E R Dodds The lsquoParmenidesrsquo of Plato and theOrigin of the Neoplatonic lsquoOnersquo CQ 22 (1928) 129ndash142 hier 132ndash134 Dillon (wieAnm 4) XXVII

Sinne der aristotelischen philosophischen Theologie In den erhal-tenen Partien des anonymen Kommentars findet sich kein Anzei-chen fuumlr eine kompliziertere hypostatische bzw innerhypostati-sche Struktur wie sie bei den spaumlteren Neuplatonikern IamblichosTheodoros von Asine Syrianos oder Proklos vorkommt die zwi-schen das transzendente Eine und das Seiende weitere Schichtensetzten und das intelligible Seiende in ein komplexeres System vonSeinsebenen unterteilten Dennoch sind es gerade die erwaumlhntenNuancen in der Abweichung des anonymen Parmenides-Kom-mentars von Plotin durch die er zu einem aumluszligerst interessantenund fuumlr die Geschichte der abendlaumlndischen Metaphysik bedeu-tenden Text wird Zwei Motive die im fuumlnften und sechsten Frag-ment begegnen sind dabei besonders hervorzuheben

(1) Obwohl der Verfasser des anonymen Kommentars das erste Eine als eine transzendente Gottheit jenseits des Seienden unddes Denkens auffasst legt er es im fuumlnften Fragment zugleich alsdas reine Sein aus das dem Seienden selbst vorausgeht (ατ τεναι τ πρ το ντος) Waumlhrend das zweite Eine (der Intellekt)dem intelligiblen Seienden in seiner Substanzialitaumlt gleichgesetztund dementsprechend durch das Substantiv oder das substanti-vierte Partizip (τ ν οσία) bezeichnet wird hat das erste Einekeinen substanziellen Charakter sondern stellt reines Wirken oderreine Taumltigkeit (ατ τ νεργεν καθαρόν) dar die das zweite Einein seinem Sein konstituiert Zum ersten Mal in der Geschichte derPhilosophie findet sich also in dem anonymen Kommentar eineUnterscheidung zwischen dem Sein und dem Seienden und tauchtder Begriff des sbquoreinen Seinsakteslsquo auf Zu dieser Distinktion einespartizipialen Seienden und des Seins im Infinitiv gelangt der Kom-mentator bei seinem Versuch ein Problem zu loumlsen vor das er sich durch die Formulierung aus der zweiten Hypothese des Par-menides gestellt sieht bdquoWenn Eins ist ist es wohl moumlglich dass esist und doch keinen Anteil an der Seiendheit nimmtldquo6 Fuumlr einenVertreter der metaphysischen Interpretation der die erste undzweite Hypothese als Aussagen uumlber die beiden ersten Hypostasenversteht ergibt sich aus der Voraussetzung der Teilnahme des zwei-ten Einen (des Intellekts) an der Seiendheit eine nicht geringeSchwierigkeit Im Rahmen dieser Deutung gilt naumlmlich das zweite

187Die Theorie des goumlttlichen Selbstbewusstseins im Parmenides-Kommentar

6) Platon Parmenides 142c

Eine als die erste Seiendheit (d h das Seiende selbst) Platons For-mulierung scheint so anzudeuten dass der ersten Seiendheit diemit dem zweiten Einen identisch ist noch eine houmlhere Seiendheitvorausgeht an der das zweite Eine Anteil nimmt Dem zweiten Einen geht aber nur das erste Eine voraus das jenseits des Seiendenoder der Seiendheit liegt Was soll also jene Seiendheit sein an derdas zweite Eine teilnimmt wenn es da auszliger dem zweiten Einennichts anderes als das erste Eine gibt Gerade diese Uumlberlegungbringt den Kommentator auf den Gedanken mit dem AusdruckbdquoSeiendheitldquo koumlnne Platon nur das erste Eine selbst meinen Pla-tons Formulierung wolle in Wirklichkeit nichts anderes aus-druumlcken als dass das zweite Eine an dem ersten Einen Anteil hat7Das hieszlige freilich dass Platon hier das Wort οσία in einem unei-gentlichen Sinne verwendet denn bdquodas Eine ist jenseits der Seiend-heit und des Seienden und es ist weder eine Seiendheit noch einAkt sondern es wirkt vielmehr und ist das reine Wirken selbst so-wie das Sein selbst vor dem Seiendenldquo8 Die Teilnahme des zweitenEinen an der Seiendheit von der Platon spricht bedeutet in der Tatdass das zweite Eine ein abgeleitetes Sein aufgrund seiner Teilnah-me an diesem reinen Sein besitzt das mit dem ersten Einen zusam-menfaumlllt9 In diesem Sinne ist das Eine-Sein gleichsam bdquodie Idee desSeiendenldquo (σπερ δέα το ντος)10

(2) Obwohl der anonyme Kommentar (insbesondere imzweiten Fragment) wiederholt die Transzendenz und sbquoInkommen-surabilitaumltlsquo des ersten Einen mit dem zweiten Einen betont werdendas erste und das zweite Eine im sechsten Fragment als zwei ver-schiedene Schichten oder Aspekte einer Gottheit aufgefasst DerVerfasser des anonymen Kommentars betrachtet das zweite Eine ndashganz im Sinne Plotins ndash als den goumlttlichen Intellekt der in einemzeitlosen reflexiven Akt sich selbst in die Vielheit seiner innerenMomente differenziert und sich selbst wieder zur Einheit versam-melt Das erste Eine versteht er dagegen als ein transzendentes Mo-

188 Vaacutec l av N ěmec

7) Anonymus in Platonis Parmenidem 1211ndash12 (Linguiti 126) μεθέξει τοπρώτου τ δεύτερον

8) Anon in Parm 1223ndash27 (Linguiti 126ndash128) τ ν τ πέκεινα οσίαςκα$ ντος ν μampν οκ στιν οδamp οσία οδamp νέργεια νεργε δamp μ(λλον κα$ αττ νεργεν καθαρόν στε κα$ ατ τ εναι τ πρ το ντος

9) Anon in Parm 1227ndash29 (Linguiti 128) ο μετασχν τ ν -λλο ξατο χει κκλινόμενον τ εναι περ στ$ μετέχειν ντος

10) Anon in Parm 1233ndash34 (Linguiti 128)

ment des reflexiven Intellekts das uumlber dessen Teilung in sbquoDen-kendeslsquo und sbquoGedachteslsquo steht als einen Urakt des Intellekts derseinen differenzierten Akten oder Momenten vorausgeht und ihreEinheit stiftet Jene zwei verschiedenen Schichten des Intellekts ndash(a) der innerlich geeinte Denkakt der die Differenz zwischen demDenkenden und dem Gedachten uumlberschreitet und (b) der inner-lich differenzierte Intellekt der seine reflexive Bewegung ausuumlbtindem er durch die einzelnen Phasen Existenz Leben und Denken(0παρξις ndash ζωή ndash νόησις) hindurchgeht ndash entsprechen also demKommentator zufolge den zwei ersten Hypothesen von PlatonsParmenides d h dem ersten und dem zweiten Einen Diese zweiSchichten des Intellekts stellen fuumlr den Verfasser des Kommentarseigentlich zwei verschiedene Perspektiven dar aus denen man dasGoumlttliche betrachten kann als das Eine in sich selbst (ατ τοτο)das die Ebene des intelligiblen Seienden der Reflexivitaumlt und derDifferenz transzendiert und als das seiende Eine d h als den reflexiven Intellekt der sich in die Vielheit seiner Momente ndash Exis -tenz Leben und Denken ndash ausgliedert

Es ist gerade diese im sechsten Fragment auftretende Theoriedes goumlttlichen Selbstbewusstseins die von den Forschern wieder-holt missverstanden und im Eifer ihres Bemuumlhens den Textinhaltmit den Hypothesen uumlber die Autorschaft des Kommentars zu harmonisieren umgedeutet wurde Infolgedessen blieb dieses be-merkenswerte Lehrstuumlck bisher in seiner Originalitaumlt verkannt InAnbetracht dieser Umstaumlnde moumlchte der vorliegende Aufsatz sei-nen Beitrag dazu leisten gerade den Inhalt des sechsten Fragmentszu klaumlren Um eine zuverlaumlssige Textgrundlage zu schaffen wirdzunaumlchst eine Uumlbersetzung des ganzen Fragments angefuumlhrt dersich eine Interpretation einzelner Textabschnitte anschlieszligt Darinwird vor allem versucht detailliert das dargelegte metaphysischeKonzept zu rekonstruieren

II Fragment 6 Text und Uumlbersetzung

13 Fol 90v

μή δυνά]μενον ες 6αυτν εσελθεν τίνι γ7ρ βλέπει 6αυτν τν εσελ-θεν μ δυνάμενον ε μ τlt 6νί κα$ τίνι 6αυτόν ες gtν εσέρχεσθαιδυνατε τίς στιν οτος μφοτέρων φαπτόμενος κατ7 τ ατ ν τlt μεμερισμένB τίς λέγων Cτερον εναι τ νοον κα$ τ νοούμενον

189Die Theorie des goumlttlichen Selbstbewusstseins im Parmenides-Kommentar

(5)

βλέπων πότε 6νοται τ νοον τlt νοουμένB κα$ τί πότε ο δύ-ναται δDλον οEν τι α0τη νέργεια παρF κείνας παναβεβηκυαπάσαις κα$ χρωμένη ατας πάσαις Gς Hργάνοις πάντων φαπτομέ-νη κα$ κατ7 τ ατ κα$ ν οδεν$ οEσα 6κάστη μampν οEν τIν-λλων πρός τι πέπηγε κα$ κατ7 τ εδος πάντως ατlt κα$ κατ7 τνομα τέτακται α0τη δamp οδενός στι δι οδamp εδος οδamp νομα χει οδamp οσίαν ν οδεν$ γ7ρ κρατεται λλF οδamp μορφοται Kπό τινοςντως οEσα παθς κα$ ντως χώριστος 6αυτDς ο νόησις οEσα ονοητόν οκ οσία λλF πέκεινα πάντων κα$ πάντων ατία ltgtσύζυ-γος σπερ μampν τοίνυν ρασις μampν το κουστο οκ φάπτεται ltοδFκο το ρατοgt οδF μφότεραι το γευστο οδamp οδεν 6κάστη τι6τέρα στ$ν τDς 6τέρας οδF τι κουστν Cτερον το ρατο -λλη δFστ$ν δύναμις παναβεβηκυα τούτων L τατα διακρίνει κα$ τ τα-τν ατIν γιγνώσκει κα$ τ Cτερον κα$ τν οσίαν κα$ πάθος L κα$δύναται πασIν φάπτεσθαι χρDσθαι δamp ατας Gς Hργάνοις δι7 τκρείττονF εναι κα$ παναβεβηκέναι ατIν ο0τως κα$ δύναμις καθFLν ρM νος μ δυνάμενος

14 Fol 90r

εσελθεν ες 6αυτν 6τέρα Nν εOη τDς νοήσεως κα$ το νοουμένου πι-νοίP διαφέρουσα κα$ πέκεινα τούτων οEσα πρεσβείP κα$ δυνάμεικα$ ο0τως ν ν κα$ Qπλον ldquoτ ατ τοτοrdquo νεργείP 6αυτο διαφέρεικα$ Kπάρξει κα$ κατ7 -λλο -ρα Cν στιν Qπλον κατF -λλο δamp ατ6αυτο διαφέρει τ γ7ρ το 6νς διαφέρον οχ ν κα$ τ το QπλοCτερον οχ Qπλον ν μampν οEν στιν κα$ Qπλον κατ7 τν πρώτην κα$ldquoατ τοτοrdquo ατο τοαύτου δέαν δύναμις R τι κα$ χρ Hνομάζειννδείξεως ltχgtάριν -ρρητον οEσαν κα$ νεννόητον οχ ν δamp οδampQπλον κατ7 τν 0παρξιν κα$ ζων ltκα$gt τν νόησιν κα$ τ νοον κα$τ νοούμενον Kπάρξει τ δamp νοον Rν νο[ς μετε]ξ[έλθS] π τDςKπάρξεως ες τ νοον Tνα πανέλθS ες τ νοητν κα$ 6αυτν OδSστ$ν ζωή δι όριστος ltgt κατ7 τν ζωήν κα$ πασIν οσIν νερ-γειIν κα$ Gς κατ7 μampν τν 0παρξιν 6στIσα Nν εOη νέργεια κατ7 δampτν νόησιν ες αKτν στραφεσα νέργεια κατ7 δamp τν ζων κ τDςKπάρξεως κνεύσασα νέργεια κα$ κατ7 τοτο Cστηκεν Uμα κα$ κι-νεται κα$ ν 6αυτlt στιν κα$ ν -λλB κα$ λον στ$ν κα$ μέρη χεικα$ τατόν στι κα$ Cτερον κατ7 δamp ψιλν ατο τ ν κα$ οWον πρIτονκα$ ντως τ ν οXτε Cστηκεν οXτε κινεται οXτε τατόν στιν οXτε Cτε-ρον οXτε ν 6αυτlt στιν οXτε ν -λλB τι δamp οXτε νοούμενον οXτε νεργον οXτε ες 6αυτ οXτε ες -λλο 11

13 Fol 90v

er kann nicht in sich selbst hineingehen Wodurch denn sieht er sichselbst wie er in sich selbst nicht hineingehen kann wenn nicht durchdas Eine Und wodurch denn sieht er sich selbst in den er nicht hin-

190 Vaacutec l av N ěmec

11) Anon in Parm 131ndash1435 (Linguiti 128ndash134)

(10)

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(35)

(5)

(10)

(15)

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(35)

eingehen kann Und wer ist derjenige der die beiden als Identisches imgeteilten [Intellekt] beruumlhrt Wer ist derjenige der sagt das Denkendesei etwas anderes als das Gedachte Wer ist derjenige der sieht wanndas Denkende sich mit dem Gedachten vereinigt und wann es sich nichtvereinigen kann Offensichtlich ist es der Akt selbst der sich auszliger jenen [Akten] befindet der uumlber sie alle hinausgeht und der sie alle alsseine Organe gebraucht der Akt der alle anderen [Akte] als Identischesberuumlhrt und der in keinem [jener Akte] enthalten ist Jeder von [den anderen Akten] ist gewiss auf etwas fest gerichtet und dazu durchausgeordnet entsprechend seiner Gestalt und seinem Namen waumlh renddieser Akt zu nichts gehoumlrt deswegen hat er auch keine Gestalt keinenNamen und keine Seiendheit Er wird in keiner Hinsicht beherrscht erwird aber auch von nichts gestaltet da er wirklich unversehrt und wirk-lich ungetrennt von sich selbst bleibt und er ist weder das Denken nochdas Gedachte noch die Seiendheit aber er befindet sich jenseits von allem und ist die inkommensurable Ursache von allemGleich wie weder das Sehvermoumlgen das Houmlrbare erfasst noch dasGehoumlr das Sehbare noch die beiden das was gekostet werden kann undgleich wie keines dieser Sinnesvermoumlgen weiszlig dass es sich von einemanderen unterscheidet und dass das Houmlrbare etwas anderes als das Sehbare ist es aber ein Vermoumlgen gibt das uumlber diese Sinnesvermoumlgenhinausgeht das sie alle unterscheidet und ihre Selbigkeit und Anders-heit ihr Wesen und ihren Zustand erkennt und das sie alle beruumlhrenund als seine Organe gebrauchen kann weil es maumlchtiger als sie ist unduumlber sie hinausgeht so duumlrfte wohl auch das Vermoumlgen durch das derIntellekt sieht der

14 Fol 90r

in sich selbst nicht hineingehen kann ein anderes als das Denken unddas Gedachte sein da es sich durch seinen Begriff von beiden unter-scheidet und sich durch seine Wuumlrde und Macht jenseits von beiden befindetUnd so unterscheidet es sich von sich selbst durch den Akt und die Existenz und doch bleibt sbquoes selbstlsquo Eines und Einfaches und unterdem einen Gesichtspunkt ist es das einfache Eine unter dem anderenaber unterscheidet es sich von sich selbst Denn dasjenige das sich vomEinen unterscheidet ist nicht das Eine und dasjenige das anders als dasEinfache ist ist kein Einfaches Unter dem ersten Gesichtspunkt d hsbquoes selbstlsquo in sich selbst gesehen ist es also das Eine und Einfache dieMacht ndash oder wie soll man sie benennen um sie irgendwie zu bezeich-nen obwohl sie nicht ausgesprochen und gedacht werden kann ndashwaumlhrend es weder Eines noch ein Einfaches in Bezug auf die Existenzdas Leben und das Denken istIn Bezug auf die Existenz ist das Denkende zugleich das GedachteWenn aber der Intellekt aus der Existenz hervorgegangen und zumDenkenden geworden ist um zum Gedachten zuruumlckzukehren undsich selbst anzuschauen dann ist das Denkende das Leben Deswegenist [der Intellekt] in Bezug auf das Leben unbegrenzt Und da sie alle

191Die Theorie des goumlttlichen Selbstbewusstseins im Parmenides-Kommentar

Akte sind duumlrfte es sich wohl in Bezug auf die Existenz um einen ver-bleibenden Akt handeln in Bezug auf das Denken um einen zu sichselbst zuruumlckgekehrten Akt und in Bezug auf das Leben um einen Aktder von der Existenz abgewichen ist Und dementsprechend befindetes sich in Ruhe und zugleich in Bewegung in sich selbst und in einemanderen es ist Ganzes und hat Teile es ist dasselbe und ein anderesAber in Bezug darauf was an ihm das bloszlige Eine und gleichsam dasEine im primaumlren und wahrhaftigen Sinne ist befindet es sich weder inRuhe noch in Bewegung es ist weder dasselbe noch ein anderes wederin sich selbst noch in einem anderen Da es aber weder gedacht nochwirkend ist und zwar weder auf sich selbst noch auf ein anderes

III Interpretation

Der Intellekt der bdquonicht in sich selbst hineingehen kannldquo

Obwohl das Verstaumlndnis des ersten Abschnitts dadurch er-schwert wird dass der Anfang des ersten Satzes fehlt aus dem das Subjekt fuumlr die folgende Partizipialfuumlgung hervorgehen wuumlrdewird aus der Formulierung in den Zeilen 1335ndash141 (νος μ δυνά-μενος εσελθεν ες 6αυτYν) zumindest klar dass es sich um den Intellekt handeln muss Weiter ergibt sich aus dem Satz in den Zei-len 137ndash9 dass mit dem Intellekt der bdquonicht in sich selbst hinein-gehen kannldquo der Intellekt in einem Zustand gemeint ist in dem ersich als Denkender nicht mit sich selbst als dem Gedachten ver-einigen kann Unter dem Intellekt bdquoder in sich selbst hineingehenkannldquo duumlrfte hingegen ein Zustand zu verstehen sein in dem ersich als Denkender mit sich selbst als dem Gedachten vereinigtAus dem Text wird aber nicht besonders klar unter welchen Um-staumlnden ein Intellekt in einen Zustand geraten kann in dem erauszligerstande waumlre sich als Denkender mit sich selbst als dem Gedachten zu vereinigen Nach Pierre Hadot bezeichnet dieserAusdruck jenes transzendente Moment des Intellekts das der re-flexiven Erkenntnis vorausgeht und mit dem ersten Einen selbstzusammenfaumlllt12 Der Intellekt vermoumlchte in dieser Phase nicht insich selbst hineinzugehen weil er sich noch nicht in Denkendesund Gedachtes differenziert hat was als Grundvoraussetzung der

192 Vaacutec l av N ěmec

12) Vgl Hadot Porphyre et Victorinus (wie Anm 2) I 133ndash134 Dieser In-terpretation von Hadot schlieszligt sich auch Alessandro Linguiti an Vgl Linguiti (wieAnm 1) 193 ff

reflexiven Erkenntnis gelten darf Um durch die Bewegung desDenkens in sich selbst hineingehen zu koumlnnen muumlsste der Intellektzunaumlchst durch die Bewegung des Lebens aus sich selbst hervorge-hen und sich somit in die Vielheit seiner Akte entfalten was abererst auf der Ebene des reflexiven Intellekts oder des zweiten Einengeschieht Das erste Eine als der Intellekt der bdquonicht in sich selbsthineingehen kannldquo muumlsste sich folglich zuerst als reflexiver Intel-lekt konstituieren um sich selbst reflexiv erfassen zu koumlnnen

Dieser Interpretation widersprechen aber deutlich die For-mulierungen des Kommentators denen zufolge auch der Intellektbzw eines seiner Momente das bdquonicht in sich selbst hineingehenkannldquo durch jenes houmlhere Erkenntnisvermoumlgen gesehen wird dasdem Einen selbst gleichgesetzt wird (131ndash4 139) Der Intellekt indem Zustand in dem er bdquonicht in sich selbst hineingehen kannldquowird ausdruumlcklich als bdquoder geteilte Intellektldquo (136) bezeichnet derschon in sich selbst als in denjenigen in den er nicht hineingehenkann und denjenigen der nicht hineingehen kann differenziertwird (132ndash4) In diesem Intellekt ist also schon eine Unterschei-dung des Denkenden und des Gedachten vorausgesetzt (136ndash7)Die Wendung dass er bdquonicht hineingehen kannldquo bezeichnet gera-de den Zustand in dem dieser Denkende nicht imstande ist sichmit dem Gedachten zu vereinigen Das Eine wird hingegen als jener houmlhere Akt des Intellekts aufgefasst der die beiden Momentein ihrer Identitaumlt und Andersheit fasst und als solcher uumlber die bei-den Momente hinausgeht (134ndash5 1310ndash13) Nicht zuletzt sprichtgegen Hadots Deutung gerade die Tatsache dass der Intellekt(νος) als Subjekt der Partizipialkonstruktion μ δυνάμενος εσελ-θεν ες 6αυτYν zu vermuten ist Es ist wenig wahrscheinlich dassder Kommentator bereit waumlre das erste Eine ausdruumlcklich als sbquoIn-tellektlsquo zu bezeichnen Wenn Hadot bei seiner Interpretation dessechsten Fragments wiederholt zwei Intellekte (bdquoles deux Intelli-gencesldquo) bzw zwei Zustaumlnde des Intellekts (bdquoles deux eacutetats de lrsquoIntelligenceldquo) erwaumlhnt13 geht er von seiner Annahme aus wo-nach der bdquoIntellekt der nicht in sich selbst hineingehen kannldquo mitdem Einen identisch waumlre Diese Redeweise scheint aber demKommentator selbst fremd zu sein

Eine alternative Interpretation hat Gerard Bechtle vorge-schlagen Bechtle meint gerade umgekehrt der Intellekt der bdquonicht

193Die Theorie des goumlttlichen Selbstbewusstseins im Parmenides-Kommentar

13) Vgl Hadot Porphyre et Victorinus (wie Anm 2) I 133ndash138 II 107ndash113

hineingehen kannldquo sei mit dem reflexiven Intellekt identischwaumlhrend der Intellekt der bdquoin sich selbst hineingehen kannldquo mitdem (ersten) Einen selbst als der transzendenten Wurzel des re-flexiven Intellekts zusammenfalle14 Diese Deutung begegnet den-noch einer aumlhnlichen Schwierigkeit wie die oben skizzierte Inter-pretation Hadots In der Zeile 137ndash9 heiszligt es naumlmlich dass jenervereinigende Akt der mit dem Einen selbst identifiziert wird denIntellekt sowohl in dem Zustand bdquosiehtldquo in dem er bdquonicht hinein-gehen kannldquo als auch in dem Zustand in dem bdquodas Denkende sichmit dem Gedachten vereinigtldquo d h in dem er gerade bdquoin sich selbsthineingehtldquo Daraus ergibt sich dass dieser houmlhere Akt sich vonbeiden Zustaumlnden des Intellekts unterscheiden muss Es ist also offensichtlich dass mit dem bdquoIntellekt der nicht in sich selbst hineingehen kannldquo weder das Eine als transzendentes Moment desIntellekts noch der reflexive Intellekt als solcher gemeint sind Wasmag diese Formel dann bedeuten

Nach dem Ausklammern der beiden erwaumlhnten Interpreta-tionen bleibt grundsaumltzlich nur noch die Moumlglichkeit dass dieseFormel einen Zustand oder eine Phase des reflexiven Intellektsbzw einen seiner Akte bezeichnet Um welche Phase oder welchenAkt des reflexiven Intellekts es sich handelt wird durch den Satzin Zeile 1418ndash20 angedeutet bdquoWenn aber der Intellekt aus der Existenz hervorgegangen (μετε]ξ[έλθS) und zum Denkenden ge-worden ist um zum Gedachten zuruumlckzukehren (πανέλθS ες τνοητόν ndash woumlrtlich um ins Gedachte zuruumlckzugehen)15 und sichselbst anzuschauen dann ist das Denkende das Lebenldquo Es liegtnahe dass der bdquoIntellekt der nicht in sich selbst hineingehenkannldquo mit dem Leben als dem Akt des Intellekts identisch ist deraus der Existenz hervorgegangen ist oder genauer gesagt mit demin die Existenz und das Leben gespaltenen Intellekt sbquobevorlsquo erdurch die Ruumlckbewegung des Denkens zu sich selbst zuruumlckkehrtWaumlhrend die Existenz als bdquoder in Ruhe verbleibende Aktldquo denAusgangszustand des Intellekts darstellt in dem das Denkende mitdem Gedachten zusammenfaumlllt differenziert sich der Intellektdurch die Bewegung des Lebens in die Existenz als das Gedachte

194 Vaacutec l av N ěmec

14) Vgl Bechtle (wie Anm 3) 185ndash186 191ndash19615) Der Kommentator verwendet hier die Verba μετεξέρχομαι und πανέρ-

χομαι die aus derselben Wurzel wie εσέρχομαι gebildet sind wobei das πανέρχο-μαι wahrscheinlich mit dem εσέρχομαι synonym ist

und ins Leben als das Denkende wobei das Hervorgehen des Le-bens in die Ruumlckbewegung des Denkens wieder transformiert wer-den muss damit bdquodas Denkende zum Gedachten zuruumlckkehrtldquoErst in dieser Endphase der reflexiven Bewegung wird also der Zu-stand erlangt in dem das Denkende sich mit dem Gedachten wie-der vereinigt d h der bdquoIntellekt in sich selbst hineingehtldquo Es sindgerade diese Phasen oder Akte ndash Existenz Leben und Denken ndashdie das Eine als der Urakt des Intellekts bdquoin ihrer Identitaumlt und An-dersheit fasstldquo und als bdquoseine Organe gebrauchtldquo (1310ndash13) DasEine als die transzendente Wurzel des reflexiven Intellekts ist dieGrundvoraussetzung dafuumlr dass der reflexive Intellekt sich in jederPhase der Identitaumlt aller seiner Akte bewusst ist und dass er als der Denkende sich selbst als den Gedachten identifizieren kannauch wenn er in die verschiedenen Momente gespalten ist Das Einewird so als ein uumlber-reflexiver Akt begriffen der die Einheit undIdentitaumlt der verschiedenen Akte oder Momente des reflexiven In-tellekts garantiert und ihre gegenseitige Selbstidentifizierung er-moumlglicht Folglich ist es auch das Eine das gewaumlhrleistet dass derreflexive Intellekt bdquoin sich selbst hineingehen kannldquo

Vergleich mit dem Gemeinsinn

Diese Interpretation wird durch den folgenden Textabschnittbekraumlftigt in dem jenes houmlhere Vermoumlgen des Intellekts das mitdem Einen selbst zusammenfaumlllt mit dem aristotelischen sbquounter-scheidenden Sinnesvermoumlgenlsquo verglichen wird Hier lehnt sich derKommentator eng an eine Stelle aus dem dritten Buch De animaan16 wo Aristoteles die Frage aufwirft wie sich Unterschiede zwi-schen den verschiedenen Sinnesempfindungen feststellen lassen17

Bei der Loumlsung dieser Frage erlaumlutert Aristoteles dass jedes Sin-nesvermoumlgen sich jeweils auf die ihm zugehoumlrigen Wahrneh-mungsgegenstaumlnde oder Wahrnehmungsqualitaumlten bezieht aberkeinem das Wahrnehmbare fassbar ist fuumlr das die anderen Sinnezustaumlndig sind Demgemaumlszlig kann jeder Sinn zwar die Unterschiedezwischen den ihm zugehoumlrigen Wahrnehmungsgegenstaumlnden be-

195Die Theorie des goumlttlichen Selbstbewusstseins im Parmenides-Kommentar

16) Aristoteles De anima 426b8ndash2217) Vgl H-J Horn Studien zum dritten Buch der aristotelischen Schrift De

anima Goumlttingen 1994 39

urteilen keines der getrennten Sinnesvermoumlgen aber ist imstandedie Gegenstaumlnde quer durch mehrere Wahrnehmungsbereiche ndashz B das Weiszlige und das Suumlszlige ndash zu unterscheiden Da es sich aberimmer um Wahrnehmbares handelt muumlssen auch die Unterschie-de zwischen Wahrnehmungsgegenstaumlnden die in den Kompetenz-bereich verschiedener Sinne fallen durch ein Sinnesvermoumlgen fest-gestellt werden das von den uumlbrigen Sinnen abgegrenzt ist Gera-de dieses eigentuumlmliche Sinnesvermoumlgen nennt Aristoteles sbquodas unterscheidendelsquo (τ κρνον) Wenn es auch nirgends explizit ge-sagt wird scheint er dieses Vermoumlgen mit dem sbquogemeinsamen Sinnlsquo( κοιν αOσθησις) gleichzusetzen18 Diesem sbquogemeinsamen Sinnlsquoschreibt er weitere Funktionen zu wie etwa die Wahrnehmung sbquoge-meinsamer Wahrnehmungsgegenstaumlndelsquo die von mehreren Sinnenzugleich erfasst werden aber auch ein elementares Selbstbewusst-sein das jeden Wahrnehmungsakt begleitet (wie z B mein Sehaktvon dem Bewusstsein begleitet wird dass ich sehe)19

Gerade an diese Motive der aristotelischen Psychologie knuumlpftder Kommentator an mit der Parallele die er zwischen der Sinnes-wahrnehmung und dem Intellekt zieht Aumlhnlich wie die Sinnes -vermoumlgen ist auch der reflexive Intellekt in seine verschiedenen Momente oder Akte aufgespalten von denen jeder seine eigeneFunktion und seinen eigenen Kompetenzbereich besitzt weshalbaber auch keiner imstande ist sich auf die anderen Akte und auf dasvon ihnen Intendierte zu beziehen und sie in ihrer Andersheit undIdentitaumlt zu erkennen Deshalb muss es auch auf der Ebene des In-tellekts ein besonderes Vermoumlgen ndash aumlhnlich dem sbquounterscheidendenlsquooder sbquogemeinsamenlsquo Sinn ndash geben das von allen Vermoumlgen oder Ak-ten des reflexiven Intellekts verschieden ist und uumlber sie hinausgehtGenau wie der sensus communis ist es ein aktiver Keim des Intellektsder alle differenzierten Akte beruumlhrt sie als seine Organe gebrauchtund diese zugleich vereinigt und ihre Selbigkeit stiftet Und ebensowie der sbquogemeinsame Sinnlsquo muss dieser vereinigende Akt uumlber allenAkten ein einziger sein ja er faumlllt mit dem (ersten) Einen zusammen

196 Vaacutec l av N ěmec

18) Zum sbquogemeinsamen Sinnlsquo siehe z B Aristoteles De an 425a27 ZurGleichsetzung des sbquounterscheidenden Sinneslsquo mit dem sensus communis bei Aristo-teles vgl z B A-E Chaignet Essai sur la psychologie drsquoAristote Bruxelles 1966375 378ndash381 Diese Identifikation zieht allerdings D W Hamlyn in Zweifel VglAristotle De Anima Books II and III Translated with Introduction and Notes byD W Hamlyn Oxford 2002 128ndash129

19) Vgl Chaignet (wie Anm 18) 375ndash382

Der Vergleich mit dem sbquogemeinsamenlsquo Sinn wirft ein klaumlren-des Licht auf die vorausgehende Passage (131ndash23) Der Kommen-tator schreibt dem Einen in seinem Bezug auf die Akte des reflexi-ven Intellekts eine aumlhnliche Funktion zu wie sie der sensus com-munis als Organ des elementaren Selbstbewusstseins ausuumlbt dasdie Wahrnehmungsakte begleitet Das Eine begleitet die einzelnenAkte des reflexiven Intellekts und vereinigt sie so alle in sich selbstals in einem einzigen Zentrum Als dieses uumlber-reflexive und Ein-heit stiftende Moment bildet das Eine einen konstitutiven und er-moumlglichenden Grund des reflexiven Selbstbewusstseins des Intel-lekts Auf den ersten Blick scheint der Vergleich insoweit zu hin-ken als die Wahrnehmungsakte ausschlieszliglich auf die aumluszligeren Gegenstaumlnde gerichtet und im Prinzip nicht zu einem Selbstbezugfaumlhig sind waumlhrend durch die Akte des reflexiven Intellekts sichgerade der denkende Selbstbezug vollzieht in dem bdquoder Denkendesich mit dem Gedachten vereinigtldquo Der Kommentator scheintdennoch davon uumlberzeugt zu sein dass die differenzierten Akte desreflexiven Intellekts an sich auszligerstande sind diesen Selbstbezugzu bewirken und zu gewaumlhrleisten Die unabdingbare Grundbe-dingung der Moumlglichkeit des reflexiven Selbstbezuges wie er imdurch die Dreiheit der Akte strukturierten Intellekt realisiert wirdstellt gerade das mit dem Einen identifizierte houmlhere Vermoumlgenoder der vereinigende Akt dar der alle differenzierten Akte beglei-tet und ihre Einheit und Selbigkeit in der Vielheit und Andersheitgarantiert Das Selbstbewusstsein auf der Ebene des reflexiven Intellekts das sich durch die Dualitaumlt des Denkenden und des Gedachten auszeichnet ist so in einem houmlheren oder tieferen nicht-reflexiven oder uumlber-reflexiven Selbstbewusstsein gegruumlndet des-sen Quelle und Subjekt das transzendente Eine selbst ist

Das Eine und die Dreiheit von sbquoExistenz ndash Leben ndash Denkenlsquo

Aus dem Gesagten wird auch ersichtlich dass das Eine von allen Strukturmomenten oder Akten des reflexiven Intellekts ingleichem Maszlige verschieden sein muss und mit keinem von ihnenidentifiziert werden kann Aus diesem Grund ist auch die Inter-preta tion Hadots abzulehnen wonach das Eine schlieszliglich mitdem ersten Glied der Dreiheit von sbquoExistenz ndash Leben ndash Denkenlsquoidentisch sein soll Diese Auslegung gruumlndet sich auf die Annahme

197Die Theorie des goumlttlichen Selbstbewusstseins im Parmenides-Kommentar

die Existenz als einer der Akte des reflexiven Intellekts falle mitdem sbquoSeinlsquo zusammen das im fuumlnften Fragment mit dem Einenselbst gleichgesetzt wurde20 Diese Identifizierung des sbquoSeinslsquo mitder sbquoExistenzlsquo laumlsst sich aber in keinem der erhaltenen Fragmentedes Kommentars belegen und waumlre mit dessen metaphysischemKonzept auch kaum vereinbar Der eigentliche Grund fuumlr HadotsGleichsetzung dieser zwei Termini ist die Tatsache dass sie beidein den theologischen Schriften des Marius Victorinus ndash insbeson-dere in Adversus Arium 1b ndash zusammenzuflieszligen scheinen Geradein der genannten Schrift erhebt Marius Victorinus die Dreiheit vonsbquoSein (bzw Existenz) ndash Leben ndash Denkenlsquo zum zentralen konzeptu-ellen Modell fuumlr seine Eroumlrterung der Wesensgleichheit von VaterSohn und heiligem Geist Im Rahmen seiner Transponierung derchristlich-theologischen Problematik auf den Boden einer (neu-)platonischen metaphysischen Prinzipienlehre fasst Victorinus denGottvater als das transzendente bdquoEine ohne Existenzldquo (inexsisten-tialiter unum) auf dem durch die negative Theologie u a Sein Existenz Seiendes Substanz Denken abgesprochen werden21 dasaber von der affirmativen Theologie zugleich als bdquodreimaumlchtigerGeistldquo (tripotens spiritus) gepriesen wird der die Vermoumlgen desSeins des Lebens und des Denkens in sich einschlieszligt Unter die-sem Gesichtspunkt wird Gottvater primaumlr als das reine Sein (esse)betrachtet das in seiner transzendenten Einheit und Verborgenheitdas Leben und das Denken in ihrer potenziellen Praumlexistenz be-inhaltet22 Der Sohn und der Heilige Geist werden dann geradedem aktualisierten und geaumluszligerten Leben (vita) und Denken (in-

198 Vaacutec l av N ěmec

20) Vgl Hadot Porphyre et Victorinus (wie Anm 2) I 13321) Marius Victorinus Adversus Arium 1499ndash18 (CSEL LXXXIIII 143)

Ante omnia quae vere sunt unum fuit sive unalitas sive ipsum unum antequam sitei esse unum unum ante omnem exsistentiam ante omnem exsistentialitatem ante ipsum ν hoc enim unum ante ν ante omnem igitur essentitatem substantiamsubsistentiam et adhuc omnia quae potentiora unum sine exsistentia sine substan-tia sine intellegentia

22) Marius Victorinus Adv Ar 1501ndash15 (CSEL LXXXIIII 144ndash145) Hicest deus hic pater praeintellegentia praeexsistens et praeexsistentia tripotens inunalitate spiritus tres potentias couniens exsistentiam omnem vitam omnem etbeatitudinem sed ista omnia et unum et simplex unum et maxime in potentia eiusquod est esse hoc est exsistentiae potentia vitae et beatitudinis 1523ndash9 (CSELLXXXIIII 148) Deus potentia est istarum trium potentiarum exsistentiae vitaebeatitudinis hoc est eius quod est esse quod vivere quod intellegere Et quod estesse primum et secundum quod est esse secundum ipsum vivere et intellegere sineulla unitione sed simpliciter simplicitas et istud manifestum

tellegentia bzw sapientia beatitudo) gleichgesetzt die zugleich alszwei Phasen des bdquoHervorgehensldquo (progressio) und der bdquoRuumlckkehrldquo(regressus) begriffen werden durch die das zweite Eine ndash das bdquoEinein der Existenzldquo (exsistentialiter unum) ndash konstituiert wird23 SeinLeben und Denken zeigen sich so als die drei Phasen ndash VerharrenHervorgehen und Ruumlckkehr24 ndash in denen sich die goumlttliche Sub-stanz aus ihrer transzendenten Wurzel in die Vielheit und Anders-heit hinein entfaltet um die urspruumlngliche Selbigkeit mit ihremtranszendenten Grund wiederherzustellen und sich selbst als einreflexiv denkendes Wesen zu konstituieren25 Die substanzielleIdentitaumlt von Sein Leben und Denken wird dabei durch ihr ge-genseitiges Ineinandersein ermoumlglicht Jedes Glied impliziert diezwei anderen auf seine eigene Art und Weise Ihre Differenz ergibtsich dagegen daraus dass in jeder Phase jeweils ein Glied der Drei-heit uumlber die anderen herrscht und in den Vordergrund tritt26

Obwohl man eine konzeptuelle Verwandtschaft zwischenAdversus Arium 1b und dem anonymen Parmenides-Kommentarkaum bestreiten kann ndash diese besteht besonders darin dass in bei-den Texten das erste Eine mit dem reinen Sein identifiziert wirddas sich vom Seienden bzw dem seienden Einen abgrenzt und dassdie Dreiheit sbquoExistenz ndash Leben ndash Denkenlsquo eine zentrale Rolle beider Eroumlrterung der reflexiven Bewegung bzw der Konstitution desIntellekts spielt ndash sind auch einige wesentliche Unterschiede nichtzu verkennen Im anonymen Kommentar kann vor allem keineAnwendung der Dreiheit auf das erste Eine nachgewiesen werdenSein Verfasser setzt zwar das Eine dem reinen Sein gleich das alsreine Wirksamkeit verschieden ist vom substanziellen Seienden

199Die Theorie des goumlttlichen Selbstbewusstseins im Parmenides-Kommentar

23) Marius Victorinus Adv Ar 15110ndash27 (CSEL LXXXIIII 146ndash147)Potentia enim progrediente ista motio nusquam requiescens quippe vita quaesit infinita et ipsa in vivificatione veluti foris apparuit Vita autem filius vita mo-tio a vitali praeexsistentia vita exsistentia Ista igitur exsistentia totius exsistentiaeest vita et iuxta quod vita motus quasi femineam sortita est potentiam hoc quodconcupivit vivificare Sed quoniam ista motio una cum sit et vita est et sapien-tia vita conversa in sapientiam et magis in exsistentiam patricam magis autem retromotae motionis in patricam potentiam et ab ipso viltrgtificata vita recurrens in patrem vir effecta est Descensio enim vita ascensio sapientia Vgl auch 15220ndash35(CSEL LXXXIIII 148ndash149)

24) Marius Victorinus Hymnus 371ndash74 (CSEL LXXXIIII 297) Statusprogressio regressus o beata trinitas

25) Vgl Marius Victorinus Adv Ar 1577ndash21 (CSEL LXXXIIII 155ndash156)26) Vgl Hadot Porphyre et Victorinus (wie Anm 2) I 239ndash246

und er spricht dem Einen auch eine Art uumlber-reflexives Denken zunie aber wendet er die Dreiheit sbquoSein ndash Leben ndash Denkenlsquo auf das erste Eine an nicht einmal im Sinne einer potenziellen und uumlber-substanziellen Praumlexistenz (praeexsistentia ndash praeviventia ndash prae -intellegentia) wie es Victorinus in Adversus Arium 1b und imzweiten Teil von Adversus Arium 4 tut27 oder im Sinne der reinenAkte (esse ndash vivere ndash intellegere) wie es insbesondere im ersten Teilvon Adversus Arium 4 geschieht28 Die Dreiheit erscheint im Kom-mentar nur in substanzieller Form und bleibt der Ebene des Intel-lekts immanent Im fuumlnften Fragment kritisiert der Kommentatorsogar ausdruumlcklich die Chaldaumlischen Orakel oder ihre Auslegerweil sie der houmlchsten Gottheit eine trinitarische Struktur zuwei-sen29 Manche seiner Formulierungen erwecken dabei den Ein-druck dass er bei seiner Kritik ein aumlhnliches theologisches Kon-zept im Auge gehabt haben mochte wie es uns gerade in AdversusArium 1b begegnet Das Eine wird vom Kommentator keineswegsals Ausgangsglied der Dreiheit aufgefasst aus dem das Leben her-vorginge und zu dem das Denken zuruumlckkehrte wie es in Adver-sus Arium 1b begriffen wird Dementsprechend ist das Eine auchnicht sbquoder Gegenstandlsquo des Erkennens des zweiten Einen in demdas zweite Eine zugleich sich selbst in seiner potenziellen undtranszendenten Praumlexistenz erfasst sondern es ist der Akt der inallen drei Akten oder Momenten wirkt der ihre Einheit stiftet undzugleich uumlber sie hinausgeht Auch wenn der Kommentator dasEine mit dem Sein identifiziert setzt er nie das Sein mit der Exis -tenz gleich und nichts scheint davon zu zeugen dass die Existenzmit dem transzendenten Moment des Intellekts (dem ersten Einen)zusammenfallen sollte30 Der Verfasser des anonymen Kommen-tars verwendet im Gegenteil unterschiedliche Ausdruumlcke um dieverschiedenen Tatsachen hervorzuheben Waumlhrend der TerminussbquoSeinlsquo dem ersten Einen als der Ursache oder der sbquoIdeelsquo des intelli-giblen Seienden vorbehalten ist soll das Wort sbquoExistenzlsquo das ersteMoment der reflexiven Bewegung des Intellekts oder des zweiten

200 Vaacutec l av N ěmec

27) Vgl z B Marius Victorinus Adv Ar 42318ndash34 (CSEL LXXXIIII 260)28) Vgl z B Marius Victorinus Adv Ar 464ndash7 (CSEL LXXXIIII 231ndash

232) 489ndash30 (CSEL LXXXIIII 235ndash236) 42126ndash28 (CSEL LXXXIIII 257)29) Vgl Anon in Parm 91ndash1011 (Linguiti 118ndash120)30) Darauf hat schon Andrew Smith hingewiesen Vgl ders Zπόστασις and

0παρξις in Porphyry in F Romano D P Taormina (Hrsg) Hyparxis e hyposta-sis nel neoplatonismo Firenze 1994 33ndash41 hier 41

Einen bezeichnen im Unterschied zum sbquoSeiendenlsquo das als Benen-nung fuumlr die ganze Hypostase dient Im anonymen Kommentarfindet man auch kein Anzeichen fuumlr das Prinzip eines wechsel -seitigen Ineinanderseins (und des Vorherrschens) von Existenz Leben und Denken das eine zentrale Rolle in Adversus Arium 1b3 und 4 ndash und im spaumlteren Neuplatonismus uumlberhaupt ndash spielt

Dialektik der negativen und affirmativen Theologie

Auch die ganze Problematik der sbquoInkommensurabilitaumltlsquo bzwsbquoKommensurabilitaumltlsquo des ersten Einen mit dem zweiten Einen be-handelt der Verfasser des Kommentars anders als Marius Victori-nus in Adversus Arium 1b31 Dem Kommentator zufolge zeigt sichdas Goumlttliche bdquounter dem einen Gesichtspunktldquo (κατF -λλο bzwκατ7 τν πρώτην δέαν) d h bdquoes selbst in sich selbst gesehenldquo alsdas einfache Eine das bdquonicht ausgesprochen und gedacht werdenkannldquo bdquounter dem anderen Gesichtspunktldquo (κατF -λλο) hingegenwird es als der in sich durch Reflexion differenzierte Intellekt be-trachtet der sich in die Vielheit seiner Akte ndash Existenz Leben undDenken ndash hinein entfaltet Wie der Schluss des sechsten Fragmentsbezeugt entsprechen diese zwei Gesichtspunkte der ersten und derzweiten Hypothese des Parmenides Trotz der sbquoontologischen Dif-ferenzlsquo zwischen dem ersten Einen und dem Intellekt (dem zwei-ten Einen) die in den vorausgehenden Fragmenten immer wiederemphatisch hervorgehoben wurde meint also der Kommentatordass sich beide Hypothesen auf eine einzige Gottheit beziehen diedas transzendente Eine und den reflexiven Intellekt als ihre zweiSchichten oder Momente einschlieszligt Der Verfasser des Kommen-tars scheint also die beiden Hypothesen als eine Art sbquodialektischelsquoTheologie zu verstehen die das Goumlttliche unter zwei verschiede-

201Die Theorie des goumlttlichen Selbstbewusstseins im Parmenides-Kommentar

31) Die Dialektik der sbquoInkommensurabilitaumltlsquo (bdquolrsquoincoordinationldquo) und sbquoKom-mensurabilitaumltlsquo (bdquola coordinationldquo) des Einen betrachtet Hadot als einen der Haupt -zuumlge der sbquoporphyrianischen Metaphysiklsquo Entsprechend seiner Hypothese dass derVerfasser des anonymen Kommentars Porphyrios sei den er zugleich fuumlr die grie-chische Quelle haumllt aus der Marius Victorinus geschoumlpft hat meint er dass der an -onyme Parmenides-Kommentar und die theologischen Schriften des Marius Victo-rinus ndash insbesondere Adversus Arium 1b ndash auch in diesem Punkt uumlbereinstimmenVgl Hadot La meacutetaphysique de Porphyre (wie Anm 2) 131 ff ders Porphyre etVictorinus (wie Anm 2) I 139ndash141 259ndash260

nen Aspekten zum Thema macht Vielleicht koumlnnte man auch uumlbereine Art sbquoDialektik der Kommensurabilitaumlt und Inkommensurabi-litaumltlsquo des Einen selbst sprechen insofern der Gesichtspunkt derzweiten Hypothese deren Gegenstand eigentlich der reflexive Intellekt ist zugleich eine neue Perspektive oumlffnet aus der sich das erste Eine in seiner Bezogenheit auf die differenzierten Aktedes Intellekts zeigt Erscheint das (erste) Eine unter dem ersten Gesichtspunkt als inkommensurabel und relationslos so dass manihm jedwede Beziehung zum Intellekt ndash sogar die der Andersheit ndashverweigern muss32 stellt es sich unter dem anderen Gesichtspunktder die Aufmerksamkeit auf das zweite Eine oder den Intellektlenkt zugleich als der einheitsstiftende Akt uumlber den differenzier-ten Akten des reflexiven Intellekts als der konstitutive Urgrundseines Selbstbewusstseins heraus Freilich ist Hadots Ansichtzuruumlckzuweisen die sbquodialektischelsquo Theologie des anonymen Kommentars sei mit dem entsprechenden Konzept in AdversusArium 1b identisch33 Die theologische Auffassung in AdversusArium 1b kann insofern als sbquodialektischlsquo bezeichnet werden als dasEine unter zwei verschiedenen Aspekten behandelt wird in sichund auf das von ihm Verursachte bezogen Das Eine zeigt sich soeinerseits als inkommensurabel und in seiner absoluten Differenz-losigkeit allen gegenstaumlndlichen Kategorien des menschlichenDenkens enthoben andererseits in Bezug darauf wessen Ursprunges ist als universale Ursache die selbst auf eine transzendente undpotenzielle Weise alles ist was aus ihr hervorgeht Waumlhrend unterdem Gesichtspunkt der negativen Theologie dem Einen u a SeinExistenz Leben und Denken abgesprochen wird erweist es sichunter dem Gesichtspunkt der affirmativen Theologie als erste Phase der Selbstkonstitution der goumlttlichen Substanz bzw des Intellekts und als erstes Glied der Dreiheit von sbquoSein ndash Leben ndashDenkenlsquo Als das Sein selbst enthaumllt es in sich auf transzendenteund potenzielle Weise die beiden anderen Glieder ndash Leben undDenken ndash und vereinigt sie in seiner unterschiedslosen Einheit ImVergleich mit dem anonymen Kommentar faumlllt nun auf dass beiVictorinus beide Gesichtspunkte den Methoden der negativen undaffirmativen Theologie entsprechen die ausschlieszliglich auf das ers -te Eine angewandt werden also auf das Eine der ersten Hypothese

202 Vaacutec l av N ěmec

32) Vgl Anon in Parm 31ndash35 (Linguiti 100ndash102)33) Vgl oben Anm 31

des Parmenides das mit Gottvater identifiziert wird Das zweiteEine d h das Eine der zweiten Hypothese das Victorinus demSohn gleichsetzt wird erst spaumlter zum Thema34 und ist nicht in dieDialektik der negativen und affirmativen Theologie einbezogenIm anonymen Kommentar hingegen entsprechen die beiden Ge-sichtspunkte der ersten und der zweiten Hypothese die das den reflexiven Intellekt (das zweite Eine) und seinen uumlber-reflexivenGrund (das erste Eine) umschlieszligende Goumlttliche in seinen beidenAspekten oder Schichten behandeln Obwohl also sowohl in Ad-versus Arium 1b als auch im anonymen Kommentar eine Art sbquoDia-lektik der Kommensurabilitaumlt und Inkommensurabilitaumltlsquo des Einenvorkommt geht es offensichtlich um zwei verschiedene Variantenderen Unterschiedlichkeit wieder die Differenzen zwischen denbeiden metaphysischen Konzepten klar hervortreten laumlsst35

Schlussfolgerungen

Gerade die erwaumlhnten Unterschiede verwischt nun Hadotum den Inhalt des sechsten Fragments mit seiner Hypothese inEinklang zu bringen dass der Verfasser des anonymen Kommen-tars (naumlmlich Porphyrios) mit der griechischen Quelle der theolo-gischen Schriften des Marius Victorinus identisch sei Dabei pro-

203Die Theorie des goumlttlichen Selbstbewusstseins im Parmenides-Kommentar

34) Marius Victorinus Adv Ar 15022 ff (CSEL LXXXIIII 145)35) Diese sbquoJuxtappositionlsquo oder sbquoDialektiklsquo der negativen und affirmativen

Theologie die das Goumlttliche aus zwei verschiedenen Perspektiven betrachtet wo-bei es sich bald als sbquoinkommensurabellsquo bald als sbquokommensurabellsquo zeigt geht wahr-scheinlich auf die mittelplatonische bzw neupythagoreische Tradition zuruumlck VglJ Mansfeld Compatible Alternatives Middle Platonists Theology and the Xeno -phanes Reception in R van den Broek T Baarda J Mansfeld (Hrsg) Know -ledge of God in the Graeco-Roman World Leiden 1988 92ndash117 Eudoros vonAlexandrien fuumlhrt die beiden Betrachtungsweisen mit aumlhnlichen Ausdruumlcken wieder Verfasser des anonymen Kommentars ein (κατ7 τν νωτάτω λόγον κατF -λλον τρόπον bzw κατ7 τν δεύτερον λόγον) Vgl Simplikios In Aristotelis Physica com-mentaria 15 (CAG IX 18110ndash30) Bei Eudoros geht es dennoch um die spezifischeProblematik der pythagoreischen Prinzipienlehre Er bemuumlht sich die sbquomonistischelsquound sbquodualistischelsquo pythagoreische Lehre zu versoumlhnen indem er das Eine einmal alsdas einzige uumlber alle Gegensaumltze erhabene Prinzip betrachtet einmal als ein Gliedder Grundpolaritaumlt sbquodas Eine ndash die unbestimmte Zweiheitlsquo In Adversus Arium 1bund im anonymen Parmenides-Kommentar wird hingegen dieselbe Methode aufdie Problematik der neuplatonischen houmlchsten Prinzipien angewandt ndash obgleich jeweils auf eine andere Art und Weise

jiziert er das Denkschema von Adversus Arium 1b in den Par-menides-Kommentar hinein und entstellt somit gewissermaszligen das hier enthaltene metaphysische Konzept36 Folglich wurde diebemerkenswerte Theorie des goumlttlichen Bewusstseins wie sie imsechsten Fragment dargelegt ist in ihrer Originalitaumlt bislang kaumuntersucht und nur unzureichend bewertet Auch legen die fest-gestellten Differenzen die Vermutung nahe dass der anonymeKommentar bzw sein Verfasser nicht die direkte Quelle des theo-logischen Werkes von Marius Victorinus ndash oder zumindest seinerSchrift Adversus Arium 1b ndash gewesen sein kann Die Unterschiedelassen sich auch nicht wegdiskutieren wenn man darauf hinweistdass der Kommentar uns nur fragmentarisch erhalten blieb oderVictorinus seine Quelle wesentlich umgedeutet haben koumlnnte um sie seinem christlich-theologischen Anliegen anzupassen Wieschon gezeigt sind mehrere Grundzuumlge der beiden metaphysi-schen Konzepte einfach nicht miteinander kompatibel Und gera-de manche Motive durch die sich das metaphysische Schema inAdversus Arium 1b von dem des anonymen Kommentars abhebtz B das Prinzip des Ineinanderseins (und des Vorherrschens) vonSein Leben und Denken begegnen uns wieder bei den spaumlterenNeuplatonikern freilich mit dem Unterschied dass diese sie aufdie niedrigeren Seinsstufen anwenden ohne das Eine mit einem derGlieder der Dreiheit zu identifizieren Der anonyme Kommentarduumlrfte so wohl auf etwas hindeuten das schon durch die Anwe-senheit verschiedener Varianten eines verwandten metaphysischenKonzepts in den theologischen Schriften des Marius Victorinusdie kaum auf eine einzige Quelle zuruumlckzufuumlhren sind angedeutetwird37 die Existenz einer ganzen Traditionslinie des spaumltantiken

204 Vaacutec l av N ěmec

36) Diese Kritik wird freilich geaumluszligert mit der wesentlichen Einschraumlnkungdass es gerade Hadots groszliges Verdienst war die Eigentuumlmlichkeit und Bedeutungder metaphysischen Lehre des anonymen Kommentars im Rahmen des spaumltantikenPlatonismus erkannt und sie zum ersten Mal detailliert und ndash mit den oben er-waumlhnten Ausnahmen ndash praumlzise rekonstruiert zu haben

37) Im theologischen Werk von Marius Victorinus lassen sich mindestensdrei (bzw vier wenn man auch Candidi epistola 1 dazu zaumlhlt) unterschiedliche Va-rianten eines verwandten metaphysischen Systems ausmachen die wahrscheinlichauf verschiedene Quellen zuruumlckgehen Dies versuchte ich in meinem Aufsatz Me-tafysickeacute systeacutemy v theologickeacutem diacutele Maria Victorina in V Hušek L Chvaacutetal J Plaacutetovaacute (Hrsg) Miscellanea patristica Brno 2007 37ndash71 nachzuweisen Vglauch meine Einleitung zur tschechischen Ausgabe des anonymen Parmenides-Kommentars Anonymniacute komentaacuteř k Platoacutenovu Parmenidovi Praha 2009 49ndash69

(Neu-)Platonismus die von der uns bekannten Hauptstroumlmungabweicht und in deren Rahmen verschiedene Versionen einer aumlhn-lichen metaphysischen Auffassung durchdacht wurden

Prag Vaacutec l av N ěmec

205Die Theorie des goumlttlichen Selbstbewusstseins im Parmenides-Kommentar

Page 3: DIE THEORIE DES GÖTTLICHEN SELBSTBEWUSSTSEINS ...Gnosticism and Later Platonism: Themes, Figures, and Texts, Atlanta 2000, 141–177; J.D.Turner, Sethian Gnosticism and the Platonic

Sinne der aristotelischen philosophischen Theologie In den erhal-tenen Partien des anonymen Kommentars findet sich kein Anzei-chen fuumlr eine kompliziertere hypostatische bzw innerhypostati-sche Struktur wie sie bei den spaumlteren Neuplatonikern IamblichosTheodoros von Asine Syrianos oder Proklos vorkommt die zwi-schen das transzendente Eine und das Seiende weitere Schichtensetzten und das intelligible Seiende in ein komplexeres System vonSeinsebenen unterteilten Dennoch sind es gerade die erwaumlhntenNuancen in der Abweichung des anonymen Parmenides-Kom-mentars von Plotin durch die er zu einem aumluszligerst interessantenund fuumlr die Geschichte der abendlaumlndischen Metaphysik bedeu-tenden Text wird Zwei Motive die im fuumlnften und sechsten Frag-ment begegnen sind dabei besonders hervorzuheben

(1) Obwohl der Verfasser des anonymen Kommentars das erste Eine als eine transzendente Gottheit jenseits des Seienden unddes Denkens auffasst legt er es im fuumlnften Fragment zugleich alsdas reine Sein aus das dem Seienden selbst vorausgeht (ατ τεναι τ πρ το ντος) Waumlhrend das zweite Eine (der Intellekt)dem intelligiblen Seienden in seiner Substanzialitaumlt gleichgesetztund dementsprechend durch das Substantiv oder das substanti-vierte Partizip (τ ν οσία) bezeichnet wird hat das erste Einekeinen substanziellen Charakter sondern stellt reines Wirken oderreine Taumltigkeit (ατ τ νεργεν καθαρόν) dar die das zweite Einein seinem Sein konstituiert Zum ersten Mal in der Geschichte derPhilosophie findet sich also in dem anonymen Kommentar eineUnterscheidung zwischen dem Sein und dem Seienden und tauchtder Begriff des sbquoreinen Seinsakteslsquo auf Zu dieser Distinktion einespartizipialen Seienden und des Seins im Infinitiv gelangt der Kom-mentator bei seinem Versuch ein Problem zu loumlsen vor das er sich durch die Formulierung aus der zweiten Hypothese des Par-menides gestellt sieht bdquoWenn Eins ist ist es wohl moumlglich dass esist und doch keinen Anteil an der Seiendheit nimmtldquo6 Fuumlr einenVertreter der metaphysischen Interpretation der die erste undzweite Hypothese als Aussagen uumlber die beiden ersten Hypostasenversteht ergibt sich aus der Voraussetzung der Teilnahme des zwei-ten Einen (des Intellekts) an der Seiendheit eine nicht geringeSchwierigkeit Im Rahmen dieser Deutung gilt naumlmlich das zweite

187Die Theorie des goumlttlichen Selbstbewusstseins im Parmenides-Kommentar

6) Platon Parmenides 142c

Eine als die erste Seiendheit (d h das Seiende selbst) Platons For-mulierung scheint so anzudeuten dass der ersten Seiendheit diemit dem zweiten Einen identisch ist noch eine houmlhere Seiendheitvorausgeht an der das zweite Eine Anteil nimmt Dem zweiten Einen geht aber nur das erste Eine voraus das jenseits des Seiendenoder der Seiendheit liegt Was soll also jene Seiendheit sein an derdas zweite Eine teilnimmt wenn es da auszliger dem zweiten Einennichts anderes als das erste Eine gibt Gerade diese Uumlberlegungbringt den Kommentator auf den Gedanken mit dem AusdruckbdquoSeiendheitldquo koumlnne Platon nur das erste Eine selbst meinen Pla-tons Formulierung wolle in Wirklichkeit nichts anderes aus-druumlcken als dass das zweite Eine an dem ersten Einen Anteil hat7Das hieszlige freilich dass Platon hier das Wort οσία in einem unei-gentlichen Sinne verwendet denn bdquodas Eine ist jenseits der Seiend-heit und des Seienden und es ist weder eine Seiendheit noch einAkt sondern es wirkt vielmehr und ist das reine Wirken selbst so-wie das Sein selbst vor dem Seiendenldquo8 Die Teilnahme des zweitenEinen an der Seiendheit von der Platon spricht bedeutet in der Tatdass das zweite Eine ein abgeleitetes Sein aufgrund seiner Teilnah-me an diesem reinen Sein besitzt das mit dem ersten Einen zusam-menfaumlllt9 In diesem Sinne ist das Eine-Sein gleichsam bdquodie Idee desSeiendenldquo (σπερ δέα το ντος)10

(2) Obwohl der anonyme Kommentar (insbesondere imzweiten Fragment) wiederholt die Transzendenz und sbquoInkommen-surabilitaumltlsquo des ersten Einen mit dem zweiten Einen betont werdendas erste und das zweite Eine im sechsten Fragment als zwei ver-schiedene Schichten oder Aspekte einer Gottheit aufgefasst DerVerfasser des anonymen Kommentars betrachtet das zweite Eine ndashganz im Sinne Plotins ndash als den goumlttlichen Intellekt der in einemzeitlosen reflexiven Akt sich selbst in die Vielheit seiner innerenMomente differenziert und sich selbst wieder zur Einheit versam-melt Das erste Eine versteht er dagegen als ein transzendentes Mo-

188 Vaacutec l av N ěmec

7) Anonymus in Platonis Parmenidem 1211ndash12 (Linguiti 126) μεθέξει τοπρώτου τ δεύτερον

8) Anon in Parm 1223ndash27 (Linguiti 126ndash128) τ ν τ πέκεινα οσίαςκα$ ντος ν μampν οκ στιν οδamp οσία οδamp νέργεια νεργε δamp μ(λλον κα$ αττ νεργεν καθαρόν στε κα$ ατ τ εναι τ πρ το ντος

9) Anon in Parm 1227ndash29 (Linguiti 128) ο μετασχν τ ν -λλο ξατο χει κκλινόμενον τ εναι περ στ$ μετέχειν ντος

10) Anon in Parm 1233ndash34 (Linguiti 128)

ment des reflexiven Intellekts das uumlber dessen Teilung in sbquoDen-kendeslsquo und sbquoGedachteslsquo steht als einen Urakt des Intellekts derseinen differenzierten Akten oder Momenten vorausgeht und ihreEinheit stiftet Jene zwei verschiedenen Schichten des Intellekts ndash(a) der innerlich geeinte Denkakt der die Differenz zwischen demDenkenden und dem Gedachten uumlberschreitet und (b) der inner-lich differenzierte Intellekt der seine reflexive Bewegung ausuumlbtindem er durch die einzelnen Phasen Existenz Leben und Denken(0παρξις ndash ζωή ndash νόησις) hindurchgeht ndash entsprechen also demKommentator zufolge den zwei ersten Hypothesen von PlatonsParmenides d h dem ersten und dem zweiten Einen Diese zweiSchichten des Intellekts stellen fuumlr den Verfasser des Kommentarseigentlich zwei verschiedene Perspektiven dar aus denen man dasGoumlttliche betrachten kann als das Eine in sich selbst (ατ τοτο)das die Ebene des intelligiblen Seienden der Reflexivitaumlt und derDifferenz transzendiert und als das seiende Eine d h als den reflexiven Intellekt der sich in die Vielheit seiner Momente ndash Exis -tenz Leben und Denken ndash ausgliedert

Es ist gerade diese im sechsten Fragment auftretende Theoriedes goumlttlichen Selbstbewusstseins die von den Forschern wieder-holt missverstanden und im Eifer ihres Bemuumlhens den Textinhaltmit den Hypothesen uumlber die Autorschaft des Kommentars zu harmonisieren umgedeutet wurde Infolgedessen blieb dieses be-merkenswerte Lehrstuumlck bisher in seiner Originalitaumlt verkannt InAnbetracht dieser Umstaumlnde moumlchte der vorliegende Aufsatz sei-nen Beitrag dazu leisten gerade den Inhalt des sechsten Fragmentszu klaumlren Um eine zuverlaumlssige Textgrundlage zu schaffen wirdzunaumlchst eine Uumlbersetzung des ganzen Fragments angefuumlhrt dersich eine Interpretation einzelner Textabschnitte anschlieszligt Darinwird vor allem versucht detailliert das dargelegte metaphysischeKonzept zu rekonstruieren

II Fragment 6 Text und Uumlbersetzung

13 Fol 90v

μή δυνά]μενον ες 6αυτν εσελθεν τίνι γ7ρ βλέπει 6αυτν τν εσελ-θεν μ δυνάμενον ε μ τlt 6νί κα$ τίνι 6αυτόν ες gtν εσέρχεσθαιδυνατε τίς στιν οτος μφοτέρων φαπτόμενος κατ7 τ ατ ν τlt μεμερισμένB τίς λέγων Cτερον εναι τ νοον κα$ τ νοούμενον

189Die Theorie des goumlttlichen Selbstbewusstseins im Parmenides-Kommentar

(5)

βλέπων πότε 6νοται τ νοον τlt νοουμένB κα$ τί πότε ο δύ-ναται δDλον οEν τι α0τη νέργεια παρF κείνας παναβεβηκυαπάσαις κα$ χρωμένη ατας πάσαις Gς Hργάνοις πάντων φαπτομέ-νη κα$ κατ7 τ ατ κα$ ν οδεν$ οEσα 6κάστη μampν οEν τIν-λλων πρός τι πέπηγε κα$ κατ7 τ εδος πάντως ατlt κα$ κατ7 τνομα τέτακται α0τη δamp οδενός στι δι οδamp εδος οδamp νομα χει οδamp οσίαν ν οδεν$ γ7ρ κρατεται λλF οδamp μορφοται Kπό τινοςντως οEσα παθς κα$ ντως χώριστος 6αυτDς ο νόησις οEσα ονοητόν οκ οσία λλF πέκεινα πάντων κα$ πάντων ατία ltgtσύζυ-γος σπερ μampν τοίνυν ρασις μampν το κουστο οκ φάπτεται ltοδFκο το ρατοgt οδF μφότεραι το γευστο οδamp οδεν 6κάστη τι6τέρα στ$ν τDς 6τέρας οδF τι κουστν Cτερον το ρατο -λλη δFστ$ν δύναμις παναβεβηκυα τούτων L τατα διακρίνει κα$ τ τα-τν ατIν γιγνώσκει κα$ τ Cτερον κα$ τν οσίαν κα$ πάθος L κα$δύναται πασIν φάπτεσθαι χρDσθαι δamp ατας Gς Hργάνοις δι7 τκρείττονF εναι κα$ παναβεβηκέναι ατIν ο0τως κα$ δύναμις καθFLν ρM νος μ δυνάμενος

14 Fol 90r

εσελθεν ες 6αυτν 6τέρα Nν εOη τDς νοήσεως κα$ το νοουμένου πι-νοίP διαφέρουσα κα$ πέκεινα τούτων οEσα πρεσβείP κα$ δυνάμεικα$ ο0τως ν ν κα$ Qπλον ldquoτ ατ τοτοrdquo νεργείP 6αυτο διαφέρεικα$ Kπάρξει κα$ κατ7 -λλο -ρα Cν στιν Qπλον κατF -λλο δamp ατ6αυτο διαφέρει τ γ7ρ το 6νς διαφέρον οχ ν κα$ τ το QπλοCτερον οχ Qπλον ν μampν οEν στιν κα$ Qπλον κατ7 τν πρώτην κα$ldquoατ τοτοrdquo ατο τοαύτου δέαν δύναμις R τι κα$ χρ Hνομάζειννδείξεως ltχgtάριν -ρρητον οEσαν κα$ νεννόητον οχ ν δamp οδampQπλον κατ7 τν 0παρξιν κα$ ζων ltκα$gt τν νόησιν κα$ τ νοον κα$τ νοούμενον Kπάρξει τ δamp νοον Rν νο[ς μετε]ξ[έλθS] π τDςKπάρξεως ες τ νοον Tνα πανέλθS ες τ νοητν κα$ 6αυτν OδSστ$ν ζωή δι όριστος ltgt κατ7 τν ζωήν κα$ πασIν οσIν νερ-γειIν κα$ Gς κατ7 μampν τν 0παρξιν 6στIσα Nν εOη νέργεια κατ7 δampτν νόησιν ες αKτν στραφεσα νέργεια κατ7 δamp τν ζων κ τDςKπάρξεως κνεύσασα νέργεια κα$ κατ7 τοτο Cστηκεν Uμα κα$ κι-νεται κα$ ν 6αυτlt στιν κα$ ν -λλB κα$ λον στ$ν κα$ μέρη χεικα$ τατόν στι κα$ Cτερον κατ7 δamp ψιλν ατο τ ν κα$ οWον πρIτονκα$ ντως τ ν οXτε Cστηκεν οXτε κινεται οXτε τατόν στιν οXτε Cτε-ρον οXτε ν 6αυτlt στιν οXτε ν -λλB τι δamp οXτε νοούμενον οXτε νεργον οXτε ες 6αυτ οXτε ες -λλο 11

13 Fol 90v

er kann nicht in sich selbst hineingehen Wodurch denn sieht er sichselbst wie er in sich selbst nicht hineingehen kann wenn nicht durchdas Eine Und wodurch denn sieht er sich selbst in den er nicht hin-

190 Vaacutec l av N ěmec

11) Anon in Parm 131ndash1435 (Linguiti 128ndash134)

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eingehen kann Und wer ist derjenige der die beiden als Identisches imgeteilten [Intellekt] beruumlhrt Wer ist derjenige der sagt das Denkendesei etwas anderes als das Gedachte Wer ist derjenige der sieht wanndas Denkende sich mit dem Gedachten vereinigt und wann es sich nichtvereinigen kann Offensichtlich ist es der Akt selbst der sich auszliger jenen [Akten] befindet der uumlber sie alle hinausgeht und der sie alle alsseine Organe gebraucht der Akt der alle anderen [Akte] als Identischesberuumlhrt und der in keinem [jener Akte] enthalten ist Jeder von [den anderen Akten] ist gewiss auf etwas fest gerichtet und dazu durchausgeordnet entsprechend seiner Gestalt und seinem Namen waumlh renddieser Akt zu nichts gehoumlrt deswegen hat er auch keine Gestalt keinenNamen und keine Seiendheit Er wird in keiner Hinsicht beherrscht erwird aber auch von nichts gestaltet da er wirklich unversehrt und wirk-lich ungetrennt von sich selbst bleibt und er ist weder das Denken nochdas Gedachte noch die Seiendheit aber er befindet sich jenseits von allem und ist die inkommensurable Ursache von allemGleich wie weder das Sehvermoumlgen das Houmlrbare erfasst noch dasGehoumlr das Sehbare noch die beiden das was gekostet werden kann undgleich wie keines dieser Sinnesvermoumlgen weiszlig dass es sich von einemanderen unterscheidet und dass das Houmlrbare etwas anderes als das Sehbare ist es aber ein Vermoumlgen gibt das uumlber diese Sinnesvermoumlgenhinausgeht das sie alle unterscheidet und ihre Selbigkeit und Anders-heit ihr Wesen und ihren Zustand erkennt und das sie alle beruumlhrenund als seine Organe gebrauchen kann weil es maumlchtiger als sie ist unduumlber sie hinausgeht so duumlrfte wohl auch das Vermoumlgen durch das derIntellekt sieht der

14 Fol 90r

in sich selbst nicht hineingehen kann ein anderes als das Denken unddas Gedachte sein da es sich durch seinen Begriff von beiden unter-scheidet und sich durch seine Wuumlrde und Macht jenseits von beiden befindetUnd so unterscheidet es sich von sich selbst durch den Akt und die Existenz und doch bleibt sbquoes selbstlsquo Eines und Einfaches und unterdem einen Gesichtspunkt ist es das einfache Eine unter dem anderenaber unterscheidet es sich von sich selbst Denn dasjenige das sich vomEinen unterscheidet ist nicht das Eine und dasjenige das anders als dasEinfache ist ist kein Einfaches Unter dem ersten Gesichtspunkt d hsbquoes selbstlsquo in sich selbst gesehen ist es also das Eine und Einfache dieMacht ndash oder wie soll man sie benennen um sie irgendwie zu bezeich-nen obwohl sie nicht ausgesprochen und gedacht werden kann ndashwaumlhrend es weder Eines noch ein Einfaches in Bezug auf die Existenzdas Leben und das Denken istIn Bezug auf die Existenz ist das Denkende zugleich das GedachteWenn aber der Intellekt aus der Existenz hervorgegangen und zumDenkenden geworden ist um zum Gedachten zuruumlckzukehren undsich selbst anzuschauen dann ist das Denkende das Leben Deswegenist [der Intellekt] in Bezug auf das Leben unbegrenzt Und da sie alle

191Die Theorie des goumlttlichen Selbstbewusstseins im Parmenides-Kommentar

Akte sind duumlrfte es sich wohl in Bezug auf die Existenz um einen ver-bleibenden Akt handeln in Bezug auf das Denken um einen zu sichselbst zuruumlckgekehrten Akt und in Bezug auf das Leben um einen Aktder von der Existenz abgewichen ist Und dementsprechend befindetes sich in Ruhe und zugleich in Bewegung in sich selbst und in einemanderen es ist Ganzes und hat Teile es ist dasselbe und ein anderesAber in Bezug darauf was an ihm das bloszlige Eine und gleichsam dasEine im primaumlren und wahrhaftigen Sinne ist befindet es sich weder inRuhe noch in Bewegung es ist weder dasselbe noch ein anderes wederin sich selbst noch in einem anderen Da es aber weder gedacht nochwirkend ist und zwar weder auf sich selbst noch auf ein anderes

III Interpretation

Der Intellekt der bdquonicht in sich selbst hineingehen kannldquo

Obwohl das Verstaumlndnis des ersten Abschnitts dadurch er-schwert wird dass der Anfang des ersten Satzes fehlt aus dem das Subjekt fuumlr die folgende Partizipialfuumlgung hervorgehen wuumlrdewird aus der Formulierung in den Zeilen 1335ndash141 (νος μ δυνά-μενος εσελθεν ες 6αυτYν) zumindest klar dass es sich um den Intellekt handeln muss Weiter ergibt sich aus dem Satz in den Zei-len 137ndash9 dass mit dem Intellekt der bdquonicht in sich selbst hinein-gehen kannldquo der Intellekt in einem Zustand gemeint ist in dem ersich als Denkender nicht mit sich selbst als dem Gedachten ver-einigen kann Unter dem Intellekt bdquoder in sich selbst hineingehenkannldquo duumlrfte hingegen ein Zustand zu verstehen sein in dem ersich als Denkender mit sich selbst als dem Gedachten vereinigtAus dem Text wird aber nicht besonders klar unter welchen Um-staumlnden ein Intellekt in einen Zustand geraten kann in dem erauszligerstande waumlre sich als Denkender mit sich selbst als dem Gedachten zu vereinigen Nach Pierre Hadot bezeichnet dieserAusdruck jenes transzendente Moment des Intellekts das der re-flexiven Erkenntnis vorausgeht und mit dem ersten Einen selbstzusammenfaumlllt12 Der Intellekt vermoumlchte in dieser Phase nicht insich selbst hineinzugehen weil er sich noch nicht in Denkendesund Gedachtes differenziert hat was als Grundvoraussetzung der

192 Vaacutec l av N ěmec

12) Vgl Hadot Porphyre et Victorinus (wie Anm 2) I 133ndash134 Dieser In-terpretation von Hadot schlieszligt sich auch Alessandro Linguiti an Vgl Linguiti (wieAnm 1) 193 ff

reflexiven Erkenntnis gelten darf Um durch die Bewegung desDenkens in sich selbst hineingehen zu koumlnnen muumlsste der Intellektzunaumlchst durch die Bewegung des Lebens aus sich selbst hervorge-hen und sich somit in die Vielheit seiner Akte entfalten was abererst auf der Ebene des reflexiven Intellekts oder des zweiten Einengeschieht Das erste Eine als der Intellekt der bdquonicht in sich selbsthineingehen kannldquo muumlsste sich folglich zuerst als reflexiver Intel-lekt konstituieren um sich selbst reflexiv erfassen zu koumlnnen

Dieser Interpretation widersprechen aber deutlich die For-mulierungen des Kommentators denen zufolge auch der Intellektbzw eines seiner Momente das bdquonicht in sich selbst hineingehenkannldquo durch jenes houmlhere Erkenntnisvermoumlgen gesehen wird dasdem Einen selbst gleichgesetzt wird (131ndash4 139) Der Intellekt indem Zustand in dem er bdquonicht in sich selbst hineingehen kannldquowird ausdruumlcklich als bdquoder geteilte Intellektldquo (136) bezeichnet derschon in sich selbst als in denjenigen in den er nicht hineingehenkann und denjenigen der nicht hineingehen kann differenziertwird (132ndash4) In diesem Intellekt ist also schon eine Unterschei-dung des Denkenden und des Gedachten vorausgesetzt (136ndash7)Die Wendung dass er bdquonicht hineingehen kannldquo bezeichnet gera-de den Zustand in dem dieser Denkende nicht imstande ist sichmit dem Gedachten zu vereinigen Das Eine wird hingegen als jener houmlhere Akt des Intellekts aufgefasst der die beiden Momentein ihrer Identitaumlt und Andersheit fasst und als solcher uumlber die bei-den Momente hinausgeht (134ndash5 1310ndash13) Nicht zuletzt sprichtgegen Hadots Deutung gerade die Tatsache dass der Intellekt(νος) als Subjekt der Partizipialkonstruktion μ δυνάμενος εσελ-θεν ες 6αυτYν zu vermuten ist Es ist wenig wahrscheinlich dassder Kommentator bereit waumlre das erste Eine ausdruumlcklich als sbquoIn-tellektlsquo zu bezeichnen Wenn Hadot bei seiner Interpretation dessechsten Fragments wiederholt zwei Intellekte (bdquoles deux Intelli-gencesldquo) bzw zwei Zustaumlnde des Intellekts (bdquoles deux eacutetats de lrsquoIntelligenceldquo) erwaumlhnt13 geht er von seiner Annahme aus wo-nach der bdquoIntellekt der nicht in sich selbst hineingehen kannldquo mitdem Einen identisch waumlre Diese Redeweise scheint aber demKommentator selbst fremd zu sein

Eine alternative Interpretation hat Gerard Bechtle vorge-schlagen Bechtle meint gerade umgekehrt der Intellekt der bdquonicht

193Die Theorie des goumlttlichen Selbstbewusstseins im Parmenides-Kommentar

13) Vgl Hadot Porphyre et Victorinus (wie Anm 2) I 133ndash138 II 107ndash113

hineingehen kannldquo sei mit dem reflexiven Intellekt identischwaumlhrend der Intellekt der bdquoin sich selbst hineingehen kannldquo mitdem (ersten) Einen selbst als der transzendenten Wurzel des re-flexiven Intellekts zusammenfalle14 Diese Deutung begegnet den-noch einer aumlhnlichen Schwierigkeit wie die oben skizzierte Inter-pretation Hadots In der Zeile 137ndash9 heiszligt es naumlmlich dass jenervereinigende Akt der mit dem Einen selbst identifiziert wird denIntellekt sowohl in dem Zustand bdquosiehtldquo in dem er bdquonicht hinein-gehen kannldquo als auch in dem Zustand in dem bdquodas Denkende sichmit dem Gedachten vereinigtldquo d h in dem er gerade bdquoin sich selbsthineingehtldquo Daraus ergibt sich dass dieser houmlhere Akt sich vonbeiden Zustaumlnden des Intellekts unterscheiden muss Es ist also offensichtlich dass mit dem bdquoIntellekt der nicht in sich selbst hineingehen kannldquo weder das Eine als transzendentes Moment desIntellekts noch der reflexive Intellekt als solcher gemeint sind Wasmag diese Formel dann bedeuten

Nach dem Ausklammern der beiden erwaumlhnten Interpreta-tionen bleibt grundsaumltzlich nur noch die Moumlglichkeit dass dieseFormel einen Zustand oder eine Phase des reflexiven Intellektsbzw einen seiner Akte bezeichnet Um welche Phase oder welchenAkt des reflexiven Intellekts es sich handelt wird durch den Satzin Zeile 1418ndash20 angedeutet bdquoWenn aber der Intellekt aus der Existenz hervorgegangen (μετε]ξ[έλθS) und zum Denkenden ge-worden ist um zum Gedachten zuruumlckzukehren (πανέλθS ες τνοητόν ndash woumlrtlich um ins Gedachte zuruumlckzugehen)15 und sichselbst anzuschauen dann ist das Denkende das Lebenldquo Es liegtnahe dass der bdquoIntellekt der nicht in sich selbst hineingehenkannldquo mit dem Leben als dem Akt des Intellekts identisch ist deraus der Existenz hervorgegangen ist oder genauer gesagt mit demin die Existenz und das Leben gespaltenen Intellekt sbquobevorlsquo erdurch die Ruumlckbewegung des Denkens zu sich selbst zuruumlckkehrtWaumlhrend die Existenz als bdquoder in Ruhe verbleibende Aktldquo denAusgangszustand des Intellekts darstellt in dem das Denkende mitdem Gedachten zusammenfaumlllt differenziert sich der Intellektdurch die Bewegung des Lebens in die Existenz als das Gedachte

194 Vaacutec l av N ěmec

14) Vgl Bechtle (wie Anm 3) 185ndash186 191ndash19615) Der Kommentator verwendet hier die Verba μετεξέρχομαι und πανέρ-

χομαι die aus derselben Wurzel wie εσέρχομαι gebildet sind wobei das πανέρχο-μαι wahrscheinlich mit dem εσέρχομαι synonym ist

und ins Leben als das Denkende wobei das Hervorgehen des Le-bens in die Ruumlckbewegung des Denkens wieder transformiert wer-den muss damit bdquodas Denkende zum Gedachten zuruumlckkehrtldquoErst in dieser Endphase der reflexiven Bewegung wird also der Zu-stand erlangt in dem das Denkende sich mit dem Gedachten wie-der vereinigt d h der bdquoIntellekt in sich selbst hineingehtldquo Es sindgerade diese Phasen oder Akte ndash Existenz Leben und Denken ndashdie das Eine als der Urakt des Intellekts bdquoin ihrer Identitaumlt und An-dersheit fasstldquo und als bdquoseine Organe gebrauchtldquo (1310ndash13) DasEine als die transzendente Wurzel des reflexiven Intellekts ist dieGrundvoraussetzung dafuumlr dass der reflexive Intellekt sich in jederPhase der Identitaumlt aller seiner Akte bewusst ist und dass er als der Denkende sich selbst als den Gedachten identifizieren kannauch wenn er in die verschiedenen Momente gespalten ist Das Einewird so als ein uumlber-reflexiver Akt begriffen der die Einheit undIdentitaumlt der verschiedenen Akte oder Momente des reflexiven In-tellekts garantiert und ihre gegenseitige Selbstidentifizierung er-moumlglicht Folglich ist es auch das Eine das gewaumlhrleistet dass derreflexive Intellekt bdquoin sich selbst hineingehen kannldquo

Vergleich mit dem Gemeinsinn

Diese Interpretation wird durch den folgenden Textabschnittbekraumlftigt in dem jenes houmlhere Vermoumlgen des Intellekts das mitdem Einen selbst zusammenfaumlllt mit dem aristotelischen sbquounter-scheidenden Sinnesvermoumlgenlsquo verglichen wird Hier lehnt sich derKommentator eng an eine Stelle aus dem dritten Buch De animaan16 wo Aristoteles die Frage aufwirft wie sich Unterschiede zwi-schen den verschiedenen Sinnesempfindungen feststellen lassen17

Bei der Loumlsung dieser Frage erlaumlutert Aristoteles dass jedes Sin-nesvermoumlgen sich jeweils auf die ihm zugehoumlrigen Wahrneh-mungsgegenstaumlnde oder Wahrnehmungsqualitaumlten bezieht aberkeinem das Wahrnehmbare fassbar ist fuumlr das die anderen Sinnezustaumlndig sind Demgemaumlszlig kann jeder Sinn zwar die Unterschiedezwischen den ihm zugehoumlrigen Wahrnehmungsgegenstaumlnden be-

195Die Theorie des goumlttlichen Selbstbewusstseins im Parmenides-Kommentar

16) Aristoteles De anima 426b8ndash2217) Vgl H-J Horn Studien zum dritten Buch der aristotelischen Schrift De

anima Goumlttingen 1994 39

urteilen keines der getrennten Sinnesvermoumlgen aber ist imstandedie Gegenstaumlnde quer durch mehrere Wahrnehmungsbereiche ndashz B das Weiszlige und das Suumlszlige ndash zu unterscheiden Da es sich aberimmer um Wahrnehmbares handelt muumlssen auch die Unterschie-de zwischen Wahrnehmungsgegenstaumlnden die in den Kompetenz-bereich verschiedener Sinne fallen durch ein Sinnesvermoumlgen fest-gestellt werden das von den uumlbrigen Sinnen abgegrenzt ist Gera-de dieses eigentuumlmliche Sinnesvermoumlgen nennt Aristoteles sbquodas unterscheidendelsquo (τ κρνον) Wenn es auch nirgends explizit ge-sagt wird scheint er dieses Vermoumlgen mit dem sbquogemeinsamen Sinnlsquo( κοιν αOσθησις) gleichzusetzen18 Diesem sbquogemeinsamen Sinnlsquoschreibt er weitere Funktionen zu wie etwa die Wahrnehmung sbquoge-meinsamer Wahrnehmungsgegenstaumlndelsquo die von mehreren Sinnenzugleich erfasst werden aber auch ein elementares Selbstbewusst-sein das jeden Wahrnehmungsakt begleitet (wie z B mein Sehaktvon dem Bewusstsein begleitet wird dass ich sehe)19

Gerade an diese Motive der aristotelischen Psychologie knuumlpftder Kommentator an mit der Parallele die er zwischen der Sinnes-wahrnehmung und dem Intellekt zieht Aumlhnlich wie die Sinnes -vermoumlgen ist auch der reflexive Intellekt in seine verschiedenen Momente oder Akte aufgespalten von denen jeder seine eigeneFunktion und seinen eigenen Kompetenzbereich besitzt weshalbaber auch keiner imstande ist sich auf die anderen Akte und auf dasvon ihnen Intendierte zu beziehen und sie in ihrer Andersheit undIdentitaumlt zu erkennen Deshalb muss es auch auf der Ebene des In-tellekts ein besonderes Vermoumlgen ndash aumlhnlich dem sbquounterscheidendenlsquooder sbquogemeinsamenlsquo Sinn ndash geben das von allen Vermoumlgen oder Ak-ten des reflexiven Intellekts verschieden ist und uumlber sie hinausgehtGenau wie der sensus communis ist es ein aktiver Keim des Intellektsder alle differenzierten Akte beruumlhrt sie als seine Organe gebrauchtund diese zugleich vereinigt und ihre Selbigkeit stiftet Und ebensowie der sbquogemeinsame Sinnlsquo muss dieser vereinigende Akt uumlber allenAkten ein einziger sein ja er faumlllt mit dem (ersten) Einen zusammen

196 Vaacutec l av N ěmec

18) Zum sbquogemeinsamen Sinnlsquo siehe z B Aristoteles De an 425a27 ZurGleichsetzung des sbquounterscheidenden Sinneslsquo mit dem sensus communis bei Aristo-teles vgl z B A-E Chaignet Essai sur la psychologie drsquoAristote Bruxelles 1966375 378ndash381 Diese Identifikation zieht allerdings D W Hamlyn in Zweifel VglAristotle De Anima Books II and III Translated with Introduction and Notes byD W Hamlyn Oxford 2002 128ndash129

19) Vgl Chaignet (wie Anm 18) 375ndash382

Der Vergleich mit dem sbquogemeinsamenlsquo Sinn wirft ein klaumlren-des Licht auf die vorausgehende Passage (131ndash23) Der Kommen-tator schreibt dem Einen in seinem Bezug auf die Akte des reflexi-ven Intellekts eine aumlhnliche Funktion zu wie sie der sensus com-munis als Organ des elementaren Selbstbewusstseins ausuumlbt dasdie Wahrnehmungsakte begleitet Das Eine begleitet die einzelnenAkte des reflexiven Intellekts und vereinigt sie so alle in sich selbstals in einem einzigen Zentrum Als dieses uumlber-reflexive und Ein-heit stiftende Moment bildet das Eine einen konstitutiven und er-moumlglichenden Grund des reflexiven Selbstbewusstseins des Intel-lekts Auf den ersten Blick scheint der Vergleich insoweit zu hin-ken als die Wahrnehmungsakte ausschlieszliglich auf die aumluszligeren Gegenstaumlnde gerichtet und im Prinzip nicht zu einem Selbstbezugfaumlhig sind waumlhrend durch die Akte des reflexiven Intellekts sichgerade der denkende Selbstbezug vollzieht in dem bdquoder Denkendesich mit dem Gedachten vereinigtldquo Der Kommentator scheintdennoch davon uumlberzeugt zu sein dass die differenzierten Akte desreflexiven Intellekts an sich auszligerstande sind diesen Selbstbezugzu bewirken und zu gewaumlhrleisten Die unabdingbare Grundbe-dingung der Moumlglichkeit des reflexiven Selbstbezuges wie er imdurch die Dreiheit der Akte strukturierten Intellekt realisiert wirdstellt gerade das mit dem Einen identifizierte houmlhere Vermoumlgenoder der vereinigende Akt dar der alle differenzierten Akte beglei-tet und ihre Einheit und Selbigkeit in der Vielheit und Andersheitgarantiert Das Selbstbewusstsein auf der Ebene des reflexiven Intellekts das sich durch die Dualitaumlt des Denkenden und des Gedachten auszeichnet ist so in einem houmlheren oder tieferen nicht-reflexiven oder uumlber-reflexiven Selbstbewusstsein gegruumlndet des-sen Quelle und Subjekt das transzendente Eine selbst ist

Das Eine und die Dreiheit von sbquoExistenz ndash Leben ndash Denkenlsquo

Aus dem Gesagten wird auch ersichtlich dass das Eine von allen Strukturmomenten oder Akten des reflexiven Intellekts ingleichem Maszlige verschieden sein muss und mit keinem von ihnenidentifiziert werden kann Aus diesem Grund ist auch die Inter-preta tion Hadots abzulehnen wonach das Eine schlieszliglich mitdem ersten Glied der Dreiheit von sbquoExistenz ndash Leben ndash Denkenlsquoidentisch sein soll Diese Auslegung gruumlndet sich auf die Annahme

197Die Theorie des goumlttlichen Selbstbewusstseins im Parmenides-Kommentar

die Existenz als einer der Akte des reflexiven Intellekts falle mitdem sbquoSeinlsquo zusammen das im fuumlnften Fragment mit dem Einenselbst gleichgesetzt wurde20 Diese Identifizierung des sbquoSeinslsquo mitder sbquoExistenzlsquo laumlsst sich aber in keinem der erhaltenen Fragmentedes Kommentars belegen und waumlre mit dessen metaphysischemKonzept auch kaum vereinbar Der eigentliche Grund fuumlr HadotsGleichsetzung dieser zwei Termini ist die Tatsache dass sie beidein den theologischen Schriften des Marius Victorinus ndash insbeson-dere in Adversus Arium 1b ndash zusammenzuflieszligen scheinen Geradein der genannten Schrift erhebt Marius Victorinus die Dreiheit vonsbquoSein (bzw Existenz) ndash Leben ndash Denkenlsquo zum zentralen konzeptu-ellen Modell fuumlr seine Eroumlrterung der Wesensgleichheit von VaterSohn und heiligem Geist Im Rahmen seiner Transponierung derchristlich-theologischen Problematik auf den Boden einer (neu-)platonischen metaphysischen Prinzipienlehre fasst Victorinus denGottvater als das transzendente bdquoEine ohne Existenzldquo (inexsisten-tialiter unum) auf dem durch die negative Theologie u a Sein Existenz Seiendes Substanz Denken abgesprochen werden21 dasaber von der affirmativen Theologie zugleich als bdquodreimaumlchtigerGeistldquo (tripotens spiritus) gepriesen wird der die Vermoumlgen desSeins des Lebens und des Denkens in sich einschlieszligt Unter die-sem Gesichtspunkt wird Gottvater primaumlr als das reine Sein (esse)betrachtet das in seiner transzendenten Einheit und Verborgenheitdas Leben und das Denken in ihrer potenziellen Praumlexistenz be-inhaltet22 Der Sohn und der Heilige Geist werden dann geradedem aktualisierten und geaumluszligerten Leben (vita) und Denken (in-

198 Vaacutec l av N ěmec

20) Vgl Hadot Porphyre et Victorinus (wie Anm 2) I 13321) Marius Victorinus Adversus Arium 1499ndash18 (CSEL LXXXIIII 143)

Ante omnia quae vere sunt unum fuit sive unalitas sive ipsum unum antequam sitei esse unum unum ante omnem exsistentiam ante omnem exsistentialitatem ante ipsum ν hoc enim unum ante ν ante omnem igitur essentitatem substantiamsubsistentiam et adhuc omnia quae potentiora unum sine exsistentia sine substan-tia sine intellegentia

22) Marius Victorinus Adv Ar 1501ndash15 (CSEL LXXXIIII 144ndash145) Hicest deus hic pater praeintellegentia praeexsistens et praeexsistentia tripotens inunalitate spiritus tres potentias couniens exsistentiam omnem vitam omnem etbeatitudinem sed ista omnia et unum et simplex unum et maxime in potentia eiusquod est esse hoc est exsistentiae potentia vitae et beatitudinis 1523ndash9 (CSELLXXXIIII 148) Deus potentia est istarum trium potentiarum exsistentiae vitaebeatitudinis hoc est eius quod est esse quod vivere quod intellegere Et quod estesse primum et secundum quod est esse secundum ipsum vivere et intellegere sineulla unitione sed simpliciter simplicitas et istud manifestum

tellegentia bzw sapientia beatitudo) gleichgesetzt die zugleich alszwei Phasen des bdquoHervorgehensldquo (progressio) und der bdquoRuumlckkehrldquo(regressus) begriffen werden durch die das zweite Eine ndash das bdquoEinein der Existenzldquo (exsistentialiter unum) ndash konstituiert wird23 SeinLeben und Denken zeigen sich so als die drei Phasen ndash VerharrenHervorgehen und Ruumlckkehr24 ndash in denen sich die goumlttliche Sub-stanz aus ihrer transzendenten Wurzel in die Vielheit und Anders-heit hinein entfaltet um die urspruumlngliche Selbigkeit mit ihremtranszendenten Grund wiederherzustellen und sich selbst als einreflexiv denkendes Wesen zu konstituieren25 Die substanzielleIdentitaumlt von Sein Leben und Denken wird dabei durch ihr ge-genseitiges Ineinandersein ermoumlglicht Jedes Glied impliziert diezwei anderen auf seine eigene Art und Weise Ihre Differenz ergibtsich dagegen daraus dass in jeder Phase jeweils ein Glied der Drei-heit uumlber die anderen herrscht und in den Vordergrund tritt26

Obwohl man eine konzeptuelle Verwandtschaft zwischenAdversus Arium 1b und dem anonymen Parmenides-Kommentarkaum bestreiten kann ndash diese besteht besonders darin dass in bei-den Texten das erste Eine mit dem reinen Sein identifiziert wirddas sich vom Seienden bzw dem seienden Einen abgrenzt und dassdie Dreiheit sbquoExistenz ndash Leben ndash Denkenlsquo eine zentrale Rolle beider Eroumlrterung der reflexiven Bewegung bzw der Konstitution desIntellekts spielt ndash sind auch einige wesentliche Unterschiede nichtzu verkennen Im anonymen Kommentar kann vor allem keineAnwendung der Dreiheit auf das erste Eine nachgewiesen werdenSein Verfasser setzt zwar das Eine dem reinen Sein gleich das alsreine Wirksamkeit verschieden ist vom substanziellen Seienden

199Die Theorie des goumlttlichen Selbstbewusstseins im Parmenides-Kommentar

23) Marius Victorinus Adv Ar 15110ndash27 (CSEL LXXXIIII 146ndash147)Potentia enim progrediente ista motio nusquam requiescens quippe vita quaesit infinita et ipsa in vivificatione veluti foris apparuit Vita autem filius vita mo-tio a vitali praeexsistentia vita exsistentia Ista igitur exsistentia totius exsistentiaeest vita et iuxta quod vita motus quasi femineam sortita est potentiam hoc quodconcupivit vivificare Sed quoniam ista motio una cum sit et vita est et sapien-tia vita conversa in sapientiam et magis in exsistentiam patricam magis autem retromotae motionis in patricam potentiam et ab ipso viltrgtificata vita recurrens in patrem vir effecta est Descensio enim vita ascensio sapientia Vgl auch 15220ndash35(CSEL LXXXIIII 148ndash149)

24) Marius Victorinus Hymnus 371ndash74 (CSEL LXXXIIII 297) Statusprogressio regressus o beata trinitas

25) Vgl Marius Victorinus Adv Ar 1577ndash21 (CSEL LXXXIIII 155ndash156)26) Vgl Hadot Porphyre et Victorinus (wie Anm 2) I 239ndash246

und er spricht dem Einen auch eine Art uumlber-reflexives Denken zunie aber wendet er die Dreiheit sbquoSein ndash Leben ndash Denkenlsquo auf das erste Eine an nicht einmal im Sinne einer potenziellen und uumlber-substanziellen Praumlexistenz (praeexsistentia ndash praeviventia ndash prae -intellegentia) wie es Victorinus in Adversus Arium 1b und imzweiten Teil von Adversus Arium 4 tut27 oder im Sinne der reinenAkte (esse ndash vivere ndash intellegere) wie es insbesondere im ersten Teilvon Adversus Arium 4 geschieht28 Die Dreiheit erscheint im Kom-mentar nur in substanzieller Form und bleibt der Ebene des Intel-lekts immanent Im fuumlnften Fragment kritisiert der Kommentatorsogar ausdruumlcklich die Chaldaumlischen Orakel oder ihre Auslegerweil sie der houmlchsten Gottheit eine trinitarische Struktur zuwei-sen29 Manche seiner Formulierungen erwecken dabei den Ein-druck dass er bei seiner Kritik ein aumlhnliches theologisches Kon-zept im Auge gehabt haben mochte wie es uns gerade in AdversusArium 1b begegnet Das Eine wird vom Kommentator keineswegsals Ausgangsglied der Dreiheit aufgefasst aus dem das Leben her-vorginge und zu dem das Denken zuruumlckkehrte wie es in Adver-sus Arium 1b begriffen wird Dementsprechend ist das Eine auchnicht sbquoder Gegenstandlsquo des Erkennens des zweiten Einen in demdas zweite Eine zugleich sich selbst in seiner potenziellen undtranszendenten Praumlexistenz erfasst sondern es ist der Akt der inallen drei Akten oder Momenten wirkt der ihre Einheit stiftet undzugleich uumlber sie hinausgeht Auch wenn der Kommentator dasEine mit dem Sein identifiziert setzt er nie das Sein mit der Exis -tenz gleich und nichts scheint davon zu zeugen dass die Existenzmit dem transzendenten Moment des Intellekts (dem ersten Einen)zusammenfallen sollte30 Der Verfasser des anonymen Kommen-tars verwendet im Gegenteil unterschiedliche Ausdruumlcke um dieverschiedenen Tatsachen hervorzuheben Waumlhrend der TerminussbquoSeinlsquo dem ersten Einen als der Ursache oder der sbquoIdeelsquo des intelli-giblen Seienden vorbehalten ist soll das Wort sbquoExistenzlsquo das ersteMoment der reflexiven Bewegung des Intellekts oder des zweiten

200 Vaacutec l av N ěmec

27) Vgl z B Marius Victorinus Adv Ar 42318ndash34 (CSEL LXXXIIII 260)28) Vgl z B Marius Victorinus Adv Ar 464ndash7 (CSEL LXXXIIII 231ndash

232) 489ndash30 (CSEL LXXXIIII 235ndash236) 42126ndash28 (CSEL LXXXIIII 257)29) Vgl Anon in Parm 91ndash1011 (Linguiti 118ndash120)30) Darauf hat schon Andrew Smith hingewiesen Vgl ders Zπόστασις and

0παρξις in Porphyry in F Romano D P Taormina (Hrsg) Hyparxis e hyposta-sis nel neoplatonismo Firenze 1994 33ndash41 hier 41

Einen bezeichnen im Unterschied zum sbquoSeiendenlsquo das als Benen-nung fuumlr die ganze Hypostase dient Im anonymen Kommentarfindet man auch kein Anzeichen fuumlr das Prinzip eines wechsel -seitigen Ineinanderseins (und des Vorherrschens) von Existenz Leben und Denken das eine zentrale Rolle in Adversus Arium 1b3 und 4 ndash und im spaumlteren Neuplatonismus uumlberhaupt ndash spielt

Dialektik der negativen und affirmativen Theologie

Auch die ganze Problematik der sbquoInkommensurabilitaumltlsquo bzwsbquoKommensurabilitaumltlsquo des ersten Einen mit dem zweiten Einen be-handelt der Verfasser des Kommentars anders als Marius Victori-nus in Adversus Arium 1b31 Dem Kommentator zufolge zeigt sichdas Goumlttliche bdquounter dem einen Gesichtspunktldquo (κατF -λλο bzwκατ7 τν πρώτην δέαν) d h bdquoes selbst in sich selbst gesehenldquo alsdas einfache Eine das bdquonicht ausgesprochen und gedacht werdenkannldquo bdquounter dem anderen Gesichtspunktldquo (κατF -λλο) hingegenwird es als der in sich durch Reflexion differenzierte Intellekt be-trachtet der sich in die Vielheit seiner Akte ndash Existenz Leben undDenken ndash hinein entfaltet Wie der Schluss des sechsten Fragmentsbezeugt entsprechen diese zwei Gesichtspunkte der ersten und derzweiten Hypothese des Parmenides Trotz der sbquoontologischen Dif-ferenzlsquo zwischen dem ersten Einen und dem Intellekt (dem zwei-ten Einen) die in den vorausgehenden Fragmenten immer wiederemphatisch hervorgehoben wurde meint also der Kommentatordass sich beide Hypothesen auf eine einzige Gottheit beziehen diedas transzendente Eine und den reflexiven Intellekt als ihre zweiSchichten oder Momente einschlieszligt Der Verfasser des Kommen-tars scheint also die beiden Hypothesen als eine Art sbquodialektischelsquoTheologie zu verstehen die das Goumlttliche unter zwei verschiede-

201Die Theorie des goumlttlichen Selbstbewusstseins im Parmenides-Kommentar

31) Die Dialektik der sbquoInkommensurabilitaumltlsquo (bdquolrsquoincoordinationldquo) und sbquoKom-mensurabilitaumltlsquo (bdquola coordinationldquo) des Einen betrachtet Hadot als einen der Haupt -zuumlge der sbquoporphyrianischen Metaphysiklsquo Entsprechend seiner Hypothese dass derVerfasser des anonymen Kommentars Porphyrios sei den er zugleich fuumlr die grie-chische Quelle haumllt aus der Marius Victorinus geschoumlpft hat meint er dass der an -onyme Parmenides-Kommentar und die theologischen Schriften des Marius Victo-rinus ndash insbesondere Adversus Arium 1b ndash auch in diesem Punkt uumlbereinstimmenVgl Hadot La meacutetaphysique de Porphyre (wie Anm 2) 131 ff ders Porphyre etVictorinus (wie Anm 2) I 139ndash141 259ndash260

nen Aspekten zum Thema macht Vielleicht koumlnnte man auch uumlbereine Art sbquoDialektik der Kommensurabilitaumlt und Inkommensurabi-litaumltlsquo des Einen selbst sprechen insofern der Gesichtspunkt derzweiten Hypothese deren Gegenstand eigentlich der reflexive Intellekt ist zugleich eine neue Perspektive oumlffnet aus der sich das erste Eine in seiner Bezogenheit auf die differenzierten Aktedes Intellekts zeigt Erscheint das (erste) Eine unter dem ersten Gesichtspunkt als inkommensurabel und relationslos so dass manihm jedwede Beziehung zum Intellekt ndash sogar die der Andersheit ndashverweigern muss32 stellt es sich unter dem anderen Gesichtspunktder die Aufmerksamkeit auf das zweite Eine oder den Intellektlenkt zugleich als der einheitsstiftende Akt uumlber den differenzier-ten Akten des reflexiven Intellekts als der konstitutive Urgrundseines Selbstbewusstseins heraus Freilich ist Hadots Ansichtzuruumlckzuweisen die sbquodialektischelsquo Theologie des anonymen Kommentars sei mit dem entsprechenden Konzept in AdversusArium 1b identisch33 Die theologische Auffassung in AdversusArium 1b kann insofern als sbquodialektischlsquo bezeichnet werden als dasEine unter zwei verschiedenen Aspekten behandelt wird in sichund auf das von ihm Verursachte bezogen Das Eine zeigt sich soeinerseits als inkommensurabel und in seiner absoluten Differenz-losigkeit allen gegenstaumlndlichen Kategorien des menschlichenDenkens enthoben andererseits in Bezug darauf wessen Ursprunges ist als universale Ursache die selbst auf eine transzendente undpotenzielle Weise alles ist was aus ihr hervorgeht Waumlhrend unterdem Gesichtspunkt der negativen Theologie dem Einen u a SeinExistenz Leben und Denken abgesprochen wird erweist es sichunter dem Gesichtspunkt der affirmativen Theologie als erste Phase der Selbstkonstitution der goumlttlichen Substanz bzw des Intellekts und als erstes Glied der Dreiheit von sbquoSein ndash Leben ndashDenkenlsquo Als das Sein selbst enthaumllt es in sich auf transzendenteund potenzielle Weise die beiden anderen Glieder ndash Leben undDenken ndash und vereinigt sie in seiner unterschiedslosen Einheit ImVergleich mit dem anonymen Kommentar faumlllt nun auf dass beiVictorinus beide Gesichtspunkte den Methoden der negativen undaffirmativen Theologie entsprechen die ausschlieszliglich auf das ers -te Eine angewandt werden also auf das Eine der ersten Hypothese

202 Vaacutec l av N ěmec

32) Vgl Anon in Parm 31ndash35 (Linguiti 100ndash102)33) Vgl oben Anm 31

des Parmenides das mit Gottvater identifiziert wird Das zweiteEine d h das Eine der zweiten Hypothese das Victorinus demSohn gleichsetzt wird erst spaumlter zum Thema34 und ist nicht in dieDialektik der negativen und affirmativen Theologie einbezogenIm anonymen Kommentar hingegen entsprechen die beiden Ge-sichtspunkte der ersten und der zweiten Hypothese die das den reflexiven Intellekt (das zweite Eine) und seinen uumlber-reflexivenGrund (das erste Eine) umschlieszligende Goumlttliche in seinen beidenAspekten oder Schichten behandeln Obwohl also sowohl in Ad-versus Arium 1b als auch im anonymen Kommentar eine Art sbquoDia-lektik der Kommensurabilitaumlt und Inkommensurabilitaumltlsquo des Einenvorkommt geht es offensichtlich um zwei verschiedene Variantenderen Unterschiedlichkeit wieder die Differenzen zwischen denbeiden metaphysischen Konzepten klar hervortreten laumlsst35

Schlussfolgerungen

Gerade die erwaumlhnten Unterschiede verwischt nun Hadotum den Inhalt des sechsten Fragments mit seiner Hypothese inEinklang zu bringen dass der Verfasser des anonymen Kommen-tars (naumlmlich Porphyrios) mit der griechischen Quelle der theolo-gischen Schriften des Marius Victorinus identisch sei Dabei pro-

203Die Theorie des goumlttlichen Selbstbewusstseins im Parmenides-Kommentar

34) Marius Victorinus Adv Ar 15022 ff (CSEL LXXXIIII 145)35) Diese sbquoJuxtappositionlsquo oder sbquoDialektiklsquo der negativen und affirmativen

Theologie die das Goumlttliche aus zwei verschiedenen Perspektiven betrachtet wo-bei es sich bald als sbquoinkommensurabellsquo bald als sbquokommensurabellsquo zeigt geht wahr-scheinlich auf die mittelplatonische bzw neupythagoreische Tradition zuruumlck VglJ Mansfeld Compatible Alternatives Middle Platonists Theology and the Xeno -phanes Reception in R van den Broek T Baarda J Mansfeld (Hrsg) Know -ledge of God in the Graeco-Roman World Leiden 1988 92ndash117 Eudoros vonAlexandrien fuumlhrt die beiden Betrachtungsweisen mit aumlhnlichen Ausdruumlcken wieder Verfasser des anonymen Kommentars ein (κατ7 τν νωτάτω λόγον κατF -λλον τρόπον bzw κατ7 τν δεύτερον λόγον) Vgl Simplikios In Aristotelis Physica com-mentaria 15 (CAG IX 18110ndash30) Bei Eudoros geht es dennoch um die spezifischeProblematik der pythagoreischen Prinzipienlehre Er bemuumlht sich die sbquomonistischelsquound sbquodualistischelsquo pythagoreische Lehre zu versoumlhnen indem er das Eine einmal alsdas einzige uumlber alle Gegensaumltze erhabene Prinzip betrachtet einmal als ein Gliedder Grundpolaritaumlt sbquodas Eine ndash die unbestimmte Zweiheitlsquo In Adversus Arium 1bund im anonymen Parmenides-Kommentar wird hingegen dieselbe Methode aufdie Problematik der neuplatonischen houmlchsten Prinzipien angewandt ndash obgleich jeweils auf eine andere Art und Weise

jiziert er das Denkschema von Adversus Arium 1b in den Par-menides-Kommentar hinein und entstellt somit gewissermaszligen das hier enthaltene metaphysische Konzept36 Folglich wurde diebemerkenswerte Theorie des goumlttlichen Bewusstseins wie sie imsechsten Fragment dargelegt ist in ihrer Originalitaumlt bislang kaumuntersucht und nur unzureichend bewertet Auch legen die fest-gestellten Differenzen die Vermutung nahe dass der anonymeKommentar bzw sein Verfasser nicht die direkte Quelle des theo-logischen Werkes von Marius Victorinus ndash oder zumindest seinerSchrift Adversus Arium 1b ndash gewesen sein kann Die Unterschiedelassen sich auch nicht wegdiskutieren wenn man darauf hinweistdass der Kommentar uns nur fragmentarisch erhalten blieb oderVictorinus seine Quelle wesentlich umgedeutet haben koumlnnte um sie seinem christlich-theologischen Anliegen anzupassen Wieschon gezeigt sind mehrere Grundzuumlge der beiden metaphysi-schen Konzepte einfach nicht miteinander kompatibel Und gera-de manche Motive durch die sich das metaphysische Schema inAdversus Arium 1b von dem des anonymen Kommentars abhebtz B das Prinzip des Ineinanderseins (und des Vorherrschens) vonSein Leben und Denken begegnen uns wieder bei den spaumlterenNeuplatonikern freilich mit dem Unterschied dass diese sie aufdie niedrigeren Seinsstufen anwenden ohne das Eine mit einem derGlieder der Dreiheit zu identifizieren Der anonyme Kommentarduumlrfte so wohl auf etwas hindeuten das schon durch die Anwe-senheit verschiedener Varianten eines verwandten metaphysischenKonzepts in den theologischen Schriften des Marius Victorinusdie kaum auf eine einzige Quelle zuruumlckzufuumlhren sind angedeutetwird37 die Existenz einer ganzen Traditionslinie des spaumltantiken

204 Vaacutec l av N ěmec

36) Diese Kritik wird freilich geaumluszligert mit der wesentlichen Einschraumlnkungdass es gerade Hadots groszliges Verdienst war die Eigentuumlmlichkeit und Bedeutungder metaphysischen Lehre des anonymen Kommentars im Rahmen des spaumltantikenPlatonismus erkannt und sie zum ersten Mal detailliert und ndash mit den oben er-waumlhnten Ausnahmen ndash praumlzise rekonstruiert zu haben

37) Im theologischen Werk von Marius Victorinus lassen sich mindestensdrei (bzw vier wenn man auch Candidi epistola 1 dazu zaumlhlt) unterschiedliche Va-rianten eines verwandten metaphysischen Systems ausmachen die wahrscheinlichauf verschiedene Quellen zuruumlckgehen Dies versuchte ich in meinem Aufsatz Me-tafysickeacute systeacutemy v theologickeacutem diacutele Maria Victorina in V Hušek L Chvaacutetal J Plaacutetovaacute (Hrsg) Miscellanea patristica Brno 2007 37ndash71 nachzuweisen Vglauch meine Einleitung zur tschechischen Ausgabe des anonymen Parmenides-Kommentars Anonymniacute komentaacuteř k Platoacutenovu Parmenidovi Praha 2009 49ndash69

(Neu-)Platonismus die von der uns bekannten Hauptstroumlmungabweicht und in deren Rahmen verschiedene Versionen einer aumlhn-lichen metaphysischen Auffassung durchdacht wurden

Prag Vaacutec l av N ěmec

205Die Theorie des goumlttlichen Selbstbewusstseins im Parmenides-Kommentar

Page 4: DIE THEORIE DES GÖTTLICHEN SELBSTBEWUSSTSEINS ...Gnosticism and Later Platonism: Themes, Figures, and Texts, Atlanta 2000, 141–177; J.D.Turner, Sethian Gnosticism and the Platonic

Eine als die erste Seiendheit (d h das Seiende selbst) Platons For-mulierung scheint so anzudeuten dass der ersten Seiendheit diemit dem zweiten Einen identisch ist noch eine houmlhere Seiendheitvorausgeht an der das zweite Eine Anteil nimmt Dem zweiten Einen geht aber nur das erste Eine voraus das jenseits des Seiendenoder der Seiendheit liegt Was soll also jene Seiendheit sein an derdas zweite Eine teilnimmt wenn es da auszliger dem zweiten Einennichts anderes als das erste Eine gibt Gerade diese Uumlberlegungbringt den Kommentator auf den Gedanken mit dem AusdruckbdquoSeiendheitldquo koumlnne Platon nur das erste Eine selbst meinen Pla-tons Formulierung wolle in Wirklichkeit nichts anderes aus-druumlcken als dass das zweite Eine an dem ersten Einen Anteil hat7Das hieszlige freilich dass Platon hier das Wort οσία in einem unei-gentlichen Sinne verwendet denn bdquodas Eine ist jenseits der Seiend-heit und des Seienden und es ist weder eine Seiendheit noch einAkt sondern es wirkt vielmehr und ist das reine Wirken selbst so-wie das Sein selbst vor dem Seiendenldquo8 Die Teilnahme des zweitenEinen an der Seiendheit von der Platon spricht bedeutet in der Tatdass das zweite Eine ein abgeleitetes Sein aufgrund seiner Teilnah-me an diesem reinen Sein besitzt das mit dem ersten Einen zusam-menfaumlllt9 In diesem Sinne ist das Eine-Sein gleichsam bdquodie Idee desSeiendenldquo (σπερ δέα το ντος)10

(2) Obwohl der anonyme Kommentar (insbesondere imzweiten Fragment) wiederholt die Transzendenz und sbquoInkommen-surabilitaumltlsquo des ersten Einen mit dem zweiten Einen betont werdendas erste und das zweite Eine im sechsten Fragment als zwei ver-schiedene Schichten oder Aspekte einer Gottheit aufgefasst DerVerfasser des anonymen Kommentars betrachtet das zweite Eine ndashganz im Sinne Plotins ndash als den goumlttlichen Intellekt der in einemzeitlosen reflexiven Akt sich selbst in die Vielheit seiner innerenMomente differenziert und sich selbst wieder zur Einheit versam-melt Das erste Eine versteht er dagegen als ein transzendentes Mo-

188 Vaacutec l av N ěmec

7) Anonymus in Platonis Parmenidem 1211ndash12 (Linguiti 126) μεθέξει τοπρώτου τ δεύτερον

8) Anon in Parm 1223ndash27 (Linguiti 126ndash128) τ ν τ πέκεινα οσίαςκα$ ντος ν μampν οκ στιν οδamp οσία οδamp νέργεια νεργε δamp μ(λλον κα$ αττ νεργεν καθαρόν στε κα$ ατ τ εναι τ πρ το ντος

9) Anon in Parm 1227ndash29 (Linguiti 128) ο μετασχν τ ν -λλο ξατο χει κκλινόμενον τ εναι περ στ$ μετέχειν ντος

10) Anon in Parm 1233ndash34 (Linguiti 128)

ment des reflexiven Intellekts das uumlber dessen Teilung in sbquoDen-kendeslsquo und sbquoGedachteslsquo steht als einen Urakt des Intellekts derseinen differenzierten Akten oder Momenten vorausgeht und ihreEinheit stiftet Jene zwei verschiedenen Schichten des Intellekts ndash(a) der innerlich geeinte Denkakt der die Differenz zwischen demDenkenden und dem Gedachten uumlberschreitet und (b) der inner-lich differenzierte Intellekt der seine reflexive Bewegung ausuumlbtindem er durch die einzelnen Phasen Existenz Leben und Denken(0παρξις ndash ζωή ndash νόησις) hindurchgeht ndash entsprechen also demKommentator zufolge den zwei ersten Hypothesen von PlatonsParmenides d h dem ersten und dem zweiten Einen Diese zweiSchichten des Intellekts stellen fuumlr den Verfasser des Kommentarseigentlich zwei verschiedene Perspektiven dar aus denen man dasGoumlttliche betrachten kann als das Eine in sich selbst (ατ τοτο)das die Ebene des intelligiblen Seienden der Reflexivitaumlt und derDifferenz transzendiert und als das seiende Eine d h als den reflexiven Intellekt der sich in die Vielheit seiner Momente ndash Exis -tenz Leben und Denken ndash ausgliedert

Es ist gerade diese im sechsten Fragment auftretende Theoriedes goumlttlichen Selbstbewusstseins die von den Forschern wieder-holt missverstanden und im Eifer ihres Bemuumlhens den Textinhaltmit den Hypothesen uumlber die Autorschaft des Kommentars zu harmonisieren umgedeutet wurde Infolgedessen blieb dieses be-merkenswerte Lehrstuumlck bisher in seiner Originalitaumlt verkannt InAnbetracht dieser Umstaumlnde moumlchte der vorliegende Aufsatz sei-nen Beitrag dazu leisten gerade den Inhalt des sechsten Fragmentszu klaumlren Um eine zuverlaumlssige Textgrundlage zu schaffen wirdzunaumlchst eine Uumlbersetzung des ganzen Fragments angefuumlhrt dersich eine Interpretation einzelner Textabschnitte anschlieszligt Darinwird vor allem versucht detailliert das dargelegte metaphysischeKonzept zu rekonstruieren

II Fragment 6 Text und Uumlbersetzung

13 Fol 90v

μή δυνά]μενον ες 6αυτν εσελθεν τίνι γ7ρ βλέπει 6αυτν τν εσελ-θεν μ δυνάμενον ε μ τlt 6νί κα$ τίνι 6αυτόν ες gtν εσέρχεσθαιδυνατε τίς στιν οτος μφοτέρων φαπτόμενος κατ7 τ ατ ν τlt μεμερισμένB τίς λέγων Cτερον εναι τ νοον κα$ τ νοούμενον

189Die Theorie des goumlttlichen Selbstbewusstseins im Parmenides-Kommentar

(5)

βλέπων πότε 6νοται τ νοον τlt νοουμένB κα$ τί πότε ο δύ-ναται δDλον οEν τι α0τη νέργεια παρF κείνας παναβεβηκυαπάσαις κα$ χρωμένη ατας πάσαις Gς Hργάνοις πάντων φαπτομέ-νη κα$ κατ7 τ ατ κα$ ν οδεν$ οEσα 6κάστη μampν οEν τIν-λλων πρός τι πέπηγε κα$ κατ7 τ εδος πάντως ατlt κα$ κατ7 τνομα τέτακται α0τη δamp οδενός στι δι οδamp εδος οδamp νομα χει οδamp οσίαν ν οδεν$ γ7ρ κρατεται λλF οδamp μορφοται Kπό τινοςντως οEσα παθς κα$ ντως χώριστος 6αυτDς ο νόησις οEσα ονοητόν οκ οσία λλF πέκεινα πάντων κα$ πάντων ατία ltgtσύζυ-γος σπερ μampν τοίνυν ρασις μampν το κουστο οκ φάπτεται ltοδFκο το ρατοgt οδF μφότεραι το γευστο οδamp οδεν 6κάστη τι6τέρα στ$ν τDς 6τέρας οδF τι κουστν Cτερον το ρατο -λλη δFστ$ν δύναμις παναβεβηκυα τούτων L τατα διακρίνει κα$ τ τα-τν ατIν γιγνώσκει κα$ τ Cτερον κα$ τν οσίαν κα$ πάθος L κα$δύναται πασIν φάπτεσθαι χρDσθαι δamp ατας Gς Hργάνοις δι7 τκρείττονF εναι κα$ παναβεβηκέναι ατIν ο0τως κα$ δύναμις καθFLν ρM νος μ δυνάμενος

14 Fol 90r

εσελθεν ες 6αυτν 6τέρα Nν εOη τDς νοήσεως κα$ το νοουμένου πι-νοίP διαφέρουσα κα$ πέκεινα τούτων οEσα πρεσβείP κα$ δυνάμεικα$ ο0τως ν ν κα$ Qπλον ldquoτ ατ τοτοrdquo νεργείP 6αυτο διαφέρεικα$ Kπάρξει κα$ κατ7 -λλο -ρα Cν στιν Qπλον κατF -λλο δamp ατ6αυτο διαφέρει τ γ7ρ το 6νς διαφέρον οχ ν κα$ τ το QπλοCτερον οχ Qπλον ν μampν οEν στιν κα$ Qπλον κατ7 τν πρώτην κα$ldquoατ τοτοrdquo ατο τοαύτου δέαν δύναμις R τι κα$ χρ Hνομάζειννδείξεως ltχgtάριν -ρρητον οEσαν κα$ νεννόητον οχ ν δamp οδampQπλον κατ7 τν 0παρξιν κα$ ζων ltκα$gt τν νόησιν κα$ τ νοον κα$τ νοούμενον Kπάρξει τ δamp νοον Rν νο[ς μετε]ξ[έλθS] π τDςKπάρξεως ες τ νοον Tνα πανέλθS ες τ νοητν κα$ 6αυτν OδSστ$ν ζωή δι όριστος ltgt κατ7 τν ζωήν κα$ πασIν οσIν νερ-γειIν κα$ Gς κατ7 μampν τν 0παρξιν 6στIσα Nν εOη νέργεια κατ7 δampτν νόησιν ες αKτν στραφεσα νέργεια κατ7 δamp τν ζων κ τDςKπάρξεως κνεύσασα νέργεια κα$ κατ7 τοτο Cστηκεν Uμα κα$ κι-νεται κα$ ν 6αυτlt στιν κα$ ν -λλB κα$ λον στ$ν κα$ μέρη χεικα$ τατόν στι κα$ Cτερον κατ7 δamp ψιλν ατο τ ν κα$ οWον πρIτονκα$ ντως τ ν οXτε Cστηκεν οXτε κινεται οXτε τατόν στιν οXτε Cτε-ρον οXτε ν 6αυτlt στιν οXτε ν -λλB τι δamp οXτε νοούμενον οXτε νεργον οXτε ες 6αυτ οXτε ες -λλο 11

13 Fol 90v

er kann nicht in sich selbst hineingehen Wodurch denn sieht er sichselbst wie er in sich selbst nicht hineingehen kann wenn nicht durchdas Eine Und wodurch denn sieht er sich selbst in den er nicht hin-

190 Vaacutec l av N ěmec

11) Anon in Parm 131ndash1435 (Linguiti 128ndash134)

(10)

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eingehen kann Und wer ist derjenige der die beiden als Identisches imgeteilten [Intellekt] beruumlhrt Wer ist derjenige der sagt das Denkendesei etwas anderes als das Gedachte Wer ist derjenige der sieht wanndas Denkende sich mit dem Gedachten vereinigt und wann es sich nichtvereinigen kann Offensichtlich ist es der Akt selbst der sich auszliger jenen [Akten] befindet der uumlber sie alle hinausgeht und der sie alle alsseine Organe gebraucht der Akt der alle anderen [Akte] als Identischesberuumlhrt und der in keinem [jener Akte] enthalten ist Jeder von [den anderen Akten] ist gewiss auf etwas fest gerichtet und dazu durchausgeordnet entsprechend seiner Gestalt und seinem Namen waumlh renddieser Akt zu nichts gehoumlrt deswegen hat er auch keine Gestalt keinenNamen und keine Seiendheit Er wird in keiner Hinsicht beherrscht erwird aber auch von nichts gestaltet da er wirklich unversehrt und wirk-lich ungetrennt von sich selbst bleibt und er ist weder das Denken nochdas Gedachte noch die Seiendheit aber er befindet sich jenseits von allem und ist die inkommensurable Ursache von allemGleich wie weder das Sehvermoumlgen das Houmlrbare erfasst noch dasGehoumlr das Sehbare noch die beiden das was gekostet werden kann undgleich wie keines dieser Sinnesvermoumlgen weiszlig dass es sich von einemanderen unterscheidet und dass das Houmlrbare etwas anderes als das Sehbare ist es aber ein Vermoumlgen gibt das uumlber diese Sinnesvermoumlgenhinausgeht das sie alle unterscheidet und ihre Selbigkeit und Anders-heit ihr Wesen und ihren Zustand erkennt und das sie alle beruumlhrenund als seine Organe gebrauchen kann weil es maumlchtiger als sie ist unduumlber sie hinausgeht so duumlrfte wohl auch das Vermoumlgen durch das derIntellekt sieht der

14 Fol 90r

in sich selbst nicht hineingehen kann ein anderes als das Denken unddas Gedachte sein da es sich durch seinen Begriff von beiden unter-scheidet und sich durch seine Wuumlrde und Macht jenseits von beiden befindetUnd so unterscheidet es sich von sich selbst durch den Akt und die Existenz und doch bleibt sbquoes selbstlsquo Eines und Einfaches und unterdem einen Gesichtspunkt ist es das einfache Eine unter dem anderenaber unterscheidet es sich von sich selbst Denn dasjenige das sich vomEinen unterscheidet ist nicht das Eine und dasjenige das anders als dasEinfache ist ist kein Einfaches Unter dem ersten Gesichtspunkt d hsbquoes selbstlsquo in sich selbst gesehen ist es also das Eine und Einfache dieMacht ndash oder wie soll man sie benennen um sie irgendwie zu bezeich-nen obwohl sie nicht ausgesprochen und gedacht werden kann ndashwaumlhrend es weder Eines noch ein Einfaches in Bezug auf die Existenzdas Leben und das Denken istIn Bezug auf die Existenz ist das Denkende zugleich das GedachteWenn aber der Intellekt aus der Existenz hervorgegangen und zumDenkenden geworden ist um zum Gedachten zuruumlckzukehren undsich selbst anzuschauen dann ist das Denkende das Leben Deswegenist [der Intellekt] in Bezug auf das Leben unbegrenzt Und da sie alle

191Die Theorie des goumlttlichen Selbstbewusstseins im Parmenides-Kommentar

Akte sind duumlrfte es sich wohl in Bezug auf die Existenz um einen ver-bleibenden Akt handeln in Bezug auf das Denken um einen zu sichselbst zuruumlckgekehrten Akt und in Bezug auf das Leben um einen Aktder von der Existenz abgewichen ist Und dementsprechend befindetes sich in Ruhe und zugleich in Bewegung in sich selbst und in einemanderen es ist Ganzes und hat Teile es ist dasselbe und ein anderesAber in Bezug darauf was an ihm das bloszlige Eine und gleichsam dasEine im primaumlren und wahrhaftigen Sinne ist befindet es sich weder inRuhe noch in Bewegung es ist weder dasselbe noch ein anderes wederin sich selbst noch in einem anderen Da es aber weder gedacht nochwirkend ist und zwar weder auf sich selbst noch auf ein anderes

III Interpretation

Der Intellekt der bdquonicht in sich selbst hineingehen kannldquo

Obwohl das Verstaumlndnis des ersten Abschnitts dadurch er-schwert wird dass der Anfang des ersten Satzes fehlt aus dem das Subjekt fuumlr die folgende Partizipialfuumlgung hervorgehen wuumlrdewird aus der Formulierung in den Zeilen 1335ndash141 (νος μ δυνά-μενος εσελθεν ες 6αυτYν) zumindest klar dass es sich um den Intellekt handeln muss Weiter ergibt sich aus dem Satz in den Zei-len 137ndash9 dass mit dem Intellekt der bdquonicht in sich selbst hinein-gehen kannldquo der Intellekt in einem Zustand gemeint ist in dem ersich als Denkender nicht mit sich selbst als dem Gedachten ver-einigen kann Unter dem Intellekt bdquoder in sich selbst hineingehenkannldquo duumlrfte hingegen ein Zustand zu verstehen sein in dem ersich als Denkender mit sich selbst als dem Gedachten vereinigtAus dem Text wird aber nicht besonders klar unter welchen Um-staumlnden ein Intellekt in einen Zustand geraten kann in dem erauszligerstande waumlre sich als Denkender mit sich selbst als dem Gedachten zu vereinigen Nach Pierre Hadot bezeichnet dieserAusdruck jenes transzendente Moment des Intellekts das der re-flexiven Erkenntnis vorausgeht und mit dem ersten Einen selbstzusammenfaumlllt12 Der Intellekt vermoumlchte in dieser Phase nicht insich selbst hineinzugehen weil er sich noch nicht in Denkendesund Gedachtes differenziert hat was als Grundvoraussetzung der

192 Vaacutec l av N ěmec

12) Vgl Hadot Porphyre et Victorinus (wie Anm 2) I 133ndash134 Dieser In-terpretation von Hadot schlieszligt sich auch Alessandro Linguiti an Vgl Linguiti (wieAnm 1) 193 ff

reflexiven Erkenntnis gelten darf Um durch die Bewegung desDenkens in sich selbst hineingehen zu koumlnnen muumlsste der Intellektzunaumlchst durch die Bewegung des Lebens aus sich selbst hervorge-hen und sich somit in die Vielheit seiner Akte entfalten was abererst auf der Ebene des reflexiven Intellekts oder des zweiten Einengeschieht Das erste Eine als der Intellekt der bdquonicht in sich selbsthineingehen kannldquo muumlsste sich folglich zuerst als reflexiver Intel-lekt konstituieren um sich selbst reflexiv erfassen zu koumlnnen

Dieser Interpretation widersprechen aber deutlich die For-mulierungen des Kommentators denen zufolge auch der Intellektbzw eines seiner Momente das bdquonicht in sich selbst hineingehenkannldquo durch jenes houmlhere Erkenntnisvermoumlgen gesehen wird dasdem Einen selbst gleichgesetzt wird (131ndash4 139) Der Intellekt indem Zustand in dem er bdquonicht in sich selbst hineingehen kannldquowird ausdruumlcklich als bdquoder geteilte Intellektldquo (136) bezeichnet derschon in sich selbst als in denjenigen in den er nicht hineingehenkann und denjenigen der nicht hineingehen kann differenziertwird (132ndash4) In diesem Intellekt ist also schon eine Unterschei-dung des Denkenden und des Gedachten vorausgesetzt (136ndash7)Die Wendung dass er bdquonicht hineingehen kannldquo bezeichnet gera-de den Zustand in dem dieser Denkende nicht imstande ist sichmit dem Gedachten zu vereinigen Das Eine wird hingegen als jener houmlhere Akt des Intellekts aufgefasst der die beiden Momentein ihrer Identitaumlt und Andersheit fasst und als solcher uumlber die bei-den Momente hinausgeht (134ndash5 1310ndash13) Nicht zuletzt sprichtgegen Hadots Deutung gerade die Tatsache dass der Intellekt(νος) als Subjekt der Partizipialkonstruktion μ δυνάμενος εσελ-θεν ες 6αυτYν zu vermuten ist Es ist wenig wahrscheinlich dassder Kommentator bereit waumlre das erste Eine ausdruumlcklich als sbquoIn-tellektlsquo zu bezeichnen Wenn Hadot bei seiner Interpretation dessechsten Fragments wiederholt zwei Intellekte (bdquoles deux Intelli-gencesldquo) bzw zwei Zustaumlnde des Intellekts (bdquoles deux eacutetats de lrsquoIntelligenceldquo) erwaumlhnt13 geht er von seiner Annahme aus wo-nach der bdquoIntellekt der nicht in sich selbst hineingehen kannldquo mitdem Einen identisch waumlre Diese Redeweise scheint aber demKommentator selbst fremd zu sein

Eine alternative Interpretation hat Gerard Bechtle vorge-schlagen Bechtle meint gerade umgekehrt der Intellekt der bdquonicht

193Die Theorie des goumlttlichen Selbstbewusstseins im Parmenides-Kommentar

13) Vgl Hadot Porphyre et Victorinus (wie Anm 2) I 133ndash138 II 107ndash113

hineingehen kannldquo sei mit dem reflexiven Intellekt identischwaumlhrend der Intellekt der bdquoin sich selbst hineingehen kannldquo mitdem (ersten) Einen selbst als der transzendenten Wurzel des re-flexiven Intellekts zusammenfalle14 Diese Deutung begegnet den-noch einer aumlhnlichen Schwierigkeit wie die oben skizzierte Inter-pretation Hadots In der Zeile 137ndash9 heiszligt es naumlmlich dass jenervereinigende Akt der mit dem Einen selbst identifiziert wird denIntellekt sowohl in dem Zustand bdquosiehtldquo in dem er bdquonicht hinein-gehen kannldquo als auch in dem Zustand in dem bdquodas Denkende sichmit dem Gedachten vereinigtldquo d h in dem er gerade bdquoin sich selbsthineingehtldquo Daraus ergibt sich dass dieser houmlhere Akt sich vonbeiden Zustaumlnden des Intellekts unterscheiden muss Es ist also offensichtlich dass mit dem bdquoIntellekt der nicht in sich selbst hineingehen kannldquo weder das Eine als transzendentes Moment desIntellekts noch der reflexive Intellekt als solcher gemeint sind Wasmag diese Formel dann bedeuten

Nach dem Ausklammern der beiden erwaumlhnten Interpreta-tionen bleibt grundsaumltzlich nur noch die Moumlglichkeit dass dieseFormel einen Zustand oder eine Phase des reflexiven Intellektsbzw einen seiner Akte bezeichnet Um welche Phase oder welchenAkt des reflexiven Intellekts es sich handelt wird durch den Satzin Zeile 1418ndash20 angedeutet bdquoWenn aber der Intellekt aus der Existenz hervorgegangen (μετε]ξ[έλθS) und zum Denkenden ge-worden ist um zum Gedachten zuruumlckzukehren (πανέλθS ες τνοητόν ndash woumlrtlich um ins Gedachte zuruumlckzugehen)15 und sichselbst anzuschauen dann ist das Denkende das Lebenldquo Es liegtnahe dass der bdquoIntellekt der nicht in sich selbst hineingehenkannldquo mit dem Leben als dem Akt des Intellekts identisch ist deraus der Existenz hervorgegangen ist oder genauer gesagt mit demin die Existenz und das Leben gespaltenen Intellekt sbquobevorlsquo erdurch die Ruumlckbewegung des Denkens zu sich selbst zuruumlckkehrtWaumlhrend die Existenz als bdquoder in Ruhe verbleibende Aktldquo denAusgangszustand des Intellekts darstellt in dem das Denkende mitdem Gedachten zusammenfaumlllt differenziert sich der Intellektdurch die Bewegung des Lebens in die Existenz als das Gedachte

194 Vaacutec l av N ěmec

14) Vgl Bechtle (wie Anm 3) 185ndash186 191ndash19615) Der Kommentator verwendet hier die Verba μετεξέρχομαι und πανέρ-

χομαι die aus derselben Wurzel wie εσέρχομαι gebildet sind wobei das πανέρχο-μαι wahrscheinlich mit dem εσέρχομαι synonym ist

und ins Leben als das Denkende wobei das Hervorgehen des Le-bens in die Ruumlckbewegung des Denkens wieder transformiert wer-den muss damit bdquodas Denkende zum Gedachten zuruumlckkehrtldquoErst in dieser Endphase der reflexiven Bewegung wird also der Zu-stand erlangt in dem das Denkende sich mit dem Gedachten wie-der vereinigt d h der bdquoIntellekt in sich selbst hineingehtldquo Es sindgerade diese Phasen oder Akte ndash Existenz Leben und Denken ndashdie das Eine als der Urakt des Intellekts bdquoin ihrer Identitaumlt und An-dersheit fasstldquo und als bdquoseine Organe gebrauchtldquo (1310ndash13) DasEine als die transzendente Wurzel des reflexiven Intellekts ist dieGrundvoraussetzung dafuumlr dass der reflexive Intellekt sich in jederPhase der Identitaumlt aller seiner Akte bewusst ist und dass er als der Denkende sich selbst als den Gedachten identifizieren kannauch wenn er in die verschiedenen Momente gespalten ist Das Einewird so als ein uumlber-reflexiver Akt begriffen der die Einheit undIdentitaumlt der verschiedenen Akte oder Momente des reflexiven In-tellekts garantiert und ihre gegenseitige Selbstidentifizierung er-moumlglicht Folglich ist es auch das Eine das gewaumlhrleistet dass derreflexive Intellekt bdquoin sich selbst hineingehen kannldquo

Vergleich mit dem Gemeinsinn

Diese Interpretation wird durch den folgenden Textabschnittbekraumlftigt in dem jenes houmlhere Vermoumlgen des Intellekts das mitdem Einen selbst zusammenfaumlllt mit dem aristotelischen sbquounter-scheidenden Sinnesvermoumlgenlsquo verglichen wird Hier lehnt sich derKommentator eng an eine Stelle aus dem dritten Buch De animaan16 wo Aristoteles die Frage aufwirft wie sich Unterschiede zwi-schen den verschiedenen Sinnesempfindungen feststellen lassen17

Bei der Loumlsung dieser Frage erlaumlutert Aristoteles dass jedes Sin-nesvermoumlgen sich jeweils auf die ihm zugehoumlrigen Wahrneh-mungsgegenstaumlnde oder Wahrnehmungsqualitaumlten bezieht aberkeinem das Wahrnehmbare fassbar ist fuumlr das die anderen Sinnezustaumlndig sind Demgemaumlszlig kann jeder Sinn zwar die Unterschiedezwischen den ihm zugehoumlrigen Wahrnehmungsgegenstaumlnden be-

195Die Theorie des goumlttlichen Selbstbewusstseins im Parmenides-Kommentar

16) Aristoteles De anima 426b8ndash2217) Vgl H-J Horn Studien zum dritten Buch der aristotelischen Schrift De

anima Goumlttingen 1994 39

urteilen keines der getrennten Sinnesvermoumlgen aber ist imstandedie Gegenstaumlnde quer durch mehrere Wahrnehmungsbereiche ndashz B das Weiszlige und das Suumlszlige ndash zu unterscheiden Da es sich aberimmer um Wahrnehmbares handelt muumlssen auch die Unterschie-de zwischen Wahrnehmungsgegenstaumlnden die in den Kompetenz-bereich verschiedener Sinne fallen durch ein Sinnesvermoumlgen fest-gestellt werden das von den uumlbrigen Sinnen abgegrenzt ist Gera-de dieses eigentuumlmliche Sinnesvermoumlgen nennt Aristoteles sbquodas unterscheidendelsquo (τ κρνον) Wenn es auch nirgends explizit ge-sagt wird scheint er dieses Vermoumlgen mit dem sbquogemeinsamen Sinnlsquo( κοιν αOσθησις) gleichzusetzen18 Diesem sbquogemeinsamen Sinnlsquoschreibt er weitere Funktionen zu wie etwa die Wahrnehmung sbquoge-meinsamer Wahrnehmungsgegenstaumlndelsquo die von mehreren Sinnenzugleich erfasst werden aber auch ein elementares Selbstbewusst-sein das jeden Wahrnehmungsakt begleitet (wie z B mein Sehaktvon dem Bewusstsein begleitet wird dass ich sehe)19

Gerade an diese Motive der aristotelischen Psychologie knuumlpftder Kommentator an mit der Parallele die er zwischen der Sinnes-wahrnehmung und dem Intellekt zieht Aumlhnlich wie die Sinnes -vermoumlgen ist auch der reflexive Intellekt in seine verschiedenen Momente oder Akte aufgespalten von denen jeder seine eigeneFunktion und seinen eigenen Kompetenzbereich besitzt weshalbaber auch keiner imstande ist sich auf die anderen Akte und auf dasvon ihnen Intendierte zu beziehen und sie in ihrer Andersheit undIdentitaumlt zu erkennen Deshalb muss es auch auf der Ebene des In-tellekts ein besonderes Vermoumlgen ndash aumlhnlich dem sbquounterscheidendenlsquooder sbquogemeinsamenlsquo Sinn ndash geben das von allen Vermoumlgen oder Ak-ten des reflexiven Intellekts verschieden ist und uumlber sie hinausgehtGenau wie der sensus communis ist es ein aktiver Keim des Intellektsder alle differenzierten Akte beruumlhrt sie als seine Organe gebrauchtund diese zugleich vereinigt und ihre Selbigkeit stiftet Und ebensowie der sbquogemeinsame Sinnlsquo muss dieser vereinigende Akt uumlber allenAkten ein einziger sein ja er faumlllt mit dem (ersten) Einen zusammen

196 Vaacutec l av N ěmec

18) Zum sbquogemeinsamen Sinnlsquo siehe z B Aristoteles De an 425a27 ZurGleichsetzung des sbquounterscheidenden Sinneslsquo mit dem sensus communis bei Aristo-teles vgl z B A-E Chaignet Essai sur la psychologie drsquoAristote Bruxelles 1966375 378ndash381 Diese Identifikation zieht allerdings D W Hamlyn in Zweifel VglAristotle De Anima Books II and III Translated with Introduction and Notes byD W Hamlyn Oxford 2002 128ndash129

19) Vgl Chaignet (wie Anm 18) 375ndash382

Der Vergleich mit dem sbquogemeinsamenlsquo Sinn wirft ein klaumlren-des Licht auf die vorausgehende Passage (131ndash23) Der Kommen-tator schreibt dem Einen in seinem Bezug auf die Akte des reflexi-ven Intellekts eine aumlhnliche Funktion zu wie sie der sensus com-munis als Organ des elementaren Selbstbewusstseins ausuumlbt dasdie Wahrnehmungsakte begleitet Das Eine begleitet die einzelnenAkte des reflexiven Intellekts und vereinigt sie so alle in sich selbstals in einem einzigen Zentrum Als dieses uumlber-reflexive und Ein-heit stiftende Moment bildet das Eine einen konstitutiven und er-moumlglichenden Grund des reflexiven Selbstbewusstseins des Intel-lekts Auf den ersten Blick scheint der Vergleich insoweit zu hin-ken als die Wahrnehmungsakte ausschlieszliglich auf die aumluszligeren Gegenstaumlnde gerichtet und im Prinzip nicht zu einem Selbstbezugfaumlhig sind waumlhrend durch die Akte des reflexiven Intellekts sichgerade der denkende Selbstbezug vollzieht in dem bdquoder Denkendesich mit dem Gedachten vereinigtldquo Der Kommentator scheintdennoch davon uumlberzeugt zu sein dass die differenzierten Akte desreflexiven Intellekts an sich auszligerstande sind diesen Selbstbezugzu bewirken und zu gewaumlhrleisten Die unabdingbare Grundbe-dingung der Moumlglichkeit des reflexiven Selbstbezuges wie er imdurch die Dreiheit der Akte strukturierten Intellekt realisiert wirdstellt gerade das mit dem Einen identifizierte houmlhere Vermoumlgenoder der vereinigende Akt dar der alle differenzierten Akte beglei-tet und ihre Einheit und Selbigkeit in der Vielheit und Andersheitgarantiert Das Selbstbewusstsein auf der Ebene des reflexiven Intellekts das sich durch die Dualitaumlt des Denkenden und des Gedachten auszeichnet ist so in einem houmlheren oder tieferen nicht-reflexiven oder uumlber-reflexiven Selbstbewusstsein gegruumlndet des-sen Quelle und Subjekt das transzendente Eine selbst ist

Das Eine und die Dreiheit von sbquoExistenz ndash Leben ndash Denkenlsquo

Aus dem Gesagten wird auch ersichtlich dass das Eine von allen Strukturmomenten oder Akten des reflexiven Intellekts ingleichem Maszlige verschieden sein muss und mit keinem von ihnenidentifiziert werden kann Aus diesem Grund ist auch die Inter-preta tion Hadots abzulehnen wonach das Eine schlieszliglich mitdem ersten Glied der Dreiheit von sbquoExistenz ndash Leben ndash Denkenlsquoidentisch sein soll Diese Auslegung gruumlndet sich auf die Annahme

197Die Theorie des goumlttlichen Selbstbewusstseins im Parmenides-Kommentar

die Existenz als einer der Akte des reflexiven Intellekts falle mitdem sbquoSeinlsquo zusammen das im fuumlnften Fragment mit dem Einenselbst gleichgesetzt wurde20 Diese Identifizierung des sbquoSeinslsquo mitder sbquoExistenzlsquo laumlsst sich aber in keinem der erhaltenen Fragmentedes Kommentars belegen und waumlre mit dessen metaphysischemKonzept auch kaum vereinbar Der eigentliche Grund fuumlr HadotsGleichsetzung dieser zwei Termini ist die Tatsache dass sie beidein den theologischen Schriften des Marius Victorinus ndash insbeson-dere in Adversus Arium 1b ndash zusammenzuflieszligen scheinen Geradein der genannten Schrift erhebt Marius Victorinus die Dreiheit vonsbquoSein (bzw Existenz) ndash Leben ndash Denkenlsquo zum zentralen konzeptu-ellen Modell fuumlr seine Eroumlrterung der Wesensgleichheit von VaterSohn und heiligem Geist Im Rahmen seiner Transponierung derchristlich-theologischen Problematik auf den Boden einer (neu-)platonischen metaphysischen Prinzipienlehre fasst Victorinus denGottvater als das transzendente bdquoEine ohne Existenzldquo (inexsisten-tialiter unum) auf dem durch die negative Theologie u a Sein Existenz Seiendes Substanz Denken abgesprochen werden21 dasaber von der affirmativen Theologie zugleich als bdquodreimaumlchtigerGeistldquo (tripotens spiritus) gepriesen wird der die Vermoumlgen desSeins des Lebens und des Denkens in sich einschlieszligt Unter die-sem Gesichtspunkt wird Gottvater primaumlr als das reine Sein (esse)betrachtet das in seiner transzendenten Einheit und Verborgenheitdas Leben und das Denken in ihrer potenziellen Praumlexistenz be-inhaltet22 Der Sohn und der Heilige Geist werden dann geradedem aktualisierten und geaumluszligerten Leben (vita) und Denken (in-

198 Vaacutec l av N ěmec

20) Vgl Hadot Porphyre et Victorinus (wie Anm 2) I 13321) Marius Victorinus Adversus Arium 1499ndash18 (CSEL LXXXIIII 143)

Ante omnia quae vere sunt unum fuit sive unalitas sive ipsum unum antequam sitei esse unum unum ante omnem exsistentiam ante omnem exsistentialitatem ante ipsum ν hoc enim unum ante ν ante omnem igitur essentitatem substantiamsubsistentiam et adhuc omnia quae potentiora unum sine exsistentia sine substan-tia sine intellegentia

22) Marius Victorinus Adv Ar 1501ndash15 (CSEL LXXXIIII 144ndash145) Hicest deus hic pater praeintellegentia praeexsistens et praeexsistentia tripotens inunalitate spiritus tres potentias couniens exsistentiam omnem vitam omnem etbeatitudinem sed ista omnia et unum et simplex unum et maxime in potentia eiusquod est esse hoc est exsistentiae potentia vitae et beatitudinis 1523ndash9 (CSELLXXXIIII 148) Deus potentia est istarum trium potentiarum exsistentiae vitaebeatitudinis hoc est eius quod est esse quod vivere quod intellegere Et quod estesse primum et secundum quod est esse secundum ipsum vivere et intellegere sineulla unitione sed simpliciter simplicitas et istud manifestum

tellegentia bzw sapientia beatitudo) gleichgesetzt die zugleich alszwei Phasen des bdquoHervorgehensldquo (progressio) und der bdquoRuumlckkehrldquo(regressus) begriffen werden durch die das zweite Eine ndash das bdquoEinein der Existenzldquo (exsistentialiter unum) ndash konstituiert wird23 SeinLeben und Denken zeigen sich so als die drei Phasen ndash VerharrenHervorgehen und Ruumlckkehr24 ndash in denen sich die goumlttliche Sub-stanz aus ihrer transzendenten Wurzel in die Vielheit und Anders-heit hinein entfaltet um die urspruumlngliche Selbigkeit mit ihremtranszendenten Grund wiederherzustellen und sich selbst als einreflexiv denkendes Wesen zu konstituieren25 Die substanzielleIdentitaumlt von Sein Leben und Denken wird dabei durch ihr ge-genseitiges Ineinandersein ermoumlglicht Jedes Glied impliziert diezwei anderen auf seine eigene Art und Weise Ihre Differenz ergibtsich dagegen daraus dass in jeder Phase jeweils ein Glied der Drei-heit uumlber die anderen herrscht und in den Vordergrund tritt26

Obwohl man eine konzeptuelle Verwandtschaft zwischenAdversus Arium 1b und dem anonymen Parmenides-Kommentarkaum bestreiten kann ndash diese besteht besonders darin dass in bei-den Texten das erste Eine mit dem reinen Sein identifiziert wirddas sich vom Seienden bzw dem seienden Einen abgrenzt und dassdie Dreiheit sbquoExistenz ndash Leben ndash Denkenlsquo eine zentrale Rolle beider Eroumlrterung der reflexiven Bewegung bzw der Konstitution desIntellekts spielt ndash sind auch einige wesentliche Unterschiede nichtzu verkennen Im anonymen Kommentar kann vor allem keineAnwendung der Dreiheit auf das erste Eine nachgewiesen werdenSein Verfasser setzt zwar das Eine dem reinen Sein gleich das alsreine Wirksamkeit verschieden ist vom substanziellen Seienden

199Die Theorie des goumlttlichen Selbstbewusstseins im Parmenides-Kommentar

23) Marius Victorinus Adv Ar 15110ndash27 (CSEL LXXXIIII 146ndash147)Potentia enim progrediente ista motio nusquam requiescens quippe vita quaesit infinita et ipsa in vivificatione veluti foris apparuit Vita autem filius vita mo-tio a vitali praeexsistentia vita exsistentia Ista igitur exsistentia totius exsistentiaeest vita et iuxta quod vita motus quasi femineam sortita est potentiam hoc quodconcupivit vivificare Sed quoniam ista motio una cum sit et vita est et sapien-tia vita conversa in sapientiam et magis in exsistentiam patricam magis autem retromotae motionis in patricam potentiam et ab ipso viltrgtificata vita recurrens in patrem vir effecta est Descensio enim vita ascensio sapientia Vgl auch 15220ndash35(CSEL LXXXIIII 148ndash149)

24) Marius Victorinus Hymnus 371ndash74 (CSEL LXXXIIII 297) Statusprogressio regressus o beata trinitas

25) Vgl Marius Victorinus Adv Ar 1577ndash21 (CSEL LXXXIIII 155ndash156)26) Vgl Hadot Porphyre et Victorinus (wie Anm 2) I 239ndash246

und er spricht dem Einen auch eine Art uumlber-reflexives Denken zunie aber wendet er die Dreiheit sbquoSein ndash Leben ndash Denkenlsquo auf das erste Eine an nicht einmal im Sinne einer potenziellen und uumlber-substanziellen Praumlexistenz (praeexsistentia ndash praeviventia ndash prae -intellegentia) wie es Victorinus in Adversus Arium 1b und imzweiten Teil von Adversus Arium 4 tut27 oder im Sinne der reinenAkte (esse ndash vivere ndash intellegere) wie es insbesondere im ersten Teilvon Adversus Arium 4 geschieht28 Die Dreiheit erscheint im Kom-mentar nur in substanzieller Form und bleibt der Ebene des Intel-lekts immanent Im fuumlnften Fragment kritisiert der Kommentatorsogar ausdruumlcklich die Chaldaumlischen Orakel oder ihre Auslegerweil sie der houmlchsten Gottheit eine trinitarische Struktur zuwei-sen29 Manche seiner Formulierungen erwecken dabei den Ein-druck dass er bei seiner Kritik ein aumlhnliches theologisches Kon-zept im Auge gehabt haben mochte wie es uns gerade in AdversusArium 1b begegnet Das Eine wird vom Kommentator keineswegsals Ausgangsglied der Dreiheit aufgefasst aus dem das Leben her-vorginge und zu dem das Denken zuruumlckkehrte wie es in Adver-sus Arium 1b begriffen wird Dementsprechend ist das Eine auchnicht sbquoder Gegenstandlsquo des Erkennens des zweiten Einen in demdas zweite Eine zugleich sich selbst in seiner potenziellen undtranszendenten Praumlexistenz erfasst sondern es ist der Akt der inallen drei Akten oder Momenten wirkt der ihre Einheit stiftet undzugleich uumlber sie hinausgeht Auch wenn der Kommentator dasEine mit dem Sein identifiziert setzt er nie das Sein mit der Exis -tenz gleich und nichts scheint davon zu zeugen dass die Existenzmit dem transzendenten Moment des Intellekts (dem ersten Einen)zusammenfallen sollte30 Der Verfasser des anonymen Kommen-tars verwendet im Gegenteil unterschiedliche Ausdruumlcke um dieverschiedenen Tatsachen hervorzuheben Waumlhrend der TerminussbquoSeinlsquo dem ersten Einen als der Ursache oder der sbquoIdeelsquo des intelli-giblen Seienden vorbehalten ist soll das Wort sbquoExistenzlsquo das ersteMoment der reflexiven Bewegung des Intellekts oder des zweiten

200 Vaacutec l av N ěmec

27) Vgl z B Marius Victorinus Adv Ar 42318ndash34 (CSEL LXXXIIII 260)28) Vgl z B Marius Victorinus Adv Ar 464ndash7 (CSEL LXXXIIII 231ndash

232) 489ndash30 (CSEL LXXXIIII 235ndash236) 42126ndash28 (CSEL LXXXIIII 257)29) Vgl Anon in Parm 91ndash1011 (Linguiti 118ndash120)30) Darauf hat schon Andrew Smith hingewiesen Vgl ders Zπόστασις and

0παρξις in Porphyry in F Romano D P Taormina (Hrsg) Hyparxis e hyposta-sis nel neoplatonismo Firenze 1994 33ndash41 hier 41

Einen bezeichnen im Unterschied zum sbquoSeiendenlsquo das als Benen-nung fuumlr die ganze Hypostase dient Im anonymen Kommentarfindet man auch kein Anzeichen fuumlr das Prinzip eines wechsel -seitigen Ineinanderseins (und des Vorherrschens) von Existenz Leben und Denken das eine zentrale Rolle in Adversus Arium 1b3 und 4 ndash und im spaumlteren Neuplatonismus uumlberhaupt ndash spielt

Dialektik der negativen und affirmativen Theologie

Auch die ganze Problematik der sbquoInkommensurabilitaumltlsquo bzwsbquoKommensurabilitaumltlsquo des ersten Einen mit dem zweiten Einen be-handelt der Verfasser des Kommentars anders als Marius Victori-nus in Adversus Arium 1b31 Dem Kommentator zufolge zeigt sichdas Goumlttliche bdquounter dem einen Gesichtspunktldquo (κατF -λλο bzwκατ7 τν πρώτην δέαν) d h bdquoes selbst in sich selbst gesehenldquo alsdas einfache Eine das bdquonicht ausgesprochen und gedacht werdenkannldquo bdquounter dem anderen Gesichtspunktldquo (κατF -λλο) hingegenwird es als der in sich durch Reflexion differenzierte Intellekt be-trachtet der sich in die Vielheit seiner Akte ndash Existenz Leben undDenken ndash hinein entfaltet Wie der Schluss des sechsten Fragmentsbezeugt entsprechen diese zwei Gesichtspunkte der ersten und derzweiten Hypothese des Parmenides Trotz der sbquoontologischen Dif-ferenzlsquo zwischen dem ersten Einen und dem Intellekt (dem zwei-ten Einen) die in den vorausgehenden Fragmenten immer wiederemphatisch hervorgehoben wurde meint also der Kommentatordass sich beide Hypothesen auf eine einzige Gottheit beziehen diedas transzendente Eine und den reflexiven Intellekt als ihre zweiSchichten oder Momente einschlieszligt Der Verfasser des Kommen-tars scheint also die beiden Hypothesen als eine Art sbquodialektischelsquoTheologie zu verstehen die das Goumlttliche unter zwei verschiede-

201Die Theorie des goumlttlichen Selbstbewusstseins im Parmenides-Kommentar

31) Die Dialektik der sbquoInkommensurabilitaumltlsquo (bdquolrsquoincoordinationldquo) und sbquoKom-mensurabilitaumltlsquo (bdquola coordinationldquo) des Einen betrachtet Hadot als einen der Haupt -zuumlge der sbquoporphyrianischen Metaphysiklsquo Entsprechend seiner Hypothese dass derVerfasser des anonymen Kommentars Porphyrios sei den er zugleich fuumlr die grie-chische Quelle haumllt aus der Marius Victorinus geschoumlpft hat meint er dass der an -onyme Parmenides-Kommentar und die theologischen Schriften des Marius Victo-rinus ndash insbesondere Adversus Arium 1b ndash auch in diesem Punkt uumlbereinstimmenVgl Hadot La meacutetaphysique de Porphyre (wie Anm 2) 131 ff ders Porphyre etVictorinus (wie Anm 2) I 139ndash141 259ndash260

nen Aspekten zum Thema macht Vielleicht koumlnnte man auch uumlbereine Art sbquoDialektik der Kommensurabilitaumlt und Inkommensurabi-litaumltlsquo des Einen selbst sprechen insofern der Gesichtspunkt derzweiten Hypothese deren Gegenstand eigentlich der reflexive Intellekt ist zugleich eine neue Perspektive oumlffnet aus der sich das erste Eine in seiner Bezogenheit auf die differenzierten Aktedes Intellekts zeigt Erscheint das (erste) Eine unter dem ersten Gesichtspunkt als inkommensurabel und relationslos so dass manihm jedwede Beziehung zum Intellekt ndash sogar die der Andersheit ndashverweigern muss32 stellt es sich unter dem anderen Gesichtspunktder die Aufmerksamkeit auf das zweite Eine oder den Intellektlenkt zugleich als der einheitsstiftende Akt uumlber den differenzier-ten Akten des reflexiven Intellekts als der konstitutive Urgrundseines Selbstbewusstseins heraus Freilich ist Hadots Ansichtzuruumlckzuweisen die sbquodialektischelsquo Theologie des anonymen Kommentars sei mit dem entsprechenden Konzept in AdversusArium 1b identisch33 Die theologische Auffassung in AdversusArium 1b kann insofern als sbquodialektischlsquo bezeichnet werden als dasEine unter zwei verschiedenen Aspekten behandelt wird in sichund auf das von ihm Verursachte bezogen Das Eine zeigt sich soeinerseits als inkommensurabel und in seiner absoluten Differenz-losigkeit allen gegenstaumlndlichen Kategorien des menschlichenDenkens enthoben andererseits in Bezug darauf wessen Ursprunges ist als universale Ursache die selbst auf eine transzendente undpotenzielle Weise alles ist was aus ihr hervorgeht Waumlhrend unterdem Gesichtspunkt der negativen Theologie dem Einen u a SeinExistenz Leben und Denken abgesprochen wird erweist es sichunter dem Gesichtspunkt der affirmativen Theologie als erste Phase der Selbstkonstitution der goumlttlichen Substanz bzw des Intellekts und als erstes Glied der Dreiheit von sbquoSein ndash Leben ndashDenkenlsquo Als das Sein selbst enthaumllt es in sich auf transzendenteund potenzielle Weise die beiden anderen Glieder ndash Leben undDenken ndash und vereinigt sie in seiner unterschiedslosen Einheit ImVergleich mit dem anonymen Kommentar faumlllt nun auf dass beiVictorinus beide Gesichtspunkte den Methoden der negativen undaffirmativen Theologie entsprechen die ausschlieszliglich auf das ers -te Eine angewandt werden also auf das Eine der ersten Hypothese

202 Vaacutec l av N ěmec

32) Vgl Anon in Parm 31ndash35 (Linguiti 100ndash102)33) Vgl oben Anm 31

des Parmenides das mit Gottvater identifiziert wird Das zweiteEine d h das Eine der zweiten Hypothese das Victorinus demSohn gleichsetzt wird erst spaumlter zum Thema34 und ist nicht in dieDialektik der negativen und affirmativen Theologie einbezogenIm anonymen Kommentar hingegen entsprechen die beiden Ge-sichtspunkte der ersten und der zweiten Hypothese die das den reflexiven Intellekt (das zweite Eine) und seinen uumlber-reflexivenGrund (das erste Eine) umschlieszligende Goumlttliche in seinen beidenAspekten oder Schichten behandeln Obwohl also sowohl in Ad-versus Arium 1b als auch im anonymen Kommentar eine Art sbquoDia-lektik der Kommensurabilitaumlt und Inkommensurabilitaumltlsquo des Einenvorkommt geht es offensichtlich um zwei verschiedene Variantenderen Unterschiedlichkeit wieder die Differenzen zwischen denbeiden metaphysischen Konzepten klar hervortreten laumlsst35

Schlussfolgerungen

Gerade die erwaumlhnten Unterschiede verwischt nun Hadotum den Inhalt des sechsten Fragments mit seiner Hypothese inEinklang zu bringen dass der Verfasser des anonymen Kommen-tars (naumlmlich Porphyrios) mit der griechischen Quelle der theolo-gischen Schriften des Marius Victorinus identisch sei Dabei pro-

203Die Theorie des goumlttlichen Selbstbewusstseins im Parmenides-Kommentar

34) Marius Victorinus Adv Ar 15022 ff (CSEL LXXXIIII 145)35) Diese sbquoJuxtappositionlsquo oder sbquoDialektiklsquo der negativen und affirmativen

Theologie die das Goumlttliche aus zwei verschiedenen Perspektiven betrachtet wo-bei es sich bald als sbquoinkommensurabellsquo bald als sbquokommensurabellsquo zeigt geht wahr-scheinlich auf die mittelplatonische bzw neupythagoreische Tradition zuruumlck VglJ Mansfeld Compatible Alternatives Middle Platonists Theology and the Xeno -phanes Reception in R van den Broek T Baarda J Mansfeld (Hrsg) Know -ledge of God in the Graeco-Roman World Leiden 1988 92ndash117 Eudoros vonAlexandrien fuumlhrt die beiden Betrachtungsweisen mit aumlhnlichen Ausdruumlcken wieder Verfasser des anonymen Kommentars ein (κατ7 τν νωτάτω λόγον κατF -λλον τρόπον bzw κατ7 τν δεύτερον λόγον) Vgl Simplikios In Aristotelis Physica com-mentaria 15 (CAG IX 18110ndash30) Bei Eudoros geht es dennoch um die spezifischeProblematik der pythagoreischen Prinzipienlehre Er bemuumlht sich die sbquomonistischelsquound sbquodualistischelsquo pythagoreische Lehre zu versoumlhnen indem er das Eine einmal alsdas einzige uumlber alle Gegensaumltze erhabene Prinzip betrachtet einmal als ein Gliedder Grundpolaritaumlt sbquodas Eine ndash die unbestimmte Zweiheitlsquo In Adversus Arium 1bund im anonymen Parmenides-Kommentar wird hingegen dieselbe Methode aufdie Problematik der neuplatonischen houmlchsten Prinzipien angewandt ndash obgleich jeweils auf eine andere Art und Weise

jiziert er das Denkschema von Adversus Arium 1b in den Par-menides-Kommentar hinein und entstellt somit gewissermaszligen das hier enthaltene metaphysische Konzept36 Folglich wurde diebemerkenswerte Theorie des goumlttlichen Bewusstseins wie sie imsechsten Fragment dargelegt ist in ihrer Originalitaumlt bislang kaumuntersucht und nur unzureichend bewertet Auch legen die fest-gestellten Differenzen die Vermutung nahe dass der anonymeKommentar bzw sein Verfasser nicht die direkte Quelle des theo-logischen Werkes von Marius Victorinus ndash oder zumindest seinerSchrift Adversus Arium 1b ndash gewesen sein kann Die Unterschiedelassen sich auch nicht wegdiskutieren wenn man darauf hinweistdass der Kommentar uns nur fragmentarisch erhalten blieb oderVictorinus seine Quelle wesentlich umgedeutet haben koumlnnte um sie seinem christlich-theologischen Anliegen anzupassen Wieschon gezeigt sind mehrere Grundzuumlge der beiden metaphysi-schen Konzepte einfach nicht miteinander kompatibel Und gera-de manche Motive durch die sich das metaphysische Schema inAdversus Arium 1b von dem des anonymen Kommentars abhebtz B das Prinzip des Ineinanderseins (und des Vorherrschens) vonSein Leben und Denken begegnen uns wieder bei den spaumlterenNeuplatonikern freilich mit dem Unterschied dass diese sie aufdie niedrigeren Seinsstufen anwenden ohne das Eine mit einem derGlieder der Dreiheit zu identifizieren Der anonyme Kommentarduumlrfte so wohl auf etwas hindeuten das schon durch die Anwe-senheit verschiedener Varianten eines verwandten metaphysischenKonzepts in den theologischen Schriften des Marius Victorinusdie kaum auf eine einzige Quelle zuruumlckzufuumlhren sind angedeutetwird37 die Existenz einer ganzen Traditionslinie des spaumltantiken

204 Vaacutec l av N ěmec

36) Diese Kritik wird freilich geaumluszligert mit der wesentlichen Einschraumlnkungdass es gerade Hadots groszliges Verdienst war die Eigentuumlmlichkeit und Bedeutungder metaphysischen Lehre des anonymen Kommentars im Rahmen des spaumltantikenPlatonismus erkannt und sie zum ersten Mal detailliert und ndash mit den oben er-waumlhnten Ausnahmen ndash praumlzise rekonstruiert zu haben

37) Im theologischen Werk von Marius Victorinus lassen sich mindestensdrei (bzw vier wenn man auch Candidi epistola 1 dazu zaumlhlt) unterschiedliche Va-rianten eines verwandten metaphysischen Systems ausmachen die wahrscheinlichauf verschiedene Quellen zuruumlckgehen Dies versuchte ich in meinem Aufsatz Me-tafysickeacute systeacutemy v theologickeacutem diacutele Maria Victorina in V Hušek L Chvaacutetal J Plaacutetovaacute (Hrsg) Miscellanea patristica Brno 2007 37ndash71 nachzuweisen Vglauch meine Einleitung zur tschechischen Ausgabe des anonymen Parmenides-Kommentars Anonymniacute komentaacuteř k Platoacutenovu Parmenidovi Praha 2009 49ndash69

(Neu-)Platonismus die von der uns bekannten Hauptstroumlmungabweicht und in deren Rahmen verschiedene Versionen einer aumlhn-lichen metaphysischen Auffassung durchdacht wurden

Prag Vaacutec l av N ěmec

205Die Theorie des goumlttlichen Selbstbewusstseins im Parmenides-Kommentar

Page 5: DIE THEORIE DES GÖTTLICHEN SELBSTBEWUSSTSEINS ...Gnosticism and Later Platonism: Themes, Figures, and Texts, Atlanta 2000, 141–177; J.D.Turner, Sethian Gnosticism and the Platonic

ment des reflexiven Intellekts das uumlber dessen Teilung in sbquoDen-kendeslsquo und sbquoGedachteslsquo steht als einen Urakt des Intellekts derseinen differenzierten Akten oder Momenten vorausgeht und ihreEinheit stiftet Jene zwei verschiedenen Schichten des Intellekts ndash(a) der innerlich geeinte Denkakt der die Differenz zwischen demDenkenden und dem Gedachten uumlberschreitet und (b) der inner-lich differenzierte Intellekt der seine reflexive Bewegung ausuumlbtindem er durch die einzelnen Phasen Existenz Leben und Denken(0παρξις ndash ζωή ndash νόησις) hindurchgeht ndash entsprechen also demKommentator zufolge den zwei ersten Hypothesen von PlatonsParmenides d h dem ersten und dem zweiten Einen Diese zweiSchichten des Intellekts stellen fuumlr den Verfasser des Kommentarseigentlich zwei verschiedene Perspektiven dar aus denen man dasGoumlttliche betrachten kann als das Eine in sich selbst (ατ τοτο)das die Ebene des intelligiblen Seienden der Reflexivitaumlt und derDifferenz transzendiert und als das seiende Eine d h als den reflexiven Intellekt der sich in die Vielheit seiner Momente ndash Exis -tenz Leben und Denken ndash ausgliedert

Es ist gerade diese im sechsten Fragment auftretende Theoriedes goumlttlichen Selbstbewusstseins die von den Forschern wieder-holt missverstanden und im Eifer ihres Bemuumlhens den Textinhaltmit den Hypothesen uumlber die Autorschaft des Kommentars zu harmonisieren umgedeutet wurde Infolgedessen blieb dieses be-merkenswerte Lehrstuumlck bisher in seiner Originalitaumlt verkannt InAnbetracht dieser Umstaumlnde moumlchte der vorliegende Aufsatz sei-nen Beitrag dazu leisten gerade den Inhalt des sechsten Fragmentszu klaumlren Um eine zuverlaumlssige Textgrundlage zu schaffen wirdzunaumlchst eine Uumlbersetzung des ganzen Fragments angefuumlhrt dersich eine Interpretation einzelner Textabschnitte anschlieszligt Darinwird vor allem versucht detailliert das dargelegte metaphysischeKonzept zu rekonstruieren

II Fragment 6 Text und Uumlbersetzung

13 Fol 90v

μή δυνά]μενον ες 6αυτν εσελθεν τίνι γ7ρ βλέπει 6αυτν τν εσελ-θεν μ δυνάμενον ε μ τlt 6νί κα$ τίνι 6αυτόν ες gtν εσέρχεσθαιδυνατε τίς στιν οτος μφοτέρων φαπτόμενος κατ7 τ ατ ν τlt μεμερισμένB τίς λέγων Cτερον εναι τ νοον κα$ τ νοούμενον

189Die Theorie des goumlttlichen Selbstbewusstseins im Parmenides-Kommentar

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βλέπων πότε 6νοται τ νοον τlt νοουμένB κα$ τί πότε ο δύ-ναται δDλον οEν τι α0τη νέργεια παρF κείνας παναβεβηκυαπάσαις κα$ χρωμένη ατας πάσαις Gς Hργάνοις πάντων φαπτομέ-νη κα$ κατ7 τ ατ κα$ ν οδεν$ οEσα 6κάστη μampν οEν τIν-λλων πρός τι πέπηγε κα$ κατ7 τ εδος πάντως ατlt κα$ κατ7 τνομα τέτακται α0τη δamp οδενός στι δι οδamp εδος οδamp νομα χει οδamp οσίαν ν οδεν$ γ7ρ κρατεται λλF οδamp μορφοται Kπό τινοςντως οEσα παθς κα$ ντως χώριστος 6αυτDς ο νόησις οEσα ονοητόν οκ οσία λλF πέκεινα πάντων κα$ πάντων ατία ltgtσύζυ-γος σπερ μampν τοίνυν ρασις μampν το κουστο οκ φάπτεται ltοδFκο το ρατοgt οδF μφότεραι το γευστο οδamp οδεν 6κάστη τι6τέρα στ$ν τDς 6τέρας οδF τι κουστν Cτερον το ρατο -λλη δFστ$ν δύναμις παναβεβηκυα τούτων L τατα διακρίνει κα$ τ τα-τν ατIν γιγνώσκει κα$ τ Cτερον κα$ τν οσίαν κα$ πάθος L κα$δύναται πασIν φάπτεσθαι χρDσθαι δamp ατας Gς Hργάνοις δι7 τκρείττονF εναι κα$ παναβεβηκέναι ατIν ο0τως κα$ δύναμις καθFLν ρM νος μ δυνάμενος

14 Fol 90r

εσελθεν ες 6αυτν 6τέρα Nν εOη τDς νοήσεως κα$ το νοουμένου πι-νοίP διαφέρουσα κα$ πέκεινα τούτων οEσα πρεσβείP κα$ δυνάμεικα$ ο0τως ν ν κα$ Qπλον ldquoτ ατ τοτοrdquo νεργείP 6αυτο διαφέρεικα$ Kπάρξει κα$ κατ7 -λλο -ρα Cν στιν Qπλον κατF -λλο δamp ατ6αυτο διαφέρει τ γ7ρ το 6νς διαφέρον οχ ν κα$ τ το QπλοCτερον οχ Qπλον ν μampν οEν στιν κα$ Qπλον κατ7 τν πρώτην κα$ldquoατ τοτοrdquo ατο τοαύτου δέαν δύναμις R τι κα$ χρ Hνομάζειννδείξεως ltχgtάριν -ρρητον οEσαν κα$ νεννόητον οχ ν δamp οδampQπλον κατ7 τν 0παρξιν κα$ ζων ltκα$gt τν νόησιν κα$ τ νοον κα$τ νοούμενον Kπάρξει τ δamp νοον Rν νο[ς μετε]ξ[έλθS] π τDςKπάρξεως ες τ νοον Tνα πανέλθS ες τ νοητν κα$ 6αυτν OδSστ$ν ζωή δι όριστος ltgt κατ7 τν ζωήν κα$ πασIν οσIν νερ-γειIν κα$ Gς κατ7 μampν τν 0παρξιν 6στIσα Nν εOη νέργεια κατ7 δampτν νόησιν ες αKτν στραφεσα νέργεια κατ7 δamp τν ζων κ τDςKπάρξεως κνεύσασα νέργεια κα$ κατ7 τοτο Cστηκεν Uμα κα$ κι-νεται κα$ ν 6αυτlt στιν κα$ ν -λλB κα$ λον στ$ν κα$ μέρη χεικα$ τατόν στι κα$ Cτερον κατ7 δamp ψιλν ατο τ ν κα$ οWον πρIτονκα$ ντως τ ν οXτε Cστηκεν οXτε κινεται οXτε τατόν στιν οXτε Cτε-ρον οXτε ν 6αυτlt στιν οXτε ν -λλB τι δamp οXτε νοούμενον οXτε νεργον οXτε ες 6αυτ οXτε ες -λλο 11

13 Fol 90v

er kann nicht in sich selbst hineingehen Wodurch denn sieht er sichselbst wie er in sich selbst nicht hineingehen kann wenn nicht durchdas Eine Und wodurch denn sieht er sich selbst in den er nicht hin-

190 Vaacutec l av N ěmec

11) Anon in Parm 131ndash1435 (Linguiti 128ndash134)

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eingehen kann Und wer ist derjenige der die beiden als Identisches imgeteilten [Intellekt] beruumlhrt Wer ist derjenige der sagt das Denkendesei etwas anderes als das Gedachte Wer ist derjenige der sieht wanndas Denkende sich mit dem Gedachten vereinigt und wann es sich nichtvereinigen kann Offensichtlich ist es der Akt selbst der sich auszliger jenen [Akten] befindet der uumlber sie alle hinausgeht und der sie alle alsseine Organe gebraucht der Akt der alle anderen [Akte] als Identischesberuumlhrt und der in keinem [jener Akte] enthalten ist Jeder von [den anderen Akten] ist gewiss auf etwas fest gerichtet und dazu durchausgeordnet entsprechend seiner Gestalt und seinem Namen waumlh renddieser Akt zu nichts gehoumlrt deswegen hat er auch keine Gestalt keinenNamen und keine Seiendheit Er wird in keiner Hinsicht beherrscht erwird aber auch von nichts gestaltet da er wirklich unversehrt und wirk-lich ungetrennt von sich selbst bleibt und er ist weder das Denken nochdas Gedachte noch die Seiendheit aber er befindet sich jenseits von allem und ist die inkommensurable Ursache von allemGleich wie weder das Sehvermoumlgen das Houmlrbare erfasst noch dasGehoumlr das Sehbare noch die beiden das was gekostet werden kann undgleich wie keines dieser Sinnesvermoumlgen weiszlig dass es sich von einemanderen unterscheidet und dass das Houmlrbare etwas anderes als das Sehbare ist es aber ein Vermoumlgen gibt das uumlber diese Sinnesvermoumlgenhinausgeht das sie alle unterscheidet und ihre Selbigkeit und Anders-heit ihr Wesen und ihren Zustand erkennt und das sie alle beruumlhrenund als seine Organe gebrauchen kann weil es maumlchtiger als sie ist unduumlber sie hinausgeht so duumlrfte wohl auch das Vermoumlgen durch das derIntellekt sieht der

14 Fol 90r

in sich selbst nicht hineingehen kann ein anderes als das Denken unddas Gedachte sein da es sich durch seinen Begriff von beiden unter-scheidet und sich durch seine Wuumlrde und Macht jenseits von beiden befindetUnd so unterscheidet es sich von sich selbst durch den Akt und die Existenz und doch bleibt sbquoes selbstlsquo Eines und Einfaches und unterdem einen Gesichtspunkt ist es das einfache Eine unter dem anderenaber unterscheidet es sich von sich selbst Denn dasjenige das sich vomEinen unterscheidet ist nicht das Eine und dasjenige das anders als dasEinfache ist ist kein Einfaches Unter dem ersten Gesichtspunkt d hsbquoes selbstlsquo in sich selbst gesehen ist es also das Eine und Einfache dieMacht ndash oder wie soll man sie benennen um sie irgendwie zu bezeich-nen obwohl sie nicht ausgesprochen und gedacht werden kann ndashwaumlhrend es weder Eines noch ein Einfaches in Bezug auf die Existenzdas Leben und das Denken istIn Bezug auf die Existenz ist das Denkende zugleich das GedachteWenn aber der Intellekt aus der Existenz hervorgegangen und zumDenkenden geworden ist um zum Gedachten zuruumlckzukehren undsich selbst anzuschauen dann ist das Denkende das Leben Deswegenist [der Intellekt] in Bezug auf das Leben unbegrenzt Und da sie alle

191Die Theorie des goumlttlichen Selbstbewusstseins im Parmenides-Kommentar

Akte sind duumlrfte es sich wohl in Bezug auf die Existenz um einen ver-bleibenden Akt handeln in Bezug auf das Denken um einen zu sichselbst zuruumlckgekehrten Akt und in Bezug auf das Leben um einen Aktder von der Existenz abgewichen ist Und dementsprechend befindetes sich in Ruhe und zugleich in Bewegung in sich selbst und in einemanderen es ist Ganzes und hat Teile es ist dasselbe und ein anderesAber in Bezug darauf was an ihm das bloszlige Eine und gleichsam dasEine im primaumlren und wahrhaftigen Sinne ist befindet es sich weder inRuhe noch in Bewegung es ist weder dasselbe noch ein anderes wederin sich selbst noch in einem anderen Da es aber weder gedacht nochwirkend ist und zwar weder auf sich selbst noch auf ein anderes

III Interpretation

Der Intellekt der bdquonicht in sich selbst hineingehen kannldquo

Obwohl das Verstaumlndnis des ersten Abschnitts dadurch er-schwert wird dass der Anfang des ersten Satzes fehlt aus dem das Subjekt fuumlr die folgende Partizipialfuumlgung hervorgehen wuumlrdewird aus der Formulierung in den Zeilen 1335ndash141 (νος μ δυνά-μενος εσελθεν ες 6αυτYν) zumindest klar dass es sich um den Intellekt handeln muss Weiter ergibt sich aus dem Satz in den Zei-len 137ndash9 dass mit dem Intellekt der bdquonicht in sich selbst hinein-gehen kannldquo der Intellekt in einem Zustand gemeint ist in dem ersich als Denkender nicht mit sich selbst als dem Gedachten ver-einigen kann Unter dem Intellekt bdquoder in sich selbst hineingehenkannldquo duumlrfte hingegen ein Zustand zu verstehen sein in dem ersich als Denkender mit sich selbst als dem Gedachten vereinigtAus dem Text wird aber nicht besonders klar unter welchen Um-staumlnden ein Intellekt in einen Zustand geraten kann in dem erauszligerstande waumlre sich als Denkender mit sich selbst als dem Gedachten zu vereinigen Nach Pierre Hadot bezeichnet dieserAusdruck jenes transzendente Moment des Intellekts das der re-flexiven Erkenntnis vorausgeht und mit dem ersten Einen selbstzusammenfaumlllt12 Der Intellekt vermoumlchte in dieser Phase nicht insich selbst hineinzugehen weil er sich noch nicht in Denkendesund Gedachtes differenziert hat was als Grundvoraussetzung der

192 Vaacutec l av N ěmec

12) Vgl Hadot Porphyre et Victorinus (wie Anm 2) I 133ndash134 Dieser In-terpretation von Hadot schlieszligt sich auch Alessandro Linguiti an Vgl Linguiti (wieAnm 1) 193 ff

reflexiven Erkenntnis gelten darf Um durch die Bewegung desDenkens in sich selbst hineingehen zu koumlnnen muumlsste der Intellektzunaumlchst durch die Bewegung des Lebens aus sich selbst hervorge-hen und sich somit in die Vielheit seiner Akte entfalten was abererst auf der Ebene des reflexiven Intellekts oder des zweiten Einengeschieht Das erste Eine als der Intellekt der bdquonicht in sich selbsthineingehen kannldquo muumlsste sich folglich zuerst als reflexiver Intel-lekt konstituieren um sich selbst reflexiv erfassen zu koumlnnen

Dieser Interpretation widersprechen aber deutlich die For-mulierungen des Kommentators denen zufolge auch der Intellektbzw eines seiner Momente das bdquonicht in sich selbst hineingehenkannldquo durch jenes houmlhere Erkenntnisvermoumlgen gesehen wird dasdem Einen selbst gleichgesetzt wird (131ndash4 139) Der Intellekt indem Zustand in dem er bdquonicht in sich selbst hineingehen kannldquowird ausdruumlcklich als bdquoder geteilte Intellektldquo (136) bezeichnet derschon in sich selbst als in denjenigen in den er nicht hineingehenkann und denjenigen der nicht hineingehen kann differenziertwird (132ndash4) In diesem Intellekt ist also schon eine Unterschei-dung des Denkenden und des Gedachten vorausgesetzt (136ndash7)Die Wendung dass er bdquonicht hineingehen kannldquo bezeichnet gera-de den Zustand in dem dieser Denkende nicht imstande ist sichmit dem Gedachten zu vereinigen Das Eine wird hingegen als jener houmlhere Akt des Intellekts aufgefasst der die beiden Momentein ihrer Identitaumlt und Andersheit fasst und als solcher uumlber die bei-den Momente hinausgeht (134ndash5 1310ndash13) Nicht zuletzt sprichtgegen Hadots Deutung gerade die Tatsache dass der Intellekt(νος) als Subjekt der Partizipialkonstruktion μ δυνάμενος εσελ-θεν ες 6αυτYν zu vermuten ist Es ist wenig wahrscheinlich dassder Kommentator bereit waumlre das erste Eine ausdruumlcklich als sbquoIn-tellektlsquo zu bezeichnen Wenn Hadot bei seiner Interpretation dessechsten Fragments wiederholt zwei Intellekte (bdquoles deux Intelli-gencesldquo) bzw zwei Zustaumlnde des Intellekts (bdquoles deux eacutetats de lrsquoIntelligenceldquo) erwaumlhnt13 geht er von seiner Annahme aus wo-nach der bdquoIntellekt der nicht in sich selbst hineingehen kannldquo mitdem Einen identisch waumlre Diese Redeweise scheint aber demKommentator selbst fremd zu sein

Eine alternative Interpretation hat Gerard Bechtle vorge-schlagen Bechtle meint gerade umgekehrt der Intellekt der bdquonicht

193Die Theorie des goumlttlichen Selbstbewusstseins im Parmenides-Kommentar

13) Vgl Hadot Porphyre et Victorinus (wie Anm 2) I 133ndash138 II 107ndash113

hineingehen kannldquo sei mit dem reflexiven Intellekt identischwaumlhrend der Intellekt der bdquoin sich selbst hineingehen kannldquo mitdem (ersten) Einen selbst als der transzendenten Wurzel des re-flexiven Intellekts zusammenfalle14 Diese Deutung begegnet den-noch einer aumlhnlichen Schwierigkeit wie die oben skizzierte Inter-pretation Hadots In der Zeile 137ndash9 heiszligt es naumlmlich dass jenervereinigende Akt der mit dem Einen selbst identifiziert wird denIntellekt sowohl in dem Zustand bdquosiehtldquo in dem er bdquonicht hinein-gehen kannldquo als auch in dem Zustand in dem bdquodas Denkende sichmit dem Gedachten vereinigtldquo d h in dem er gerade bdquoin sich selbsthineingehtldquo Daraus ergibt sich dass dieser houmlhere Akt sich vonbeiden Zustaumlnden des Intellekts unterscheiden muss Es ist also offensichtlich dass mit dem bdquoIntellekt der nicht in sich selbst hineingehen kannldquo weder das Eine als transzendentes Moment desIntellekts noch der reflexive Intellekt als solcher gemeint sind Wasmag diese Formel dann bedeuten

Nach dem Ausklammern der beiden erwaumlhnten Interpreta-tionen bleibt grundsaumltzlich nur noch die Moumlglichkeit dass dieseFormel einen Zustand oder eine Phase des reflexiven Intellektsbzw einen seiner Akte bezeichnet Um welche Phase oder welchenAkt des reflexiven Intellekts es sich handelt wird durch den Satzin Zeile 1418ndash20 angedeutet bdquoWenn aber der Intellekt aus der Existenz hervorgegangen (μετε]ξ[έλθS) und zum Denkenden ge-worden ist um zum Gedachten zuruumlckzukehren (πανέλθS ες τνοητόν ndash woumlrtlich um ins Gedachte zuruumlckzugehen)15 und sichselbst anzuschauen dann ist das Denkende das Lebenldquo Es liegtnahe dass der bdquoIntellekt der nicht in sich selbst hineingehenkannldquo mit dem Leben als dem Akt des Intellekts identisch ist deraus der Existenz hervorgegangen ist oder genauer gesagt mit demin die Existenz und das Leben gespaltenen Intellekt sbquobevorlsquo erdurch die Ruumlckbewegung des Denkens zu sich selbst zuruumlckkehrtWaumlhrend die Existenz als bdquoder in Ruhe verbleibende Aktldquo denAusgangszustand des Intellekts darstellt in dem das Denkende mitdem Gedachten zusammenfaumlllt differenziert sich der Intellektdurch die Bewegung des Lebens in die Existenz als das Gedachte

194 Vaacutec l av N ěmec

14) Vgl Bechtle (wie Anm 3) 185ndash186 191ndash19615) Der Kommentator verwendet hier die Verba μετεξέρχομαι und πανέρ-

χομαι die aus derselben Wurzel wie εσέρχομαι gebildet sind wobei das πανέρχο-μαι wahrscheinlich mit dem εσέρχομαι synonym ist

und ins Leben als das Denkende wobei das Hervorgehen des Le-bens in die Ruumlckbewegung des Denkens wieder transformiert wer-den muss damit bdquodas Denkende zum Gedachten zuruumlckkehrtldquoErst in dieser Endphase der reflexiven Bewegung wird also der Zu-stand erlangt in dem das Denkende sich mit dem Gedachten wie-der vereinigt d h der bdquoIntellekt in sich selbst hineingehtldquo Es sindgerade diese Phasen oder Akte ndash Existenz Leben und Denken ndashdie das Eine als der Urakt des Intellekts bdquoin ihrer Identitaumlt und An-dersheit fasstldquo und als bdquoseine Organe gebrauchtldquo (1310ndash13) DasEine als die transzendente Wurzel des reflexiven Intellekts ist dieGrundvoraussetzung dafuumlr dass der reflexive Intellekt sich in jederPhase der Identitaumlt aller seiner Akte bewusst ist und dass er als der Denkende sich selbst als den Gedachten identifizieren kannauch wenn er in die verschiedenen Momente gespalten ist Das Einewird so als ein uumlber-reflexiver Akt begriffen der die Einheit undIdentitaumlt der verschiedenen Akte oder Momente des reflexiven In-tellekts garantiert und ihre gegenseitige Selbstidentifizierung er-moumlglicht Folglich ist es auch das Eine das gewaumlhrleistet dass derreflexive Intellekt bdquoin sich selbst hineingehen kannldquo

Vergleich mit dem Gemeinsinn

Diese Interpretation wird durch den folgenden Textabschnittbekraumlftigt in dem jenes houmlhere Vermoumlgen des Intellekts das mitdem Einen selbst zusammenfaumlllt mit dem aristotelischen sbquounter-scheidenden Sinnesvermoumlgenlsquo verglichen wird Hier lehnt sich derKommentator eng an eine Stelle aus dem dritten Buch De animaan16 wo Aristoteles die Frage aufwirft wie sich Unterschiede zwi-schen den verschiedenen Sinnesempfindungen feststellen lassen17

Bei der Loumlsung dieser Frage erlaumlutert Aristoteles dass jedes Sin-nesvermoumlgen sich jeweils auf die ihm zugehoumlrigen Wahrneh-mungsgegenstaumlnde oder Wahrnehmungsqualitaumlten bezieht aberkeinem das Wahrnehmbare fassbar ist fuumlr das die anderen Sinnezustaumlndig sind Demgemaumlszlig kann jeder Sinn zwar die Unterschiedezwischen den ihm zugehoumlrigen Wahrnehmungsgegenstaumlnden be-

195Die Theorie des goumlttlichen Selbstbewusstseins im Parmenides-Kommentar

16) Aristoteles De anima 426b8ndash2217) Vgl H-J Horn Studien zum dritten Buch der aristotelischen Schrift De

anima Goumlttingen 1994 39

urteilen keines der getrennten Sinnesvermoumlgen aber ist imstandedie Gegenstaumlnde quer durch mehrere Wahrnehmungsbereiche ndashz B das Weiszlige und das Suumlszlige ndash zu unterscheiden Da es sich aberimmer um Wahrnehmbares handelt muumlssen auch die Unterschie-de zwischen Wahrnehmungsgegenstaumlnden die in den Kompetenz-bereich verschiedener Sinne fallen durch ein Sinnesvermoumlgen fest-gestellt werden das von den uumlbrigen Sinnen abgegrenzt ist Gera-de dieses eigentuumlmliche Sinnesvermoumlgen nennt Aristoteles sbquodas unterscheidendelsquo (τ κρνον) Wenn es auch nirgends explizit ge-sagt wird scheint er dieses Vermoumlgen mit dem sbquogemeinsamen Sinnlsquo( κοιν αOσθησις) gleichzusetzen18 Diesem sbquogemeinsamen Sinnlsquoschreibt er weitere Funktionen zu wie etwa die Wahrnehmung sbquoge-meinsamer Wahrnehmungsgegenstaumlndelsquo die von mehreren Sinnenzugleich erfasst werden aber auch ein elementares Selbstbewusst-sein das jeden Wahrnehmungsakt begleitet (wie z B mein Sehaktvon dem Bewusstsein begleitet wird dass ich sehe)19

Gerade an diese Motive der aristotelischen Psychologie knuumlpftder Kommentator an mit der Parallele die er zwischen der Sinnes-wahrnehmung und dem Intellekt zieht Aumlhnlich wie die Sinnes -vermoumlgen ist auch der reflexive Intellekt in seine verschiedenen Momente oder Akte aufgespalten von denen jeder seine eigeneFunktion und seinen eigenen Kompetenzbereich besitzt weshalbaber auch keiner imstande ist sich auf die anderen Akte und auf dasvon ihnen Intendierte zu beziehen und sie in ihrer Andersheit undIdentitaumlt zu erkennen Deshalb muss es auch auf der Ebene des In-tellekts ein besonderes Vermoumlgen ndash aumlhnlich dem sbquounterscheidendenlsquooder sbquogemeinsamenlsquo Sinn ndash geben das von allen Vermoumlgen oder Ak-ten des reflexiven Intellekts verschieden ist und uumlber sie hinausgehtGenau wie der sensus communis ist es ein aktiver Keim des Intellektsder alle differenzierten Akte beruumlhrt sie als seine Organe gebrauchtund diese zugleich vereinigt und ihre Selbigkeit stiftet Und ebensowie der sbquogemeinsame Sinnlsquo muss dieser vereinigende Akt uumlber allenAkten ein einziger sein ja er faumlllt mit dem (ersten) Einen zusammen

196 Vaacutec l av N ěmec

18) Zum sbquogemeinsamen Sinnlsquo siehe z B Aristoteles De an 425a27 ZurGleichsetzung des sbquounterscheidenden Sinneslsquo mit dem sensus communis bei Aristo-teles vgl z B A-E Chaignet Essai sur la psychologie drsquoAristote Bruxelles 1966375 378ndash381 Diese Identifikation zieht allerdings D W Hamlyn in Zweifel VglAristotle De Anima Books II and III Translated with Introduction and Notes byD W Hamlyn Oxford 2002 128ndash129

19) Vgl Chaignet (wie Anm 18) 375ndash382

Der Vergleich mit dem sbquogemeinsamenlsquo Sinn wirft ein klaumlren-des Licht auf die vorausgehende Passage (131ndash23) Der Kommen-tator schreibt dem Einen in seinem Bezug auf die Akte des reflexi-ven Intellekts eine aumlhnliche Funktion zu wie sie der sensus com-munis als Organ des elementaren Selbstbewusstseins ausuumlbt dasdie Wahrnehmungsakte begleitet Das Eine begleitet die einzelnenAkte des reflexiven Intellekts und vereinigt sie so alle in sich selbstals in einem einzigen Zentrum Als dieses uumlber-reflexive und Ein-heit stiftende Moment bildet das Eine einen konstitutiven und er-moumlglichenden Grund des reflexiven Selbstbewusstseins des Intel-lekts Auf den ersten Blick scheint der Vergleich insoweit zu hin-ken als die Wahrnehmungsakte ausschlieszliglich auf die aumluszligeren Gegenstaumlnde gerichtet und im Prinzip nicht zu einem Selbstbezugfaumlhig sind waumlhrend durch die Akte des reflexiven Intellekts sichgerade der denkende Selbstbezug vollzieht in dem bdquoder Denkendesich mit dem Gedachten vereinigtldquo Der Kommentator scheintdennoch davon uumlberzeugt zu sein dass die differenzierten Akte desreflexiven Intellekts an sich auszligerstande sind diesen Selbstbezugzu bewirken und zu gewaumlhrleisten Die unabdingbare Grundbe-dingung der Moumlglichkeit des reflexiven Selbstbezuges wie er imdurch die Dreiheit der Akte strukturierten Intellekt realisiert wirdstellt gerade das mit dem Einen identifizierte houmlhere Vermoumlgenoder der vereinigende Akt dar der alle differenzierten Akte beglei-tet und ihre Einheit und Selbigkeit in der Vielheit und Andersheitgarantiert Das Selbstbewusstsein auf der Ebene des reflexiven Intellekts das sich durch die Dualitaumlt des Denkenden und des Gedachten auszeichnet ist so in einem houmlheren oder tieferen nicht-reflexiven oder uumlber-reflexiven Selbstbewusstsein gegruumlndet des-sen Quelle und Subjekt das transzendente Eine selbst ist

Das Eine und die Dreiheit von sbquoExistenz ndash Leben ndash Denkenlsquo

Aus dem Gesagten wird auch ersichtlich dass das Eine von allen Strukturmomenten oder Akten des reflexiven Intellekts ingleichem Maszlige verschieden sein muss und mit keinem von ihnenidentifiziert werden kann Aus diesem Grund ist auch die Inter-preta tion Hadots abzulehnen wonach das Eine schlieszliglich mitdem ersten Glied der Dreiheit von sbquoExistenz ndash Leben ndash Denkenlsquoidentisch sein soll Diese Auslegung gruumlndet sich auf die Annahme

197Die Theorie des goumlttlichen Selbstbewusstseins im Parmenides-Kommentar

die Existenz als einer der Akte des reflexiven Intellekts falle mitdem sbquoSeinlsquo zusammen das im fuumlnften Fragment mit dem Einenselbst gleichgesetzt wurde20 Diese Identifizierung des sbquoSeinslsquo mitder sbquoExistenzlsquo laumlsst sich aber in keinem der erhaltenen Fragmentedes Kommentars belegen und waumlre mit dessen metaphysischemKonzept auch kaum vereinbar Der eigentliche Grund fuumlr HadotsGleichsetzung dieser zwei Termini ist die Tatsache dass sie beidein den theologischen Schriften des Marius Victorinus ndash insbeson-dere in Adversus Arium 1b ndash zusammenzuflieszligen scheinen Geradein der genannten Schrift erhebt Marius Victorinus die Dreiheit vonsbquoSein (bzw Existenz) ndash Leben ndash Denkenlsquo zum zentralen konzeptu-ellen Modell fuumlr seine Eroumlrterung der Wesensgleichheit von VaterSohn und heiligem Geist Im Rahmen seiner Transponierung derchristlich-theologischen Problematik auf den Boden einer (neu-)platonischen metaphysischen Prinzipienlehre fasst Victorinus denGottvater als das transzendente bdquoEine ohne Existenzldquo (inexsisten-tialiter unum) auf dem durch die negative Theologie u a Sein Existenz Seiendes Substanz Denken abgesprochen werden21 dasaber von der affirmativen Theologie zugleich als bdquodreimaumlchtigerGeistldquo (tripotens spiritus) gepriesen wird der die Vermoumlgen desSeins des Lebens und des Denkens in sich einschlieszligt Unter die-sem Gesichtspunkt wird Gottvater primaumlr als das reine Sein (esse)betrachtet das in seiner transzendenten Einheit und Verborgenheitdas Leben und das Denken in ihrer potenziellen Praumlexistenz be-inhaltet22 Der Sohn und der Heilige Geist werden dann geradedem aktualisierten und geaumluszligerten Leben (vita) und Denken (in-

198 Vaacutec l av N ěmec

20) Vgl Hadot Porphyre et Victorinus (wie Anm 2) I 13321) Marius Victorinus Adversus Arium 1499ndash18 (CSEL LXXXIIII 143)

Ante omnia quae vere sunt unum fuit sive unalitas sive ipsum unum antequam sitei esse unum unum ante omnem exsistentiam ante omnem exsistentialitatem ante ipsum ν hoc enim unum ante ν ante omnem igitur essentitatem substantiamsubsistentiam et adhuc omnia quae potentiora unum sine exsistentia sine substan-tia sine intellegentia

22) Marius Victorinus Adv Ar 1501ndash15 (CSEL LXXXIIII 144ndash145) Hicest deus hic pater praeintellegentia praeexsistens et praeexsistentia tripotens inunalitate spiritus tres potentias couniens exsistentiam omnem vitam omnem etbeatitudinem sed ista omnia et unum et simplex unum et maxime in potentia eiusquod est esse hoc est exsistentiae potentia vitae et beatitudinis 1523ndash9 (CSELLXXXIIII 148) Deus potentia est istarum trium potentiarum exsistentiae vitaebeatitudinis hoc est eius quod est esse quod vivere quod intellegere Et quod estesse primum et secundum quod est esse secundum ipsum vivere et intellegere sineulla unitione sed simpliciter simplicitas et istud manifestum

tellegentia bzw sapientia beatitudo) gleichgesetzt die zugleich alszwei Phasen des bdquoHervorgehensldquo (progressio) und der bdquoRuumlckkehrldquo(regressus) begriffen werden durch die das zweite Eine ndash das bdquoEinein der Existenzldquo (exsistentialiter unum) ndash konstituiert wird23 SeinLeben und Denken zeigen sich so als die drei Phasen ndash VerharrenHervorgehen und Ruumlckkehr24 ndash in denen sich die goumlttliche Sub-stanz aus ihrer transzendenten Wurzel in die Vielheit und Anders-heit hinein entfaltet um die urspruumlngliche Selbigkeit mit ihremtranszendenten Grund wiederherzustellen und sich selbst als einreflexiv denkendes Wesen zu konstituieren25 Die substanzielleIdentitaumlt von Sein Leben und Denken wird dabei durch ihr ge-genseitiges Ineinandersein ermoumlglicht Jedes Glied impliziert diezwei anderen auf seine eigene Art und Weise Ihre Differenz ergibtsich dagegen daraus dass in jeder Phase jeweils ein Glied der Drei-heit uumlber die anderen herrscht und in den Vordergrund tritt26

Obwohl man eine konzeptuelle Verwandtschaft zwischenAdversus Arium 1b und dem anonymen Parmenides-Kommentarkaum bestreiten kann ndash diese besteht besonders darin dass in bei-den Texten das erste Eine mit dem reinen Sein identifiziert wirddas sich vom Seienden bzw dem seienden Einen abgrenzt und dassdie Dreiheit sbquoExistenz ndash Leben ndash Denkenlsquo eine zentrale Rolle beider Eroumlrterung der reflexiven Bewegung bzw der Konstitution desIntellekts spielt ndash sind auch einige wesentliche Unterschiede nichtzu verkennen Im anonymen Kommentar kann vor allem keineAnwendung der Dreiheit auf das erste Eine nachgewiesen werdenSein Verfasser setzt zwar das Eine dem reinen Sein gleich das alsreine Wirksamkeit verschieden ist vom substanziellen Seienden

199Die Theorie des goumlttlichen Selbstbewusstseins im Parmenides-Kommentar

23) Marius Victorinus Adv Ar 15110ndash27 (CSEL LXXXIIII 146ndash147)Potentia enim progrediente ista motio nusquam requiescens quippe vita quaesit infinita et ipsa in vivificatione veluti foris apparuit Vita autem filius vita mo-tio a vitali praeexsistentia vita exsistentia Ista igitur exsistentia totius exsistentiaeest vita et iuxta quod vita motus quasi femineam sortita est potentiam hoc quodconcupivit vivificare Sed quoniam ista motio una cum sit et vita est et sapien-tia vita conversa in sapientiam et magis in exsistentiam patricam magis autem retromotae motionis in patricam potentiam et ab ipso viltrgtificata vita recurrens in patrem vir effecta est Descensio enim vita ascensio sapientia Vgl auch 15220ndash35(CSEL LXXXIIII 148ndash149)

24) Marius Victorinus Hymnus 371ndash74 (CSEL LXXXIIII 297) Statusprogressio regressus o beata trinitas

25) Vgl Marius Victorinus Adv Ar 1577ndash21 (CSEL LXXXIIII 155ndash156)26) Vgl Hadot Porphyre et Victorinus (wie Anm 2) I 239ndash246

und er spricht dem Einen auch eine Art uumlber-reflexives Denken zunie aber wendet er die Dreiheit sbquoSein ndash Leben ndash Denkenlsquo auf das erste Eine an nicht einmal im Sinne einer potenziellen und uumlber-substanziellen Praumlexistenz (praeexsistentia ndash praeviventia ndash prae -intellegentia) wie es Victorinus in Adversus Arium 1b und imzweiten Teil von Adversus Arium 4 tut27 oder im Sinne der reinenAkte (esse ndash vivere ndash intellegere) wie es insbesondere im ersten Teilvon Adversus Arium 4 geschieht28 Die Dreiheit erscheint im Kom-mentar nur in substanzieller Form und bleibt der Ebene des Intel-lekts immanent Im fuumlnften Fragment kritisiert der Kommentatorsogar ausdruumlcklich die Chaldaumlischen Orakel oder ihre Auslegerweil sie der houmlchsten Gottheit eine trinitarische Struktur zuwei-sen29 Manche seiner Formulierungen erwecken dabei den Ein-druck dass er bei seiner Kritik ein aumlhnliches theologisches Kon-zept im Auge gehabt haben mochte wie es uns gerade in AdversusArium 1b begegnet Das Eine wird vom Kommentator keineswegsals Ausgangsglied der Dreiheit aufgefasst aus dem das Leben her-vorginge und zu dem das Denken zuruumlckkehrte wie es in Adver-sus Arium 1b begriffen wird Dementsprechend ist das Eine auchnicht sbquoder Gegenstandlsquo des Erkennens des zweiten Einen in demdas zweite Eine zugleich sich selbst in seiner potenziellen undtranszendenten Praumlexistenz erfasst sondern es ist der Akt der inallen drei Akten oder Momenten wirkt der ihre Einheit stiftet undzugleich uumlber sie hinausgeht Auch wenn der Kommentator dasEine mit dem Sein identifiziert setzt er nie das Sein mit der Exis -tenz gleich und nichts scheint davon zu zeugen dass die Existenzmit dem transzendenten Moment des Intellekts (dem ersten Einen)zusammenfallen sollte30 Der Verfasser des anonymen Kommen-tars verwendet im Gegenteil unterschiedliche Ausdruumlcke um dieverschiedenen Tatsachen hervorzuheben Waumlhrend der TerminussbquoSeinlsquo dem ersten Einen als der Ursache oder der sbquoIdeelsquo des intelli-giblen Seienden vorbehalten ist soll das Wort sbquoExistenzlsquo das ersteMoment der reflexiven Bewegung des Intellekts oder des zweiten

200 Vaacutec l av N ěmec

27) Vgl z B Marius Victorinus Adv Ar 42318ndash34 (CSEL LXXXIIII 260)28) Vgl z B Marius Victorinus Adv Ar 464ndash7 (CSEL LXXXIIII 231ndash

232) 489ndash30 (CSEL LXXXIIII 235ndash236) 42126ndash28 (CSEL LXXXIIII 257)29) Vgl Anon in Parm 91ndash1011 (Linguiti 118ndash120)30) Darauf hat schon Andrew Smith hingewiesen Vgl ders Zπόστασις and

0παρξις in Porphyry in F Romano D P Taormina (Hrsg) Hyparxis e hyposta-sis nel neoplatonismo Firenze 1994 33ndash41 hier 41

Einen bezeichnen im Unterschied zum sbquoSeiendenlsquo das als Benen-nung fuumlr die ganze Hypostase dient Im anonymen Kommentarfindet man auch kein Anzeichen fuumlr das Prinzip eines wechsel -seitigen Ineinanderseins (und des Vorherrschens) von Existenz Leben und Denken das eine zentrale Rolle in Adversus Arium 1b3 und 4 ndash und im spaumlteren Neuplatonismus uumlberhaupt ndash spielt

Dialektik der negativen und affirmativen Theologie

Auch die ganze Problematik der sbquoInkommensurabilitaumltlsquo bzwsbquoKommensurabilitaumltlsquo des ersten Einen mit dem zweiten Einen be-handelt der Verfasser des Kommentars anders als Marius Victori-nus in Adversus Arium 1b31 Dem Kommentator zufolge zeigt sichdas Goumlttliche bdquounter dem einen Gesichtspunktldquo (κατF -λλο bzwκατ7 τν πρώτην δέαν) d h bdquoes selbst in sich selbst gesehenldquo alsdas einfache Eine das bdquonicht ausgesprochen und gedacht werdenkannldquo bdquounter dem anderen Gesichtspunktldquo (κατF -λλο) hingegenwird es als der in sich durch Reflexion differenzierte Intellekt be-trachtet der sich in die Vielheit seiner Akte ndash Existenz Leben undDenken ndash hinein entfaltet Wie der Schluss des sechsten Fragmentsbezeugt entsprechen diese zwei Gesichtspunkte der ersten und derzweiten Hypothese des Parmenides Trotz der sbquoontologischen Dif-ferenzlsquo zwischen dem ersten Einen und dem Intellekt (dem zwei-ten Einen) die in den vorausgehenden Fragmenten immer wiederemphatisch hervorgehoben wurde meint also der Kommentatordass sich beide Hypothesen auf eine einzige Gottheit beziehen diedas transzendente Eine und den reflexiven Intellekt als ihre zweiSchichten oder Momente einschlieszligt Der Verfasser des Kommen-tars scheint also die beiden Hypothesen als eine Art sbquodialektischelsquoTheologie zu verstehen die das Goumlttliche unter zwei verschiede-

201Die Theorie des goumlttlichen Selbstbewusstseins im Parmenides-Kommentar

31) Die Dialektik der sbquoInkommensurabilitaumltlsquo (bdquolrsquoincoordinationldquo) und sbquoKom-mensurabilitaumltlsquo (bdquola coordinationldquo) des Einen betrachtet Hadot als einen der Haupt -zuumlge der sbquoporphyrianischen Metaphysiklsquo Entsprechend seiner Hypothese dass derVerfasser des anonymen Kommentars Porphyrios sei den er zugleich fuumlr die grie-chische Quelle haumllt aus der Marius Victorinus geschoumlpft hat meint er dass der an -onyme Parmenides-Kommentar und die theologischen Schriften des Marius Victo-rinus ndash insbesondere Adversus Arium 1b ndash auch in diesem Punkt uumlbereinstimmenVgl Hadot La meacutetaphysique de Porphyre (wie Anm 2) 131 ff ders Porphyre etVictorinus (wie Anm 2) I 139ndash141 259ndash260

nen Aspekten zum Thema macht Vielleicht koumlnnte man auch uumlbereine Art sbquoDialektik der Kommensurabilitaumlt und Inkommensurabi-litaumltlsquo des Einen selbst sprechen insofern der Gesichtspunkt derzweiten Hypothese deren Gegenstand eigentlich der reflexive Intellekt ist zugleich eine neue Perspektive oumlffnet aus der sich das erste Eine in seiner Bezogenheit auf die differenzierten Aktedes Intellekts zeigt Erscheint das (erste) Eine unter dem ersten Gesichtspunkt als inkommensurabel und relationslos so dass manihm jedwede Beziehung zum Intellekt ndash sogar die der Andersheit ndashverweigern muss32 stellt es sich unter dem anderen Gesichtspunktder die Aufmerksamkeit auf das zweite Eine oder den Intellektlenkt zugleich als der einheitsstiftende Akt uumlber den differenzier-ten Akten des reflexiven Intellekts als der konstitutive Urgrundseines Selbstbewusstseins heraus Freilich ist Hadots Ansichtzuruumlckzuweisen die sbquodialektischelsquo Theologie des anonymen Kommentars sei mit dem entsprechenden Konzept in AdversusArium 1b identisch33 Die theologische Auffassung in AdversusArium 1b kann insofern als sbquodialektischlsquo bezeichnet werden als dasEine unter zwei verschiedenen Aspekten behandelt wird in sichund auf das von ihm Verursachte bezogen Das Eine zeigt sich soeinerseits als inkommensurabel und in seiner absoluten Differenz-losigkeit allen gegenstaumlndlichen Kategorien des menschlichenDenkens enthoben andererseits in Bezug darauf wessen Ursprunges ist als universale Ursache die selbst auf eine transzendente undpotenzielle Weise alles ist was aus ihr hervorgeht Waumlhrend unterdem Gesichtspunkt der negativen Theologie dem Einen u a SeinExistenz Leben und Denken abgesprochen wird erweist es sichunter dem Gesichtspunkt der affirmativen Theologie als erste Phase der Selbstkonstitution der goumlttlichen Substanz bzw des Intellekts und als erstes Glied der Dreiheit von sbquoSein ndash Leben ndashDenkenlsquo Als das Sein selbst enthaumllt es in sich auf transzendenteund potenzielle Weise die beiden anderen Glieder ndash Leben undDenken ndash und vereinigt sie in seiner unterschiedslosen Einheit ImVergleich mit dem anonymen Kommentar faumlllt nun auf dass beiVictorinus beide Gesichtspunkte den Methoden der negativen undaffirmativen Theologie entsprechen die ausschlieszliglich auf das ers -te Eine angewandt werden also auf das Eine der ersten Hypothese

202 Vaacutec l av N ěmec

32) Vgl Anon in Parm 31ndash35 (Linguiti 100ndash102)33) Vgl oben Anm 31

des Parmenides das mit Gottvater identifiziert wird Das zweiteEine d h das Eine der zweiten Hypothese das Victorinus demSohn gleichsetzt wird erst spaumlter zum Thema34 und ist nicht in dieDialektik der negativen und affirmativen Theologie einbezogenIm anonymen Kommentar hingegen entsprechen die beiden Ge-sichtspunkte der ersten und der zweiten Hypothese die das den reflexiven Intellekt (das zweite Eine) und seinen uumlber-reflexivenGrund (das erste Eine) umschlieszligende Goumlttliche in seinen beidenAspekten oder Schichten behandeln Obwohl also sowohl in Ad-versus Arium 1b als auch im anonymen Kommentar eine Art sbquoDia-lektik der Kommensurabilitaumlt und Inkommensurabilitaumltlsquo des Einenvorkommt geht es offensichtlich um zwei verschiedene Variantenderen Unterschiedlichkeit wieder die Differenzen zwischen denbeiden metaphysischen Konzepten klar hervortreten laumlsst35

Schlussfolgerungen

Gerade die erwaumlhnten Unterschiede verwischt nun Hadotum den Inhalt des sechsten Fragments mit seiner Hypothese inEinklang zu bringen dass der Verfasser des anonymen Kommen-tars (naumlmlich Porphyrios) mit der griechischen Quelle der theolo-gischen Schriften des Marius Victorinus identisch sei Dabei pro-

203Die Theorie des goumlttlichen Selbstbewusstseins im Parmenides-Kommentar

34) Marius Victorinus Adv Ar 15022 ff (CSEL LXXXIIII 145)35) Diese sbquoJuxtappositionlsquo oder sbquoDialektiklsquo der negativen und affirmativen

Theologie die das Goumlttliche aus zwei verschiedenen Perspektiven betrachtet wo-bei es sich bald als sbquoinkommensurabellsquo bald als sbquokommensurabellsquo zeigt geht wahr-scheinlich auf die mittelplatonische bzw neupythagoreische Tradition zuruumlck VglJ Mansfeld Compatible Alternatives Middle Platonists Theology and the Xeno -phanes Reception in R van den Broek T Baarda J Mansfeld (Hrsg) Know -ledge of God in the Graeco-Roman World Leiden 1988 92ndash117 Eudoros vonAlexandrien fuumlhrt die beiden Betrachtungsweisen mit aumlhnlichen Ausdruumlcken wieder Verfasser des anonymen Kommentars ein (κατ7 τν νωτάτω λόγον κατF -λλον τρόπον bzw κατ7 τν δεύτερον λόγον) Vgl Simplikios In Aristotelis Physica com-mentaria 15 (CAG IX 18110ndash30) Bei Eudoros geht es dennoch um die spezifischeProblematik der pythagoreischen Prinzipienlehre Er bemuumlht sich die sbquomonistischelsquound sbquodualistischelsquo pythagoreische Lehre zu versoumlhnen indem er das Eine einmal alsdas einzige uumlber alle Gegensaumltze erhabene Prinzip betrachtet einmal als ein Gliedder Grundpolaritaumlt sbquodas Eine ndash die unbestimmte Zweiheitlsquo In Adversus Arium 1bund im anonymen Parmenides-Kommentar wird hingegen dieselbe Methode aufdie Problematik der neuplatonischen houmlchsten Prinzipien angewandt ndash obgleich jeweils auf eine andere Art und Weise

jiziert er das Denkschema von Adversus Arium 1b in den Par-menides-Kommentar hinein und entstellt somit gewissermaszligen das hier enthaltene metaphysische Konzept36 Folglich wurde diebemerkenswerte Theorie des goumlttlichen Bewusstseins wie sie imsechsten Fragment dargelegt ist in ihrer Originalitaumlt bislang kaumuntersucht und nur unzureichend bewertet Auch legen die fest-gestellten Differenzen die Vermutung nahe dass der anonymeKommentar bzw sein Verfasser nicht die direkte Quelle des theo-logischen Werkes von Marius Victorinus ndash oder zumindest seinerSchrift Adversus Arium 1b ndash gewesen sein kann Die Unterschiedelassen sich auch nicht wegdiskutieren wenn man darauf hinweistdass der Kommentar uns nur fragmentarisch erhalten blieb oderVictorinus seine Quelle wesentlich umgedeutet haben koumlnnte um sie seinem christlich-theologischen Anliegen anzupassen Wieschon gezeigt sind mehrere Grundzuumlge der beiden metaphysi-schen Konzepte einfach nicht miteinander kompatibel Und gera-de manche Motive durch die sich das metaphysische Schema inAdversus Arium 1b von dem des anonymen Kommentars abhebtz B das Prinzip des Ineinanderseins (und des Vorherrschens) vonSein Leben und Denken begegnen uns wieder bei den spaumlterenNeuplatonikern freilich mit dem Unterschied dass diese sie aufdie niedrigeren Seinsstufen anwenden ohne das Eine mit einem derGlieder der Dreiheit zu identifizieren Der anonyme Kommentarduumlrfte so wohl auf etwas hindeuten das schon durch die Anwe-senheit verschiedener Varianten eines verwandten metaphysischenKonzepts in den theologischen Schriften des Marius Victorinusdie kaum auf eine einzige Quelle zuruumlckzufuumlhren sind angedeutetwird37 die Existenz einer ganzen Traditionslinie des spaumltantiken

204 Vaacutec l av N ěmec

36) Diese Kritik wird freilich geaumluszligert mit der wesentlichen Einschraumlnkungdass es gerade Hadots groszliges Verdienst war die Eigentuumlmlichkeit und Bedeutungder metaphysischen Lehre des anonymen Kommentars im Rahmen des spaumltantikenPlatonismus erkannt und sie zum ersten Mal detailliert und ndash mit den oben er-waumlhnten Ausnahmen ndash praumlzise rekonstruiert zu haben

37) Im theologischen Werk von Marius Victorinus lassen sich mindestensdrei (bzw vier wenn man auch Candidi epistola 1 dazu zaumlhlt) unterschiedliche Va-rianten eines verwandten metaphysischen Systems ausmachen die wahrscheinlichauf verschiedene Quellen zuruumlckgehen Dies versuchte ich in meinem Aufsatz Me-tafysickeacute systeacutemy v theologickeacutem diacutele Maria Victorina in V Hušek L Chvaacutetal J Plaacutetovaacute (Hrsg) Miscellanea patristica Brno 2007 37ndash71 nachzuweisen Vglauch meine Einleitung zur tschechischen Ausgabe des anonymen Parmenides-Kommentars Anonymniacute komentaacuteř k Platoacutenovu Parmenidovi Praha 2009 49ndash69

(Neu-)Platonismus die von der uns bekannten Hauptstroumlmungabweicht und in deren Rahmen verschiedene Versionen einer aumlhn-lichen metaphysischen Auffassung durchdacht wurden

Prag Vaacutec l av N ěmec

205Die Theorie des goumlttlichen Selbstbewusstseins im Parmenides-Kommentar

Page 6: DIE THEORIE DES GÖTTLICHEN SELBSTBEWUSSTSEINS ...Gnosticism and Later Platonism: Themes, Figures, and Texts, Atlanta 2000, 141–177; J.D.Turner, Sethian Gnosticism and the Platonic

βλέπων πότε 6νοται τ νοον τlt νοουμένB κα$ τί πότε ο δύ-ναται δDλον οEν τι α0τη νέργεια παρF κείνας παναβεβηκυαπάσαις κα$ χρωμένη ατας πάσαις Gς Hργάνοις πάντων φαπτομέ-νη κα$ κατ7 τ ατ κα$ ν οδεν$ οEσα 6κάστη μampν οEν τIν-λλων πρός τι πέπηγε κα$ κατ7 τ εδος πάντως ατlt κα$ κατ7 τνομα τέτακται α0τη δamp οδενός στι δι οδamp εδος οδamp νομα χει οδamp οσίαν ν οδεν$ γ7ρ κρατεται λλF οδamp μορφοται Kπό τινοςντως οEσα παθς κα$ ντως χώριστος 6αυτDς ο νόησις οEσα ονοητόν οκ οσία λλF πέκεινα πάντων κα$ πάντων ατία ltgtσύζυ-γος σπερ μampν τοίνυν ρασις μampν το κουστο οκ φάπτεται ltοδFκο το ρατοgt οδF μφότεραι το γευστο οδamp οδεν 6κάστη τι6τέρα στ$ν τDς 6τέρας οδF τι κουστν Cτερον το ρατο -λλη δFστ$ν δύναμις παναβεβηκυα τούτων L τατα διακρίνει κα$ τ τα-τν ατIν γιγνώσκει κα$ τ Cτερον κα$ τν οσίαν κα$ πάθος L κα$δύναται πασIν φάπτεσθαι χρDσθαι δamp ατας Gς Hργάνοις δι7 τκρείττονF εναι κα$ παναβεβηκέναι ατIν ο0τως κα$ δύναμις καθFLν ρM νος μ δυνάμενος

14 Fol 90r

εσελθεν ες 6αυτν 6τέρα Nν εOη τDς νοήσεως κα$ το νοουμένου πι-νοίP διαφέρουσα κα$ πέκεινα τούτων οEσα πρεσβείP κα$ δυνάμεικα$ ο0τως ν ν κα$ Qπλον ldquoτ ατ τοτοrdquo νεργείP 6αυτο διαφέρεικα$ Kπάρξει κα$ κατ7 -λλο -ρα Cν στιν Qπλον κατF -λλο δamp ατ6αυτο διαφέρει τ γ7ρ το 6νς διαφέρον οχ ν κα$ τ το QπλοCτερον οχ Qπλον ν μampν οEν στιν κα$ Qπλον κατ7 τν πρώτην κα$ldquoατ τοτοrdquo ατο τοαύτου δέαν δύναμις R τι κα$ χρ Hνομάζειννδείξεως ltχgtάριν -ρρητον οEσαν κα$ νεννόητον οχ ν δamp οδampQπλον κατ7 τν 0παρξιν κα$ ζων ltκα$gt τν νόησιν κα$ τ νοον κα$τ νοούμενον Kπάρξει τ δamp νοον Rν νο[ς μετε]ξ[έλθS] π τDςKπάρξεως ες τ νοον Tνα πανέλθS ες τ νοητν κα$ 6αυτν OδSστ$ν ζωή δι όριστος ltgt κατ7 τν ζωήν κα$ πασIν οσIν νερ-γειIν κα$ Gς κατ7 μampν τν 0παρξιν 6στIσα Nν εOη νέργεια κατ7 δampτν νόησιν ες αKτν στραφεσα νέργεια κατ7 δamp τν ζων κ τDςKπάρξεως κνεύσασα νέργεια κα$ κατ7 τοτο Cστηκεν Uμα κα$ κι-νεται κα$ ν 6αυτlt στιν κα$ ν -λλB κα$ λον στ$ν κα$ μέρη χεικα$ τατόν στι κα$ Cτερον κατ7 δamp ψιλν ατο τ ν κα$ οWον πρIτονκα$ ντως τ ν οXτε Cστηκεν οXτε κινεται οXτε τατόν στιν οXτε Cτε-ρον οXτε ν 6αυτlt στιν οXτε ν -λλB τι δamp οXτε νοούμενον οXτε νεργον οXτε ες 6αυτ οXτε ες -λλο 11

13 Fol 90v

er kann nicht in sich selbst hineingehen Wodurch denn sieht er sichselbst wie er in sich selbst nicht hineingehen kann wenn nicht durchdas Eine Und wodurch denn sieht er sich selbst in den er nicht hin-

190 Vaacutec l av N ěmec

11) Anon in Parm 131ndash1435 (Linguiti 128ndash134)

(10)

(15)

(20)

(25)

(30)

(35)

(5)

(10)

(15)

(20)

(25)

(30)

(35)

eingehen kann Und wer ist derjenige der die beiden als Identisches imgeteilten [Intellekt] beruumlhrt Wer ist derjenige der sagt das Denkendesei etwas anderes als das Gedachte Wer ist derjenige der sieht wanndas Denkende sich mit dem Gedachten vereinigt und wann es sich nichtvereinigen kann Offensichtlich ist es der Akt selbst der sich auszliger jenen [Akten] befindet der uumlber sie alle hinausgeht und der sie alle alsseine Organe gebraucht der Akt der alle anderen [Akte] als Identischesberuumlhrt und der in keinem [jener Akte] enthalten ist Jeder von [den anderen Akten] ist gewiss auf etwas fest gerichtet und dazu durchausgeordnet entsprechend seiner Gestalt und seinem Namen waumlh renddieser Akt zu nichts gehoumlrt deswegen hat er auch keine Gestalt keinenNamen und keine Seiendheit Er wird in keiner Hinsicht beherrscht erwird aber auch von nichts gestaltet da er wirklich unversehrt und wirk-lich ungetrennt von sich selbst bleibt und er ist weder das Denken nochdas Gedachte noch die Seiendheit aber er befindet sich jenseits von allem und ist die inkommensurable Ursache von allemGleich wie weder das Sehvermoumlgen das Houmlrbare erfasst noch dasGehoumlr das Sehbare noch die beiden das was gekostet werden kann undgleich wie keines dieser Sinnesvermoumlgen weiszlig dass es sich von einemanderen unterscheidet und dass das Houmlrbare etwas anderes als das Sehbare ist es aber ein Vermoumlgen gibt das uumlber diese Sinnesvermoumlgenhinausgeht das sie alle unterscheidet und ihre Selbigkeit und Anders-heit ihr Wesen und ihren Zustand erkennt und das sie alle beruumlhrenund als seine Organe gebrauchen kann weil es maumlchtiger als sie ist unduumlber sie hinausgeht so duumlrfte wohl auch das Vermoumlgen durch das derIntellekt sieht der

14 Fol 90r

in sich selbst nicht hineingehen kann ein anderes als das Denken unddas Gedachte sein da es sich durch seinen Begriff von beiden unter-scheidet und sich durch seine Wuumlrde und Macht jenseits von beiden befindetUnd so unterscheidet es sich von sich selbst durch den Akt und die Existenz und doch bleibt sbquoes selbstlsquo Eines und Einfaches und unterdem einen Gesichtspunkt ist es das einfache Eine unter dem anderenaber unterscheidet es sich von sich selbst Denn dasjenige das sich vomEinen unterscheidet ist nicht das Eine und dasjenige das anders als dasEinfache ist ist kein Einfaches Unter dem ersten Gesichtspunkt d hsbquoes selbstlsquo in sich selbst gesehen ist es also das Eine und Einfache dieMacht ndash oder wie soll man sie benennen um sie irgendwie zu bezeich-nen obwohl sie nicht ausgesprochen und gedacht werden kann ndashwaumlhrend es weder Eines noch ein Einfaches in Bezug auf die Existenzdas Leben und das Denken istIn Bezug auf die Existenz ist das Denkende zugleich das GedachteWenn aber der Intellekt aus der Existenz hervorgegangen und zumDenkenden geworden ist um zum Gedachten zuruumlckzukehren undsich selbst anzuschauen dann ist das Denkende das Leben Deswegenist [der Intellekt] in Bezug auf das Leben unbegrenzt Und da sie alle

191Die Theorie des goumlttlichen Selbstbewusstseins im Parmenides-Kommentar

Akte sind duumlrfte es sich wohl in Bezug auf die Existenz um einen ver-bleibenden Akt handeln in Bezug auf das Denken um einen zu sichselbst zuruumlckgekehrten Akt und in Bezug auf das Leben um einen Aktder von der Existenz abgewichen ist Und dementsprechend befindetes sich in Ruhe und zugleich in Bewegung in sich selbst und in einemanderen es ist Ganzes und hat Teile es ist dasselbe und ein anderesAber in Bezug darauf was an ihm das bloszlige Eine und gleichsam dasEine im primaumlren und wahrhaftigen Sinne ist befindet es sich weder inRuhe noch in Bewegung es ist weder dasselbe noch ein anderes wederin sich selbst noch in einem anderen Da es aber weder gedacht nochwirkend ist und zwar weder auf sich selbst noch auf ein anderes

III Interpretation

Der Intellekt der bdquonicht in sich selbst hineingehen kannldquo

Obwohl das Verstaumlndnis des ersten Abschnitts dadurch er-schwert wird dass der Anfang des ersten Satzes fehlt aus dem das Subjekt fuumlr die folgende Partizipialfuumlgung hervorgehen wuumlrdewird aus der Formulierung in den Zeilen 1335ndash141 (νος μ δυνά-μενος εσελθεν ες 6αυτYν) zumindest klar dass es sich um den Intellekt handeln muss Weiter ergibt sich aus dem Satz in den Zei-len 137ndash9 dass mit dem Intellekt der bdquonicht in sich selbst hinein-gehen kannldquo der Intellekt in einem Zustand gemeint ist in dem ersich als Denkender nicht mit sich selbst als dem Gedachten ver-einigen kann Unter dem Intellekt bdquoder in sich selbst hineingehenkannldquo duumlrfte hingegen ein Zustand zu verstehen sein in dem ersich als Denkender mit sich selbst als dem Gedachten vereinigtAus dem Text wird aber nicht besonders klar unter welchen Um-staumlnden ein Intellekt in einen Zustand geraten kann in dem erauszligerstande waumlre sich als Denkender mit sich selbst als dem Gedachten zu vereinigen Nach Pierre Hadot bezeichnet dieserAusdruck jenes transzendente Moment des Intellekts das der re-flexiven Erkenntnis vorausgeht und mit dem ersten Einen selbstzusammenfaumlllt12 Der Intellekt vermoumlchte in dieser Phase nicht insich selbst hineinzugehen weil er sich noch nicht in Denkendesund Gedachtes differenziert hat was als Grundvoraussetzung der

192 Vaacutec l av N ěmec

12) Vgl Hadot Porphyre et Victorinus (wie Anm 2) I 133ndash134 Dieser In-terpretation von Hadot schlieszligt sich auch Alessandro Linguiti an Vgl Linguiti (wieAnm 1) 193 ff

reflexiven Erkenntnis gelten darf Um durch die Bewegung desDenkens in sich selbst hineingehen zu koumlnnen muumlsste der Intellektzunaumlchst durch die Bewegung des Lebens aus sich selbst hervorge-hen und sich somit in die Vielheit seiner Akte entfalten was abererst auf der Ebene des reflexiven Intellekts oder des zweiten Einengeschieht Das erste Eine als der Intellekt der bdquonicht in sich selbsthineingehen kannldquo muumlsste sich folglich zuerst als reflexiver Intel-lekt konstituieren um sich selbst reflexiv erfassen zu koumlnnen

Dieser Interpretation widersprechen aber deutlich die For-mulierungen des Kommentators denen zufolge auch der Intellektbzw eines seiner Momente das bdquonicht in sich selbst hineingehenkannldquo durch jenes houmlhere Erkenntnisvermoumlgen gesehen wird dasdem Einen selbst gleichgesetzt wird (131ndash4 139) Der Intellekt indem Zustand in dem er bdquonicht in sich selbst hineingehen kannldquowird ausdruumlcklich als bdquoder geteilte Intellektldquo (136) bezeichnet derschon in sich selbst als in denjenigen in den er nicht hineingehenkann und denjenigen der nicht hineingehen kann differenziertwird (132ndash4) In diesem Intellekt ist also schon eine Unterschei-dung des Denkenden und des Gedachten vorausgesetzt (136ndash7)Die Wendung dass er bdquonicht hineingehen kannldquo bezeichnet gera-de den Zustand in dem dieser Denkende nicht imstande ist sichmit dem Gedachten zu vereinigen Das Eine wird hingegen als jener houmlhere Akt des Intellekts aufgefasst der die beiden Momentein ihrer Identitaumlt und Andersheit fasst und als solcher uumlber die bei-den Momente hinausgeht (134ndash5 1310ndash13) Nicht zuletzt sprichtgegen Hadots Deutung gerade die Tatsache dass der Intellekt(νος) als Subjekt der Partizipialkonstruktion μ δυνάμενος εσελ-θεν ες 6αυτYν zu vermuten ist Es ist wenig wahrscheinlich dassder Kommentator bereit waumlre das erste Eine ausdruumlcklich als sbquoIn-tellektlsquo zu bezeichnen Wenn Hadot bei seiner Interpretation dessechsten Fragments wiederholt zwei Intellekte (bdquoles deux Intelli-gencesldquo) bzw zwei Zustaumlnde des Intellekts (bdquoles deux eacutetats de lrsquoIntelligenceldquo) erwaumlhnt13 geht er von seiner Annahme aus wo-nach der bdquoIntellekt der nicht in sich selbst hineingehen kannldquo mitdem Einen identisch waumlre Diese Redeweise scheint aber demKommentator selbst fremd zu sein

Eine alternative Interpretation hat Gerard Bechtle vorge-schlagen Bechtle meint gerade umgekehrt der Intellekt der bdquonicht

193Die Theorie des goumlttlichen Selbstbewusstseins im Parmenides-Kommentar

13) Vgl Hadot Porphyre et Victorinus (wie Anm 2) I 133ndash138 II 107ndash113

hineingehen kannldquo sei mit dem reflexiven Intellekt identischwaumlhrend der Intellekt der bdquoin sich selbst hineingehen kannldquo mitdem (ersten) Einen selbst als der transzendenten Wurzel des re-flexiven Intellekts zusammenfalle14 Diese Deutung begegnet den-noch einer aumlhnlichen Schwierigkeit wie die oben skizzierte Inter-pretation Hadots In der Zeile 137ndash9 heiszligt es naumlmlich dass jenervereinigende Akt der mit dem Einen selbst identifiziert wird denIntellekt sowohl in dem Zustand bdquosiehtldquo in dem er bdquonicht hinein-gehen kannldquo als auch in dem Zustand in dem bdquodas Denkende sichmit dem Gedachten vereinigtldquo d h in dem er gerade bdquoin sich selbsthineingehtldquo Daraus ergibt sich dass dieser houmlhere Akt sich vonbeiden Zustaumlnden des Intellekts unterscheiden muss Es ist also offensichtlich dass mit dem bdquoIntellekt der nicht in sich selbst hineingehen kannldquo weder das Eine als transzendentes Moment desIntellekts noch der reflexive Intellekt als solcher gemeint sind Wasmag diese Formel dann bedeuten

Nach dem Ausklammern der beiden erwaumlhnten Interpreta-tionen bleibt grundsaumltzlich nur noch die Moumlglichkeit dass dieseFormel einen Zustand oder eine Phase des reflexiven Intellektsbzw einen seiner Akte bezeichnet Um welche Phase oder welchenAkt des reflexiven Intellekts es sich handelt wird durch den Satzin Zeile 1418ndash20 angedeutet bdquoWenn aber der Intellekt aus der Existenz hervorgegangen (μετε]ξ[έλθS) und zum Denkenden ge-worden ist um zum Gedachten zuruumlckzukehren (πανέλθS ες τνοητόν ndash woumlrtlich um ins Gedachte zuruumlckzugehen)15 und sichselbst anzuschauen dann ist das Denkende das Lebenldquo Es liegtnahe dass der bdquoIntellekt der nicht in sich selbst hineingehenkannldquo mit dem Leben als dem Akt des Intellekts identisch ist deraus der Existenz hervorgegangen ist oder genauer gesagt mit demin die Existenz und das Leben gespaltenen Intellekt sbquobevorlsquo erdurch die Ruumlckbewegung des Denkens zu sich selbst zuruumlckkehrtWaumlhrend die Existenz als bdquoder in Ruhe verbleibende Aktldquo denAusgangszustand des Intellekts darstellt in dem das Denkende mitdem Gedachten zusammenfaumlllt differenziert sich der Intellektdurch die Bewegung des Lebens in die Existenz als das Gedachte

194 Vaacutec l av N ěmec

14) Vgl Bechtle (wie Anm 3) 185ndash186 191ndash19615) Der Kommentator verwendet hier die Verba μετεξέρχομαι und πανέρ-

χομαι die aus derselben Wurzel wie εσέρχομαι gebildet sind wobei das πανέρχο-μαι wahrscheinlich mit dem εσέρχομαι synonym ist

und ins Leben als das Denkende wobei das Hervorgehen des Le-bens in die Ruumlckbewegung des Denkens wieder transformiert wer-den muss damit bdquodas Denkende zum Gedachten zuruumlckkehrtldquoErst in dieser Endphase der reflexiven Bewegung wird also der Zu-stand erlangt in dem das Denkende sich mit dem Gedachten wie-der vereinigt d h der bdquoIntellekt in sich selbst hineingehtldquo Es sindgerade diese Phasen oder Akte ndash Existenz Leben und Denken ndashdie das Eine als der Urakt des Intellekts bdquoin ihrer Identitaumlt und An-dersheit fasstldquo und als bdquoseine Organe gebrauchtldquo (1310ndash13) DasEine als die transzendente Wurzel des reflexiven Intellekts ist dieGrundvoraussetzung dafuumlr dass der reflexive Intellekt sich in jederPhase der Identitaumlt aller seiner Akte bewusst ist und dass er als der Denkende sich selbst als den Gedachten identifizieren kannauch wenn er in die verschiedenen Momente gespalten ist Das Einewird so als ein uumlber-reflexiver Akt begriffen der die Einheit undIdentitaumlt der verschiedenen Akte oder Momente des reflexiven In-tellekts garantiert und ihre gegenseitige Selbstidentifizierung er-moumlglicht Folglich ist es auch das Eine das gewaumlhrleistet dass derreflexive Intellekt bdquoin sich selbst hineingehen kannldquo

Vergleich mit dem Gemeinsinn

Diese Interpretation wird durch den folgenden Textabschnittbekraumlftigt in dem jenes houmlhere Vermoumlgen des Intellekts das mitdem Einen selbst zusammenfaumlllt mit dem aristotelischen sbquounter-scheidenden Sinnesvermoumlgenlsquo verglichen wird Hier lehnt sich derKommentator eng an eine Stelle aus dem dritten Buch De animaan16 wo Aristoteles die Frage aufwirft wie sich Unterschiede zwi-schen den verschiedenen Sinnesempfindungen feststellen lassen17

Bei der Loumlsung dieser Frage erlaumlutert Aristoteles dass jedes Sin-nesvermoumlgen sich jeweils auf die ihm zugehoumlrigen Wahrneh-mungsgegenstaumlnde oder Wahrnehmungsqualitaumlten bezieht aberkeinem das Wahrnehmbare fassbar ist fuumlr das die anderen Sinnezustaumlndig sind Demgemaumlszlig kann jeder Sinn zwar die Unterschiedezwischen den ihm zugehoumlrigen Wahrnehmungsgegenstaumlnden be-

195Die Theorie des goumlttlichen Selbstbewusstseins im Parmenides-Kommentar

16) Aristoteles De anima 426b8ndash2217) Vgl H-J Horn Studien zum dritten Buch der aristotelischen Schrift De

anima Goumlttingen 1994 39

urteilen keines der getrennten Sinnesvermoumlgen aber ist imstandedie Gegenstaumlnde quer durch mehrere Wahrnehmungsbereiche ndashz B das Weiszlige und das Suumlszlige ndash zu unterscheiden Da es sich aberimmer um Wahrnehmbares handelt muumlssen auch die Unterschie-de zwischen Wahrnehmungsgegenstaumlnden die in den Kompetenz-bereich verschiedener Sinne fallen durch ein Sinnesvermoumlgen fest-gestellt werden das von den uumlbrigen Sinnen abgegrenzt ist Gera-de dieses eigentuumlmliche Sinnesvermoumlgen nennt Aristoteles sbquodas unterscheidendelsquo (τ κρνον) Wenn es auch nirgends explizit ge-sagt wird scheint er dieses Vermoumlgen mit dem sbquogemeinsamen Sinnlsquo( κοιν αOσθησις) gleichzusetzen18 Diesem sbquogemeinsamen Sinnlsquoschreibt er weitere Funktionen zu wie etwa die Wahrnehmung sbquoge-meinsamer Wahrnehmungsgegenstaumlndelsquo die von mehreren Sinnenzugleich erfasst werden aber auch ein elementares Selbstbewusst-sein das jeden Wahrnehmungsakt begleitet (wie z B mein Sehaktvon dem Bewusstsein begleitet wird dass ich sehe)19

Gerade an diese Motive der aristotelischen Psychologie knuumlpftder Kommentator an mit der Parallele die er zwischen der Sinnes-wahrnehmung und dem Intellekt zieht Aumlhnlich wie die Sinnes -vermoumlgen ist auch der reflexive Intellekt in seine verschiedenen Momente oder Akte aufgespalten von denen jeder seine eigeneFunktion und seinen eigenen Kompetenzbereich besitzt weshalbaber auch keiner imstande ist sich auf die anderen Akte und auf dasvon ihnen Intendierte zu beziehen und sie in ihrer Andersheit undIdentitaumlt zu erkennen Deshalb muss es auch auf der Ebene des In-tellekts ein besonderes Vermoumlgen ndash aumlhnlich dem sbquounterscheidendenlsquooder sbquogemeinsamenlsquo Sinn ndash geben das von allen Vermoumlgen oder Ak-ten des reflexiven Intellekts verschieden ist und uumlber sie hinausgehtGenau wie der sensus communis ist es ein aktiver Keim des Intellektsder alle differenzierten Akte beruumlhrt sie als seine Organe gebrauchtund diese zugleich vereinigt und ihre Selbigkeit stiftet Und ebensowie der sbquogemeinsame Sinnlsquo muss dieser vereinigende Akt uumlber allenAkten ein einziger sein ja er faumlllt mit dem (ersten) Einen zusammen

196 Vaacutec l av N ěmec

18) Zum sbquogemeinsamen Sinnlsquo siehe z B Aristoteles De an 425a27 ZurGleichsetzung des sbquounterscheidenden Sinneslsquo mit dem sensus communis bei Aristo-teles vgl z B A-E Chaignet Essai sur la psychologie drsquoAristote Bruxelles 1966375 378ndash381 Diese Identifikation zieht allerdings D W Hamlyn in Zweifel VglAristotle De Anima Books II and III Translated with Introduction and Notes byD W Hamlyn Oxford 2002 128ndash129

19) Vgl Chaignet (wie Anm 18) 375ndash382

Der Vergleich mit dem sbquogemeinsamenlsquo Sinn wirft ein klaumlren-des Licht auf die vorausgehende Passage (131ndash23) Der Kommen-tator schreibt dem Einen in seinem Bezug auf die Akte des reflexi-ven Intellekts eine aumlhnliche Funktion zu wie sie der sensus com-munis als Organ des elementaren Selbstbewusstseins ausuumlbt dasdie Wahrnehmungsakte begleitet Das Eine begleitet die einzelnenAkte des reflexiven Intellekts und vereinigt sie so alle in sich selbstals in einem einzigen Zentrum Als dieses uumlber-reflexive und Ein-heit stiftende Moment bildet das Eine einen konstitutiven und er-moumlglichenden Grund des reflexiven Selbstbewusstseins des Intel-lekts Auf den ersten Blick scheint der Vergleich insoweit zu hin-ken als die Wahrnehmungsakte ausschlieszliglich auf die aumluszligeren Gegenstaumlnde gerichtet und im Prinzip nicht zu einem Selbstbezugfaumlhig sind waumlhrend durch die Akte des reflexiven Intellekts sichgerade der denkende Selbstbezug vollzieht in dem bdquoder Denkendesich mit dem Gedachten vereinigtldquo Der Kommentator scheintdennoch davon uumlberzeugt zu sein dass die differenzierten Akte desreflexiven Intellekts an sich auszligerstande sind diesen Selbstbezugzu bewirken und zu gewaumlhrleisten Die unabdingbare Grundbe-dingung der Moumlglichkeit des reflexiven Selbstbezuges wie er imdurch die Dreiheit der Akte strukturierten Intellekt realisiert wirdstellt gerade das mit dem Einen identifizierte houmlhere Vermoumlgenoder der vereinigende Akt dar der alle differenzierten Akte beglei-tet und ihre Einheit und Selbigkeit in der Vielheit und Andersheitgarantiert Das Selbstbewusstsein auf der Ebene des reflexiven Intellekts das sich durch die Dualitaumlt des Denkenden und des Gedachten auszeichnet ist so in einem houmlheren oder tieferen nicht-reflexiven oder uumlber-reflexiven Selbstbewusstsein gegruumlndet des-sen Quelle und Subjekt das transzendente Eine selbst ist

Das Eine und die Dreiheit von sbquoExistenz ndash Leben ndash Denkenlsquo

Aus dem Gesagten wird auch ersichtlich dass das Eine von allen Strukturmomenten oder Akten des reflexiven Intellekts ingleichem Maszlige verschieden sein muss und mit keinem von ihnenidentifiziert werden kann Aus diesem Grund ist auch die Inter-preta tion Hadots abzulehnen wonach das Eine schlieszliglich mitdem ersten Glied der Dreiheit von sbquoExistenz ndash Leben ndash Denkenlsquoidentisch sein soll Diese Auslegung gruumlndet sich auf die Annahme

197Die Theorie des goumlttlichen Selbstbewusstseins im Parmenides-Kommentar

die Existenz als einer der Akte des reflexiven Intellekts falle mitdem sbquoSeinlsquo zusammen das im fuumlnften Fragment mit dem Einenselbst gleichgesetzt wurde20 Diese Identifizierung des sbquoSeinslsquo mitder sbquoExistenzlsquo laumlsst sich aber in keinem der erhaltenen Fragmentedes Kommentars belegen und waumlre mit dessen metaphysischemKonzept auch kaum vereinbar Der eigentliche Grund fuumlr HadotsGleichsetzung dieser zwei Termini ist die Tatsache dass sie beidein den theologischen Schriften des Marius Victorinus ndash insbeson-dere in Adversus Arium 1b ndash zusammenzuflieszligen scheinen Geradein der genannten Schrift erhebt Marius Victorinus die Dreiheit vonsbquoSein (bzw Existenz) ndash Leben ndash Denkenlsquo zum zentralen konzeptu-ellen Modell fuumlr seine Eroumlrterung der Wesensgleichheit von VaterSohn und heiligem Geist Im Rahmen seiner Transponierung derchristlich-theologischen Problematik auf den Boden einer (neu-)platonischen metaphysischen Prinzipienlehre fasst Victorinus denGottvater als das transzendente bdquoEine ohne Existenzldquo (inexsisten-tialiter unum) auf dem durch die negative Theologie u a Sein Existenz Seiendes Substanz Denken abgesprochen werden21 dasaber von der affirmativen Theologie zugleich als bdquodreimaumlchtigerGeistldquo (tripotens spiritus) gepriesen wird der die Vermoumlgen desSeins des Lebens und des Denkens in sich einschlieszligt Unter die-sem Gesichtspunkt wird Gottvater primaumlr als das reine Sein (esse)betrachtet das in seiner transzendenten Einheit und Verborgenheitdas Leben und das Denken in ihrer potenziellen Praumlexistenz be-inhaltet22 Der Sohn und der Heilige Geist werden dann geradedem aktualisierten und geaumluszligerten Leben (vita) und Denken (in-

198 Vaacutec l av N ěmec

20) Vgl Hadot Porphyre et Victorinus (wie Anm 2) I 13321) Marius Victorinus Adversus Arium 1499ndash18 (CSEL LXXXIIII 143)

Ante omnia quae vere sunt unum fuit sive unalitas sive ipsum unum antequam sitei esse unum unum ante omnem exsistentiam ante omnem exsistentialitatem ante ipsum ν hoc enim unum ante ν ante omnem igitur essentitatem substantiamsubsistentiam et adhuc omnia quae potentiora unum sine exsistentia sine substan-tia sine intellegentia

22) Marius Victorinus Adv Ar 1501ndash15 (CSEL LXXXIIII 144ndash145) Hicest deus hic pater praeintellegentia praeexsistens et praeexsistentia tripotens inunalitate spiritus tres potentias couniens exsistentiam omnem vitam omnem etbeatitudinem sed ista omnia et unum et simplex unum et maxime in potentia eiusquod est esse hoc est exsistentiae potentia vitae et beatitudinis 1523ndash9 (CSELLXXXIIII 148) Deus potentia est istarum trium potentiarum exsistentiae vitaebeatitudinis hoc est eius quod est esse quod vivere quod intellegere Et quod estesse primum et secundum quod est esse secundum ipsum vivere et intellegere sineulla unitione sed simpliciter simplicitas et istud manifestum

tellegentia bzw sapientia beatitudo) gleichgesetzt die zugleich alszwei Phasen des bdquoHervorgehensldquo (progressio) und der bdquoRuumlckkehrldquo(regressus) begriffen werden durch die das zweite Eine ndash das bdquoEinein der Existenzldquo (exsistentialiter unum) ndash konstituiert wird23 SeinLeben und Denken zeigen sich so als die drei Phasen ndash VerharrenHervorgehen und Ruumlckkehr24 ndash in denen sich die goumlttliche Sub-stanz aus ihrer transzendenten Wurzel in die Vielheit und Anders-heit hinein entfaltet um die urspruumlngliche Selbigkeit mit ihremtranszendenten Grund wiederherzustellen und sich selbst als einreflexiv denkendes Wesen zu konstituieren25 Die substanzielleIdentitaumlt von Sein Leben und Denken wird dabei durch ihr ge-genseitiges Ineinandersein ermoumlglicht Jedes Glied impliziert diezwei anderen auf seine eigene Art und Weise Ihre Differenz ergibtsich dagegen daraus dass in jeder Phase jeweils ein Glied der Drei-heit uumlber die anderen herrscht und in den Vordergrund tritt26

Obwohl man eine konzeptuelle Verwandtschaft zwischenAdversus Arium 1b und dem anonymen Parmenides-Kommentarkaum bestreiten kann ndash diese besteht besonders darin dass in bei-den Texten das erste Eine mit dem reinen Sein identifiziert wirddas sich vom Seienden bzw dem seienden Einen abgrenzt und dassdie Dreiheit sbquoExistenz ndash Leben ndash Denkenlsquo eine zentrale Rolle beider Eroumlrterung der reflexiven Bewegung bzw der Konstitution desIntellekts spielt ndash sind auch einige wesentliche Unterschiede nichtzu verkennen Im anonymen Kommentar kann vor allem keineAnwendung der Dreiheit auf das erste Eine nachgewiesen werdenSein Verfasser setzt zwar das Eine dem reinen Sein gleich das alsreine Wirksamkeit verschieden ist vom substanziellen Seienden

199Die Theorie des goumlttlichen Selbstbewusstseins im Parmenides-Kommentar

23) Marius Victorinus Adv Ar 15110ndash27 (CSEL LXXXIIII 146ndash147)Potentia enim progrediente ista motio nusquam requiescens quippe vita quaesit infinita et ipsa in vivificatione veluti foris apparuit Vita autem filius vita mo-tio a vitali praeexsistentia vita exsistentia Ista igitur exsistentia totius exsistentiaeest vita et iuxta quod vita motus quasi femineam sortita est potentiam hoc quodconcupivit vivificare Sed quoniam ista motio una cum sit et vita est et sapien-tia vita conversa in sapientiam et magis in exsistentiam patricam magis autem retromotae motionis in patricam potentiam et ab ipso viltrgtificata vita recurrens in patrem vir effecta est Descensio enim vita ascensio sapientia Vgl auch 15220ndash35(CSEL LXXXIIII 148ndash149)

24) Marius Victorinus Hymnus 371ndash74 (CSEL LXXXIIII 297) Statusprogressio regressus o beata trinitas

25) Vgl Marius Victorinus Adv Ar 1577ndash21 (CSEL LXXXIIII 155ndash156)26) Vgl Hadot Porphyre et Victorinus (wie Anm 2) I 239ndash246

und er spricht dem Einen auch eine Art uumlber-reflexives Denken zunie aber wendet er die Dreiheit sbquoSein ndash Leben ndash Denkenlsquo auf das erste Eine an nicht einmal im Sinne einer potenziellen und uumlber-substanziellen Praumlexistenz (praeexsistentia ndash praeviventia ndash prae -intellegentia) wie es Victorinus in Adversus Arium 1b und imzweiten Teil von Adversus Arium 4 tut27 oder im Sinne der reinenAkte (esse ndash vivere ndash intellegere) wie es insbesondere im ersten Teilvon Adversus Arium 4 geschieht28 Die Dreiheit erscheint im Kom-mentar nur in substanzieller Form und bleibt der Ebene des Intel-lekts immanent Im fuumlnften Fragment kritisiert der Kommentatorsogar ausdruumlcklich die Chaldaumlischen Orakel oder ihre Auslegerweil sie der houmlchsten Gottheit eine trinitarische Struktur zuwei-sen29 Manche seiner Formulierungen erwecken dabei den Ein-druck dass er bei seiner Kritik ein aumlhnliches theologisches Kon-zept im Auge gehabt haben mochte wie es uns gerade in AdversusArium 1b begegnet Das Eine wird vom Kommentator keineswegsals Ausgangsglied der Dreiheit aufgefasst aus dem das Leben her-vorginge und zu dem das Denken zuruumlckkehrte wie es in Adver-sus Arium 1b begriffen wird Dementsprechend ist das Eine auchnicht sbquoder Gegenstandlsquo des Erkennens des zweiten Einen in demdas zweite Eine zugleich sich selbst in seiner potenziellen undtranszendenten Praumlexistenz erfasst sondern es ist der Akt der inallen drei Akten oder Momenten wirkt der ihre Einheit stiftet undzugleich uumlber sie hinausgeht Auch wenn der Kommentator dasEine mit dem Sein identifiziert setzt er nie das Sein mit der Exis -tenz gleich und nichts scheint davon zu zeugen dass die Existenzmit dem transzendenten Moment des Intellekts (dem ersten Einen)zusammenfallen sollte30 Der Verfasser des anonymen Kommen-tars verwendet im Gegenteil unterschiedliche Ausdruumlcke um dieverschiedenen Tatsachen hervorzuheben Waumlhrend der TerminussbquoSeinlsquo dem ersten Einen als der Ursache oder der sbquoIdeelsquo des intelli-giblen Seienden vorbehalten ist soll das Wort sbquoExistenzlsquo das ersteMoment der reflexiven Bewegung des Intellekts oder des zweiten

200 Vaacutec l av N ěmec

27) Vgl z B Marius Victorinus Adv Ar 42318ndash34 (CSEL LXXXIIII 260)28) Vgl z B Marius Victorinus Adv Ar 464ndash7 (CSEL LXXXIIII 231ndash

232) 489ndash30 (CSEL LXXXIIII 235ndash236) 42126ndash28 (CSEL LXXXIIII 257)29) Vgl Anon in Parm 91ndash1011 (Linguiti 118ndash120)30) Darauf hat schon Andrew Smith hingewiesen Vgl ders Zπόστασις and

0παρξις in Porphyry in F Romano D P Taormina (Hrsg) Hyparxis e hyposta-sis nel neoplatonismo Firenze 1994 33ndash41 hier 41

Einen bezeichnen im Unterschied zum sbquoSeiendenlsquo das als Benen-nung fuumlr die ganze Hypostase dient Im anonymen Kommentarfindet man auch kein Anzeichen fuumlr das Prinzip eines wechsel -seitigen Ineinanderseins (und des Vorherrschens) von Existenz Leben und Denken das eine zentrale Rolle in Adversus Arium 1b3 und 4 ndash und im spaumlteren Neuplatonismus uumlberhaupt ndash spielt

Dialektik der negativen und affirmativen Theologie

Auch die ganze Problematik der sbquoInkommensurabilitaumltlsquo bzwsbquoKommensurabilitaumltlsquo des ersten Einen mit dem zweiten Einen be-handelt der Verfasser des Kommentars anders als Marius Victori-nus in Adversus Arium 1b31 Dem Kommentator zufolge zeigt sichdas Goumlttliche bdquounter dem einen Gesichtspunktldquo (κατF -λλο bzwκατ7 τν πρώτην δέαν) d h bdquoes selbst in sich selbst gesehenldquo alsdas einfache Eine das bdquonicht ausgesprochen und gedacht werdenkannldquo bdquounter dem anderen Gesichtspunktldquo (κατF -λλο) hingegenwird es als der in sich durch Reflexion differenzierte Intellekt be-trachtet der sich in die Vielheit seiner Akte ndash Existenz Leben undDenken ndash hinein entfaltet Wie der Schluss des sechsten Fragmentsbezeugt entsprechen diese zwei Gesichtspunkte der ersten und derzweiten Hypothese des Parmenides Trotz der sbquoontologischen Dif-ferenzlsquo zwischen dem ersten Einen und dem Intellekt (dem zwei-ten Einen) die in den vorausgehenden Fragmenten immer wiederemphatisch hervorgehoben wurde meint also der Kommentatordass sich beide Hypothesen auf eine einzige Gottheit beziehen diedas transzendente Eine und den reflexiven Intellekt als ihre zweiSchichten oder Momente einschlieszligt Der Verfasser des Kommen-tars scheint also die beiden Hypothesen als eine Art sbquodialektischelsquoTheologie zu verstehen die das Goumlttliche unter zwei verschiede-

201Die Theorie des goumlttlichen Selbstbewusstseins im Parmenides-Kommentar

31) Die Dialektik der sbquoInkommensurabilitaumltlsquo (bdquolrsquoincoordinationldquo) und sbquoKom-mensurabilitaumltlsquo (bdquola coordinationldquo) des Einen betrachtet Hadot als einen der Haupt -zuumlge der sbquoporphyrianischen Metaphysiklsquo Entsprechend seiner Hypothese dass derVerfasser des anonymen Kommentars Porphyrios sei den er zugleich fuumlr die grie-chische Quelle haumllt aus der Marius Victorinus geschoumlpft hat meint er dass der an -onyme Parmenides-Kommentar und die theologischen Schriften des Marius Victo-rinus ndash insbesondere Adversus Arium 1b ndash auch in diesem Punkt uumlbereinstimmenVgl Hadot La meacutetaphysique de Porphyre (wie Anm 2) 131 ff ders Porphyre etVictorinus (wie Anm 2) I 139ndash141 259ndash260

nen Aspekten zum Thema macht Vielleicht koumlnnte man auch uumlbereine Art sbquoDialektik der Kommensurabilitaumlt und Inkommensurabi-litaumltlsquo des Einen selbst sprechen insofern der Gesichtspunkt derzweiten Hypothese deren Gegenstand eigentlich der reflexive Intellekt ist zugleich eine neue Perspektive oumlffnet aus der sich das erste Eine in seiner Bezogenheit auf die differenzierten Aktedes Intellekts zeigt Erscheint das (erste) Eine unter dem ersten Gesichtspunkt als inkommensurabel und relationslos so dass manihm jedwede Beziehung zum Intellekt ndash sogar die der Andersheit ndashverweigern muss32 stellt es sich unter dem anderen Gesichtspunktder die Aufmerksamkeit auf das zweite Eine oder den Intellektlenkt zugleich als der einheitsstiftende Akt uumlber den differenzier-ten Akten des reflexiven Intellekts als der konstitutive Urgrundseines Selbstbewusstseins heraus Freilich ist Hadots Ansichtzuruumlckzuweisen die sbquodialektischelsquo Theologie des anonymen Kommentars sei mit dem entsprechenden Konzept in AdversusArium 1b identisch33 Die theologische Auffassung in AdversusArium 1b kann insofern als sbquodialektischlsquo bezeichnet werden als dasEine unter zwei verschiedenen Aspekten behandelt wird in sichund auf das von ihm Verursachte bezogen Das Eine zeigt sich soeinerseits als inkommensurabel und in seiner absoluten Differenz-losigkeit allen gegenstaumlndlichen Kategorien des menschlichenDenkens enthoben andererseits in Bezug darauf wessen Ursprunges ist als universale Ursache die selbst auf eine transzendente undpotenzielle Weise alles ist was aus ihr hervorgeht Waumlhrend unterdem Gesichtspunkt der negativen Theologie dem Einen u a SeinExistenz Leben und Denken abgesprochen wird erweist es sichunter dem Gesichtspunkt der affirmativen Theologie als erste Phase der Selbstkonstitution der goumlttlichen Substanz bzw des Intellekts und als erstes Glied der Dreiheit von sbquoSein ndash Leben ndashDenkenlsquo Als das Sein selbst enthaumllt es in sich auf transzendenteund potenzielle Weise die beiden anderen Glieder ndash Leben undDenken ndash und vereinigt sie in seiner unterschiedslosen Einheit ImVergleich mit dem anonymen Kommentar faumlllt nun auf dass beiVictorinus beide Gesichtspunkte den Methoden der negativen undaffirmativen Theologie entsprechen die ausschlieszliglich auf das ers -te Eine angewandt werden also auf das Eine der ersten Hypothese

202 Vaacutec l av N ěmec

32) Vgl Anon in Parm 31ndash35 (Linguiti 100ndash102)33) Vgl oben Anm 31

des Parmenides das mit Gottvater identifiziert wird Das zweiteEine d h das Eine der zweiten Hypothese das Victorinus demSohn gleichsetzt wird erst spaumlter zum Thema34 und ist nicht in dieDialektik der negativen und affirmativen Theologie einbezogenIm anonymen Kommentar hingegen entsprechen die beiden Ge-sichtspunkte der ersten und der zweiten Hypothese die das den reflexiven Intellekt (das zweite Eine) und seinen uumlber-reflexivenGrund (das erste Eine) umschlieszligende Goumlttliche in seinen beidenAspekten oder Schichten behandeln Obwohl also sowohl in Ad-versus Arium 1b als auch im anonymen Kommentar eine Art sbquoDia-lektik der Kommensurabilitaumlt und Inkommensurabilitaumltlsquo des Einenvorkommt geht es offensichtlich um zwei verschiedene Variantenderen Unterschiedlichkeit wieder die Differenzen zwischen denbeiden metaphysischen Konzepten klar hervortreten laumlsst35

Schlussfolgerungen

Gerade die erwaumlhnten Unterschiede verwischt nun Hadotum den Inhalt des sechsten Fragments mit seiner Hypothese inEinklang zu bringen dass der Verfasser des anonymen Kommen-tars (naumlmlich Porphyrios) mit der griechischen Quelle der theolo-gischen Schriften des Marius Victorinus identisch sei Dabei pro-

203Die Theorie des goumlttlichen Selbstbewusstseins im Parmenides-Kommentar

34) Marius Victorinus Adv Ar 15022 ff (CSEL LXXXIIII 145)35) Diese sbquoJuxtappositionlsquo oder sbquoDialektiklsquo der negativen und affirmativen

Theologie die das Goumlttliche aus zwei verschiedenen Perspektiven betrachtet wo-bei es sich bald als sbquoinkommensurabellsquo bald als sbquokommensurabellsquo zeigt geht wahr-scheinlich auf die mittelplatonische bzw neupythagoreische Tradition zuruumlck VglJ Mansfeld Compatible Alternatives Middle Platonists Theology and the Xeno -phanes Reception in R van den Broek T Baarda J Mansfeld (Hrsg) Know -ledge of God in the Graeco-Roman World Leiden 1988 92ndash117 Eudoros vonAlexandrien fuumlhrt die beiden Betrachtungsweisen mit aumlhnlichen Ausdruumlcken wieder Verfasser des anonymen Kommentars ein (κατ7 τν νωτάτω λόγον κατF -λλον τρόπον bzw κατ7 τν δεύτερον λόγον) Vgl Simplikios In Aristotelis Physica com-mentaria 15 (CAG IX 18110ndash30) Bei Eudoros geht es dennoch um die spezifischeProblematik der pythagoreischen Prinzipienlehre Er bemuumlht sich die sbquomonistischelsquound sbquodualistischelsquo pythagoreische Lehre zu versoumlhnen indem er das Eine einmal alsdas einzige uumlber alle Gegensaumltze erhabene Prinzip betrachtet einmal als ein Gliedder Grundpolaritaumlt sbquodas Eine ndash die unbestimmte Zweiheitlsquo In Adversus Arium 1bund im anonymen Parmenides-Kommentar wird hingegen dieselbe Methode aufdie Problematik der neuplatonischen houmlchsten Prinzipien angewandt ndash obgleich jeweils auf eine andere Art und Weise

jiziert er das Denkschema von Adversus Arium 1b in den Par-menides-Kommentar hinein und entstellt somit gewissermaszligen das hier enthaltene metaphysische Konzept36 Folglich wurde diebemerkenswerte Theorie des goumlttlichen Bewusstseins wie sie imsechsten Fragment dargelegt ist in ihrer Originalitaumlt bislang kaumuntersucht und nur unzureichend bewertet Auch legen die fest-gestellten Differenzen die Vermutung nahe dass der anonymeKommentar bzw sein Verfasser nicht die direkte Quelle des theo-logischen Werkes von Marius Victorinus ndash oder zumindest seinerSchrift Adversus Arium 1b ndash gewesen sein kann Die Unterschiedelassen sich auch nicht wegdiskutieren wenn man darauf hinweistdass der Kommentar uns nur fragmentarisch erhalten blieb oderVictorinus seine Quelle wesentlich umgedeutet haben koumlnnte um sie seinem christlich-theologischen Anliegen anzupassen Wieschon gezeigt sind mehrere Grundzuumlge der beiden metaphysi-schen Konzepte einfach nicht miteinander kompatibel Und gera-de manche Motive durch die sich das metaphysische Schema inAdversus Arium 1b von dem des anonymen Kommentars abhebtz B das Prinzip des Ineinanderseins (und des Vorherrschens) vonSein Leben und Denken begegnen uns wieder bei den spaumlterenNeuplatonikern freilich mit dem Unterschied dass diese sie aufdie niedrigeren Seinsstufen anwenden ohne das Eine mit einem derGlieder der Dreiheit zu identifizieren Der anonyme Kommentarduumlrfte so wohl auf etwas hindeuten das schon durch die Anwe-senheit verschiedener Varianten eines verwandten metaphysischenKonzepts in den theologischen Schriften des Marius Victorinusdie kaum auf eine einzige Quelle zuruumlckzufuumlhren sind angedeutetwird37 die Existenz einer ganzen Traditionslinie des spaumltantiken

204 Vaacutec l av N ěmec

36) Diese Kritik wird freilich geaumluszligert mit der wesentlichen Einschraumlnkungdass es gerade Hadots groszliges Verdienst war die Eigentuumlmlichkeit und Bedeutungder metaphysischen Lehre des anonymen Kommentars im Rahmen des spaumltantikenPlatonismus erkannt und sie zum ersten Mal detailliert und ndash mit den oben er-waumlhnten Ausnahmen ndash praumlzise rekonstruiert zu haben

37) Im theologischen Werk von Marius Victorinus lassen sich mindestensdrei (bzw vier wenn man auch Candidi epistola 1 dazu zaumlhlt) unterschiedliche Va-rianten eines verwandten metaphysischen Systems ausmachen die wahrscheinlichauf verschiedene Quellen zuruumlckgehen Dies versuchte ich in meinem Aufsatz Me-tafysickeacute systeacutemy v theologickeacutem diacutele Maria Victorina in V Hušek L Chvaacutetal J Plaacutetovaacute (Hrsg) Miscellanea patristica Brno 2007 37ndash71 nachzuweisen Vglauch meine Einleitung zur tschechischen Ausgabe des anonymen Parmenides-Kommentars Anonymniacute komentaacuteř k Platoacutenovu Parmenidovi Praha 2009 49ndash69

(Neu-)Platonismus die von der uns bekannten Hauptstroumlmungabweicht und in deren Rahmen verschiedene Versionen einer aumlhn-lichen metaphysischen Auffassung durchdacht wurden

Prag Vaacutec l av N ěmec

205Die Theorie des goumlttlichen Selbstbewusstseins im Parmenides-Kommentar

Page 7: DIE THEORIE DES GÖTTLICHEN SELBSTBEWUSSTSEINS ...Gnosticism and Later Platonism: Themes, Figures, and Texts, Atlanta 2000, 141–177; J.D.Turner, Sethian Gnosticism and the Platonic

eingehen kann Und wer ist derjenige der die beiden als Identisches imgeteilten [Intellekt] beruumlhrt Wer ist derjenige der sagt das Denkendesei etwas anderes als das Gedachte Wer ist derjenige der sieht wanndas Denkende sich mit dem Gedachten vereinigt und wann es sich nichtvereinigen kann Offensichtlich ist es der Akt selbst der sich auszliger jenen [Akten] befindet der uumlber sie alle hinausgeht und der sie alle alsseine Organe gebraucht der Akt der alle anderen [Akte] als Identischesberuumlhrt und der in keinem [jener Akte] enthalten ist Jeder von [den anderen Akten] ist gewiss auf etwas fest gerichtet und dazu durchausgeordnet entsprechend seiner Gestalt und seinem Namen waumlh renddieser Akt zu nichts gehoumlrt deswegen hat er auch keine Gestalt keinenNamen und keine Seiendheit Er wird in keiner Hinsicht beherrscht erwird aber auch von nichts gestaltet da er wirklich unversehrt und wirk-lich ungetrennt von sich selbst bleibt und er ist weder das Denken nochdas Gedachte noch die Seiendheit aber er befindet sich jenseits von allem und ist die inkommensurable Ursache von allemGleich wie weder das Sehvermoumlgen das Houmlrbare erfasst noch dasGehoumlr das Sehbare noch die beiden das was gekostet werden kann undgleich wie keines dieser Sinnesvermoumlgen weiszlig dass es sich von einemanderen unterscheidet und dass das Houmlrbare etwas anderes als das Sehbare ist es aber ein Vermoumlgen gibt das uumlber diese Sinnesvermoumlgenhinausgeht das sie alle unterscheidet und ihre Selbigkeit und Anders-heit ihr Wesen und ihren Zustand erkennt und das sie alle beruumlhrenund als seine Organe gebrauchen kann weil es maumlchtiger als sie ist unduumlber sie hinausgeht so duumlrfte wohl auch das Vermoumlgen durch das derIntellekt sieht der

14 Fol 90r

in sich selbst nicht hineingehen kann ein anderes als das Denken unddas Gedachte sein da es sich durch seinen Begriff von beiden unter-scheidet und sich durch seine Wuumlrde und Macht jenseits von beiden befindetUnd so unterscheidet es sich von sich selbst durch den Akt und die Existenz und doch bleibt sbquoes selbstlsquo Eines und Einfaches und unterdem einen Gesichtspunkt ist es das einfache Eine unter dem anderenaber unterscheidet es sich von sich selbst Denn dasjenige das sich vomEinen unterscheidet ist nicht das Eine und dasjenige das anders als dasEinfache ist ist kein Einfaches Unter dem ersten Gesichtspunkt d hsbquoes selbstlsquo in sich selbst gesehen ist es also das Eine und Einfache dieMacht ndash oder wie soll man sie benennen um sie irgendwie zu bezeich-nen obwohl sie nicht ausgesprochen und gedacht werden kann ndashwaumlhrend es weder Eines noch ein Einfaches in Bezug auf die Existenzdas Leben und das Denken istIn Bezug auf die Existenz ist das Denkende zugleich das GedachteWenn aber der Intellekt aus der Existenz hervorgegangen und zumDenkenden geworden ist um zum Gedachten zuruumlckzukehren undsich selbst anzuschauen dann ist das Denkende das Leben Deswegenist [der Intellekt] in Bezug auf das Leben unbegrenzt Und da sie alle

191Die Theorie des goumlttlichen Selbstbewusstseins im Parmenides-Kommentar

Akte sind duumlrfte es sich wohl in Bezug auf die Existenz um einen ver-bleibenden Akt handeln in Bezug auf das Denken um einen zu sichselbst zuruumlckgekehrten Akt und in Bezug auf das Leben um einen Aktder von der Existenz abgewichen ist Und dementsprechend befindetes sich in Ruhe und zugleich in Bewegung in sich selbst und in einemanderen es ist Ganzes und hat Teile es ist dasselbe und ein anderesAber in Bezug darauf was an ihm das bloszlige Eine und gleichsam dasEine im primaumlren und wahrhaftigen Sinne ist befindet es sich weder inRuhe noch in Bewegung es ist weder dasselbe noch ein anderes wederin sich selbst noch in einem anderen Da es aber weder gedacht nochwirkend ist und zwar weder auf sich selbst noch auf ein anderes

III Interpretation

Der Intellekt der bdquonicht in sich selbst hineingehen kannldquo

Obwohl das Verstaumlndnis des ersten Abschnitts dadurch er-schwert wird dass der Anfang des ersten Satzes fehlt aus dem das Subjekt fuumlr die folgende Partizipialfuumlgung hervorgehen wuumlrdewird aus der Formulierung in den Zeilen 1335ndash141 (νος μ δυνά-μενος εσελθεν ες 6αυτYν) zumindest klar dass es sich um den Intellekt handeln muss Weiter ergibt sich aus dem Satz in den Zei-len 137ndash9 dass mit dem Intellekt der bdquonicht in sich selbst hinein-gehen kannldquo der Intellekt in einem Zustand gemeint ist in dem ersich als Denkender nicht mit sich selbst als dem Gedachten ver-einigen kann Unter dem Intellekt bdquoder in sich selbst hineingehenkannldquo duumlrfte hingegen ein Zustand zu verstehen sein in dem ersich als Denkender mit sich selbst als dem Gedachten vereinigtAus dem Text wird aber nicht besonders klar unter welchen Um-staumlnden ein Intellekt in einen Zustand geraten kann in dem erauszligerstande waumlre sich als Denkender mit sich selbst als dem Gedachten zu vereinigen Nach Pierre Hadot bezeichnet dieserAusdruck jenes transzendente Moment des Intellekts das der re-flexiven Erkenntnis vorausgeht und mit dem ersten Einen selbstzusammenfaumlllt12 Der Intellekt vermoumlchte in dieser Phase nicht insich selbst hineinzugehen weil er sich noch nicht in Denkendesund Gedachtes differenziert hat was als Grundvoraussetzung der

192 Vaacutec l av N ěmec

12) Vgl Hadot Porphyre et Victorinus (wie Anm 2) I 133ndash134 Dieser In-terpretation von Hadot schlieszligt sich auch Alessandro Linguiti an Vgl Linguiti (wieAnm 1) 193 ff

reflexiven Erkenntnis gelten darf Um durch die Bewegung desDenkens in sich selbst hineingehen zu koumlnnen muumlsste der Intellektzunaumlchst durch die Bewegung des Lebens aus sich selbst hervorge-hen und sich somit in die Vielheit seiner Akte entfalten was abererst auf der Ebene des reflexiven Intellekts oder des zweiten Einengeschieht Das erste Eine als der Intellekt der bdquonicht in sich selbsthineingehen kannldquo muumlsste sich folglich zuerst als reflexiver Intel-lekt konstituieren um sich selbst reflexiv erfassen zu koumlnnen

Dieser Interpretation widersprechen aber deutlich die For-mulierungen des Kommentators denen zufolge auch der Intellektbzw eines seiner Momente das bdquonicht in sich selbst hineingehenkannldquo durch jenes houmlhere Erkenntnisvermoumlgen gesehen wird dasdem Einen selbst gleichgesetzt wird (131ndash4 139) Der Intellekt indem Zustand in dem er bdquonicht in sich selbst hineingehen kannldquowird ausdruumlcklich als bdquoder geteilte Intellektldquo (136) bezeichnet derschon in sich selbst als in denjenigen in den er nicht hineingehenkann und denjenigen der nicht hineingehen kann differenziertwird (132ndash4) In diesem Intellekt ist also schon eine Unterschei-dung des Denkenden und des Gedachten vorausgesetzt (136ndash7)Die Wendung dass er bdquonicht hineingehen kannldquo bezeichnet gera-de den Zustand in dem dieser Denkende nicht imstande ist sichmit dem Gedachten zu vereinigen Das Eine wird hingegen als jener houmlhere Akt des Intellekts aufgefasst der die beiden Momentein ihrer Identitaumlt und Andersheit fasst und als solcher uumlber die bei-den Momente hinausgeht (134ndash5 1310ndash13) Nicht zuletzt sprichtgegen Hadots Deutung gerade die Tatsache dass der Intellekt(νος) als Subjekt der Partizipialkonstruktion μ δυνάμενος εσελ-θεν ες 6αυτYν zu vermuten ist Es ist wenig wahrscheinlich dassder Kommentator bereit waumlre das erste Eine ausdruumlcklich als sbquoIn-tellektlsquo zu bezeichnen Wenn Hadot bei seiner Interpretation dessechsten Fragments wiederholt zwei Intellekte (bdquoles deux Intelli-gencesldquo) bzw zwei Zustaumlnde des Intellekts (bdquoles deux eacutetats de lrsquoIntelligenceldquo) erwaumlhnt13 geht er von seiner Annahme aus wo-nach der bdquoIntellekt der nicht in sich selbst hineingehen kannldquo mitdem Einen identisch waumlre Diese Redeweise scheint aber demKommentator selbst fremd zu sein

Eine alternative Interpretation hat Gerard Bechtle vorge-schlagen Bechtle meint gerade umgekehrt der Intellekt der bdquonicht

193Die Theorie des goumlttlichen Selbstbewusstseins im Parmenides-Kommentar

13) Vgl Hadot Porphyre et Victorinus (wie Anm 2) I 133ndash138 II 107ndash113

hineingehen kannldquo sei mit dem reflexiven Intellekt identischwaumlhrend der Intellekt der bdquoin sich selbst hineingehen kannldquo mitdem (ersten) Einen selbst als der transzendenten Wurzel des re-flexiven Intellekts zusammenfalle14 Diese Deutung begegnet den-noch einer aumlhnlichen Schwierigkeit wie die oben skizzierte Inter-pretation Hadots In der Zeile 137ndash9 heiszligt es naumlmlich dass jenervereinigende Akt der mit dem Einen selbst identifiziert wird denIntellekt sowohl in dem Zustand bdquosiehtldquo in dem er bdquonicht hinein-gehen kannldquo als auch in dem Zustand in dem bdquodas Denkende sichmit dem Gedachten vereinigtldquo d h in dem er gerade bdquoin sich selbsthineingehtldquo Daraus ergibt sich dass dieser houmlhere Akt sich vonbeiden Zustaumlnden des Intellekts unterscheiden muss Es ist also offensichtlich dass mit dem bdquoIntellekt der nicht in sich selbst hineingehen kannldquo weder das Eine als transzendentes Moment desIntellekts noch der reflexive Intellekt als solcher gemeint sind Wasmag diese Formel dann bedeuten

Nach dem Ausklammern der beiden erwaumlhnten Interpreta-tionen bleibt grundsaumltzlich nur noch die Moumlglichkeit dass dieseFormel einen Zustand oder eine Phase des reflexiven Intellektsbzw einen seiner Akte bezeichnet Um welche Phase oder welchenAkt des reflexiven Intellekts es sich handelt wird durch den Satzin Zeile 1418ndash20 angedeutet bdquoWenn aber der Intellekt aus der Existenz hervorgegangen (μετε]ξ[έλθS) und zum Denkenden ge-worden ist um zum Gedachten zuruumlckzukehren (πανέλθS ες τνοητόν ndash woumlrtlich um ins Gedachte zuruumlckzugehen)15 und sichselbst anzuschauen dann ist das Denkende das Lebenldquo Es liegtnahe dass der bdquoIntellekt der nicht in sich selbst hineingehenkannldquo mit dem Leben als dem Akt des Intellekts identisch ist deraus der Existenz hervorgegangen ist oder genauer gesagt mit demin die Existenz und das Leben gespaltenen Intellekt sbquobevorlsquo erdurch die Ruumlckbewegung des Denkens zu sich selbst zuruumlckkehrtWaumlhrend die Existenz als bdquoder in Ruhe verbleibende Aktldquo denAusgangszustand des Intellekts darstellt in dem das Denkende mitdem Gedachten zusammenfaumlllt differenziert sich der Intellektdurch die Bewegung des Lebens in die Existenz als das Gedachte

194 Vaacutec l av N ěmec

14) Vgl Bechtle (wie Anm 3) 185ndash186 191ndash19615) Der Kommentator verwendet hier die Verba μετεξέρχομαι und πανέρ-

χομαι die aus derselben Wurzel wie εσέρχομαι gebildet sind wobei das πανέρχο-μαι wahrscheinlich mit dem εσέρχομαι synonym ist

und ins Leben als das Denkende wobei das Hervorgehen des Le-bens in die Ruumlckbewegung des Denkens wieder transformiert wer-den muss damit bdquodas Denkende zum Gedachten zuruumlckkehrtldquoErst in dieser Endphase der reflexiven Bewegung wird also der Zu-stand erlangt in dem das Denkende sich mit dem Gedachten wie-der vereinigt d h der bdquoIntellekt in sich selbst hineingehtldquo Es sindgerade diese Phasen oder Akte ndash Existenz Leben und Denken ndashdie das Eine als der Urakt des Intellekts bdquoin ihrer Identitaumlt und An-dersheit fasstldquo und als bdquoseine Organe gebrauchtldquo (1310ndash13) DasEine als die transzendente Wurzel des reflexiven Intellekts ist dieGrundvoraussetzung dafuumlr dass der reflexive Intellekt sich in jederPhase der Identitaumlt aller seiner Akte bewusst ist und dass er als der Denkende sich selbst als den Gedachten identifizieren kannauch wenn er in die verschiedenen Momente gespalten ist Das Einewird so als ein uumlber-reflexiver Akt begriffen der die Einheit undIdentitaumlt der verschiedenen Akte oder Momente des reflexiven In-tellekts garantiert und ihre gegenseitige Selbstidentifizierung er-moumlglicht Folglich ist es auch das Eine das gewaumlhrleistet dass derreflexive Intellekt bdquoin sich selbst hineingehen kannldquo

Vergleich mit dem Gemeinsinn

Diese Interpretation wird durch den folgenden Textabschnittbekraumlftigt in dem jenes houmlhere Vermoumlgen des Intellekts das mitdem Einen selbst zusammenfaumlllt mit dem aristotelischen sbquounter-scheidenden Sinnesvermoumlgenlsquo verglichen wird Hier lehnt sich derKommentator eng an eine Stelle aus dem dritten Buch De animaan16 wo Aristoteles die Frage aufwirft wie sich Unterschiede zwi-schen den verschiedenen Sinnesempfindungen feststellen lassen17

Bei der Loumlsung dieser Frage erlaumlutert Aristoteles dass jedes Sin-nesvermoumlgen sich jeweils auf die ihm zugehoumlrigen Wahrneh-mungsgegenstaumlnde oder Wahrnehmungsqualitaumlten bezieht aberkeinem das Wahrnehmbare fassbar ist fuumlr das die anderen Sinnezustaumlndig sind Demgemaumlszlig kann jeder Sinn zwar die Unterschiedezwischen den ihm zugehoumlrigen Wahrnehmungsgegenstaumlnden be-

195Die Theorie des goumlttlichen Selbstbewusstseins im Parmenides-Kommentar

16) Aristoteles De anima 426b8ndash2217) Vgl H-J Horn Studien zum dritten Buch der aristotelischen Schrift De

anima Goumlttingen 1994 39

urteilen keines der getrennten Sinnesvermoumlgen aber ist imstandedie Gegenstaumlnde quer durch mehrere Wahrnehmungsbereiche ndashz B das Weiszlige und das Suumlszlige ndash zu unterscheiden Da es sich aberimmer um Wahrnehmbares handelt muumlssen auch die Unterschie-de zwischen Wahrnehmungsgegenstaumlnden die in den Kompetenz-bereich verschiedener Sinne fallen durch ein Sinnesvermoumlgen fest-gestellt werden das von den uumlbrigen Sinnen abgegrenzt ist Gera-de dieses eigentuumlmliche Sinnesvermoumlgen nennt Aristoteles sbquodas unterscheidendelsquo (τ κρνον) Wenn es auch nirgends explizit ge-sagt wird scheint er dieses Vermoumlgen mit dem sbquogemeinsamen Sinnlsquo( κοιν αOσθησις) gleichzusetzen18 Diesem sbquogemeinsamen Sinnlsquoschreibt er weitere Funktionen zu wie etwa die Wahrnehmung sbquoge-meinsamer Wahrnehmungsgegenstaumlndelsquo die von mehreren Sinnenzugleich erfasst werden aber auch ein elementares Selbstbewusst-sein das jeden Wahrnehmungsakt begleitet (wie z B mein Sehaktvon dem Bewusstsein begleitet wird dass ich sehe)19

Gerade an diese Motive der aristotelischen Psychologie knuumlpftder Kommentator an mit der Parallele die er zwischen der Sinnes-wahrnehmung und dem Intellekt zieht Aumlhnlich wie die Sinnes -vermoumlgen ist auch der reflexive Intellekt in seine verschiedenen Momente oder Akte aufgespalten von denen jeder seine eigeneFunktion und seinen eigenen Kompetenzbereich besitzt weshalbaber auch keiner imstande ist sich auf die anderen Akte und auf dasvon ihnen Intendierte zu beziehen und sie in ihrer Andersheit undIdentitaumlt zu erkennen Deshalb muss es auch auf der Ebene des In-tellekts ein besonderes Vermoumlgen ndash aumlhnlich dem sbquounterscheidendenlsquooder sbquogemeinsamenlsquo Sinn ndash geben das von allen Vermoumlgen oder Ak-ten des reflexiven Intellekts verschieden ist und uumlber sie hinausgehtGenau wie der sensus communis ist es ein aktiver Keim des Intellektsder alle differenzierten Akte beruumlhrt sie als seine Organe gebrauchtund diese zugleich vereinigt und ihre Selbigkeit stiftet Und ebensowie der sbquogemeinsame Sinnlsquo muss dieser vereinigende Akt uumlber allenAkten ein einziger sein ja er faumlllt mit dem (ersten) Einen zusammen

196 Vaacutec l av N ěmec

18) Zum sbquogemeinsamen Sinnlsquo siehe z B Aristoteles De an 425a27 ZurGleichsetzung des sbquounterscheidenden Sinneslsquo mit dem sensus communis bei Aristo-teles vgl z B A-E Chaignet Essai sur la psychologie drsquoAristote Bruxelles 1966375 378ndash381 Diese Identifikation zieht allerdings D W Hamlyn in Zweifel VglAristotle De Anima Books II and III Translated with Introduction and Notes byD W Hamlyn Oxford 2002 128ndash129

19) Vgl Chaignet (wie Anm 18) 375ndash382

Der Vergleich mit dem sbquogemeinsamenlsquo Sinn wirft ein klaumlren-des Licht auf die vorausgehende Passage (131ndash23) Der Kommen-tator schreibt dem Einen in seinem Bezug auf die Akte des reflexi-ven Intellekts eine aumlhnliche Funktion zu wie sie der sensus com-munis als Organ des elementaren Selbstbewusstseins ausuumlbt dasdie Wahrnehmungsakte begleitet Das Eine begleitet die einzelnenAkte des reflexiven Intellekts und vereinigt sie so alle in sich selbstals in einem einzigen Zentrum Als dieses uumlber-reflexive und Ein-heit stiftende Moment bildet das Eine einen konstitutiven und er-moumlglichenden Grund des reflexiven Selbstbewusstseins des Intel-lekts Auf den ersten Blick scheint der Vergleich insoweit zu hin-ken als die Wahrnehmungsakte ausschlieszliglich auf die aumluszligeren Gegenstaumlnde gerichtet und im Prinzip nicht zu einem Selbstbezugfaumlhig sind waumlhrend durch die Akte des reflexiven Intellekts sichgerade der denkende Selbstbezug vollzieht in dem bdquoder Denkendesich mit dem Gedachten vereinigtldquo Der Kommentator scheintdennoch davon uumlberzeugt zu sein dass die differenzierten Akte desreflexiven Intellekts an sich auszligerstande sind diesen Selbstbezugzu bewirken und zu gewaumlhrleisten Die unabdingbare Grundbe-dingung der Moumlglichkeit des reflexiven Selbstbezuges wie er imdurch die Dreiheit der Akte strukturierten Intellekt realisiert wirdstellt gerade das mit dem Einen identifizierte houmlhere Vermoumlgenoder der vereinigende Akt dar der alle differenzierten Akte beglei-tet und ihre Einheit und Selbigkeit in der Vielheit und Andersheitgarantiert Das Selbstbewusstsein auf der Ebene des reflexiven Intellekts das sich durch die Dualitaumlt des Denkenden und des Gedachten auszeichnet ist so in einem houmlheren oder tieferen nicht-reflexiven oder uumlber-reflexiven Selbstbewusstsein gegruumlndet des-sen Quelle und Subjekt das transzendente Eine selbst ist

Das Eine und die Dreiheit von sbquoExistenz ndash Leben ndash Denkenlsquo

Aus dem Gesagten wird auch ersichtlich dass das Eine von allen Strukturmomenten oder Akten des reflexiven Intellekts ingleichem Maszlige verschieden sein muss und mit keinem von ihnenidentifiziert werden kann Aus diesem Grund ist auch die Inter-preta tion Hadots abzulehnen wonach das Eine schlieszliglich mitdem ersten Glied der Dreiheit von sbquoExistenz ndash Leben ndash Denkenlsquoidentisch sein soll Diese Auslegung gruumlndet sich auf die Annahme

197Die Theorie des goumlttlichen Selbstbewusstseins im Parmenides-Kommentar

die Existenz als einer der Akte des reflexiven Intellekts falle mitdem sbquoSeinlsquo zusammen das im fuumlnften Fragment mit dem Einenselbst gleichgesetzt wurde20 Diese Identifizierung des sbquoSeinslsquo mitder sbquoExistenzlsquo laumlsst sich aber in keinem der erhaltenen Fragmentedes Kommentars belegen und waumlre mit dessen metaphysischemKonzept auch kaum vereinbar Der eigentliche Grund fuumlr HadotsGleichsetzung dieser zwei Termini ist die Tatsache dass sie beidein den theologischen Schriften des Marius Victorinus ndash insbeson-dere in Adversus Arium 1b ndash zusammenzuflieszligen scheinen Geradein der genannten Schrift erhebt Marius Victorinus die Dreiheit vonsbquoSein (bzw Existenz) ndash Leben ndash Denkenlsquo zum zentralen konzeptu-ellen Modell fuumlr seine Eroumlrterung der Wesensgleichheit von VaterSohn und heiligem Geist Im Rahmen seiner Transponierung derchristlich-theologischen Problematik auf den Boden einer (neu-)platonischen metaphysischen Prinzipienlehre fasst Victorinus denGottvater als das transzendente bdquoEine ohne Existenzldquo (inexsisten-tialiter unum) auf dem durch die negative Theologie u a Sein Existenz Seiendes Substanz Denken abgesprochen werden21 dasaber von der affirmativen Theologie zugleich als bdquodreimaumlchtigerGeistldquo (tripotens spiritus) gepriesen wird der die Vermoumlgen desSeins des Lebens und des Denkens in sich einschlieszligt Unter die-sem Gesichtspunkt wird Gottvater primaumlr als das reine Sein (esse)betrachtet das in seiner transzendenten Einheit und Verborgenheitdas Leben und das Denken in ihrer potenziellen Praumlexistenz be-inhaltet22 Der Sohn und der Heilige Geist werden dann geradedem aktualisierten und geaumluszligerten Leben (vita) und Denken (in-

198 Vaacutec l av N ěmec

20) Vgl Hadot Porphyre et Victorinus (wie Anm 2) I 13321) Marius Victorinus Adversus Arium 1499ndash18 (CSEL LXXXIIII 143)

Ante omnia quae vere sunt unum fuit sive unalitas sive ipsum unum antequam sitei esse unum unum ante omnem exsistentiam ante omnem exsistentialitatem ante ipsum ν hoc enim unum ante ν ante omnem igitur essentitatem substantiamsubsistentiam et adhuc omnia quae potentiora unum sine exsistentia sine substan-tia sine intellegentia

22) Marius Victorinus Adv Ar 1501ndash15 (CSEL LXXXIIII 144ndash145) Hicest deus hic pater praeintellegentia praeexsistens et praeexsistentia tripotens inunalitate spiritus tres potentias couniens exsistentiam omnem vitam omnem etbeatitudinem sed ista omnia et unum et simplex unum et maxime in potentia eiusquod est esse hoc est exsistentiae potentia vitae et beatitudinis 1523ndash9 (CSELLXXXIIII 148) Deus potentia est istarum trium potentiarum exsistentiae vitaebeatitudinis hoc est eius quod est esse quod vivere quod intellegere Et quod estesse primum et secundum quod est esse secundum ipsum vivere et intellegere sineulla unitione sed simpliciter simplicitas et istud manifestum

tellegentia bzw sapientia beatitudo) gleichgesetzt die zugleich alszwei Phasen des bdquoHervorgehensldquo (progressio) und der bdquoRuumlckkehrldquo(regressus) begriffen werden durch die das zweite Eine ndash das bdquoEinein der Existenzldquo (exsistentialiter unum) ndash konstituiert wird23 SeinLeben und Denken zeigen sich so als die drei Phasen ndash VerharrenHervorgehen und Ruumlckkehr24 ndash in denen sich die goumlttliche Sub-stanz aus ihrer transzendenten Wurzel in die Vielheit und Anders-heit hinein entfaltet um die urspruumlngliche Selbigkeit mit ihremtranszendenten Grund wiederherzustellen und sich selbst als einreflexiv denkendes Wesen zu konstituieren25 Die substanzielleIdentitaumlt von Sein Leben und Denken wird dabei durch ihr ge-genseitiges Ineinandersein ermoumlglicht Jedes Glied impliziert diezwei anderen auf seine eigene Art und Weise Ihre Differenz ergibtsich dagegen daraus dass in jeder Phase jeweils ein Glied der Drei-heit uumlber die anderen herrscht und in den Vordergrund tritt26

Obwohl man eine konzeptuelle Verwandtschaft zwischenAdversus Arium 1b und dem anonymen Parmenides-Kommentarkaum bestreiten kann ndash diese besteht besonders darin dass in bei-den Texten das erste Eine mit dem reinen Sein identifiziert wirddas sich vom Seienden bzw dem seienden Einen abgrenzt und dassdie Dreiheit sbquoExistenz ndash Leben ndash Denkenlsquo eine zentrale Rolle beider Eroumlrterung der reflexiven Bewegung bzw der Konstitution desIntellekts spielt ndash sind auch einige wesentliche Unterschiede nichtzu verkennen Im anonymen Kommentar kann vor allem keineAnwendung der Dreiheit auf das erste Eine nachgewiesen werdenSein Verfasser setzt zwar das Eine dem reinen Sein gleich das alsreine Wirksamkeit verschieden ist vom substanziellen Seienden

199Die Theorie des goumlttlichen Selbstbewusstseins im Parmenides-Kommentar

23) Marius Victorinus Adv Ar 15110ndash27 (CSEL LXXXIIII 146ndash147)Potentia enim progrediente ista motio nusquam requiescens quippe vita quaesit infinita et ipsa in vivificatione veluti foris apparuit Vita autem filius vita mo-tio a vitali praeexsistentia vita exsistentia Ista igitur exsistentia totius exsistentiaeest vita et iuxta quod vita motus quasi femineam sortita est potentiam hoc quodconcupivit vivificare Sed quoniam ista motio una cum sit et vita est et sapien-tia vita conversa in sapientiam et magis in exsistentiam patricam magis autem retromotae motionis in patricam potentiam et ab ipso viltrgtificata vita recurrens in patrem vir effecta est Descensio enim vita ascensio sapientia Vgl auch 15220ndash35(CSEL LXXXIIII 148ndash149)

24) Marius Victorinus Hymnus 371ndash74 (CSEL LXXXIIII 297) Statusprogressio regressus o beata trinitas

25) Vgl Marius Victorinus Adv Ar 1577ndash21 (CSEL LXXXIIII 155ndash156)26) Vgl Hadot Porphyre et Victorinus (wie Anm 2) I 239ndash246

und er spricht dem Einen auch eine Art uumlber-reflexives Denken zunie aber wendet er die Dreiheit sbquoSein ndash Leben ndash Denkenlsquo auf das erste Eine an nicht einmal im Sinne einer potenziellen und uumlber-substanziellen Praumlexistenz (praeexsistentia ndash praeviventia ndash prae -intellegentia) wie es Victorinus in Adversus Arium 1b und imzweiten Teil von Adversus Arium 4 tut27 oder im Sinne der reinenAkte (esse ndash vivere ndash intellegere) wie es insbesondere im ersten Teilvon Adversus Arium 4 geschieht28 Die Dreiheit erscheint im Kom-mentar nur in substanzieller Form und bleibt der Ebene des Intel-lekts immanent Im fuumlnften Fragment kritisiert der Kommentatorsogar ausdruumlcklich die Chaldaumlischen Orakel oder ihre Auslegerweil sie der houmlchsten Gottheit eine trinitarische Struktur zuwei-sen29 Manche seiner Formulierungen erwecken dabei den Ein-druck dass er bei seiner Kritik ein aumlhnliches theologisches Kon-zept im Auge gehabt haben mochte wie es uns gerade in AdversusArium 1b begegnet Das Eine wird vom Kommentator keineswegsals Ausgangsglied der Dreiheit aufgefasst aus dem das Leben her-vorginge und zu dem das Denken zuruumlckkehrte wie es in Adver-sus Arium 1b begriffen wird Dementsprechend ist das Eine auchnicht sbquoder Gegenstandlsquo des Erkennens des zweiten Einen in demdas zweite Eine zugleich sich selbst in seiner potenziellen undtranszendenten Praumlexistenz erfasst sondern es ist der Akt der inallen drei Akten oder Momenten wirkt der ihre Einheit stiftet undzugleich uumlber sie hinausgeht Auch wenn der Kommentator dasEine mit dem Sein identifiziert setzt er nie das Sein mit der Exis -tenz gleich und nichts scheint davon zu zeugen dass die Existenzmit dem transzendenten Moment des Intellekts (dem ersten Einen)zusammenfallen sollte30 Der Verfasser des anonymen Kommen-tars verwendet im Gegenteil unterschiedliche Ausdruumlcke um dieverschiedenen Tatsachen hervorzuheben Waumlhrend der TerminussbquoSeinlsquo dem ersten Einen als der Ursache oder der sbquoIdeelsquo des intelli-giblen Seienden vorbehalten ist soll das Wort sbquoExistenzlsquo das ersteMoment der reflexiven Bewegung des Intellekts oder des zweiten

200 Vaacutec l av N ěmec

27) Vgl z B Marius Victorinus Adv Ar 42318ndash34 (CSEL LXXXIIII 260)28) Vgl z B Marius Victorinus Adv Ar 464ndash7 (CSEL LXXXIIII 231ndash

232) 489ndash30 (CSEL LXXXIIII 235ndash236) 42126ndash28 (CSEL LXXXIIII 257)29) Vgl Anon in Parm 91ndash1011 (Linguiti 118ndash120)30) Darauf hat schon Andrew Smith hingewiesen Vgl ders Zπόστασις and

0παρξις in Porphyry in F Romano D P Taormina (Hrsg) Hyparxis e hyposta-sis nel neoplatonismo Firenze 1994 33ndash41 hier 41

Einen bezeichnen im Unterschied zum sbquoSeiendenlsquo das als Benen-nung fuumlr die ganze Hypostase dient Im anonymen Kommentarfindet man auch kein Anzeichen fuumlr das Prinzip eines wechsel -seitigen Ineinanderseins (und des Vorherrschens) von Existenz Leben und Denken das eine zentrale Rolle in Adversus Arium 1b3 und 4 ndash und im spaumlteren Neuplatonismus uumlberhaupt ndash spielt

Dialektik der negativen und affirmativen Theologie

Auch die ganze Problematik der sbquoInkommensurabilitaumltlsquo bzwsbquoKommensurabilitaumltlsquo des ersten Einen mit dem zweiten Einen be-handelt der Verfasser des Kommentars anders als Marius Victori-nus in Adversus Arium 1b31 Dem Kommentator zufolge zeigt sichdas Goumlttliche bdquounter dem einen Gesichtspunktldquo (κατF -λλο bzwκατ7 τν πρώτην δέαν) d h bdquoes selbst in sich selbst gesehenldquo alsdas einfache Eine das bdquonicht ausgesprochen und gedacht werdenkannldquo bdquounter dem anderen Gesichtspunktldquo (κατF -λλο) hingegenwird es als der in sich durch Reflexion differenzierte Intellekt be-trachtet der sich in die Vielheit seiner Akte ndash Existenz Leben undDenken ndash hinein entfaltet Wie der Schluss des sechsten Fragmentsbezeugt entsprechen diese zwei Gesichtspunkte der ersten und derzweiten Hypothese des Parmenides Trotz der sbquoontologischen Dif-ferenzlsquo zwischen dem ersten Einen und dem Intellekt (dem zwei-ten Einen) die in den vorausgehenden Fragmenten immer wiederemphatisch hervorgehoben wurde meint also der Kommentatordass sich beide Hypothesen auf eine einzige Gottheit beziehen diedas transzendente Eine und den reflexiven Intellekt als ihre zweiSchichten oder Momente einschlieszligt Der Verfasser des Kommen-tars scheint also die beiden Hypothesen als eine Art sbquodialektischelsquoTheologie zu verstehen die das Goumlttliche unter zwei verschiede-

201Die Theorie des goumlttlichen Selbstbewusstseins im Parmenides-Kommentar

31) Die Dialektik der sbquoInkommensurabilitaumltlsquo (bdquolrsquoincoordinationldquo) und sbquoKom-mensurabilitaumltlsquo (bdquola coordinationldquo) des Einen betrachtet Hadot als einen der Haupt -zuumlge der sbquoporphyrianischen Metaphysiklsquo Entsprechend seiner Hypothese dass derVerfasser des anonymen Kommentars Porphyrios sei den er zugleich fuumlr die grie-chische Quelle haumllt aus der Marius Victorinus geschoumlpft hat meint er dass der an -onyme Parmenides-Kommentar und die theologischen Schriften des Marius Victo-rinus ndash insbesondere Adversus Arium 1b ndash auch in diesem Punkt uumlbereinstimmenVgl Hadot La meacutetaphysique de Porphyre (wie Anm 2) 131 ff ders Porphyre etVictorinus (wie Anm 2) I 139ndash141 259ndash260

nen Aspekten zum Thema macht Vielleicht koumlnnte man auch uumlbereine Art sbquoDialektik der Kommensurabilitaumlt und Inkommensurabi-litaumltlsquo des Einen selbst sprechen insofern der Gesichtspunkt derzweiten Hypothese deren Gegenstand eigentlich der reflexive Intellekt ist zugleich eine neue Perspektive oumlffnet aus der sich das erste Eine in seiner Bezogenheit auf die differenzierten Aktedes Intellekts zeigt Erscheint das (erste) Eine unter dem ersten Gesichtspunkt als inkommensurabel und relationslos so dass manihm jedwede Beziehung zum Intellekt ndash sogar die der Andersheit ndashverweigern muss32 stellt es sich unter dem anderen Gesichtspunktder die Aufmerksamkeit auf das zweite Eine oder den Intellektlenkt zugleich als der einheitsstiftende Akt uumlber den differenzier-ten Akten des reflexiven Intellekts als der konstitutive Urgrundseines Selbstbewusstseins heraus Freilich ist Hadots Ansichtzuruumlckzuweisen die sbquodialektischelsquo Theologie des anonymen Kommentars sei mit dem entsprechenden Konzept in AdversusArium 1b identisch33 Die theologische Auffassung in AdversusArium 1b kann insofern als sbquodialektischlsquo bezeichnet werden als dasEine unter zwei verschiedenen Aspekten behandelt wird in sichund auf das von ihm Verursachte bezogen Das Eine zeigt sich soeinerseits als inkommensurabel und in seiner absoluten Differenz-losigkeit allen gegenstaumlndlichen Kategorien des menschlichenDenkens enthoben andererseits in Bezug darauf wessen Ursprunges ist als universale Ursache die selbst auf eine transzendente undpotenzielle Weise alles ist was aus ihr hervorgeht Waumlhrend unterdem Gesichtspunkt der negativen Theologie dem Einen u a SeinExistenz Leben und Denken abgesprochen wird erweist es sichunter dem Gesichtspunkt der affirmativen Theologie als erste Phase der Selbstkonstitution der goumlttlichen Substanz bzw des Intellekts und als erstes Glied der Dreiheit von sbquoSein ndash Leben ndashDenkenlsquo Als das Sein selbst enthaumllt es in sich auf transzendenteund potenzielle Weise die beiden anderen Glieder ndash Leben undDenken ndash und vereinigt sie in seiner unterschiedslosen Einheit ImVergleich mit dem anonymen Kommentar faumlllt nun auf dass beiVictorinus beide Gesichtspunkte den Methoden der negativen undaffirmativen Theologie entsprechen die ausschlieszliglich auf das ers -te Eine angewandt werden also auf das Eine der ersten Hypothese

202 Vaacutec l av N ěmec

32) Vgl Anon in Parm 31ndash35 (Linguiti 100ndash102)33) Vgl oben Anm 31

des Parmenides das mit Gottvater identifiziert wird Das zweiteEine d h das Eine der zweiten Hypothese das Victorinus demSohn gleichsetzt wird erst spaumlter zum Thema34 und ist nicht in dieDialektik der negativen und affirmativen Theologie einbezogenIm anonymen Kommentar hingegen entsprechen die beiden Ge-sichtspunkte der ersten und der zweiten Hypothese die das den reflexiven Intellekt (das zweite Eine) und seinen uumlber-reflexivenGrund (das erste Eine) umschlieszligende Goumlttliche in seinen beidenAspekten oder Schichten behandeln Obwohl also sowohl in Ad-versus Arium 1b als auch im anonymen Kommentar eine Art sbquoDia-lektik der Kommensurabilitaumlt und Inkommensurabilitaumltlsquo des Einenvorkommt geht es offensichtlich um zwei verschiedene Variantenderen Unterschiedlichkeit wieder die Differenzen zwischen denbeiden metaphysischen Konzepten klar hervortreten laumlsst35

Schlussfolgerungen

Gerade die erwaumlhnten Unterschiede verwischt nun Hadotum den Inhalt des sechsten Fragments mit seiner Hypothese inEinklang zu bringen dass der Verfasser des anonymen Kommen-tars (naumlmlich Porphyrios) mit der griechischen Quelle der theolo-gischen Schriften des Marius Victorinus identisch sei Dabei pro-

203Die Theorie des goumlttlichen Selbstbewusstseins im Parmenides-Kommentar

34) Marius Victorinus Adv Ar 15022 ff (CSEL LXXXIIII 145)35) Diese sbquoJuxtappositionlsquo oder sbquoDialektiklsquo der negativen und affirmativen

Theologie die das Goumlttliche aus zwei verschiedenen Perspektiven betrachtet wo-bei es sich bald als sbquoinkommensurabellsquo bald als sbquokommensurabellsquo zeigt geht wahr-scheinlich auf die mittelplatonische bzw neupythagoreische Tradition zuruumlck VglJ Mansfeld Compatible Alternatives Middle Platonists Theology and the Xeno -phanes Reception in R van den Broek T Baarda J Mansfeld (Hrsg) Know -ledge of God in the Graeco-Roman World Leiden 1988 92ndash117 Eudoros vonAlexandrien fuumlhrt die beiden Betrachtungsweisen mit aumlhnlichen Ausdruumlcken wieder Verfasser des anonymen Kommentars ein (κατ7 τν νωτάτω λόγον κατF -λλον τρόπον bzw κατ7 τν δεύτερον λόγον) Vgl Simplikios In Aristotelis Physica com-mentaria 15 (CAG IX 18110ndash30) Bei Eudoros geht es dennoch um die spezifischeProblematik der pythagoreischen Prinzipienlehre Er bemuumlht sich die sbquomonistischelsquound sbquodualistischelsquo pythagoreische Lehre zu versoumlhnen indem er das Eine einmal alsdas einzige uumlber alle Gegensaumltze erhabene Prinzip betrachtet einmal als ein Gliedder Grundpolaritaumlt sbquodas Eine ndash die unbestimmte Zweiheitlsquo In Adversus Arium 1bund im anonymen Parmenides-Kommentar wird hingegen dieselbe Methode aufdie Problematik der neuplatonischen houmlchsten Prinzipien angewandt ndash obgleich jeweils auf eine andere Art und Weise

jiziert er das Denkschema von Adversus Arium 1b in den Par-menides-Kommentar hinein und entstellt somit gewissermaszligen das hier enthaltene metaphysische Konzept36 Folglich wurde diebemerkenswerte Theorie des goumlttlichen Bewusstseins wie sie imsechsten Fragment dargelegt ist in ihrer Originalitaumlt bislang kaumuntersucht und nur unzureichend bewertet Auch legen die fest-gestellten Differenzen die Vermutung nahe dass der anonymeKommentar bzw sein Verfasser nicht die direkte Quelle des theo-logischen Werkes von Marius Victorinus ndash oder zumindest seinerSchrift Adversus Arium 1b ndash gewesen sein kann Die Unterschiedelassen sich auch nicht wegdiskutieren wenn man darauf hinweistdass der Kommentar uns nur fragmentarisch erhalten blieb oderVictorinus seine Quelle wesentlich umgedeutet haben koumlnnte um sie seinem christlich-theologischen Anliegen anzupassen Wieschon gezeigt sind mehrere Grundzuumlge der beiden metaphysi-schen Konzepte einfach nicht miteinander kompatibel Und gera-de manche Motive durch die sich das metaphysische Schema inAdversus Arium 1b von dem des anonymen Kommentars abhebtz B das Prinzip des Ineinanderseins (und des Vorherrschens) vonSein Leben und Denken begegnen uns wieder bei den spaumlterenNeuplatonikern freilich mit dem Unterschied dass diese sie aufdie niedrigeren Seinsstufen anwenden ohne das Eine mit einem derGlieder der Dreiheit zu identifizieren Der anonyme Kommentarduumlrfte so wohl auf etwas hindeuten das schon durch die Anwe-senheit verschiedener Varianten eines verwandten metaphysischenKonzepts in den theologischen Schriften des Marius Victorinusdie kaum auf eine einzige Quelle zuruumlckzufuumlhren sind angedeutetwird37 die Existenz einer ganzen Traditionslinie des spaumltantiken

204 Vaacutec l av N ěmec

36) Diese Kritik wird freilich geaumluszligert mit der wesentlichen Einschraumlnkungdass es gerade Hadots groszliges Verdienst war die Eigentuumlmlichkeit und Bedeutungder metaphysischen Lehre des anonymen Kommentars im Rahmen des spaumltantikenPlatonismus erkannt und sie zum ersten Mal detailliert und ndash mit den oben er-waumlhnten Ausnahmen ndash praumlzise rekonstruiert zu haben

37) Im theologischen Werk von Marius Victorinus lassen sich mindestensdrei (bzw vier wenn man auch Candidi epistola 1 dazu zaumlhlt) unterschiedliche Va-rianten eines verwandten metaphysischen Systems ausmachen die wahrscheinlichauf verschiedene Quellen zuruumlckgehen Dies versuchte ich in meinem Aufsatz Me-tafysickeacute systeacutemy v theologickeacutem diacutele Maria Victorina in V Hušek L Chvaacutetal J Plaacutetovaacute (Hrsg) Miscellanea patristica Brno 2007 37ndash71 nachzuweisen Vglauch meine Einleitung zur tschechischen Ausgabe des anonymen Parmenides-Kommentars Anonymniacute komentaacuteř k Platoacutenovu Parmenidovi Praha 2009 49ndash69

(Neu-)Platonismus die von der uns bekannten Hauptstroumlmungabweicht und in deren Rahmen verschiedene Versionen einer aumlhn-lichen metaphysischen Auffassung durchdacht wurden

Prag Vaacutec l av N ěmec

205Die Theorie des goumlttlichen Selbstbewusstseins im Parmenides-Kommentar

Page 8: DIE THEORIE DES GÖTTLICHEN SELBSTBEWUSSTSEINS ...Gnosticism and Later Platonism: Themes, Figures, and Texts, Atlanta 2000, 141–177; J.D.Turner, Sethian Gnosticism and the Platonic

Akte sind duumlrfte es sich wohl in Bezug auf die Existenz um einen ver-bleibenden Akt handeln in Bezug auf das Denken um einen zu sichselbst zuruumlckgekehrten Akt und in Bezug auf das Leben um einen Aktder von der Existenz abgewichen ist Und dementsprechend befindetes sich in Ruhe und zugleich in Bewegung in sich selbst und in einemanderen es ist Ganzes und hat Teile es ist dasselbe und ein anderesAber in Bezug darauf was an ihm das bloszlige Eine und gleichsam dasEine im primaumlren und wahrhaftigen Sinne ist befindet es sich weder inRuhe noch in Bewegung es ist weder dasselbe noch ein anderes wederin sich selbst noch in einem anderen Da es aber weder gedacht nochwirkend ist und zwar weder auf sich selbst noch auf ein anderes

III Interpretation

Der Intellekt der bdquonicht in sich selbst hineingehen kannldquo

Obwohl das Verstaumlndnis des ersten Abschnitts dadurch er-schwert wird dass der Anfang des ersten Satzes fehlt aus dem das Subjekt fuumlr die folgende Partizipialfuumlgung hervorgehen wuumlrdewird aus der Formulierung in den Zeilen 1335ndash141 (νος μ δυνά-μενος εσελθεν ες 6αυτYν) zumindest klar dass es sich um den Intellekt handeln muss Weiter ergibt sich aus dem Satz in den Zei-len 137ndash9 dass mit dem Intellekt der bdquonicht in sich selbst hinein-gehen kannldquo der Intellekt in einem Zustand gemeint ist in dem ersich als Denkender nicht mit sich selbst als dem Gedachten ver-einigen kann Unter dem Intellekt bdquoder in sich selbst hineingehenkannldquo duumlrfte hingegen ein Zustand zu verstehen sein in dem ersich als Denkender mit sich selbst als dem Gedachten vereinigtAus dem Text wird aber nicht besonders klar unter welchen Um-staumlnden ein Intellekt in einen Zustand geraten kann in dem erauszligerstande waumlre sich als Denkender mit sich selbst als dem Gedachten zu vereinigen Nach Pierre Hadot bezeichnet dieserAusdruck jenes transzendente Moment des Intellekts das der re-flexiven Erkenntnis vorausgeht und mit dem ersten Einen selbstzusammenfaumlllt12 Der Intellekt vermoumlchte in dieser Phase nicht insich selbst hineinzugehen weil er sich noch nicht in Denkendesund Gedachtes differenziert hat was als Grundvoraussetzung der

192 Vaacutec l av N ěmec

12) Vgl Hadot Porphyre et Victorinus (wie Anm 2) I 133ndash134 Dieser In-terpretation von Hadot schlieszligt sich auch Alessandro Linguiti an Vgl Linguiti (wieAnm 1) 193 ff

reflexiven Erkenntnis gelten darf Um durch die Bewegung desDenkens in sich selbst hineingehen zu koumlnnen muumlsste der Intellektzunaumlchst durch die Bewegung des Lebens aus sich selbst hervorge-hen und sich somit in die Vielheit seiner Akte entfalten was abererst auf der Ebene des reflexiven Intellekts oder des zweiten Einengeschieht Das erste Eine als der Intellekt der bdquonicht in sich selbsthineingehen kannldquo muumlsste sich folglich zuerst als reflexiver Intel-lekt konstituieren um sich selbst reflexiv erfassen zu koumlnnen

Dieser Interpretation widersprechen aber deutlich die For-mulierungen des Kommentators denen zufolge auch der Intellektbzw eines seiner Momente das bdquonicht in sich selbst hineingehenkannldquo durch jenes houmlhere Erkenntnisvermoumlgen gesehen wird dasdem Einen selbst gleichgesetzt wird (131ndash4 139) Der Intellekt indem Zustand in dem er bdquonicht in sich selbst hineingehen kannldquowird ausdruumlcklich als bdquoder geteilte Intellektldquo (136) bezeichnet derschon in sich selbst als in denjenigen in den er nicht hineingehenkann und denjenigen der nicht hineingehen kann differenziertwird (132ndash4) In diesem Intellekt ist also schon eine Unterschei-dung des Denkenden und des Gedachten vorausgesetzt (136ndash7)Die Wendung dass er bdquonicht hineingehen kannldquo bezeichnet gera-de den Zustand in dem dieser Denkende nicht imstande ist sichmit dem Gedachten zu vereinigen Das Eine wird hingegen als jener houmlhere Akt des Intellekts aufgefasst der die beiden Momentein ihrer Identitaumlt und Andersheit fasst und als solcher uumlber die bei-den Momente hinausgeht (134ndash5 1310ndash13) Nicht zuletzt sprichtgegen Hadots Deutung gerade die Tatsache dass der Intellekt(νος) als Subjekt der Partizipialkonstruktion μ δυνάμενος εσελ-θεν ες 6αυτYν zu vermuten ist Es ist wenig wahrscheinlich dassder Kommentator bereit waumlre das erste Eine ausdruumlcklich als sbquoIn-tellektlsquo zu bezeichnen Wenn Hadot bei seiner Interpretation dessechsten Fragments wiederholt zwei Intellekte (bdquoles deux Intelli-gencesldquo) bzw zwei Zustaumlnde des Intellekts (bdquoles deux eacutetats de lrsquoIntelligenceldquo) erwaumlhnt13 geht er von seiner Annahme aus wo-nach der bdquoIntellekt der nicht in sich selbst hineingehen kannldquo mitdem Einen identisch waumlre Diese Redeweise scheint aber demKommentator selbst fremd zu sein

Eine alternative Interpretation hat Gerard Bechtle vorge-schlagen Bechtle meint gerade umgekehrt der Intellekt der bdquonicht

193Die Theorie des goumlttlichen Selbstbewusstseins im Parmenides-Kommentar

13) Vgl Hadot Porphyre et Victorinus (wie Anm 2) I 133ndash138 II 107ndash113

hineingehen kannldquo sei mit dem reflexiven Intellekt identischwaumlhrend der Intellekt der bdquoin sich selbst hineingehen kannldquo mitdem (ersten) Einen selbst als der transzendenten Wurzel des re-flexiven Intellekts zusammenfalle14 Diese Deutung begegnet den-noch einer aumlhnlichen Schwierigkeit wie die oben skizzierte Inter-pretation Hadots In der Zeile 137ndash9 heiszligt es naumlmlich dass jenervereinigende Akt der mit dem Einen selbst identifiziert wird denIntellekt sowohl in dem Zustand bdquosiehtldquo in dem er bdquonicht hinein-gehen kannldquo als auch in dem Zustand in dem bdquodas Denkende sichmit dem Gedachten vereinigtldquo d h in dem er gerade bdquoin sich selbsthineingehtldquo Daraus ergibt sich dass dieser houmlhere Akt sich vonbeiden Zustaumlnden des Intellekts unterscheiden muss Es ist also offensichtlich dass mit dem bdquoIntellekt der nicht in sich selbst hineingehen kannldquo weder das Eine als transzendentes Moment desIntellekts noch der reflexive Intellekt als solcher gemeint sind Wasmag diese Formel dann bedeuten

Nach dem Ausklammern der beiden erwaumlhnten Interpreta-tionen bleibt grundsaumltzlich nur noch die Moumlglichkeit dass dieseFormel einen Zustand oder eine Phase des reflexiven Intellektsbzw einen seiner Akte bezeichnet Um welche Phase oder welchenAkt des reflexiven Intellekts es sich handelt wird durch den Satzin Zeile 1418ndash20 angedeutet bdquoWenn aber der Intellekt aus der Existenz hervorgegangen (μετε]ξ[έλθS) und zum Denkenden ge-worden ist um zum Gedachten zuruumlckzukehren (πανέλθS ες τνοητόν ndash woumlrtlich um ins Gedachte zuruumlckzugehen)15 und sichselbst anzuschauen dann ist das Denkende das Lebenldquo Es liegtnahe dass der bdquoIntellekt der nicht in sich selbst hineingehenkannldquo mit dem Leben als dem Akt des Intellekts identisch ist deraus der Existenz hervorgegangen ist oder genauer gesagt mit demin die Existenz und das Leben gespaltenen Intellekt sbquobevorlsquo erdurch die Ruumlckbewegung des Denkens zu sich selbst zuruumlckkehrtWaumlhrend die Existenz als bdquoder in Ruhe verbleibende Aktldquo denAusgangszustand des Intellekts darstellt in dem das Denkende mitdem Gedachten zusammenfaumlllt differenziert sich der Intellektdurch die Bewegung des Lebens in die Existenz als das Gedachte

194 Vaacutec l av N ěmec

14) Vgl Bechtle (wie Anm 3) 185ndash186 191ndash19615) Der Kommentator verwendet hier die Verba μετεξέρχομαι und πανέρ-

χομαι die aus derselben Wurzel wie εσέρχομαι gebildet sind wobei das πανέρχο-μαι wahrscheinlich mit dem εσέρχομαι synonym ist

und ins Leben als das Denkende wobei das Hervorgehen des Le-bens in die Ruumlckbewegung des Denkens wieder transformiert wer-den muss damit bdquodas Denkende zum Gedachten zuruumlckkehrtldquoErst in dieser Endphase der reflexiven Bewegung wird also der Zu-stand erlangt in dem das Denkende sich mit dem Gedachten wie-der vereinigt d h der bdquoIntellekt in sich selbst hineingehtldquo Es sindgerade diese Phasen oder Akte ndash Existenz Leben und Denken ndashdie das Eine als der Urakt des Intellekts bdquoin ihrer Identitaumlt und An-dersheit fasstldquo und als bdquoseine Organe gebrauchtldquo (1310ndash13) DasEine als die transzendente Wurzel des reflexiven Intellekts ist dieGrundvoraussetzung dafuumlr dass der reflexive Intellekt sich in jederPhase der Identitaumlt aller seiner Akte bewusst ist und dass er als der Denkende sich selbst als den Gedachten identifizieren kannauch wenn er in die verschiedenen Momente gespalten ist Das Einewird so als ein uumlber-reflexiver Akt begriffen der die Einheit undIdentitaumlt der verschiedenen Akte oder Momente des reflexiven In-tellekts garantiert und ihre gegenseitige Selbstidentifizierung er-moumlglicht Folglich ist es auch das Eine das gewaumlhrleistet dass derreflexive Intellekt bdquoin sich selbst hineingehen kannldquo

Vergleich mit dem Gemeinsinn

Diese Interpretation wird durch den folgenden Textabschnittbekraumlftigt in dem jenes houmlhere Vermoumlgen des Intellekts das mitdem Einen selbst zusammenfaumlllt mit dem aristotelischen sbquounter-scheidenden Sinnesvermoumlgenlsquo verglichen wird Hier lehnt sich derKommentator eng an eine Stelle aus dem dritten Buch De animaan16 wo Aristoteles die Frage aufwirft wie sich Unterschiede zwi-schen den verschiedenen Sinnesempfindungen feststellen lassen17

Bei der Loumlsung dieser Frage erlaumlutert Aristoteles dass jedes Sin-nesvermoumlgen sich jeweils auf die ihm zugehoumlrigen Wahrneh-mungsgegenstaumlnde oder Wahrnehmungsqualitaumlten bezieht aberkeinem das Wahrnehmbare fassbar ist fuumlr das die anderen Sinnezustaumlndig sind Demgemaumlszlig kann jeder Sinn zwar die Unterschiedezwischen den ihm zugehoumlrigen Wahrnehmungsgegenstaumlnden be-

195Die Theorie des goumlttlichen Selbstbewusstseins im Parmenides-Kommentar

16) Aristoteles De anima 426b8ndash2217) Vgl H-J Horn Studien zum dritten Buch der aristotelischen Schrift De

anima Goumlttingen 1994 39

urteilen keines der getrennten Sinnesvermoumlgen aber ist imstandedie Gegenstaumlnde quer durch mehrere Wahrnehmungsbereiche ndashz B das Weiszlige und das Suumlszlige ndash zu unterscheiden Da es sich aberimmer um Wahrnehmbares handelt muumlssen auch die Unterschie-de zwischen Wahrnehmungsgegenstaumlnden die in den Kompetenz-bereich verschiedener Sinne fallen durch ein Sinnesvermoumlgen fest-gestellt werden das von den uumlbrigen Sinnen abgegrenzt ist Gera-de dieses eigentuumlmliche Sinnesvermoumlgen nennt Aristoteles sbquodas unterscheidendelsquo (τ κρνον) Wenn es auch nirgends explizit ge-sagt wird scheint er dieses Vermoumlgen mit dem sbquogemeinsamen Sinnlsquo( κοιν αOσθησις) gleichzusetzen18 Diesem sbquogemeinsamen Sinnlsquoschreibt er weitere Funktionen zu wie etwa die Wahrnehmung sbquoge-meinsamer Wahrnehmungsgegenstaumlndelsquo die von mehreren Sinnenzugleich erfasst werden aber auch ein elementares Selbstbewusst-sein das jeden Wahrnehmungsakt begleitet (wie z B mein Sehaktvon dem Bewusstsein begleitet wird dass ich sehe)19

Gerade an diese Motive der aristotelischen Psychologie knuumlpftder Kommentator an mit der Parallele die er zwischen der Sinnes-wahrnehmung und dem Intellekt zieht Aumlhnlich wie die Sinnes -vermoumlgen ist auch der reflexive Intellekt in seine verschiedenen Momente oder Akte aufgespalten von denen jeder seine eigeneFunktion und seinen eigenen Kompetenzbereich besitzt weshalbaber auch keiner imstande ist sich auf die anderen Akte und auf dasvon ihnen Intendierte zu beziehen und sie in ihrer Andersheit undIdentitaumlt zu erkennen Deshalb muss es auch auf der Ebene des In-tellekts ein besonderes Vermoumlgen ndash aumlhnlich dem sbquounterscheidendenlsquooder sbquogemeinsamenlsquo Sinn ndash geben das von allen Vermoumlgen oder Ak-ten des reflexiven Intellekts verschieden ist und uumlber sie hinausgehtGenau wie der sensus communis ist es ein aktiver Keim des Intellektsder alle differenzierten Akte beruumlhrt sie als seine Organe gebrauchtund diese zugleich vereinigt und ihre Selbigkeit stiftet Und ebensowie der sbquogemeinsame Sinnlsquo muss dieser vereinigende Akt uumlber allenAkten ein einziger sein ja er faumlllt mit dem (ersten) Einen zusammen

196 Vaacutec l av N ěmec

18) Zum sbquogemeinsamen Sinnlsquo siehe z B Aristoteles De an 425a27 ZurGleichsetzung des sbquounterscheidenden Sinneslsquo mit dem sensus communis bei Aristo-teles vgl z B A-E Chaignet Essai sur la psychologie drsquoAristote Bruxelles 1966375 378ndash381 Diese Identifikation zieht allerdings D W Hamlyn in Zweifel VglAristotle De Anima Books II and III Translated with Introduction and Notes byD W Hamlyn Oxford 2002 128ndash129

19) Vgl Chaignet (wie Anm 18) 375ndash382

Der Vergleich mit dem sbquogemeinsamenlsquo Sinn wirft ein klaumlren-des Licht auf die vorausgehende Passage (131ndash23) Der Kommen-tator schreibt dem Einen in seinem Bezug auf die Akte des reflexi-ven Intellekts eine aumlhnliche Funktion zu wie sie der sensus com-munis als Organ des elementaren Selbstbewusstseins ausuumlbt dasdie Wahrnehmungsakte begleitet Das Eine begleitet die einzelnenAkte des reflexiven Intellekts und vereinigt sie so alle in sich selbstals in einem einzigen Zentrum Als dieses uumlber-reflexive und Ein-heit stiftende Moment bildet das Eine einen konstitutiven und er-moumlglichenden Grund des reflexiven Selbstbewusstseins des Intel-lekts Auf den ersten Blick scheint der Vergleich insoweit zu hin-ken als die Wahrnehmungsakte ausschlieszliglich auf die aumluszligeren Gegenstaumlnde gerichtet und im Prinzip nicht zu einem Selbstbezugfaumlhig sind waumlhrend durch die Akte des reflexiven Intellekts sichgerade der denkende Selbstbezug vollzieht in dem bdquoder Denkendesich mit dem Gedachten vereinigtldquo Der Kommentator scheintdennoch davon uumlberzeugt zu sein dass die differenzierten Akte desreflexiven Intellekts an sich auszligerstande sind diesen Selbstbezugzu bewirken und zu gewaumlhrleisten Die unabdingbare Grundbe-dingung der Moumlglichkeit des reflexiven Selbstbezuges wie er imdurch die Dreiheit der Akte strukturierten Intellekt realisiert wirdstellt gerade das mit dem Einen identifizierte houmlhere Vermoumlgenoder der vereinigende Akt dar der alle differenzierten Akte beglei-tet und ihre Einheit und Selbigkeit in der Vielheit und Andersheitgarantiert Das Selbstbewusstsein auf der Ebene des reflexiven Intellekts das sich durch die Dualitaumlt des Denkenden und des Gedachten auszeichnet ist so in einem houmlheren oder tieferen nicht-reflexiven oder uumlber-reflexiven Selbstbewusstsein gegruumlndet des-sen Quelle und Subjekt das transzendente Eine selbst ist

Das Eine und die Dreiheit von sbquoExistenz ndash Leben ndash Denkenlsquo

Aus dem Gesagten wird auch ersichtlich dass das Eine von allen Strukturmomenten oder Akten des reflexiven Intellekts ingleichem Maszlige verschieden sein muss und mit keinem von ihnenidentifiziert werden kann Aus diesem Grund ist auch die Inter-preta tion Hadots abzulehnen wonach das Eine schlieszliglich mitdem ersten Glied der Dreiheit von sbquoExistenz ndash Leben ndash Denkenlsquoidentisch sein soll Diese Auslegung gruumlndet sich auf die Annahme

197Die Theorie des goumlttlichen Selbstbewusstseins im Parmenides-Kommentar

die Existenz als einer der Akte des reflexiven Intellekts falle mitdem sbquoSeinlsquo zusammen das im fuumlnften Fragment mit dem Einenselbst gleichgesetzt wurde20 Diese Identifizierung des sbquoSeinslsquo mitder sbquoExistenzlsquo laumlsst sich aber in keinem der erhaltenen Fragmentedes Kommentars belegen und waumlre mit dessen metaphysischemKonzept auch kaum vereinbar Der eigentliche Grund fuumlr HadotsGleichsetzung dieser zwei Termini ist die Tatsache dass sie beidein den theologischen Schriften des Marius Victorinus ndash insbeson-dere in Adversus Arium 1b ndash zusammenzuflieszligen scheinen Geradein der genannten Schrift erhebt Marius Victorinus die Dreiheit vonsbquoSein (bzw Existenz) ndash Leben ndash Denkenlsquo zum zentralen konzeptu-ellen Modell fuumlr seine Eroumlrterung der Wesensgleichheit von VaterSohn und heiligem Geist Im Rahmen seiner Transponierung derchristlich-theologischen Problematik auf den Boden einer (neu-)platonischen metaphysischen Prinzipienlehre fasst Victorinus denGottvater als das transzendente bdquoEine ohne Existenzldquo (inexsisten-tialiter unum) auf dem durch die negative Theologie u a Sein Existenz Seiendes Substanz Denken abgesprochen werden21 dasaber von der affirmativen Theologie zugleich als bdquodreimaumlchtigerGeistldquo (tripotens spiritus) gepriesen wird der die Vermoumlgen desSeins des Lebens und des Denkens in sich einschlieszligt Unter die-sem Gesichtspunkt wird Gottvater primaumlr als das reine Sein (esse)betrachtet das in seiner transzendenten Einheit und Verborgenheitdas Leben und das Denken in ihrer potenziellen Praumlexistenz be-inhaltet22 Der Sohn und der Heilige Geist werden dann geradedem aktualisierten und geaumluszligerten Leben (vita) und Denken (in-

198 Vaacutec l av N ěmec

20) Vgl Hadot Porphyre et Victorinus (wie Anm 2) I 13321) Marius Victorinus Adversus Arium 1499ndash18 (CSEL LXXXIIII 143)

Ante omnia quae vere sunt unum fuit sive unalitas sive ipsum unum antequam sitei esse unum unum ante omnem exsistentiam ante omnem exsistentialitatem ante ipsum ν hoc enim unum ante ν ante omnem igitur essentitatem substantiamsubsistentiam et adhuc omnia quae potentiora unum sine exsistentia sine substan-tia sine intellegentia

22) Marius Victorinus Adv Ar 1501ndash15 (CSEL LXXXIIII 144ndash145) Hicest deus hic pater praeintellegentia praeexsistens et praeexsistentia tripotens inunalitate spiritus tres potentias couniens exsistentiam omnem vitam omnem etbeatitudinem sed ista omnia et unum et simplex unum et maxime in potentia eiusquod est esse hoc est exsistentiae potentia vitae et beatitudinis 1523ndash9 (CSELLXXXIIII 148) Deus potentia est istarum trium potentiarum exsistentiae vitaebeatitudinis hoc est eius quod est esse quod vivere quod intellegere Et quod estesse primum et secundum quod est esse secundum ipsum vivere et intellegere sineulla unitione sed simpliciter simplicitas et istud manifestum

tellegentia bzw sapientia beatitudo) gleichgesetzt die zugleich alszwei Phasen des bdquoHervorgehensldquo (progressio) und der bdquoRuumlckkehrldquo(regressus) begriffen werden durch die das zweite Eine ndash das bdquoEinein der Existenzldquo (exsistentialiter unum) ndash konstituiert wird23 SeinLeben und Denken zeigen sich so als die drei Phasen ndash VerharrenHervorgehen und Ruumlckkehr24 ndash in denen sich die goumlttliche Sub-stanz aus ihrer transzendenten Wurzel in die Vielheit und Anders-heit hinein entfaltet um die urspruumlngliche Selbigkeit mit ihremtranszendenten Grund wiederherzustellen und sich selbst als einreflexiv denkendes Wesen zu konstituieren25 Die substanzielleIdentitaumlt von Sein Leben und Denken wird dabei durch ihr ge-genseitiges Ineinandersein ermoumlglicht Jedes Glied impliziert diezwei anderen auf seine eigene Art und Weise Ihre Differenz ergibtsich dagegen daraus dass in jeder Phase jeweils ein Glied der Drei-heit uumlber die anderen herrscht und in den Vordergrund tritt26

Obwohl man eine konzeptuelle Verwandtschaft zwischenAdversus Arium 1b und dem anonymen Parmenides-Kommentarkaum bestreiten kann ndash diese besteht besonders darin dass in bei-den Texten das erste Eine mit dem reinen Sein identifiziert wirddas sich vom Seienden bzw dem seienden Einen abgrenzt und dassdie Dreiheit sbquoExistenz ndash Leben ndash Denkenlsquo eine zentrale Rolle beider Eroumlrterung der reflexiven Bewegung bzw der Konstitution desIntellekts spielt ndash sind auch einige wesentliche Unterschiede nichtzu verkennen Im anonymen Kommentar kann vor allem keineAnwendung der Dreiheit auf das erste Eine nachgewiesen werdenSein Verfasser setzt zwar das Eine dem reinen Sein gleich das alsreine Wirksamkeit verschieden ist vom substanziellen Seienden

199Die Theorie des goumlttlichen Selbstbewusstseins im Parmenides-Kommentar

23) Marius Victorinus Adv Ar 15110ndash27 (CSEL LXXXIIII 146ndash147)Potentia enim progrediente ista motio nusquam requiescens quippe vita quaesit infinita et ipsa in vivificatione veluti foris apparuit Vita autem filius vita mo-tio a vitali praeexsistentia vita exsistentia Ista igitur exsistentia totius exsistentiaeest vita et iuxta quod vita motus quasi femineam sortita est potentiam hoc quodconcupivit vivificare Sed quoniam ista motio una cum sit et vita est et sapien-tia vita conversa in sapientiam et magis in exsistentiam patricam magis autem retromotae motionis in patricam potentiam et ab ipso viltrgtificata vita recurrens in patrem vir effecta est Descensio enim vita ascensio sapientia Vgl auch 15220ndash35(CSEL LXXXIIII 148ndash149)

24) Marius Victorinus Hymnus 371ndash74 (CSEL LXXXIIII 297) Statusprogressio regressus o beata trinitas

25) Vgl Marius Victorinus Adv Ar 1577ndash21 (CSEL LXXXIIII 155ndash156)26) Vgl Hadot Porphyre et Victorinus (wie Anm 2) I 239ndash246

und er spricht dem Einen auch eine Art uumlber-reflexives Denken zunie aber wendet er die Dreiheit sbquoSein ndash Leben ndash Denkenlsquo auf das erste Eine an nicht einmal im Sinne einer potenziellen und uumlber-substanziellen Praumlexistenz (praeexsistentia ndash praeviventia ndash prae -intellegentia) wie es Victorinus in Adversus Arium 1b und imzweiten Teil von Adversus Arium 4 tut27 oder im Sinne der reinenAkte (esse ndash vivere ndash intellegere) wie es insbesondere im ersten Teilvon Adversus Arium 4 geschieht28 Die Dreiheit erscheint im Kom-mentar nur in substanzieller Form und bleibt der Ebene des Intel-lekts immanent Im fuumlnften Fragment kritisiert der Kommentatorsogar ausdruumlcklich die Chaldaumlischen Orakel oder ihre Auslegerweil sie der houmlchsten Gottheit eine trinitarische Struktur zuwei-sen29 Manche seiner Formulierungen erwecken dabei den Ein-druck dass er bei seiner Kritik ein aumlhnliches theologisches Kon-zept im Auge gehabt haben mochte wie es uns gerade in AdversusArium 1b begegnet Das Eine wird vom Kommentator keineswegsals Ausgangsglied der Dreiheit aufgefasst aus dem das Leben her-vorginge und zu dem das Denken zuruumlckkehrte wie es in Adver-sus Arium 1b begriffen wird Dementsprechend ist das Eine auchnicht sbquoder Gegenstandlsquo des Erkennens des zweiten Einen in demdas zweite Eine zugleich sich selbst in seiner potenziellen undtranszendenten Praumlexistenz erfasst sondern es ist der Akt der inallen drei Akten oder Momenten wirkt der ihre Einheit stiftet undzugleich uumlber sie hinausgeht Auch wenn der Kommentator dasEine mit dem Sein identifiziert setzt er nie das Sein mit der Exis -tenz gleich und nichts scheint davon zu zeugen dass die Existenzmit dem transzendenten Moment des Intellekts (dem ersten Einen)zusammenfallen sollte30 Der Verfasser des anonymen Kommen-tars verwendet im Gegenteil unterschiedliche Ausdruumlcke um dieverschiedenen Tatsachen hervorzuheben Waumlhrend der TerminussbquoSeinlsquo dem ersten Einen als der Ursache oder der sbquoIdeelsquo des intelli-giblen Seienden vorbehalten ist soll das Wort sbquoExistenzlsquo das ersteMoment der reflexiven Bewegung des Intellekts oder des zweiten

200 Vaacutec l av N ěmec

27) Vgl z B Marius Victorinus Adv Ar 42318ndash34 (CSEL LXXXIIII 260)28) Vgl z B Marius Victorinus Adv Ar 464ndash7 (CSEL LXXXIIII 231ndash

232) 489ndash30 (CSEL LXXXIIII 235ndash236) 42126ndash28 (CSEL LXXXIIII 257)29) Vgl Anon in Parm 91ndash1011 (Linguiti 118ndash120)30) Darauf hat schon Andrew Smith hingewiesen Vgl ders Zπόστασις and

0παρξις in Porphyry in F Romano D P Taormina (Hrsg) Hyparxis e hyposta-sis nel neoplatonismo Firenze 1994 33ndash41 hier 41

Einen bezeichnen im Unterschied zum sbquoSeiendenlsquo das als Benen-nung fuumlr die ganze Hypostase dient Im anonymen Kommentarfindet man auch kein Anzeichen fuumlr das Prinzip eines wechsel -seitigen Ineinanderseins (und des Vorherrschens) von Existenz Leben und Denken das eine zentrale Rolle in Adversus Arium 1b3 und 4 ndash und im spaumlteren Neuplatonismus uumlberhaupt ndash spielt

Dialektik der negativen und affirmativen Theologie

Auch die ganze Problematik der sbquoInkommensurabilitaumltlsquo bzwsbquoKommensurabilitaumltlsquo des ersten Einen mit dem zweiten Einen be-handelt der Verfasser des Kommentars anders als Marius Victori-nus in Adversus Arium 1b31 Dem Kommentator zufolge zeigt sichdas Goumlttliche bdquounter dem einen Gesichtspunktldquo (κατF -λλο bzwκατ7 τν πρώτην δέαν) d h bdquoes selbst in sich selbst gesehenldquo alsdas einfache Eine das bdquonicht ausgesprochen und gedacht werdenkannldquo bdquounter dem anderen Gesichtspunktldquo (κατF -λλο) hingegenwird es als der in sich durch Reflexion differenzierte Intellekt be-trachtet der sich in die Vielheit seiner Akte ndash Existenz Leben undDenken ndash hinein entfaltet Wie der Schluss des sechsten Fragmentsbezeugt entsprechen diese zwei Gesichtspunkte der ersten und derzweiten Hypothese des Parmenides Trotz der sbquoontologischen Dif-ferenzlsquo zwischen dem ersten Einen und dem Intellekt (dem zwei-ten Einen) die in den vorausgehenden Fragmenten immer wiederemphatisch hervorgehoben wurde meint also der Kommentatordass sich beide Hypothesen auf eine einzige Gottheit beziehen diedas transzendente Eine und den reflexiven Intellekt als ihre zweiSchichten oder Momente einschlieszligt Der Verfasser des Kommen-tars scheint also die beiden Hypothesen als eine Art sbquodialektischelsquoTheologie zu verstehen die das Goumlttliche unter zwei verschiede-

201Die Theorie des goumlttlichen Selbstbewusstseins im Parmenides-Kommentar

31) Die Dialektik der sbquoInkommensurabilitaumltlsquo (bdquolrsquoincoordinationldquo) und sbquoKom-mensurabilitaumltlsquo (bdquola coordinationldquo) des Einen betrachtet Hadot als einen der Haupt -zuumlge der sbquoporphyrianischen Metaphysiklsquo Entsprechend seiner Hypothese dass derVerfasser des anonymen Kommentars Porphyrios sei den er zugleich fuumlr die grie-chische Quelle haumllt aus der Marius Victorinus geschoumlpft hat meint er dass der an -onyme Parmenides-Kommentar und die theologischen Schriften des Marius Victo-rinus ndash insbesondere Adversus Arium 1b ndash auch in diesem Punkt uumlbereinstimmenVgl Hadot La meacutetaphysique de Porphyre (wie Anm 2) 131 ff ders Porphyre etVictorinus (wie Anm 2) I 139ndash141 259ndash260

nen Aspekten zum Thema macht Vielleicht koumlnnte man auch uumlbereine Art sbquoDialektik der Kommensurabilitaumlt und Inkommensurabi-litaumltlsquo des Einen selbst sprechen insofern der Gesichtspunkt derzweiten Hypothese deren Gegenstand eigentlich der reflexive Intellekt ist zugleich eine neue Perspektive oumlffnet aus der sich das erste Eine in seiner Bezogenheit auf die differenzierten Aktedes Intellekts zeigt Erscheint das (erste) Eine unter dem ersten Gesichtspunkt als inkommensurabel und relationslos so dass manihm jedwede Beziehung zum Intellekt ndash sogar die der Andersheit ndashverweigern muss32 stellt es sich unter dem anderen Gesichtspunktder die Aufmerksamkeit auf das zweite Eine oder den Intellektlenkt zugleich als der einheitsstiftende Akt uumlber den differenzier-ten Akten des reflexiven Intellekts als der konstitutive Urgrundseines Selbstbewusstseins heraus Freilich ist Hadots Ansichtzuruumlckzuweisen die sbquodialektischelsquo Theologie des anonymen Kommentars sei mit dem entsprechenden Konzept in AdversusArium 1b identisch33 Die theologische Auffassung in AdversusArium 1b kann insofern als sbquodialektischlsquo bezeichnet werden als dasEine unter zwei verschiedenen Aspekten behandelt wird in sichund auf das von ihm Verursachte bezogen Das Eine zeigt sich soeinerseits als inkommensurabel und in seiner absoluten Differenz-losigkeit allen gegenstaumlndlichen Kategorien des menschlichenDenkens enthoben andererseits in Bezug darauf wessen Ursprunges ist als universale Ursache die selbst auf eine transzendente undpotenzielle Weise alles ist was aus ihr hervorgeht Waumlhrend unterdem Gesichtspunkt der negativen Theologie dem Einen u a SeinExistenz Leben und Denken abgesprochen wird erweist es sichunter dem Gesichtspunkt der affirmativen Theologie als erste Phase der Selbstkonstitution der goumlttlichen Substanz bzw des Intellekts und als erstes Glied der Dreiheit von sbquoSein ndash Leben ndashDenkenlsquo Als das Sein selbst enthaumllt es in sich auf transzendenteund potenzielle Weise die beiden anderen Glieder ndash Leben undDenken ndash und vereinigt sie in seiner unterschiedslosen Einheit ImVergleich mit dem anonymen Kommentar faumlllt nun auf dass beiVictorinus beide Gesichtspunkte den Methoden der negativen undaffirmativen Theologie entsprechen die ausschlieszliglich auf das ers -te Eine angewandt werden also auf das Eine der ersten Hypothese

202 Vaacutec l av N ěmec

32) Vgl Anon in Parm 31ndash35 (Linguiti 100ndash102)33) Vgl oben Anm 31

des Parmenides das mit Gottvater identifiziert wird Das zweiteEine d h das Eine der zweiten Hypothese das Victorinus demSohn gleichsetzt wird erst spaumlter zum Thema34 und ist nicht in dieDialektik der negativen und affirmativen Theologie einbezogenIm anonymen Kommentar hingegen entsprechen die beiden Ge-sichtspunkte der ersten und der zweiten Hypothese die das den reflexiven Intellekt (das zweite Eine) und seinen uumlber-reflexivenGrund (das erste Eine) umschlieszligende Goumlttliche in seinen beidenAspekten oder Schichten behandeln Obwohl also sowohl in Ad-versus Arium 1b als auch im anonymen Kommentar eine Art sbquoDia-lektik der Kommensurabilitaumlt und Inkommensurabilitaumltlsquo des Einenvorkommt geht es offensichtlich um zwei verschiedene Variantenderen Unterschiedlichkeit wieder die Differenzen zwischen denbeiden metaphysischen Konzepten klar hervortreten laumlsst35

Schlussfolgerungen

Gerade die erwaumlhnten Unterschiede verwischt nun Hadotum den Inhalt des sechsten Fragments mit seiner Hypothese inEinklang zu bringen dass der Verfasser des anonymen Kommen-tars (naumlmlich Porphyrios) mit der griechischen Quelle der theolo-gischen Schriften des Marius Victorinus identisch sei Dabei pro-

203Die Theorie des goumlttlichen Selbstbewusstseins im Parmenides-Kommentar

34) Marius Victorinus Adv Ar 15022 ff (CSEL LXXXIIII 145)35) Diese sbquoJuxtappositionlsquo oder sbquoDialektiklsquo der negativen und affirmativen

Theologie die das Goumlttliche aus zwei verschiedenen Perspektiven betrachtet wo-bei es sich bald als sbquoinkommensurabellsquo bald als sbquokommensurabellsquo zeigt geht wahr-scheinlich auf die mittelplatonische bzw neupythagoreische Tradition zuruumlck VglJ Mansfeld Compatible Alternatives Middle Platonists Theology and the Xeno -phanes Reception in R van den Broek T Baarda J Mansfeld (Hrsg) Know -ledge of God in the Graeco-Roman World Leiden 1988 92ndash117 Eudoros vonAlexandrien fuumlhrt die beiden Betrachtungsweisen mit aumlhnlichen Ausdruumlcken wieder Verfasser des anonymen Kommentars ein (κατ7 τν νωτάτω λόγον κατF -λλον τρόπον bzw κατ7 τν δεύτερον λόγον) Vgl Simplikios In Aristotelis Physica com-mentaria 15 (CAG IX 18110ndash30) Bei Eudoros geht es dennoch um die spezifischeProblematik der pythagoreischen Prinzipienlehre Er bemuumlht sich die sbquomonistischelsquound sbquodualistischelsquo pythagoreische Lehre zu versoumlhnen indem er das Eine einmal alsdas einzige uumlber alle Gegensaumltze erhabene Prinzip betrachtet einmal als ein Gliedder Grundpolaritaumlt sbquodas Eine ndash die unbestimmte Zweiheitlsquo In Adversus Arium 1bund im anonymen Parmenides-Kommentar wird hingegen dieselbe Methode aufdie Problematik der neuplatonischen houmlchsten Prinzipien angewandt ndash obgleich jeweils auf eine andere Art und Weise

jiziert er das Denkschema von Adversus Arium 1b in den Par-menides-Kommentar hinein und entstellt somit gewissermaszligen das hier enthaltene metaphysische Konzept36 Folglich wurde diebemerkenswerte Theorie des goumlttlichen Bewusstseins wie sie imsechsten Fragment dargelegt ist in ihrer Originalitaumlt bislang kaumuntersucht und nur unzureichend bewertet Auch legen die fest-gestellten Differenzen die Vermutung nahe dass der anonymeKommentar bzw sein Verfasser nicht die direkte Quelle des theo-logischen Werkes von Marius Victorinus ndash oder zumindest seinerSchrift Adversus Arium 1b ndash gewesen sein kann Die Unterschiedelassen sich auch nicht wegdiskutieren wenn man darauf hinweistdass der Kommentar uns nur fragmentarisch erhalten blieb oderVictorinus seine Quelle wesentlich umgedeutet haben koumlnnte um sie seinem christlich-theologischen Anliegen anzupassen Wieschon gezeigt sind mehrere Grundzuumlge der beiden metaphysi-schen Konzepte einfach nicht miteinander kompatibel Und gera-de manche Motive durch die sich das metaphysische Schema inAdversus Arium 1b von dem des anonymen Kommentars abhebtz B das Prinzip des Ineinanderseins (und des Vorherrschens) vonSein Leben und Denken begegnen uns wieder bei den spaumlterenNeuplatonikern freilich mit dem Unterschied dass diese sie aufdie niedrigeren Seinsstufen anwenden ohne das Eine mit einem derGlieder der Dreiheit zu identifizieren Der anonyme Kommentarduumlrfte so wohl auf etwas hindeuten das schon durch die Anwe-senheit verschiedener Varianten eines verwandten metaphysischenKonzepts in den theologischen Schriften des Marius Victorinusdie kaum auf eine einzige Quelle zuruumlckzufuumlhren sind angedeutetwird37 die Existenz einer ganzen Traditionslinie des spaumltantiken

204 Vaacutec l av N ěmec

36) Diese Kritik wird freilich geaumluszligert mit der wesentlichen Einschraumlnkungdass es gerade Hadots groszliges Verdienst war die Eigentuumlmlichkeit und Bedeutungder metaphysischen Lehre des anonymen Kommentars im Rahmen des spaumltantikenPlatonismus erkannt und sie zum ersten Mal detailliert und ndash mit den oben er-waumlhnten Ausnahmen ndash praumlzise rekonstruiert zu haben

37) Im theologischen Werk von Marius Victorinus lassen sich mindestensdrei (bzw vier wenn man auch Candidi epistola 1 dazu zaumlhlt) unterschiedliche Va-rianten eines verwandten metaphysischen Systems ausmachen die wahrscheinlichauf verschiedene Quellen zuruumlckgehen Dies versuchte ich in meinem Aufsatz Me-tafysickeacute systeacutemy v theologickeacutem diacutele Maria Victorina in V Hušek L Chvaacutetal J Plaacutetovaacute (Hrsg) Miscellanea patristica Brno 2007 37ndash71 nachzuweisen Vglauch meine Einleitung zur tschechischen Ausgabe des anonymen Parmenides-Kommentars Anonymniacute komentaacuteř k Platoacutenovu Parmenidovi Praha 2009 49ndash69

(Neu-)Platonismus die von der uns bekannten Hauptstroumlmungabweicht und in deren Rahmen verschiedene Versionen einer aumlhn-lichen metaphysischen Auffassung durchdacht wurden

Prag Vaacutec l av N ěmec

205Die Theorie des goumlttlichen Selbstbewusstseins im Parmenides-Kommentar

Page 9: DIE THEORIE DES GÖTTLICHEN SELBSTBEWUSSTSEINS ...Gnosticism and Later Platonism: Themes, Figures, and Texts, Atlanta 2000, 141–177; J.D.Turner, Sethian Gnosticism and the Platonic

reflexiven Erkenntnis gelten darf Um durch die Bewegung desDenkens in sich selbst hineingehen zu koumlnnen muumlsste der Intellektzunaumlchst durch die Bewegung des Lebens aus sich selbst hervorge-hen und sich somit in die Vielheit seiner Akte entfalten was abererst auf der Ebene des reflexiven Intellekts oder des zweiten Einengeschieht Das erste Eine als der Intellekt der bdquonicht in sich selbsthineingehen kannldquo muumlsste sich folglich zuerst als reflexiver Intel-lekt konstituieren um sich selbst reflexiv erfassen zu koumlnnen

Dieser Interpretation widersprechen aber deutlich die For-mulierungen des Kommentators denen zufolge auch der Intellektbzw eines seiner Momente das bdquonicht in sich selbst hineingehenkannldquo durch jenes houmlhere Erkenntnisvermoumlgen gesehen wird dasdem Einen selbst gleichgesetzt wird (131ndash4 139) Der Intellekt indem Zustand in dem er bdquonicht in sich selbst hineingehen kannldquowird ausdruumlcklich als bdquoder geteilte Intellektldquo (136) bezeichnet derschon in sich selbst als in denjenigen in den er nicht hineingehenkann und denjenigen der nicht hineingehen kann differenziertwird (132ndash4) In diesem Intellekt ist also schon eine Unterschei-dung des Denkenden und des Gedachten vorausgesetzt (136ndash7)Die Wendung dass er bdquonicht hineingehen kannldquo bezeichnet gera-de den Zustand in dem dieser Denkende nicht imstande ist sichmit dem Gedachten zu vereinigen Das Eine wird hingegen als jener houmlhere Akt des Intellekts aufgefasst der die beiden Momentein ihrer Identitaumlt und Andersheit fasst und als solcher uumlber die bei-den Momente hinausgeht (134ndash5 1310ndash13) Nicht zuletzt sprichtgegen Hadots Deutung gerade die Tatsache dass der Intellekt(νος) als Subjekt der Partizipialkonstruktion μ δυνάμενος εσελ-θεν ες 6αυτYν zu vermuten ist Es ist wenig wahrscheinlich dassder Kommentator bereit waumlre das erste Eine ausdruumlcklich als sbquoIn-tellektlsquo zu bezeichnen Wenn Hadot bei seiner Interpretation dessechsten Fragments wiederholt zwei Intellekte (bdquoles deux Intelli-gencesldquo) bzw zwei Zustaumlnde des Intellekts (bdquoles deux eacutetats de lrsquoIntelligenceldquo) erwaumlhnt13 geht er von seiner Annahme aus wo-nach der bdquoIntellekt der nicht in sich selbst hineingehen kannldquo mitdem Einen identisch waumlre Diese Redeweise scheint aber demKommentator selbst fremd zu sein

Eine alternative Interpretation hat Gerard Bechtle vorge-schlagen Bechtle meint gerade umgekehrt der Intellekt der bdquonicht

193Die Theorie des goumlttlichen Selbstbewusstseins im Parmenides-Kommentar

13) Vgl Hadot Porphyre et Victorinus (wie Anm 2) I 133ndash138 II 107ndash113

hineingehen kannldquo sei mit dem reflexiven Intellekt identischwaumlhrend der Intellekt der bdquoin sich selbst hineingehen kannldquo mitdem (ersten) Einen selbst als der transzendenten Wurzel des re-flexiven Intellekts zusammenfalle14 Diese Deutung begegnet den-noch einer aumlhnlichen Schwierigkeit wie die oben skizzierte Inter-pretation Hadots In der Zeile 137ndash9 heiszligt es naumlmlich dass jenervereinigende Akt der mit dem Einen selbst identifiziert wird denIntellekt sowohl in dem Zustand bdquosiehtldquo in dem er bdquonicht hinein-gehen kannldquo als auch in dem Zustand in dem bdquodas Denkende sichmit dem Gedachten vereinigtldquo d h in dem er gerade bdquoin sich selbsthineingehtldquo Daraus ergibt sich dass dieser houmlhere Akt sich vonbeiden Zustaumlnden des Intellekts unterscheiden muss Es ist also offensichtlich dass mit dem bdquoIntellekt der nicht in sich selbst hineingehen kannldquo weder das Eine als transzendentes Moment desIntellekts noch der reflexive Intellekt als solcher gemeint sind Wasmag diese Formel dann bedeuten

Nach dem Ausklammern der beiden erwaumlhnten Interpreta-tionen bleibt grundsaumltzlich nur noch die Moumlglichkeit dass dieseFormel einen Zustand oder eine Phase des reflexiven Intellektsbzw einen seiner Akte bezeichnet Um welche Phase oder welchenAkt des reflexiven Intellekts es sich handelt wird durch den Satzin Zeile 1418ndash20 angedeutet bdquoWenn aber der Intellekt aus der Existenz hervorgegangen (μετε]ξ[έλθS) und zum Denkenden ge-worden ist um zum Gedachten zuruumlckzukehren (πανέλθS ες τνοητόν ndash woumlrtlich um ins Gedachte zuruumlckzugehen)15 und sichselbst anzuschauen dann ist das Denkende das Lebenldquo Es liegtnahe dass der bdquoIntellekt der nicht in sich selbst hineingehenkannldquo mit dem Leben als dem Akt des Intellekts identisch ist deraus der Existenz hervorgegangen ist oder genauer gesagt mit demin die Existenz und das Leben gespaltenen Intellekt sbquobevorlsquo erdurch die Ruumlckbewegung des Denkens zu sich selbst zuruumlckkehrtWaumlhrend die Existenz als bdquoder in Ruhe verbleibende Aktldquo denAusgangszustand des Intellekts darstellt in dem das Denkende mitdem Gedachten zusammenfaumlllt differenziert sich der Intellektdurch die Bewegung des Lebens in die Existenz als das Gedachte

194 Vaacutec l av N ěmec

14) Vgl Bechtle (wie Anm 3) 185ndash186 191ndash19615) Der Kommentator verwendet hier die Verba μετεξέρχομαι und πανέρ-

χομαι die aus derselben Wurzel wie εσέρχομαι gebildet sind wobei das πανέρχο-μαι wahrscheinlich mit dem εσέρχομαι synonym ist

und ins Leben als das Denkende wobei das Hervorgehen des Le-bens in die Ruumlckbewegung des Denkens wieder transformiert wer-den muss damit bdquodas Denkende zum Gedachten zuruumlckkehrtldquoErst in dieser Endphase der reflexiven Bewegung wird also der Zu-stand erlangt in dem das Denkende sich mit dem Gedachten wie-der vereinigt d h der bdquoIntellekt in sich selbst hineingehtldquo Es sindgerade diese Phasen oder Akte ndash Existenz Leben und Denken ndashdie das Eine als der Urakt des Intellekts bdquoin ihrer Identitaumlt und An-dersheit fasstldquo und als bdquoseine Organe gebrauchtldquo (1310ndash13) DasEine als die transzendente Wurzel des reflexiven Intellekts ist dieGrundvoraussetzung dafuumlr dass der reflexive Intellekt sich in jederPhase der Identitaumlt aller seiner Akte bewusst ist und dass er als der Denkende sich selbst als den Gedachten identifizieren kannauch wenn er in die verschiedenen Momente gespalten ist Das Einewird so als ein uumlber-reflexiver Akt begriffen der die Einheit undIdentitaumlt der verschiedenen Akte oder Momente des reflexiven In-tellekts garantiert und ihre gegenseitige Selbstidentifizierung er-moumlglicht Folglich ist es auch das Eine das gewaumlhrleistet dass derreflexive Intellekt bdquoin sich selbst hineingehen kannldquo

Vergleich mit dem Gemeinsinn

Diese Interpretation wird durch den folgenden Textabschnittbekraumlftigt in dem jenes houmlhere Vermoumlgen des Intellekts das mitdem Einen selbst zusammenfaumlllt mit dem aristotelischen sbquounter-scheidenden Sinnesvermoumlgenlsquo verglichen wird Hier lehnt sich derKommentator eng an eine Stelle aus dem dritten Buch De animaan16 wo Aristoteles die Frage aufwirft wie sich Unterschiede zwi-schen den verschiedenen Sinnesempfindungen feststellen lassen17

Bei der Loumlsung dieser Frage erlaumlutert Aristoteles dass jedes Sin-nesvermoumlgen sich jeweils auf die ihm zugehoumlrigen Wahrneh-mungsgegenstaumlnde oder Wahrnehmungsqualitaumlten bezieht aberkeinem das Wahrnehmbare fassbar ist fuumlr das die anderen Sinnezustaumlndig sind Demgemaumlszlig kann jeder Sinn zwar die Unterschiedezwischen den ihm zugehoumlrigen Wahrnehmungsgegenstaumlnden be-

195Die Theorie des goumlttlichen Selbstbewusstseins im Parmenides-Kommentar

16) Aristoteles De anima 426b8ndash2217) Vgl H-J Horn Studien zum dritten Buch der aristotelischen Schrift De

anima Goumlttingen 1994 39

urteilen keines der getrennten Sinnesvermoumlgen aber ist imstandedie Gegenstaumlnde quer durch mehrere Wahrnehmungsbereiche ndashz B das Weiszlige und das Suumlszlige ndash zu unterscheiden Da es sich aberimmer um Wahrnehmbares handelt muumlssen auch die Unterschie-de zwischen Wahrnehmungsgegenstaumlnden die in den Kompetenz-bereich verschiedener Sinne fallen durch ein Sinnesvermoumlgen fest-gestellt werden das von den uumlbrigen Sinnen abgegrenzt ist Gera-de dieses eigentuumlmliche Sinnesvermoumlgen nennt Aristoteles sbquodas unterscheidendelsquo (τ κρνον) Wenn es auch nirgends explizit ge-sagt wird scheint er dieses Vermoumlgen mit dem sbquogemeinsamen Sinnlsquo( κοιν αOσθησις) gleichzusetzen18 Diesem sbquogemeinsamen Sinnlsquoschreibt er weitere Funktionen zu wie etwa die Wahrnehmung sbquoge-meinsamer Wahrnehmungsgegenstaumlndelsquo die von mehreren Sinnenzugleich erfasst werden aber auch ein elementares Selbstbewusst-sein das jeden Wahrnehmungsakt begleitet (wie z B mein Sehaktvon dem Bewusstsein begleitet wird dass ich sehe)19

Gerade an diese Motive der aristotelischen Psychologie knuumlpftder Kommentator an mit der Parallele die er zwischen der Sinnes-wahrnehmung und dem Intellekt zieht Aumlhnlich wie die Sinnes -vermoumlgen ist auch der reflexive Intellekt in seine verschiedenen Momente oder Akte aufgespalten von denen jeder seine eigeneFunktion und seinen eigenen Kompetenzbereich besitzt weshalbaber auch keiner imstande ist sich auf die anderen Akte und auf dasvon ihnen Intendierte zu beziehen und sie in ihrer Andersheit undIdentitaumlt zu erkennen Deshalb muss es auch auf der Ebene des In-tellekts ein besonderes Vermoumlgen ndash aumlhnlich dem sbquounterscheidendenlsquooder sbquogemeinsamenlsquo Sinn ndash geben das von allen Vermoumlgen oder Ak-ten des reflexiven Intellekts verschieden ist und uumlber sie hinausgehtGenau wie der sensus communis ist es ein aktiver Keim des Intellektsder alle differenzierten Akte beruumlhrt sie als seine Organe gebrauchtund diese zugleich vereinigt und ihre Selbigkeit stiftet Und ebensowie der sbquogemeinsame Sinnlsquo muss dieser vereinigende Akt uumlber allenAkten ein einziger sein ja er faumlllt mit dem (ersten) Einen zusammen

196 Vaacutec l av N ěmec

18) Zum sbquogemeinsamen Sinnlsquo siehe z B Aristoteles De an 425a27 ZurGleichsetzung des sbquounterscheidenden Sinneslsquo mit dem sensus communis bei Aristo-teles vgl z B A-E Chaignet Essai sur la psychologie drsquoAristote Bruxelles 1966375 378ndash381 Diese Identifikation zieht allerdings D W Hamlyn in Zweifel VglAristotle De Anima Books II and III Translated with Introduction and Notes byD W Hamlyn Oxford 2002 128ndash129

19) Vgl Chaignet (wie Anm 18) 375ndash382

Der Vergleich mit dem sbquogemeinsamenlsquo Sinn wirft ein klaumlren-des Licht auf die vorausgehende Passage (131ndash23) Der Kommen-tator schreibt dem Einen in seinem Bezug auf die Akte des reflexi-ven Intellekts eine aumlhnliche Funktion zu wie sie der sensus com-munis als Organ des elementaren Selbstbewusstseins ausuumlbt dasdie Wahrnehmungsakte begleitet Das Eine begleitet die einzelnenAkte des reflexiven Intellekts und vereinigt sie so alle in sich selbstals in einem einzigen Zentrum Als dieses uumlber-reflexive und Ein-heit stiftende Moment bildet das Eine einen konstitutiven und er-moumlglichenden Grund des reflexiven Selbstbewusstseins des Intel-lekts Auf den ersten Blick scheint der Vergleich insoweit zu hin-ken als die Wahrnehmungsakte ausschlieszliglich auf die aumluszligeren Gegenstaumlnde gerichtet und im Prinzip nicht zu einem Selbstbezugfaumlhig sind waumlhrend durch die Akte des reflexiven Intellekts sichgerade der denkende Selbstbezug vollzieht in dem bdquoder Denkendesich mit dem Gedachten vereinigtldquo Der Kommentator scheintdennoch davon uumlberzeugt zu sein dass die differenzierten Akte desreflexiven Intellekts an sich auszligerstande sind diesen Selbstbezugzu bewirken und zu gewaumlhrleisten Die unabdingbare Grundbe-dingung der Moumlglichkeit des reflexiven Selbstbezuges wie er imdurch die Dreiheit der Akte strukturierten Intellekt realisiert wirdstellt gerade das mit dem Einen identifizierte houmlhere Vermoumlgenoder der vereinigende Akt dar der alle differenzierten Akte beglei-tet und ihre Einheit und Selbigkeit in der Vielheit und Andersheitgarantiert Das Selbstbewusstsein auf der Ebene des reflexiven Intellekts das sich durch die Dualitaumlt des Denkenden und des Gedachten auszeichnet ist so in einem houmlheren oder tieferen nicht-reflexiven oder uumlber-reflexiven Selbstbewusstsein gegruumlndet des-sen Quelle und Subjekt das transzendente Eine selbst ist

Das Eine und die Dreiheit von sbquoExistenz ndash Leben ndash Denkenlsquo

Aus dem Gesagten wird auch ersichtlich dass das Eine von allen Strukturmomenten oder Akten des reflexiven Intellekts ingleichem Maszlige verschieden sein muss und mit keinem von ihnenidentifiziert werden kann Aus diesem Grund ist auch die Inter-preta tion Hadots abzulehnen wonach das Eine schlieszliglich mitdem ersten Glied der Dreiheit von sbquoExistenz ndash Leben ndash Denkenlsquoidentisch sein soll Diese Auslegung gruumlndet sich auf die Annahme

197Die Theorie des goumlttlichen Selbstbewusstseins im Parmenides-Kommentar

die Existenz als einer der Akte des reflexiven Intellekts falle mitdem sbquoSeinlsquo zusammen das im fuumlnften Fragment mit dem Einenselbst gleichgesetzt wurde20 Diese Identifizierung des sbquoSeinslsquo mitder sbquoExistenzlsquo laumlsst sich aber in keinem der erhaltenen Fragmentedes Kommentars belegen und waumlre mit dessen metaphysischemKonzept auch kaum vereinbar Der eigentliche Grund fuumlr HadotsGleichsetzung dieser zwei Termini ist die Tatsache dass sie beidein den theologischen Schriften des Marius Victorinus ndash insbeson-dere in Adversus Arium 1b ndash zusammenzuflieszligen scheinen Geradein der genannten Schrift erhebt Marius Victorinus die Dreiheit vonsbquoSein (bzw Existenz) ndash Leben ndash Denkenlsquo zum zentralen konzeptu-ellen Modell fuumlr seine Eroumlrterung der Wesensgleichheit von VaterSohn und heiligem Geist Im Rahmen seiner Transponierung derchristlich-theologischen Problematik auf den Boden einer (neu-)platonischen metaphysischen Prinzipienlehre fasst Victorinus denGottvater als das transzendente bdquoEine ohne Existenzldquo (inexsisten-tialiter unum) auf dem durch die negative Theologie u a Sein Existenz Seiendes Substanz Denken abgesprochen werden21 dasaber von der affirmativen Theologie zugleich als bdquodreimaumlchtigerGeistldquo (tripotens spiritus) gepriesen wird der die Vermoumlgen desSeins des Lebens und des Denkens in sich einschlieszligt Unter die-sem Gesichtspunkt wird Gottvater primaumlr als das reine Sein (esse)betrachtet das in seiner transzendenten Einheit und Verborgenheitdas Leben und das Denken in ihrer potenziellen Praumlexistenz be-inhaltet22 Der Sohn und der Heilige Geist werden dann geradedem aktualisierten und geaumluszligerten Leben (vita) und Denken (in-

198 Vaacutec l av N ěmec

20) Vgl Hadot Porphyre et Victorinus (wie Anm 2) I 13321) Marius Victorinus Adversus Arium 1499ndash18 (CSEL LXXXIIII 143)

Ante omnia quae vere sunt unum fuit sive unalitas sive ipsum unum antequam sitei esse unum unum ante omnem exsistentiam ante omnem exsistentialitatem ante ipsum ν hoc enim unum ante ν ante omnem igitur essentitatem substantiamsubsistentiam et adhuc omnia quae potentiora unum sine exsistentia sine substan-tia sine intellegentia

22) Marius Victorinus Adv Ar 1501ndash15 (CSEL LXXXIIII 144ndash145) Hicest deus hic pater praeintellegentia praeexsistens et praeexsistentia tripotens inunalitate spiritus tres potentias couniens exsistentiam omnem vitam omnem etbeatitudinem sed ista omnia et unum et simplex unum et maxime in potentia eiusquod est esse hoc est exsistentiae potentia vitae et beatitudinis 1523ndash9 (CSELLXXXIIII 148) Deus potentia est istarum trium potentiarum exsistentiae vitaebeatitudinis hoc est eius quod est esse quod vivere quod intellegere Et quod estesse primum et secundum quod est esse secundum ipsum vivere et intellegere sineulla unitione sed simpliciter simplicitas et istud manifestum

tellegentia bzw sapientia beatitudo) gleichgesetzt die zugleich alszwei Phasen des bdquoHervorgehensldquo (progressio) und der bdquoRuumlckkehrldquo(regressus) begriffen werden durch die das zweite Eine ndash das bdquoEinein der Existenzldquo (exsistentialiter unum) ndash konstituiert wird23 SeinLeben und Denken zeigen sich so als die drei Phasen ndash VerharrenHervorgehen und Ruumlckkehr24 ndash in denen sich die goumlttliche Sub-stanz aus ihrer transzendenten Wurzel in die Vielheit und Anders-heit hinein entfaltet um die urspruumlngliche Selbigkeit mit ihremtranszendenten Grund wiederherzustellen und sich selbst als einreflexiv denkendes Wesen zu konstituieren25 Die substanzielleIdentitaumlt von Sein Leben und Denken wird dabei durch ihr ge-genseitiges Ineinandersein ermoumlglicht Jedes Glied impliziert diezwei anderen auf seine eigene Art und Weise Ihre Differenz ergibtsich dagegen daraus dass in jeder Phase jeweils ein Glied der Drei-heit uumlber die anderen herrscht und in den Vordergrund tritt26

Obwohl man eine konzeptuelle Verwandtschaft zwischenAdversus Arium 1b und dem anonymen Parmenides-Kommentarkaum bestreiten kann ndash diese besteht besonders darin dass in bei-den Texten das erste Eine mit dem reinen Sein identifiziert wirddas sich vom Seienden bzw dem seienden Einen abgrenzt und dassdie Dreiheit sbquoExistenz ndash Leben ndash Denkenlsquo eine zentrale Rolle beider Eroumlrterung der reflexiven Bewegung bzw der Konstitution desIntellekts spielt ndash sind auch einige wesentliche Unterschiede nichtzu verkennen Im anonymen Kommentar kann vor allem keineAnwendung der Dreiheit auf das erste Eine nachgewiesen werdenSein Verfasser setzt zwar das Eine dem reinen Sein gleich das alsreine Wirksamkeit verschieden ist vom substanziellen Seienden

199Die Theorie des goumlttlichen Selbstbewusstseins im Parmenides-Kommentar

23) Marius Victorinus Adv Ar 15110ndash27 (CSEL LXXXIIII 146ndash147)Potentia enim progrediente ista motio nusquam requiescens quippe vita quaesit infinita et ipsa in vivificatione veluti foris apparuit Vita autem filius vita mo-tio a vitali praeexsistentia vita exsistentia Ista igitur exsistentia totius exsistentiaeest vita et iuxta quod vita motus quasi femineam sortita est potentiam hoc quodconcupivit vivificare Sed quoniam ista motio una cum sit et vita est et sapien-tia vita conversa in sapientiam et magis in exsistentiam patricam magis autem retromotae motionis in patricam potentiam et ab ipso viltrgtificata vita recurrens in patrem vir effecta est Descensio enim vita ascensio sapientia Vgl auch 15220ndash35(CSEL LXXXIIII 148ndash149)

24) Marius Victorinus Hymnus 371ndash74 (CSEL LXXXIIII 297) Statusprogressio regressus o beata trinitas

25) Vgl Marius Victorinus Adv Ar 1577ndash21 (CSEL LXXXIIII 155ndash156)26) Vgl Hadot Porphyre et Victorinus (wie Anm 2) I 239ndash246

und er spricht dem Einen auch eine Art uumlber-reflexives Denken zunie aber wendet er die Dreiheit sbquoSein ndash Leben ndash Denkenlsquo auf das erste Eine an nicht einmal im Sinne einer potenziellen und uumlber-substanziellen Praumlexistenz (praeexsistentia ndash praeviventia ndash prae -intellegentia) wie es Victorinus in Adversus Arium 1b und imzweiten Teil von Adversus Arium 4 tut27 oder im Sinne der reinenAkte (esse ndash vivere ndash intellegere) wie es insbesondere im ersten Teilvon Adversus Arium 4 geschieht28 Die Dreiheit erscheint im Kom-mentar nur in substanzieller Form und bleibt der Ebene des Intel-lekts immanent Im fuumlnften Fragment kritisiert der Kommentatorsogar ausdruumlcklich die Chaldaumlischen Orakel oder ihre Auslegerweil sie der houmlchsten Gottheit eine trinitarische Struktur zuwei-sen29 Manche seiner Formulierungen erwecken dabei den Ein-druck dass er bei seiner Kritik ein aumlhnliches theologisches Kon-zept im Auge gehabt haben mochte wie es uns gerade in AdversusArium 1b begegnet Das Eine wird vom Kommentator keineswegsals Ausgangsglied der Dreiheit aufgefasst aus dem das Leben her-vorginge und zu dem das Denken zuruumlckkehrte wie es in Adver-sus Arium 1b begriffen wird Dementsprechend ist das Eine auchnicht sbquoder Gegenstandlsquo des Erkennens des zweiten Einen in demdas zweite Eine zugleich sich selbst in seiner potenziellen undtranszendenten Praumlexistenz erfasst sondern es ist der Akt der inallen drei Akten oder Momenten wirkt der ihre Einheit stiftet undzugleich uumlber sie hinausgeht Auch wenn der Kommentator dasEine mit dem Sein identifiziert setzt er nie das Sein mit der Exis -tenz gleich und nichts scheint davon zu zeugen dass die Existenzmit dem transzendenten Moment des Intellekts (dem ersten Einen)zusammenfallen sollte30 Der Verfasser des anonymen Kommen-tars verwendet im Gegenteil unterschiedliche Ausdruumlcke um dieverschiedenen Tatsachen hervorzuheben Waumlhrend der TerminussbquoSeinlsquo dem ersten Einen als der Ursache oder der sbquoIdeelsquo des intelli-giblen Seienden vorbehalten ist soll das Wort sbquoExistenzlsquo das ersteMoment der reflexiven Bewegung des Intellekts oder des zweiten

200 Vaacutec l av N ěmec

27) Vgl z B Marius Victorinus Adv Ar 42318ndash34 (CSEL LXXXIIII 260)28) Vgl z B Marius Victorinus Adv Ar 464ndash7 (CSEL LXXXIIII 231ndash

232) 489ndash30 (CSEL LXXXIIII 235ndash236) 42126ndash28 (CSEL LXXXIIII 257)29) Vgl Anon in Parm 91ndash1011 (Linguiti 118ndash120)30) Darauf hat schon Andrew Smith hingewiesen Vgl ders Zπόστασις and

0παρξις in Porphyry in F Romano D P Taormina (Hrsg) Hyparxis e hyposta-sis nel neoplatonismo Firenze 1994 33ndash41 hier 41

Einen bezeichnen im Unterschied zum sbquoSeiendenlsquo das als Benen-nung fuumlr die ganze Hypostase dient Im anonymen Kommentarfindet man auch kein Anzeichen fuumlr das Prinzip eines wechsel -seitigen Ineinanderseins (und des Vorherrschens) von Existenz Leben und Denken das eine zentrale Rolle in Adversus Arium 1b3 und 4 ndash und im spaumlteren Neuplatonismus uumlberhaupt ndash spielt

Dialektik der negativen und affirmativen Theologie

Auch die ganze Problematik der sbquoInkommensurabilitaumltlsquo bzwsbquoKommensurabilitaumltlsquo des ersten Einen mit dem zweiten Einen be-handelt der Verfasser des Kommentars anders als Marius Victori-nus in Adversus Arium 1b31 Dem Kommentator zufolge zeigt sichdas Goumlttliche bdquounter dem einen Gesichtspunktldquo (κατF -λλο bzwκατ7 τν πρώτην δέαν) d h bdquoes selbst in sich selbst gesehenldquo alsdas einfache Eine das bdquonicht ausgesprochen und gedacht werdenkannldquo bdquounter dem anderen Gesichtspunktldquo (κατF -λλο) hingegenwird es als der in sich durch Reflexion differenzierte Intellekt be-trachtet der sich in die Vielheit seiner Akte ndash Existenz Leben undDenken ndash hinein entfaltet Wie der Schluss des sechsten Fragmentsbezeugt entsprechen diese zwei Gesichtspunkte der ersten und derzweiten Hypothese des Parmenides Trotz der sbquoontologischen Dif-ferenzlsquo zwischen dem ersten Einen und dem Intellekt (dem zwei-ten Einen) die in den vorausgehenden Fragmenten immer wiederemphatisch hervorgehoben wurde meint also der Kommentatordass sich beide Hypothesen auf eine einzige Gottheit beziehen diedas transzendente Eine und den reflexiven Intellekt als ihre zweiSchichten oder Momente einschlieszligt Der Verfasser des Kommen-tars scheint also die beiden Hypothesen als eine Art sbquodialektischelsquoTheologie zu verstehen die das Goumlttliche unter zwei verschiede-

201Die Theorie des goumlttlichen Selbstbewusstseins im Parmenides-Kommentar

31) Die Dialektik der sbquoInkommensurabilitaumltlsquo (bdquolrsquoincoordinationldquo) und sbquoKom-mensurabilitaumltlsquo (bdquola coordinationldquo) des Einen betrachtet Hadot als einen der Haupt -zuumlge der sbquoporphyrianischen Metaphysiklsquo Entsprechend seiner Hypothese dass derVerfasser des anonymen Kommentars Porphyrios sei den er zugleich fuumlr die grie-chische Quelle haumllt aus der Marius Victorinus geschoumlpft hat meint er dass der an -onyme Parmenides-Kommentar und die theologischen Schriften des Marius Victo-rinus ndash insbesondere Adversus Arium 1b ndash auch in diesem Punkt uumlbereinstimmenVgl Hadot La meacutetaphysique de Porphyre (wie Anm 2) 131 ff ders Porphyre etVictorinus (wie Anm 2) I 139ndash141 259ndash260

nen Aspekten zum Thema macht Vielleicht koumlnnte man auch uumlbereine Art sbquoDialektik der Kommensurabilitaumlt und Inkommensurabi-litaumltlsquo des Einen selbst sprechen insofern der Gesichtspunkt derzweiten Hypothese deren Gegenstand eigentlich der reflexive Intellekt ist zugleich eine neue Perspektive oumlffnet aus der sich das erste Eine in seiner Bezogenheit auf die differenzierten Aktedes Intellekts zeigt Erscheint das (erste) Eine unter dem ersten Gesichtspunkt als inkommensurabel und relationslos so dass manihm jedwede Beziehung zum Intellekt ndash sogar die der Andersheit ndashverweigern muss32 stellt es sich unter dem anderen Gesichtspunktder die Aufmerksamkeit auf das zweite Eine oder den Intellektlenkt zugleich als der einheitsstiftende Akt uumlber den differenzier-ten Akten des reflexiven Intellekts als der konstitutive Urgrundseines Selbstbewusstseins heraus Freilich ist Hadots Ansichtzuruumlckzuweisen die sbquodialektischelsquo Theologie des anonymen Kommentars sei mit dem entsprechenden Konzept in AdversusArium 1b identisch33 Die theologische Auffassung in AdversusArium 1b kann insofern als sbquodialektischlsquo bezeichnet werden als dasEine unter zwei verschiedenen Aspekten behandelt wird in sichund auf das von ihm Verursachte bezogen Das Eine zeigt sich soeinerseits als inkommensurabel und in seiner absoluten Differenz-losigkeit allen gegenstaumlndlichen Kategorien des menschlichenDenkens enthoben andererseits in Bezug darauf wessen Ursprunges ist als universale Ursache die selbst auf eine transzendente undpotenzielle Weise alles ist was aus ihr hervorgeht Waumlhrend unterdem Gesichtspunkt der negativen Theologie dem Einen u a SeinExistenz Leben und Denken abgesprochen wird erweist es sichunter dem Gesichtspunkt der affirmativen Theologie als erste Phase der Selbstkonstitution der goumlttlichen Substanz bzw des Intellekts und als erstes Glied der Dreiheit von sbquoSein ndash Leben ndashDenkenlsquo Als das Sein selbst enthaumllt es in sich auf transzendenteund potenzielle Weise die beiden anderen Glieder ndash Leben undDenken ndash und vereinigt sie in seiner unterschiedslosen Einheit ImVergleich mit dem anonymen Kommentar faumlllt nun auf dass beiVictorinus beide Gesichtspunkte den Methoden der negativen undaffirmativen Theologie entsprechen die ausschlieszliglich auf das ers -te Eine angewandt werden also auf das Eine der ersten Hypothese

202 Vaacutec l av N ěmec

32) Vgl Anon in Parm 31ndash35 (Linguiti 100ndash102)33) Vgl oben Anm 31

des Parmenides das mit Gottvater identifiziert wird Das zweiteEine d h das Eine der zweiten Hypothese das Victorinus demSohn gleichsetzt wird erst spaumlter zum Thema34 und ist nicht in dieDialektik der negativen und affirmativen Theologie einbezogenIm anonymen Kommentar hingegen entsprechen die beiden Ge-sichtspunkte der ersten und der zweiten Hypothese die das den reflexiven Intellekt (das zweite Eine) und seinen uumlber-reflexivenGrund (das erste Eine) umschlieszligende Goumlttliche in seinen beidenAspekten oder Schichten behandeln Obwohl also sowohl in Ad-versus Arium 1b als auch im anonymen Kommentar eine Art sbquoDia-lektik der Kommensurabilitaumlt und Inkommensurabilitaumltlsquo des Einenvorkommt geht es offensichtlich um zwei verschiedene Variantenderen Unterschiedlichkeit wieder die Differenzen zwischen denbeiden metaphysischen Konzepten klar hervortreten laumlsst35

Schlussfolgerungen

Gerade die erwaumlhnten Unterschiede verwischt nun Hadotum den Inhalt des sechsten Fragments mit seiner Hypothese inEinklang zu bringen dass der Verfasser des anonymen Kommen-tars (naumlmlich Porphyrios) mit der griechischen Quelle der theolo-gischen Schriften des Marius Victorinus identisch sei Dabei pro-

203Die Theorie des goumlttlichen Selbstbewusstseins im Parmenides-Kommentar

34) Marius Victorinus Adv Ar 15022 ff (CSEL LXXXIIII 145)35) Diese sbquoJuxtappositionlsquo oder sbquoDialektiklsquo der negativen und affirmativen

Theologie die das Goumlttliche aus zwei verschiedenen Perspektiven betrachtet wo-bei es sich bald als sbquoinkommensurabellsquo bald als sbquokommensurabellsquo zeigt geht wahr-scheinlich auf die mittelplatonische bzw neupythagoreische Tradition zuruumlck VglJ Mansfeld Compatible Alternatives Middle Platonists Theology and the Xeno -phanes Reception in R van den Broek T Baarda J Mansfeld (Hrsg) Know -ledge of God in the Graeco-Roman World Leiden 1988 92ndash117 Eudoros vonAlexandrien fuumlhrt die beiden Betrachtungsweisen mit aumlhnlichen Ausdruumlcken wieder Verfasser des anonymen Kommentars ein (κατ7 τν νωτάτω λόγον κατF -λλον τρόπον bzw κατ7 τν δεύτερον λόγον) Vgl Simplikios In Aristotelis Physica com-mentaria 15 (CAG IX 18110ndash30) Bei Eudoros geht es dennoch um die spezifischeProblematik der pythagoreischen Prinzipienlehre Er bemuumlht sich die sbquomonistischelsquound sbquodualistischelsquo pythagoreische Lehre zu versoumlhnen indem er das Eine einmal alsdas einzige uumlber alle Gegensaumltze erhabene Prinzip betrachtet einmal als ein Gliedder Grundpolaritaumlt sbquodas Eine ndash die unbestimmte Zweiheitlsquo In Adversus Arium 1bund im anonymen Parmenides-Kommentar wird hingegen dieselbe Methode aufdie Problematik der neuplatonischen houmlchsten Prinzipien angewandt ndash obgleich jeweils auf eine andere Art und Weise

jiziert er das Denkschema von Adversus Arium 1b in den Par-menides-Kommentar hinein und entstellt somit gewissermaszligen das hier enthaltene metaphysische Konzept36 Folglich wurde diebemerkenswerte Theorie des goumlttlichen Bewusstseins wie sie imsechsten Fragment dargelegt ist in ihrer Originalitaumlt bislang kaumuntersucht und nur unzureichend bewertet Auch legen die fest-gestellten Differenzen die Vermutung nahe dass der anonymeKommentar bzw sein Verfasser nicht die direkte Quelle des theo-logischen Werkes von Marius Victorinus ndash oder zumindest seinerSchrift Adversus Arium 1b ndash gewesen sein kann Die Unterschiedelassen sich auch nicht wegdiskutieren wenn man darauf hinweistdass der Kommentar uns nur fragmentarisch erhalten blieb oderVictorinus seine Quelle wesentlich umgedeutet haben koumlnnte um sie seinem christlich-theologischen Anliegen anzupassen Wieschon gezeigt sind mehrere Grundzuumlge der beiden metaphysi-schen Konzepte einfach nicht miteinander kompatibel Und gera-de manche Motive durch die sich das metaphysische Schema inAdversus Arium 1b von dem des anonymen Kommentars abhebtz B das Prinzip des Ineinanderseins (und des Vorherrschens) vonSein Leben und Denken begegnen uns wieder bei den spaumlterenNeuplatonikern freilich mit dem Unterschied dass diese sie aufdie niedrigeren Seinsstufen anwenden ohne das Eine mit einem derGlieder der Dreiheit zu identifizieren Der anonyme Kommentarduumlrfte so wohl auf etwas hindeuten das schon durch die Anwe-senheit verschiedener Varianten eines verwandten metaphysischenKonzepts in den theologischen Schriften des Marius Victorinusdie kaum auf eine einzige Quelle zuruumlckzufuumlhren sind angedeutetwird37 die Existenz einer ganzen Traditionslinie des spaumltantiken

204 Vaacutec l av N ěmec

36) Diese Kritik wird freilich geaumluszligert mit der wesentlichen Einschraumlnkungdass es gerade Hadots groszliges Verdienst war die Eigentuumlmlichkeit und Bedeutungder metaphysischen Lehre des anonymen Kommentars im Rahmen des spaumltantikenPlatonismus erkannt und sie zum ersten Mal detailliert und ndash mit den oben er-waumlhnten Ausnahmen ndash praumlzise rekonstruiert zu haben

37) Im theologischen Werk von Marius Victorinus lassen sich mindestensdrei (bzw vier wenn man auch Candidi epistola 1 dazu zaumlhlt) unterschiedliche Va-rianten eines verwandten metaphysischen Systems ausmachen die wahrscheinlichauf verschiedene Quellen zuruumlckgehen Dies versuchte ich in meinem Aufsatz Me-tafysickeacute systeacutemy v theologickeacutem diacutele Maria Victorina in V Hušek L Chvaacutetal J Plaacutetovaacute (Hrsg) Miscellanea patristica Brno 2007 37ndash71 nachzuweisen Vglauch meine Einleitung zur tschechischen Ausgabe des anonymen Parmenides-Kommentars Anonymniacute komentaacuteř k Platoacutenovu Parmenidovi Praha 2009 49ndash69

(Neu-)Platonismus die von der uns bekannten Hauptstroumlmungabweicht und in deren Rahmen verschiedene Versionen einer aumlhn-lichen metaphysischen Auffassung durchdacht wurden

Prag Vaacutec l av N ěmec

205Die Theorie des goumlttlichen Selbstbewusstseins im Parmenides-Kommentar

Page 10: DIE THEORIE DES GÖTTLICHEN SELBSTBEWUSSTSEINS ...Gnosticism and Later Platonism: Themes, Figures, and Texts, Atlanta 2000, 141–177; J.D.Turner, Sethian Gnosticism and the Platonic

hineingehen kannldquo sei mit dem reflexiven Intellekt identischwaumlhrend der Intellekt der bdquoin sich selbst hineingehen kannldquo mitdem (ersten) Einen selbst als der transzendenten Wurzel des re-flexiven Intellekts zusammenfalle14 Diese Deutung begegnet den-noch einer aumlhnlichen Schwierigkeit wie die oben skizzierte Inter-pretation Hadots In der Zeile 137ndash9 heiszligt es naumlmlich dass jenervereinigende Akt der mit dem Einen selbst identifiziert wird denIntellekt sowohl in dem Zustand bdquosiehtldquo in dem er bdquonicht hinein-gehen kannldquo als auch in dem Zustand in dem bdquodas Denkende sichmit dem Gedachten vereinigtldquo d h in dem er gerade bdquoin sich selbsthineingehtldquo Daraus ergibt sich dass dieser houmlhere Akt sich vonbeiden Zustaumlnden des Intellekts unterscheiden muss Es ist also offensichtlich dass mit dem bdquoIntellekt der nicht in sich selbst hineingehen kannldquo weder das Eine als transzendentes Moment desIntellekts noch der reflexive Intellekt als solcher gemeint sind Wasmag diese Formel dann bedeuten

Nach dem Ausklammern der beiden erwaumlhnten Interpreta-tionen bleibt grundsaumltzlich nur noch die Moumlglichkeit dass dieseFormel einen Zustand oder eine Phase des reflexiven Intellektsbzw einen seiner Akte bezeichnet Um welche Phase oder welchenAkt des reflexiven Intellekts es sich handelt wird durch den Satzin Zeile 1418ndash20 angedeutet bdquoWenn aber der Intellekt aus der Existenz hervorgegangen (μετε]ξ[έλθS) und zum Denkenden ge-worden ist um zum Gedachten zuruumlckzukehren (πανέλθS ες τνοητόν ndash woumlrtlich um ins Gedachte zuruumlckzugehen)15 und sichselbst anzuschauen dann ist das Denkende das Lebenldquo Es liegtnahe dass der bdquoIntellekt der nicht in sich selbst hineingehenkannldquo mit dem Leben als dem Akt des Intellekts identisch ist deraus der Existenz hervorgegangen ist oder genauer gesagt mit demin die Existenz und das Leben gespaltenen Intellekt sbquobevorlsquo erdurch die Ruumlckbewegung des Denkens zu sich selbst zuruumlckkehrtWaumlhrend die Existenz als bdquoder in Ruhe verbleibende Aktldquo denAusgangszustand des Intellekts darstellt in dem das Denkende mitdem Gedachten zusammenfaumlllt differenziert sich der Intellektdurch die Bewegung des Lebens in die Existenz als das Gedachte

194 Vaacutec l av N ěmec

14) Vgl Bechtle (wie Anm 3) 185ndash186 191ndash19615) Der Kommentator verwendet hier die Verba μετεξέρχομαι und πανέρ-

χομαι die aus derselben Wurzel wie εσέρχομαι gebildet sind wobei das πανέρχο-μαι wahrscheinlich mit dem εσέρχομαι synonym ist

und ins Leben als das Denkende wobei das Hervorgehen des Le-bens in die Ruumlckbewegung des Denkens wieder transformiert wer-den muss damit bdquodas Denkende zum Gedachten zuruumlckkehrtldquoErst in dieser Endphase der reflexiven Bewegung wird also der Zu-stand erlangt in dem das Denkende sich mit dem Gedachten wie-der vereinigt d h der bdquoIntellekt in sich selbst hineingehtldquo Es sindgerade diese Phasen oder Akte ndash Existenz Leben und Denken ndashdie das Eine als der Urakt des Intellekts bdquoin ihrer Identitaumlt und An-dersheit fasstldquo und als bdquoseine Organe gebrauchtldquo (1310ndash13) DasEine als die transzendente Wurzel des reflexiven Intellekts ist dieGrundvoraussetzung dafuumlr dass der reflexive Intellekt sich in jederPhase der Identitaumlt aller seiner Akte bewusst ist und dass er als der Denkende sich selbst als den Gedachten identifizieren kannauch wenn er in die verschiedenen Momente gespalten ist Das Einewird so als ein uumlber-reflexiver Akt begriffen der die Einheit undIdentitaumlt der verschiedenen Akte oder Momente des reflexiven In-tellekts garantiert und ihre gegenseitige Selbstidentifizierung er-moumlglicht Folglich ist es auch das Eine das gewaumlhrleistet dass derreflexive Intellekt bdquoin sich selbst hineingehen kannldquo

Vergleich mit dem Gemeinsinn

Diese Interpretation wird durch den folgenden Textabschnittbekraumlftigt in dem jenes houmlhere Vermoumlgen des Intellekts das mitdem Einen selbst zusammenfaumlllt mit dem aristotelischen sbquounter-scheidenden Sinnesvermoumlgenlsquo verglichen wird Hier lehnt sich derKommentator eng an eine Stelle aus dem dritten Buch De animaan16 wo Aristoteles die Frage aufwirft wie sich Unterschiede zwi-schen den verschiedenen Sinnesempfindungen feststellen lassen17

Bei der Loumlsung dieser Frage erlaumlutert Aristoteles dass jedes Sin-nesvermoumlgen sich jeweils auf die ihm zugehoumlrigen Wahrneh-mungsgegenstaumlnde oder Wahrnehmungsqualitaumlten bezieht aberkeinem das Wahrnehmbare fassbar ist fuumlr das die anderen Sinnezustaumlndig sind Demgemaumlszlig kann jeder Sinn zwar die Unterschiedezwischen den ihm zugehoumlrigen Wahrnehmungsgegenstaumlnden be-

195Die Theorie des goumlttlichen Selbstbewusstseins im Parmenides-Kommentar

16) Aristoteles De anima 426b8ndash2217) Vgl H-J Horn Studien zum dritten Buch der aristotelischen Schrift De

anima Goumlttingen 1994 39

urteilen keines der getrennten Sinnesvermoumlgen aber ist imstandedie Gegenstaumlnde quer durch mehrere Wahrnehmungsbereiche ndashz B das Weiszlige und das Suumlszlige ndash zu unterscheiden Da es sich aberimmer um Wahrnehmbares handelt muumlssen auch die Unterschie-de zwischen Wahrnehmungsgegenstaumlnden die in den Kompetenz-bereich verschiedener Sinne fallen durch ein Sinnesvermoumlgen fest-gestellt werden das von den uumlbrigen Sinnen abgegrenzt ist Gera-de dieses eigentuumlmliche Sinnesvermoumlgen nennt Aristoteles sbquodas unterscheidendelsquo (τ κρνον) Wenn es auch nirgends explizit ge-sagt wird scheint er dieses Vermoumlgen mit dem sbquogemeinsamen Sinnlsquo( κοιν αOσθησις) gleichzusetzen18 Diesem sbquogemeinsamen Sinnlsquoschreibt er weitere Funktionen zu wie etwa die Wahrnehmung sbquoge-meinsamer Wahrnehmungsgegenstaumlndelsquo die von mehreren Sinnenzugleich erfasst werden aber auch ein elementares Selbstbewusst-sein das jeden Wahrnehmungsakt begleitet (wie z B mein Sehaktvon dem Bewusstsein begleitet wird dass ich sehe)19

Gerade an diese Motive der aristotelischen Psychologie knuumlpftder Kommentator an mit der Parallele die er zwischen der Sinnes-wahrnehmung und dem Intellekt zieht Aumlhnlich wie die Sinnes -vermoumlgen ist auch der reflexive Intellekt in seine verschiedenen Momente oder Akte aufgespalten von denen jeder seine eigeneFunktion und seinen eigenen Kompetenzbereich besitzt weshalbaber auch keiner imstande ist sich auf die anderen Akte und auf dasvon ihnen Intendierte zu beziehen und sie in ihrer Andersheit undIdentitaumlt zu erkennen Deshalb muss es auch auf der Ebene des In-tellekts ein besonderes Vermoumlgen ndash aumlhnlich dem sbquounterscheidendenlsquooder sbquogemeinsamenlsquo Sinn ndash geben das von allen Vermoumlgen oder Ak-ten des reflexiven Intellekts verschieden ist und uumlber sie hinausgehtGenau wie der sensus communis ist es ein aktiver Keim des Intellektsder alle differenzierten Akte beruumlhrt sie als seine Organe gebrauchtund diese zugleich vereinigt und ihre Selbigkeit stiftet Und ebensowie der sbquogemeinsame Sinnlsquo muss dieser vereinigende Akt uumlber allenAkten ein einziger sein ja er faumlllt mit dem (ersten) Einen zusammen

196 Vaacutec l av N ěmec

18) Zum sbquogemeinsamen Sinnlsquo siehe z B Aristoteles De an 425a27 ZurGleichsetzung des sbquounterscheidenden Sinneslsquo mit dem sensus communis bei Aristo-teles vgl z B A-E Chaignet Essai sur la psychologie drsquoAristote Bruxelles 1966375 378ndash381 Diese Identifikation zieht allerdings D W Hamlyn in Zweifel VglAristotle De Anima Books II and III Translated with Introduction and Notes byD W Hamlyn Oxford 2002 128ndash129

19) Vgl Chaignet (wie Anm 18) 375ndash382

Der Vergleich mit dem sbquogemeinsamenlsquo Sinn wirft ein klaumlren-des Licht auf die vorausgehende Passage (131ndash23) Der Kommen-tator schreibt dem Einen in seinem Bezug auf die Akte des reflexi-ven Intellekts eine aumlhnliche Funktion zu wie sie der sensus com-munis als Organ des elementaren Selbstbewusstseins ausuumlbt dasdie Wahrnehmungsakte begleitet Das Eine begleitet die einzelnenAkte des reflexiven Intellekts und vereinigt sie so alle in sich selbstals in einem einzigen Zentrum Als dieses uumlber-reflexive und Ein-heit stiftende Moment bildet das Eine einen konstitutiven und er-moumlglichenden Grund des reflexiven Selbstbewusstseins des Intel-lekts Auf den ersten Blick scheint der Vergleich insoweit zu hin-ken als die Wahrnehmungsakte ausschlieszliglich auf die aumluszligeren Gegenstaumlnde gerichtet und im Prinzip nicht zu einem Selbstbezugfaumlhig sind waumlhrend durch die Akte des reflexiven Intellekts sichgerade der denkende Selbstbezug vollzieht in dem bdquoder Denkendesich mit dem Gedachten vereinigtldquo Der Kommentator scheintdennoch davon uumlberzeugt zu sein dass die differenzierten Akte desreflexiven Intellekts an sich auszligerstande sind diesen Selbstbezugzu bewirken und zu gewaumlhrleisten Die unabdingbare Grundbe-dingung der Moumlglichkeit des reflexiven Selbstbezuges wie er imdurch die Dreiheit der Akte strukturierten Intellekt realisiert wirdstellt gerade das mit dem Einen identifizierte houmlhere Vermoumlgenoder der vereinigende Akt dar der alle differenzierten Akte beglei-tet und ihre Einheit und Selbigkeit in der Vielheit und Andersheitgarantiert Das Selbstbewusstsein auf der Ebene des reflexiven Intellekts das sich durch die Dualitaumlt des Denkenden und des Gedachten auszeichnet ist so in einem houmlheren oder tieferen nicht-reflexiven oder uumlber-reflexiven Selbstbewusstsein gegruumlndet des-sen Quelle und Subjekt das transzendente Eine selbst ist

Das Eine und die Dreiheit von sbquoExistenz ndash Leben ndash Denkenlsquo

Aus dem Gesagten wird auch ersichtlich dass das Eine von allen Strukturmomenten oder Akten des reflexiven Intellekts ingleichem Maszlige verschieden sein muss und mit keinem von ihnenidentifiziert werden kann Aus diesem Grund ist auch die Inter-preta tion Hadots abzulehnen wonach das Eine schlieszliglich mitdem ersten Glied der Dreiheit von sbquoExistenz ndash Leben ndash Denkenlsquoidentisch sein soll Diese Auslegung gruumlndet sich auf die Annahme

197Die Theorie des goumlttlichen Selbstbewusstseins im Parmenides-Kommentar

die Existenz als einer der Akte des reflexiven Intellekts falle mitdem sbquoSeinlsquo zusammen das im fuumlnften Fragment mit dem Einenselbst gleichgesetzt wurde20 Diese Identifizierung des sbquoSeinslsquo mitder sbquoExistenzlsquo laumlsst sich aber in keinem der erhaltenen Fragmentedes Kommentars belegen und waumlre mit dessen metaphysischemKonzept auch kaum vereinbar Der eigentliche Grund fuumlr HadotsGleichsetzung dieser zwei Termini ist die Tatsache dass sie beidein den theologischen Schriften des Marius Victorinus ndash insbeson-dere in Adversus Arium 1b ndash zusammenzuflieszligen scheinen Geradein der genannten Schrift erhebt Marius Victorinus die Dreiheit vonsbquoSein (bzw Existenz) ndash Leben ndash Denkenlsquo zum zentralen konzeptu-ellen Modell fuumlr seine Eroumlrterung der Wesensgleichheit von VaterSohn und heiligem Geist Im Rahmen seiner Transponierung derchristlich-theologischen Problematik auf den Boden einer (neu-)platonischen metaphysischen Prinzipienlehre fasst Victorinus denGottvater als das transzendente bdquoEine ohne Existenzldquo (inexsisten-tialiter unum) auf dem durch die negative Theologie u a Sein Existenz Seiendes Substanz Denken abgesprochen werden21 dasaber von der affirmativen Theologie zugleich als bdquodreimaumlchtigerGeistldquo (tripotens spiritus) gepriesen wird der die Vermoumlgen desSeins des Lebens und des Denkens in sich einschlieszligt Unter die-sem Gesichtspunkt wird Gottvater primaumlr als das reine Sein (esse)betrachtet das in seiner transzendenten Einheit und Verborgenheitdas Leben und das Denken in ihrer potenziellen Praumlexistenz be-inhaltet22 Der Sohn und der Heilige Geist werden dann geradedem aktualisierten und geaumluszligerten Leben (vita) und Denken (in-

198 Vaacutec l av N ěmec

20) Vgl Hadot Porphyre et Victorinus (wie Anm 2) I 13321) Marius Victorinus Adversus Arium 1499ndash18 (CSEL LXXXIIII 143)

Ante omnia quae vere sunt unum fuit sive unalitas sive ipsum unum antequam sitei esse unum unum ante omnem exsistentiam ante omnem exsistentialitatem ante ipsum ν hoc enim unum ante ν ante omnem igitur essentitatem substantiamsubsistentiam et adhuc omnia quae potentiora unum sine exsistentia sine substan-tia sine intellegentia

22) Marius Victorinus Adv Ar 1501ndash15 (CSEL LXXXIIII 144ndash145) Hicest deus hic pater praeintellegentia praeexsistens et praeexsistentia tripotens inunalitate spiritus tres potentias couniens exsistentiam omnem vitam omnem etbeatitudinem sed ista omnia et unum et simplex unum et maxime in potentia eiusquod est esse hoc est exsistentiae potentia vitae et beatitudinis 1523ndash9 (CSELLXXXIIII 148) Deus potentia est istarum trium potentiarum exsistentiae vitaebeatitudinis hoc est eius quod est esse quod vivere quod intellegere Et quod estesse primum et secundum quod est esse secundum ipsum vivere et intellegere sineulla unitione sed simpliciter simplicitas et istud manifestum

tellegentia bzw sapientia beatitudo) gleichgesetzt die zugleich alszwei Phasen des bdquoHervorgehensldquo (progressio) und der bdquoRuumlckkehrldquo(regressus) begriffen werden durch die das zweite Eine ndash das bdquoEinein der Existenzldquo (exsistentialiter unum) ndash konstituiert wird23 SeinLeben und Denken zeigen sich so als die drei Phasen ndash VerharrenHervorgehen und Ruumlckkehr24 ndash in denen sich die goumlttliche Sub-stanz aus ihrer transzendenten Wurzel in die Vielheit und Anders-heit hinein entfaltet um die urspruumlngliche Selbigkeit mit ihremtranszendenten Grund wiederherzustellen und sich selbst als einreflexiv denkendes Wesen zu konstituieren25 Die substanzielleIdentitaumlt von Sein Leben und Denken wird dabei durch ihr ge-genseitiges Ineinandersein ermoumlglicht Jedes Glied impliziert diezwei anderen auf seine eigene Art und Weise Ihre Differenz ergibtsich dagegen daraus dass in jeder Phase jeweils ein Glied der Drei-heit uumlber die anderen herrscht und in den Vordergrund tritt26

Obwohl man eine konzeptuelle Verwandtschaft zwischenAdversus Arium 1b und dem anonymen Parmenides-Kommentarkaum bestreiten kann ndash diese besteht besonders darin dass in bei-den Texten das erste Eine mit dem reinen Sein identifiziert wirddas sich vom Seienden bzw dem seienden Einen abgrenzt und dassdie Dreiheit sbquoExistenz ndash Leben ndash Denkenlsquo eine zentrale Rolle beider Eroumlrterung der reflexiven Bewegung bzw der Konstitution desIntellekts spielt ndash sind auch einige wesentliche Unterschiede nichtzu verkennen Im anonymen Kommentar kann vor allem keineAnwendung der Dreiheit auf das erste Eine nachgewiesen werdenSein Verfasser setzt zwar das Eine dem reinen Sein gleich das alsreine Wirksamkeit verschieden ist vom substanziellen Seienden

199Die Theorie des goumlttlichen Selbstbewusstseins im Parmenides-Kommentar

23) Marius Victorinus Adv Ar 15110ndash27 (CSEL LXXXIIII 146ndash147)Potentia enim progrediente ista motio nusquam requiescens quippe vita quaesit infinita et ipsa in vivificatione veluti foris apparuit Vita autem filius vita mo-tio a vitali praeexsistentia vita exsistentia Ista igitur exsistentia totius exsistentiaeest vita et iuxta quod vita motus quasi femineam sortita est potentiam hoc quodconcupivit vivificare Sed quoniam ista motio una cum sit et vita est et sapien-tia vita conversa in sapientiam et magis in exsistentiam patricam magis autem retromotae motionis in patricam potentiam et ab ipso viltrgtificata vita recurrens in patrem vir effecta est Descensio enim vita ascensio sapientia Vgl auch 15220ndash35(CSEL LXXXIIII 148ndash149)

24) Marius Victorinus Hymnus 371ndash74 (CSEL LXXXIIII 297) Statusprogressio regressus o beata trinitas

25) Vgl Marius Victorinus Adv Ar 1577ndash21 (CSEL LXXXIIII 155ndash156)26) Vgl Hadot Porphyre et Victorinus (wie Anm 2) I 239ndash246

und er spricht dem Einen auch eine Art uumlber-reflexives Denken zunie aber wendet er die Dreiheit sbquoSein ndash Leben ndash Denkenlsquo auf das erste Eine an nicht einmal im Sinne einer potenziellen und uumlber-substanziellen Praumlexistenz (praeexsistentia ndash praeviventia ndash prae -intellegentia) wie es Victorinus in Adversus Arium 1b und imzweiten Teil von Adversus Arium 4 tut27 oder im Sinne der reinenAkte (esse ndash vivere ndash intellegere) wie es insbesondere im ersten Teilvon Adversus Arium 4 geschieht28 Die Dreiheit erscheint im Kom-mentar nur in substanzieller Form und bleibt der Ebene des Intel-lekts immanent Im fuumlnften Fragment kritisiert der Kommentatorsogar ausdruumlcklich die Chaldaumlischen Orakel oder ihre Auslegerweil sie der houmlchsten Gottheit eine trinitarische Struktur zuwei-sen29 Manche seiner Formulierungen erwecken dabei den Ein-druck dass er bei seiner Kritik ein aumlhnliches theologisches Kon-zept im Auge gehabt haben mochte wie es uns gerade in AdversusArium 1b begegnet Das Eine wird vom Kommentator keineswegsals Ausgangsglied der Dreiheit aufgefasst aus dem das Leben her-vorginge und zu dem das Denken zuruumlckkehrte wie es in Adver-sus Arium 1b begriffen wird Dementsprechend ist das Eine auchnicht sbquoder Gegenstandlsquo des Erkennens des zweiten Einen in demdas zweite Eine zugleich sich selbst in seiner potenziellen undtranszendenten Praumlexistenz erfasst sondern es ist der Akt der inallen drei Akten oder Momenten wirkt der ihre Einheit stiftet undzugleich uumlber sie hinausgeht Auch wenn der Kommentator dasEine mit dem Sein identifiziert setzt er nie das Sein mit der Exis -tenz gleich und nichts scheint davon zu zeugen dass die Existenzmit dem transzendenten Moment des Intellekts (dem ersten Einen)zusammenfallen sollte30 Der Verfasser des anonymen Kommen-tars verwendet im Gegenteil unterschiedliche Ausdruumlcke um dieverschiedenen Tatsachen hervorzuheben Waumlhrend der TerminussbquoSeinlsquo dem ersten Einen als der Ursache oder der sbquoIdeelsquo des intelli-giblen Seienden vorbehalten ist soll das Wort sbquoExistenzlsquo das ersteMoment der reflexiven Bewegung des Intellekts oder des zweiten

200 Vaacutec l av N ěmec

27) Vgl z B Marius Victorinus Adv Ar 42318ndash34 (CSEL LXXXIIII 260)28) Vgl z B Marius Victorinus Adv Ar 464ndash7 (CSEL LXXXIIII 231ndash

232) 489ndash30 (CSEL LXXXIIII 235ndash236) 42126ndash28 (CSEL LXXXIIII 257)29) Vgl Anon in Parm 91ndash1011 (Linguiti 118ndash120)30) Darauf hat schon Andrew Smith hingewiesen Vgl ders Zπόστασις and

0παρξις in Porphyry in F Romano D P Taormina (Hrsg) Hyparxis e hyposta-sis nel neoplatonismo Firenze 1994 33ndash41 hier 41

Einen bezeichnen im Unterschied zum sbquoSeiendenlsquo das als Benen-nung fuumlr die ganze Hypostase dient Im anonymen Kommentarfindet man auch kein Anzeichen fuumlr das Prinzip eines wechsel -seitigen Ineinanderseins (und des Vorherrschens) von Existenz Leben und Denken das eine zentrale Rolle in Adversus Arium 1b3 und 4 ndash und im spaumlteren Neuplatonismus uumlberhaupt ndash spielt

Dialektik der negativen und affirmativen Theologie

Auch die ganze Problematik der sbquoInkommensurabilitaumltlsquo bzwsbquoKommensurabilitaumltlsquo des ersten Einen mit dem zweiten Einen be-handelt der Verfasser des Kommentars anders als Marius Victori-nus in Adversus Arium 1b31 Dem Kommentator zufolge zeigt sichdas Goumlttliche bdquounter dem einen Gesichtspunktldquo (κατF -λλο bzwκατ7 τν πρώτην δέαν) d h bdquoes selbst in sich selbst gesehenldquo alsdas einfache Eine das bdquonicht ausgesprochen und gedacht werdenkannldquo bdquounter dem anderen Gesichtspunktldquo (κατF -λλο) hingegenwird es als der in sich durch Reflexion differenzierte Intellekt be-trachtet der sich in die Vielheit seiner Akte ndash Existenz Leben undDenken ndash hinein entfaltet Wie der Schluss des sechsten Fragmentsbezeugt entsprechen diese zwei Gesichtspunkte der ersten und derzweiten Hypothese des Parmenides Trotz der sbquoontologischen Dif-ferenzlsquo zwischen dem ersten Einen und dem Intellekt (dem zwei-ten Einen) die in den vorausgehenden Fragmenten immer wiederemphatisch hervorgehoben wurde meint also der Kommentatordass sich beide Hypothesen auf eine einzige Gottheit beziehen diedas transzendente Eine und den reflexiven Intellekt als ihre zweiSchichten oder Momente einschlieszligt Der Verfasser des Kommen-tars scheint also die beiden Hypothesen als eine Art sbquodialektischelsquoTheologie zu verstehen die das Goumlttliche unter zwei verschiede-

201Die Theorie des goumlttlichen Selbstbewusstseins im Parmenides-Kommentar

31) Die Dialektik der sbquoInkommensurabilitaumltlsquo (bdquolrsquoincoordinationldquo) und sbquoKom-mensurabilitaumltlsquo (bdquola coordinationldquo) des Einen betrachtet Hadot als einen der Haupt -zuumlge der sbquoporphyrianischen Metaphysiklsquo Entsprechend seiner Hypothese dass derVerfasser des anonymen Kommentars Porphyrios sei den er zugleich fuumlr die grie-chische Quelle haumllt aus der Marius Victorinus geschoumlpft hat meint er dass der an -onyme Parmenides-Kommentar und die theologischen Schriften des Marius Victo-rinus ndash insbesondere Adversus Arium 1b ndash auch in diesem Punkt uumlbereinstimmenVgl Hadot La meacutetaphysique de Porphyre (wie Anm 2) 131 ff ders Porphyre etVictorinus (wie Anm 2) I 139ndash141 259ndash260

nen Aspekten zum Thema macht Vielleicht koumlnnte man auch uumlbereine Art sbquoDialektik der Kommensurabilitaumlt und Inkommensurabi-litaumltlsquo des Einen selbst sprechen insofern der Gesichtspunkt derzweiten Hypothese deren Gegenstand eigentlich der reflexive Intellekt ist zugleich eine neue Perspektive oumlffnet aus der sich das erste Eine in seiner Bezogenheit auf die differenzierten Aktedes Intellekts zeigt Erscheint das (erste) Eine unter dem ersten Gesichtspunkt als inkommensurabel und relationslos so dass manihm jedwede Beziehung zum Intellekt ndash sogar die der Andersheit ndashverweigern muss32 stellt es sich unter dem anderen Gesichtspunktder die Aufmerksamkeit auf das zweite Eine oder den Intellektlenkt zugleich als der einheitsstiftende Akt uumlber den differenzier-ten Akten des reflexiven Intellekts als der konstitutive Urgrundseines Selbstbewusstseins heraus Freilich ist Hadots Ansichtzuruumlckzuweisen die sbquodialektischelsquo Theologie des anonymen Kommentars sei mit dem entsprechenden Konzept in AdversusArium 1b identisch33 Die theologische Auffassung in AdversusArium 1b kann insofern als sbquodialektischlsquo bezeichnet werden als dasEine unter zwei verschiedenen Aspekten behandelt wird in sichund auf das von ihm Verursachte bezogen Das Eine zeigt sich soeinerseits als inkommensurabel und in seiner absoluten Differenz-losigkeit allen gegenstaumlndlichen Kategorien des menschlichenDenkens enthoben andererseits in Bezug darauf wessen Ursprunges ist als universale Ursache die selbst auf eine transzendente undpotenzielle Weise alles ist was aus ihr hervorgeht Waumlhrend unterdem Gesichtspunkt der negativen Theologie dem Einen u a SeinExistenz Leben und Denken abgesprochen wird erweist es sichunter dem Gesichtspunkt der affirmativen Theologie als erste Phase der Selbstkonstitution der goumlttlichen Substanz bzw des Intellekts und als erstes Glied der Dreiheit von sbquoSein ndash Leben ndashDenkenlsquo Als das Sein selbst enthaumllt es in sich auf transzendenteund potenzielle Weise die beiden anderen Glieder ndash Leben undDenken ndash und vereinigt sie in seiner unterschiedslosen Einheit ImVergleich mit dem anonymen Kommentar faumlllt nun auf dass beiVictorinus beide Gesichtspunkte den Methoden der negativen undaffirmativen Theologie entsprechen die ausschlieszliglich auf das ers -te Eine angewandt werden also auf das Eine der ersten Hypothese

202 Vaacutec l av N ěmec

32) Vgl Anon in Parm 31ndash35 (Linguiti 100ndash102)33) Vgl oben Anm 31

des Parmenides das mit Gottvater identifiziert wird Das zweiteEine d h das Eine der zweiten Hypothese das Victorinus demSohn gleichsetzt wird erst spaumlter zum Thema34 und ist nicht in dieDialektik der negativen und affirmativen Theologie einbezogenIm anonymen Kommentar hingegen entsprechen die beiden Ge-sichtspunkte der ersten und der zweiten Hypothese die das den reflexiven Intellekt (das zweite Eine) und seinen uumlber-reflexivenGrund (das erste Eine) umschlieszligende Goumlttliche in seinen beidenAspekten oder Schichten behandeln Obwohl also sowohl in Ad-versus Arium 1b als auch im anonymen Kommentar eine Art sbquoDia-lektik der Kommensurabilitaumlt und Inkommensurabilitaumltlsquo des Einenvorkommt geht es offensichtlich um zwei verschiedene Variantenderen Unterschiedlichkeit wieder die Differenzen zwischen denbeiden metaphysischen Konzepten klar hervortreten laumlsst35

Schlussfolgerungen

Gerade die erwaumlhnten Unterschiede verwischt nun Hadotum den Inhalt des sechsten Fragments mit seiner Hypothese inEinklang zu bringen dass der Verfasser des anonymen Kommen-tars (naumlmlich Porphyrios) mit der griechischen Quelle der theolo-gischen Schriften des Marius Victorinus identisch sei Dabei pro-

203Die Theorie des goumlttlichen Selbstbewusstseins im Parmenides-Kommentar

34) Marius Victorinus Adv Ar 15022 ff (CSEL LXXXIIII 145)35) Diese sbquoJuxtappositionlsquo oder sbquoDialektiklsquo der negativen und affirmativen

Theologie die das Goumlttliche aus zwei verschiedenen Perspektiven betrachtet wo-bei es sich bald als sbquoinkommensurabellsquo bald als sbquokommensurabellsquo zeigt geht wahr-scheinlich auf die mittelplatonische bzw neupythagoreische Tradition zuruumlck VglJ Mansfeld Compatible Alternatives Middle Platonists Theology and the Xeno -phanes Reception in R van den Broek T Baarda J Mansfeld (Hrsg) Know -ledge of God in the Graeco-Roman World Leiden 1988 92ndash117 Eudoros vonAlexandrien fuumlhrt die beiden Betrachtungsweisen mit aumlhnlichen Ausdruumlcken wieder Verfasser des anonymen Kommentars ein (κατ7 τν νωτάτω λόγον κατF -λλον τρόπον bzw κατ7 τν δεύτερον λόγον) Vgl Simplikios In Aristotelis Physica com-mentaria 15 (CAG IX 18110ndash30) Bei Eudoros geht es dennoch um die spezifischeProblematik der pythagoreischen Prinzipienlehre Er bemuumlht sich die sbquomonistischelsquound sbquodualistischelsquo pythagoreische Lehre zu versoumlhnen indem er das Eine einmal alsdas einzige uumlber alle Gegensaumltze erhabene Prinzip betrachtet einmal als ein Gliedder Grundpolaritaumlt sbquodas Eine ndash die unbestimmte Zweiheitlsquo In Adversus Arium 1bund im anonymen Parmenides-Kommentar wird hingegen dieselbe Methode aufdie Problematik der neuplatonischen houmlchsten Prinzipien angewandt ndash obgleich jeweils auf eine andere Art und Weise

jiziert er das Denkschema von Adversus Arium 1b in den Par-menides-Kommentar hinein und entstellt somit gewissermaszligen das hier enthaltene metaphysische Konzept36 Folglich wurde diebemerkenswerte Theorie des goumlttlichen Bewusstseins wie sie imsechsten Fragment dargelegt ist in ihrer Originalitaumlt bislang kaumuntersucht und nur unzureichend bewertet Auch legen die fest-gestellten Differenzen die Vermutung nahe dass der anonymeKommentar bzw sein Verfasser nicht die direkte Quelle des theo-logischen Werkes von Marius Victorinus ndash oder zumindest seinerSchrift Adversus Arium 1b ndash gewesen sein kann Die Unterschiedelassen sich auch nicht wegdiskutieren wenn man darauf hinweistdass der Kommentar uns nur fragmentarisch erhalten blieb oderVictorinus seine Quelle wesentlich umgedeutet haben koumlnnte um sie seinem christlich-theologischen Anliegen anzupassen Wieschon gezeigt sind mehrere Grundzuumlge der beiden metaphysi-schen Konzepte einfach nicht miteinander kompatibel Und gera-de manche Motive durch die sich das metaphysische Schema inAdversus Arium 1b von dem des anonymen Kommentars abhebtz B das Prinzip des Ineinanderseins (und des Vorherrschens) vonSein Leben und Denken begegnen uns wieder bei den spaumlterenNeuplatonikern freilich mit dem Unterschied dass diese sie aufdie niedrigeren Seinsstufen anwenden ohne das Eine mit einem derGlieder der Dreiheit zu identifizieren Der anonyme Kommentarduumlrfte so wohl auf etwas hindeuten das schon durch die Anwe-senheit verschiedener Varianten eines verwandten metaphysischenKonzepts in den theologischen Schriften des Marius Victorinusdie kaum auf eine einzige Quelle zuruumlckzufuumlhren sind angedeutetwird37 die Existenz einer ganzen Traditionslinie des spaumltantiken

204 Vaacutec l av N ěmec

36) Diese Kritik wird freilich geaumluszligert mit der wesentlichen Einschraumlnkungdass es gerade Hadots groszliges Verdienst war die Eigentuumlmlichkeit und Bedeutungder metaphysischen Lehre des anonymen Kommentars im Rahmen des spaumltantikenPlatonismus erkannt und sie zum ersten Mal detailliert und ndash mit den oben er-waumlhnten Ausnahmen ndash praumlzise rekonstruiert zu haben

37) Im theologischen Werk von Marius Victorinus lassen sich mindestensdrei (bzw vier wenn man auch Candidi epistola 1 dazu zaumlhlt) unterschiedliche Va-rianten eines verwandten metaphysischen Systems ausmachen die wahrscheinlichauf verschiedene Quellen zuruumlckgehen Dies versuchte ich in meinem Aufsatz Me-tafysickeacute systeacutemy v theologickeacutem diacutele Maria Victorina in V Hušek L Chvaacutetal J Plaacutetovaacute (Hrsg) Miscellanea patristica Brno 2007 37ndash71 nachzuweisen Vglauch meine Einleitung zur tschechischen Ausgabe des anonymen Parmenides-Kommentars Anonymniacute komentaacuteř k Platoacutenovu Parmenidovi Praha 2009 49ndash69

(Neu-)Platonismus die von der uns bekannten Hauptstroumlmungabweicht und in deren Rahmen verschiedene Versionen einer aumlhn-lichen metaphysischen Auffassung durchdacht wurden

Prag Vaacutec l av N ěmec

205Die Theorie des goumlttlichen Selbstbewusstseins im Parmenides-Kommentar

Page 11: DIE THEORIE DES GÖTTLICHEN SELBSTBEWUSSTSEINS ...Gnosticism and Later Platonism: Themes, Figures, and Texts, Atlanta 2000, 141–177; J.D.Turner, Sethian Gnosticism and the Platonic

und ins Leben als das Denkende wobei das Hervorgehen des Le-bens in die Ruumlckbewegung des Denkens wieder transformiert wer-den muss damit bdquodas Denkende zum Gedachten zuruumlckkehrtldquoErst in dieser Endphase der reflexiven Bewegung wird also der Zu-stand erlangt in dem das Denkende sich mit dem Gedachten wie-der vereinigt d h der bdquoIntellekt in sich selbst hineingehtldquo Es sindgerade diese Phasen oder Akte ndash Existenz Leben und Denken ndashdie das Eine als der Urakt des Intellekts bdquoin ihrer Identitaumlt und An-dersheit fasstldquo und als bdquoseine Organe gebrauchtldquo (1310ndash13) DasEine als die transzendente Wurzel des reflexiven Intellekts ist dieGrundvoraussetzung dafuumlr dass der reflexive Intellekt sich in jederPhase der Identitaumlt aller seiner Akte bewusst ist und dass er als der Denkende sich selbst als den Gedachten identifizieren kannauch wenn er in die verschiedenen Momente gespalten ist Das Einewird so als ein uumlber-reflexiver Akt begriffen der die Einheit undIdentitaumlt der verschiedenen Akte oder Momente des reflexiven In-tellekts garantiert und ihre gegenseitige Selbstidentifizierung er-moumlglicht Folglich ist es auch das Eine das gewaumlhrleistet dass derreflexive Intellekt bdquoin sich selbst hineingehen kannldquo

Vergleich mit dem Gemeinsinn

Diese Interpretation wird durch den folgenden Textabschnittbekraumlftigt in dem jenes houmlhere Vermoumlgen des Intellekts das mitdem Einen selbst zusammenfaumlllt mit dem aristotelischen sbquounter-scheidenden Sinnesvermoumlgenlsquo verglichen wird Hier lehnt sich derKommentator eng an eine Stelle aus dem dritten Buch De animaan16 wo Aristoteles die Frage aufwirft wie sich Unterschiede zwi-schen den verschiedenen Sinnesempfindungen feststellen lassen17

Bei der Loumlsung dieser Frage erlaumlutert Aristoteles dass jedes Sin-nesvermoumlgen sich jeweils auf die ihm zugehoumlrigen Wahrneh-mungsgegenstaumlnde oder Wahrnehmungsqualitaumlten bezieht aberkeinem das Wahrnehmbare fassbar ist fuumlr das die anderen Sinnezustaumlndig sind Demgemaumlszlig kann jeder Sinn zwar die Unterschiedezwischen den ihm zugehoumlrigen Wahrnehmungsgegenstaumlnden be-

195Die Theorie des goumlttlichen Selbstbewusstseins im Parmenides-Kommentar

16) Aristoteles De anima 426b8ndash2217) Vgl H-J Horn Studien zum dritten Buch der aristotelischen Schrift De

anima Goumlttingen 1994 39

urteilen keines der getrennten Sinnesvermoumlgen aber ist imstandedie Gegenstaumlnde quer durch mehrere Wahrnehmungsbereiche ndashz B das Weiszlige und das Suumlszlige ndash zu unterscheiden Da es sich aberimmer um Wahrnehmbares handelt muumlssen auch die Unterschie-de zwischen Wahrnehmungsgegenstaumlnden die in den Kompetenz-bereich verschiedener Sinne fallen durch ein Sinnesvermoumlgen fest-gestellt werden das von den uumlbrigen Sinnen abgegrenzt ist Gera-de dieses eigentuumlmliche Sinnesvermoumlgen nennt Aristoteles sbquodas unterscheidendelsquo (τ κρνον) Wenn es auch nirgends explizit ge-sagt wird scheint er dieses Vermoumlgen mit dem sbquogemeinsamen Sinnlsquo( κοιν αOσθησις) gleichzusetzen18 Diesem sbquogemeinsamen Sinnlsquoschreibt er weitere Funktionen zu wie etwa die Wahrnehmung sbquoge-meinsamer Wahrnehmungsgegenstaumlndelsquo die von mehreren Sinnenzugleich erfasst werden aber auch ein elementares Selbstbewusst-sein das jeden Wahrnehmungsakt begleitet (wie z B mein Sehaktvon dem Bewusstsein begleitet wird dass ich sehe)19

Gerade an diese Motive der aristotelischen Psychologie knuumlpftder Kommentator an mit der Parallele die er zwischen der Sinnes-wahrnehmung und dem Intellekt zieht Aumlhnlich wie die Sinnes -vermoumlgen ist auch der reflexive Intellekt in seine verschiedenen Momente oder Akte aufgespalten von denen jeder seine eigeneFunktion und seinen eigenen Kompetenzbereich besitzt weshalbaber auch keiner imstande ist sich auf die anderen Akte und auf dasvon ihnen Intendierte zu beziehen und sie in ihrer Andersheit undIdentitaumlt zu erkennen Deshalb muss es auch auf der Ebene des In-tellekts ein besonderes Vermoumlgen ndash aumlhnlich dem sbquounterscheidendenlsquooder sbquogemeinsamenlsquo Sinn ndash geben das von allen Vermoumlgen oder Ak-ten des reflexiven Intellekts verschieden ist und uumlber sie hinausgehtGenau wie der sensus communis ist es ein aktiver Keim des Intellektsder alle differenzierten Akte beruumlhrt sie als seine Organe gebrauchtund diese zugleich vereinigt und ihre Selbigkeit stiftet Und ebensowie der sbquogemeinsame Sinnlsquo muss dieser vereinigende Akt uumlber allenAkten ein einziger sein ja er faumlllt mit dem (ersten) Einen zusammen

196 Vaacutec l av N ěmec

18) Zum sbquogemeinsamen Sinnlsquo siehe z B Aristoteles De an 425a27 ZurGleichsetzung des sbquounterscheidenden Sinneslsquo mit dem sensus communis bei Aristo-teles vgl z B A-E Chaignet Essai sur la psychologie drsquoAristote Bruxelles 1966375 378ndash381 Diese Identifikation zieht allerdings D W Hamlyn in Zweifel VglAristotle De Anima Books II and III Translated with Introduction and Notes byD W Hamlyn Oxford 2002 128ndash129

19) Vgl Chaignet (wie Anm 18) 375ndash382

Der Vergleich mit dem sbquogemeinsamenlsquo Sinn wirft ein klaumlren-des Licht auf die vorausgehende Passage (131ndash23) Der Kommen-tator schreibt dem Einen in seinem Bezug auf die Akte des reflexi-ven Intellekts eine aumlhnliche Funktion zu wie sie der sensus com-munis als Organ des elementaren Selbstbewusstseins ausuumlbt dasdie Wahrnehmungsakte begleitet Das Eine begleitet die einzelnenAkte des reflexiven Intellekts und vereinigt sie so alle in sich selbstals in einem einzigen Zentrum Als dieses uumlber-reflexive und Ein-heit stiftende Moment bildet das Eine einen konstitutiven und er-moumlglichenden Grund des reflexiven Selbstbewusstseins des Intel-lekts Auf den ersten Blick scheint der Vergleich insoweit zu hin-ken als die Wahrnehmungsakte ausschlieszliglich auf die aumluszligeren Gegenstaumlnde gerichtet und im Prinzip nicht zu einem Selbstbezugfaumlhig sind waumlhrend durch die Akte des reflexiven Intellekts sichgerade der denkende Selbstbezug vollzieht in dem bdquoder Denkendesich mit dem Gedachten vereinigtldquo Der Kommentator scheintdennoch davon uumlberzeugt zu sein dass die differenzierten Akte desreflexiven Intellekts an sich auszligerstande sind diesen Selbstbezugzu bewirken und zu gewaumlhrleisten Die unabdingbare Grundbe-dingung der Moumlglichkeit des reflexiven Selbstbezuges wie er imdurch die Dreiheit der Akte strukturierten Intellekt realisiert wirdstellt gerade das mit dem Einen identifizierte houmlhere Vermoumlgenoder der vereinigende Akt dar der alle differenzierten Akte beglei-tet und ihre Einheit und Selbigkeit in der Vielheit und Andersheitgarantiert Das Selbstbewusstsein auf der Ebene des reflexiven Intellekts das sich durch die Dualitaumlt des Denkenden und des Gedachten auszeichnet ist so in einem houmlheren oder tieferen nicht-reflexiven oder uumlber-reflexiven Selbstbewusstsein gegruumlndet des-sen Quelle und Subjekt das transzendente Eine selbst ist

Das Eine und die Dreiheit von sbquoExistenz ndash Leben ndash Denkenlsquo

Aus dem Gesagten wird auch ersichtlich dass das Eine von allen Strukturmomenten oder Akten des reflexiven Intellekts ingleichem Maszlige verschieden sein muss und mit keinem von ihnenidentifiziert werden kann Aus diesem Grund ist auch die Inter-preta tion Hadots abzulehnen wonach das Eine schlieszliglich mitdem ersten Glied der Dreiheit von sbquoExistenz ndash Leben ndash Denkenlsquoidentisch sein soll Diese Auslegung gruumlndet sich auf die Annahme

197Die Theorie des goumlttlichen Selbstbewusstseins im Parmenides-Kommentar

die Existenz als einer der Akte des reflexiven Intellekts falle mitdem sbquoSeinlsquo zusammen das im fuumlnften Fragment mit dem Einenselbst gleichgesetzt wurde20 Diese Identifizierung des sbquoSeinslsquo mitder sbquoExistenzlsquo laumlsst sich aber in keinem der erhaltenen Fragmentedes Kommentars belegen und waumlre mit dessen metaphysischemKonzept auch kaum vereinbar Der eigentliche Grund fuumlr HadotsGleichsetzung dieser zwei Termini ist die Tatsache dass sie beidein den theologischen Schriften des Marius Victorinus ndash insbeson-dere in Adversus Arium 1b ndash zusammenzuflieszligen scheinen Geradein der genannten Schrift erhebt Marius Victorinus die Dreiheit vonsbquoSein (bzw Existenz) ndash Leben ndash Denkenlsquo zum zentralen konzeptu-ellen Modell fuumlr seine Eroumlrterung der Wesensgleichheit von VaterSohn und heiligem Geist Im Rahmen seiner Transponierung derchristlich-theologischen Problematik auf den Boden einer (neu-)platonischen metaphysischen Prinzipienlehre fasst Victorinus denGottvater als das transzendente bdquoEine ohne Existenzldquo (inexsisten-tialiter unum) auf dem durch die negative Theologie u a Sein Existenz Seiendes Substanz Denken abgesprochen werden21 dasaber von der affirmativen Theologie zugleich als bdquodreimaumlchtigerGeistldquo (tripotens spiritus) gepriesen wird der die Vermoumlgen desSeins des Lebens und des Denkens in sich einschlieszligt Unter die-sem Gesichtspunkt wird Gottvater primaumlr als das reine Sein (esse)betrachtet das in seiner transzendenten Einheit und Verborgenheitdas Leben und das Denken in ihrer potenziellen Praumlexistenz be-inhaltet22 Der Sohn und der Heilige Geist werden dann geradedem aktualisierten und geaumluszligerten Leben (vita) und Denken (in-

198 Vaacutec l av N ěmec

20) Vgl Hadot Porphyre et Victorinus (wie Anm 2) I 13321) Marius Victorinus Adversus Arium 1499ndash18 (CSEL LXXXIIII 143)

Ante omnia quae vere sunt unum fuit sive unalitas sive ipsum unum antequam sitei esse unum unum ante omnem exsistentiam ante omnem exsistentialitatem ante ipsum ν hoc enim unum ante ν ante omnem igitur essentitatem substantiamsubsistentiam et adhuc omnia quae potentiora unum sine exsistentia sine substan-tia sine intellegentia

22) Marius Victorinus Adv Ar 1501ndash15 (CSEL LXXXIIII 144ndash145) Hicest deus hic pater praeintellegentia praeexsistens et praeexsistentia tripotens inunalitate spiritus tres potentias couniens exsistentiam omnem vitam omnem etbeatitudinem sed ista omnia et unum et simplex unum et maxime in potentia eiusquod est esse hoc est exsistentiae potentia vitae et beatitudinis 1523ndash9 (CSELLXXXIIII 148) Deus potentia est istarum trium potentiarum exsistentiae vitaebeatitudinis hoc est eius quod est esse quod vivere quod intellegere Et quod estesse primum et secundum quod est esse secundum ipsum vivere et intellegere sineulla unitione sed simpliciter simplicitas et istud manifestum

tellegentia bzw sapientia beatitudo) gleichgesetzt die zugleich alszwei Phasen des bdquoHervorgehensldquo (progressio) und der bdquoRuumlckkehrldquo(regressus) begriffen werden durch die das zweite Eine ndash das bdquoEinein der Existenzldquo (exsistentialiter unum) ndash konstituiert wird23 SeinLeben und Denken zeigen sich so als die drei Phasen ndash VerharrenHervorgehen und Ruumlckkehr24 ndash in denen sich die goumlttliche Sub-stanz aus ihrer transzendenten Wurzel in die Vielheit und Anders-heit hinein entfaltet um die urspruumlngliche Selbigkeit mit ihremtranszendenten Grund wiederherzustellen und sich selbst als einreflexiv denkendes Wesen zu konstituieren25 Die substanzielleIdentitaumlt von Sein Leben und Denken wird dabei durch ihr ge-genseitiges Ineinandersein ermoumlglicht Jedes Glied impliziert diezwei anderen auf seine eigene Art und Weise Ihre Differenz ergibtsich dagegen daraus dass in jeder Phase jeweils ein Glied der Drei-heit uumlber die anderen herrscht und in den Vordergrund tritt26

Obwohl man eine konzeptuelle Verwandtschaft zwischenAdversus Arium 1b und dem anonymen Parmenides-Kommentarkaum bestreiten kann ndash diese besteht besonders darin dass in bei-den Texten das erste Eine mit dem reinen Sein identifiziert wirddas sich vom Seienden bzw dem seienden Einen abgrenzt und dassdie Dreiheit sbquoExistenz ndash Leben ndash Denkenlsquo eine zentrale Rolle beider Eroumlrterung der reflexiven Bewegung bzw der Konstitution desIntellekts spielt ndash sind auch einige wesentliche Unterschiede nichtzu verkennen Im anonymen Kommentar kann vor allem keineAnwendung der Dreiheit auf das erste Eine nachgewiesen werdenSein Verfasser setzt zwar das Eine dem reinen Sein gleich das alsreine Wirksamkeit verschieden ist vom substanziellen Seienden

199Die Theorie des goumlttlichen Selbstbewusstseins im Parmenides-Kommentar

23) Marius Victorinus Adv Ar 15110ndash27 (CSEL LXXXIIII 146ndash147)Potentia enim progrediente ista motio nusquam requiescens quippe vita quaesit infinita et ipsa in vivificatione veluti foris apparuit Vita autem filius vita mo-tio a vitali praeexsistentia vita exsistentia Ista igitur exsistentia totius exsistentiaeest vita et iuxta quod vita motus quasi femineam sortita est potentiam hoc quodconcupivit vivificare Sed quoniam ista motio una cum sit et vita est et sapien-tia vita conversa in sapientiam et magis in exsistentiam patricam magis autem retromotae motionis in patricam potentiam et ab ipso viltrgtificata vita recurrens in patrem vir effecta est Descensio enim vita ascensio sapientia Vgl auch 15220ndash35(CSEL LXXXIIII 148ndash149)

24) Marius Victorinus Hymnus 371ndash74 (CSEL LXXXIIII 297) Statusprogressio regressus o beata trinitas

25) Vgl Marius Victorinus Adv Ar 1577ndash21 (CSEL LXXXIIII 155ndash156)26) Vgl Hadot Porphyre et Victorinus (wie Anm 2) I 239ndash246

und er spricht dem Einen auch eine Art uumlber-reflexives Denken zunie aber wendet er die Dreiheit sbquoSein ndash Leben ndash Denkenlsquo auf das erste Eine an nicht einmal im Sinne einer potenziellen und uumlber-substanziellen Praumlexistenz (praeexsistentia ndash praeviventia ndash prae -intellegentia) wie es Victorinus in Adversus Arium 1b und imzweiten Teil von Adversus Arium 4 tut27 oder im Sinne der reinenAkte (esse ndash vivere ndash intellegere) wie es insbesondere im ersten Teilvon Adversus Arium 4 geschieht28 Die Dreiheit erscheint im Kom-mentar nur in substanzieller Form und bleibt der Ebene des Intel-lekts immanent Im fuumlnften Fragment kritisiert der Kommentatorsogar ausdruumlcklich die Chaldaumlischen Orakel oder ihre Auslegerweil sie der houmlchsten Gottheit eine trinitarische Struktur zuwei-sen29 Manche seiner Formulierungen erwecken dabei den Ein-druck dass er bei seiner Kritik ein aumlhnliches theologisches Kon-zept im Auge gehabt haben mochte wie es uns gerade in AdversusArium 1b begegnet Das Eine wird vom Kommentator keineswegsals Ausgangsglied der Dreiheit aufgefasst aus dem das Leben her-vorginge und zu dem das Denken zuruumlckkehrte wie es in Adver-sus Arium 1b begriffen wird Dementsprechend ist das Eine auchnicht sbquoder Gegenstandlsquo des Erkennens des zweiten Einen in demdas zweite Eine zugleich sich selbst in seiner potenziellen undtranszendenten Praumlexistenz erfasst sondern es ist der Akt der inallen drei Akten oder Momenten wirkt der ihre Einheit stiftet undzugleich uumlber sie hinausgeht Auch wenn der Kommentator dasEine mit dem Sein identifiziert setzt er nie das Sein mit der Exis -tenz gleich und nichts scheint davon zu zeugen dass die Existenzmit dem transzendenten Moment des Intellekts (dem ersten Einen)zusammenfallen sollte30 Der Verfasser des anonymen Kommen-tars verwendet im Gegenteil unterschiedliche Ausdruumlcke um dieverschiedenen Tatsachen hervorzuheben Waumlhrend der TerminussbquoSeinlsquo dem ersten Einen als der Ursache oder der sbquoIdeelsquo des intelli-giblen Seienden vorbehalten ist soll das Wort sbquoExistenzlsquo das ersteMoment der reflexiven Bewegung des Intellekts oder des zweiten

200 Vaacutec l av N ěmec

27) Vgl z B Marius Victorinus Adv Ar 42318ndash34 (CSEL LXXXIIII 260)28) Vgl z B Marius Victorinus Adv Ar 464ndash7 (CSEL LXXXIIII 231ndash

232) 489ndash30 (CSEL LXXXIIII 235ndash236) 42126ndash28 (CSEL LXXXIIII 257)29) Vgl Anon in Parm 91ndash1011 (Linguiti 118ndash120)30) Darauf hat schon Andrew Smith hingewiesen Vgl ders Zπόστασις and

0παρξις in Porphyry in F Romano D P Taormina (Hrsg) Hyparxis e hyposta-sis nel neoplatonismo Firenze 1994 33ndash41 hier 41

Einen bezeichnen im Unterschied zum sbquoSeiendenlsquo das als Benen-nung fuumlr die ganze Hypostase dient Im anonymen Kommentarfindet man auch kein Anzeichen fuumlr das Prinzip eines wechsel -seitigen Ineinanderseins (und des Vorherrschens) von Existenz Leben und Denken das eine zentrale Rolle in Adversus Arium 1b3 und 4 ndash und im spaumlteren Neuplatonismus uumlberhaupt ndash spielt

Dialektik der negativen und affirmativen Theologie

Auch die ganze Problematik der sbquoInkommensurabilitaumltlsquo bzwsbquoKommensurabilitaumltlsquo des ersten Einen mit dem zweiten Einen be-handelt der Verfasser des Kommentars anders als Marius Victori-nus in Adversus Arium 1b31 Dem Kommentator zufolge zeigt sichdas Goumlttliche bdquounter dem einen Gesichtspunktldquo (κατF -λλο bzwκατ7 τν πρώτην δέαν) d h bdquoes selbst in sich selbst gesehenldquo alsdas einfache Eine das bdquonicht ausgesprochen und gedacht werdenkannldquo bdquounter dem anderen Gesichtspunktldquo (κατF -λλο) hingegenwird es als der in sich durch Reflexion differenzierte Intellekt be-trachtet der sich in die Vielheit seiner Akte ndash Existenz Leben undDenken ndash hinein entfaltet Wie der Schluss des sechsten Fragmentsbezeugt entsprechen diese zwei Gesichtspunkte der ersten und derzweiten Hypothese des Parmenides Trotz der sbquoontologischen Dif-ferenzlsquo zwischen dem ersten Einen und dem Intellekt (dem zwei-ten Einen) die in den vorausgehenden Fragmenten immer wiederemphatisch hervorgehoben wurde meint also der Kommentatordass sich beide Hypothesen auf eine einzige Gottheit beziehen diedas transzendente Eine und den reflexiven Intellekt als ihre zweiSchichten oder Momente einschlieszligt Der Verfasser des Kommen-tars scheint also die beiden Hypothesen als eine Art sbquodialektischelsquoTheologie zu verstehen die das Goumlttliche unter zwei verschiede-

201Die Theorie des goumlttlichen Selbstbewusstseins im Parmenides-Kommentar

31) Die Dialektik der sbquoInkommensurabilitaumltlsquo (bdquolrsquoincoordinationldquo) und sbquoKom-mensurabilitaumltlsquo (bdquola coordinationldquo) des Einen betrachtet Hadot als einen der Haupt -zuumlge der sbquoporphyrianischen Metaphysiklsquo Entsprechend seiner Hypothese dass derVerfasser des anonymen Kommentars Porphyrios sei den er zugleich fuumlr die grie-chische Quelle haumllt aus der Marius Victorinus geschoumlpft hat meint er dass der an -onyme Parmenides-Kommentar und die theologischen Schriften des Marius Victo-rinus ndash insbesondere Adversus Arium 1b ndash auch in diesem Punkt uumlbereinstimmenVgl Hadot La meacutetaphysique de Porphyre (wie Anm 2) 131 ff ders Porphyre etVictorinus (wie Anm 2) I 139ndash141 259ndash260

nen Aspekten zum Thema macht Vielleicht koumlnnte man auch uumlbereine Art sbquoDialektik der Kommensurabilitaumlt und Inkommensurabi-litaumltlsquo des Einen selbst sprechen insofern der Gesichtspunkt derzweiten Hypothese deren Gegenstand eigentlich der reflexive Intellekt ist zugleich eine neue Perspektive oumlffnet aus der sich das erste Eine in seiner Bezogenheit auf die differenzierten Aktedes Intellekts zeigt Erscheint das (erste) Eine unter dem ersten Gesichtspunkt als inkommensurabel und relationslos so dass manihm jedwede Beziehung zum Intellekt ndash sogar die der Andersheit ndashverweigern muss32 stellt es sich unter dem anderen Gesichtspunktder die Aufmerksamkeit auf das zweite Eine oder den Intellektlenkt zugleich als der einheitsstiftende Akt uumlber den differenzier-ten Akten des reflexiven Intellekts als der konstitutive Urgrundseines Selbstbewusstseins heraus Freilich ist Hadots Ansichtzuruumlckzuweisen die sbquodialektischelsquo Theologie des anonymen Kommentars sei mit dem entsprechenden Konzept in AdversusArium 1b identisch33 Die theologische Auffassung in AdversusArium 1b kann insofern als sbquodialektischlsquo bezeichnet werden als dasEine unter zwei verschiedenen Aspekten behandelt wird in sichund auf das von ihm Verursachte bezogen Das Eine zeigt sich soeinerseits als inkommensurabel und in seiner absoluten Differenz-losigkeit allen gegenstaumlndlichen Kategorien des menschlichenDenkens enthoben andererseits in Bezug darauf wessen Ursprunges ist als universale Ursache die selbst auf eine transzendente undpotenzielle Weise alles ist was aus ihr hervorgeht Waumlhrend unterdem Gesichtspunkt der negativen Theologie dem Einen u a SeinExistenz Leben und Denken abgesprochen wird erweist es sichunter dem Gesichtspunkt der affirmativen Theologie als erste Phase der Selbstkonstitution der goumlttlichen Substanz bzw des Intellekts und als erstes Glied der Dreiheit von sbquoSein ndash Leben ndashDenkenlsquo Als das Sein selbst enthaumllt es in sich auf transzendenteund potenzielle Weise die beiden anderen Glieder ndash Leben undDenken ndash und vereinigt sie in seiner unterschiedslosen Einheit ImVergleich mit dem anonymen Kommentar faumlllt nun auf dass beiVictorinus beide Gesichtspunkte den Methoden der negativen undaffirmativen Theologie entsprechen die ausschlieszliglich auf das ers -te Eine angewandt werden also auf das Eine der ersten Hypothese

202 Vaacutec l av N ěmec

32) Vgl Anon in Parm 31ndash35 (Linguiti 100ndash102)33) Vgl oben Anm 31

des Parmenides das mit Gottvater identifiziert wird Das zweiteEine d h das Eine der zweiten Hypothese das Victorinus demSohn gleichsetzt wird erst spaumlter zum Thema34 und ist nicht in dieDialektik der negativen und affirmativen Theologie einbezogenIm anonymen Kommentar hingegen entsprechen die beiden Ge-sichtspunkte der ersten und der zweiten Hypothese die das den reflexiven Intellekt (das zweite Eine) und seinen uumlber-reflexivenGrund (das erste Eine) umschlieszligende Goumlttliche in seinen beidenAspekten oder Schichten behandeln Obwohl also sowohl in Ad-versus Arium 1b als auch im anonymen Kommentar eine Art sbquoDia-lektik der Kommensurabilitaumlt und Inkommensurabilitaumltlsquo des Einenvorkommt geht es offensichtlich um zwei verschiedene Variantenderen Unterschiedlichkeit wieder die Differenzen zwischen denbeiden metaphysischen Konzepten klar hervortreten laumlsst35

Schlussfolgerungen

Gerade die erwaumlhnten Unterschiede verwischt nun Hadotum den Inhalt des sechsten Fragments mit seiner Hypothese inEinklang zu bringen dass der Verfasser des anonymen Kommen-tars (naumlmlich Porphyrios) mit der griechischen Quelle der theolo-gischen Schriften des Marius Victorinus identisch sei Dabei pro-

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34) Marius Victorinus Adv Ar 15022 ff (CSEL LXXXIIII 145)35) Diese sbquoJuxtappositionlsquo oder sbquoDialektiklsquo der negativen und affirmativen

Theologie die das Goumlttliche aus zwei verschiedenen Perspektiven betrachtet wo-bei es sich bald als sbquoinkommensurabellsquo bald als sbquokommensurabellsquo zeigt geht wahr-scheinlich auf die mittelplatonische bzw neupythagoreische Tradition zuruumlck VglJ Mansfeld Compatible Alternatives Middle Platonists Theology and the Xeno -phanes Reception in R van den Broek T Baarda J Mansfeld (Hrsg) Know -ledge of God in the Graeco-Roman World Leiden 1988 92ndash117 Eudoros vonAlexandrien fuumlhrt die beiden Betrachtungsweisen mit aumlhnlichen Ausdruumlcken wieder Verfasser des anonymen Kommentars ein (κατ7 τν νωτάτω λόγον κατF -λλον τρόπον bzw κατ7 τν δεύτερον λόγον) Vgl Simplikios In Aristotelis Physica com-mentaria 15 (CAG IX 18110ndash30) Bei Eudoros geht es dennoch um die spezifischeProblematik der pythagoreischen Prinzipienlehre Er bemuumlht sich die sbquomonistischelsquound sbquodualistischelsquo pythagoreische Lehre zu versoumlhnen indem er das Eine einmal alsdas einzige uumlber alle Gegensaumltze erhabene Prinzip betrachtet einmal als ein Gliedder Grundpolaritaumlt sbquodas Eine ndash die unbestimmte Zweiheitlsquo In Adversus Arium 1bund im anonymen Parmenides-Kommentar wird hingegen dieselbe Methode aufdie Problematik der neuplatonischen houmlchsten Prinzipien angewandt ndash obgleich jeweils auf eine andere Art und Weise

jiziert er das Denkschema von Adversus Arium 1b in den Par-menides-Kommentar hinein und entstellt somit gewissermaszligen das hier enthaltene metaphysische Konzept36 Folglich wurde diebemerkenswerte Theorie des goumlttlichen Bewusstseins wie sie imsechsten Fragment dargelegt ist in ihrer Originalitaumlt bislang kaumuntersucht und nur unzureichend bewertet Auch legen die fest-gestellten Differenzen die Vermutung nahe dass der anonymeKommentar bzw sein Verfasser nicht die direkte Quelle des theo-logischen Werkes von Marius Victorinus ndash oder zumindest seinerSchrift Adversus Arium 1b ndash gewesen sein kann Die Unterschiedelassen sich auch nicht wegdiskutieren wenn man darauf hinweistdass der Kommentar uns nur fragmentarisch erhalten blieb oderVictorinus seine Quelle wesentlich umgedeutet haben koumlnnte um sie seinem christlich-theologischen Anliegen anzupassen Wieschon gezeigt sind mehrere Grundzuumlge der beiden metaphysi-schen Konzepte einfach nicht miteinander kompatibel Und gera-de manche Motive durch die sich das metaphysische Schema inAdversus Arium 1b von dem des anonymen Kommentars abhebtz B das Prinzip des Ineinanderseins (und des Vorherrschens) vonSein Leben und Denken begegnen uns wieder bei den spaumlterenNeuplatonikern freilich mit dem Unterschied dass diese sie aufdie niedrigeren Seinsstufen anwenden ohne das Eine mit einem derGlieder der Dreiheit zu identifizieren Der anonyme Kommentarduumlrfte so wohl auf etwas hindeuten das schon durch die Anwe-senheit verschiedener Varianten eines verwandten metaphysischenKonzepts in den theologischen Schriften des Marius Victorinusdie kaum auf eine einzige Quelle zuruumlckzufuumlhren sind angedeutetwird37 die Existenz einer ganzen Traditionslinie des spaumltantiken

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36) Diese Kritik wird freilich geaumluszligert mit der wesentlichen Einschraumlnkungdass es gerade Hadots groszliges Verdienst war die Eigentuumlmlichkeit und Bedeutungder metaphysischen Lehre des anonymen Kommentars im Rahmen des spaumltantikenPlatonismus erkannt und sie zum ersten Mal detailliert und ndash mit den oben er-waumlhnten Ausnahmen ndash praumlzise rekonstruiert zu haben

37) Im theologischen Werk von Marius Victorinus lassen sich mindestensdrei (bzw vier wenn man auch Candidi epistola 1 dazu zaumlhlt) unterschiedliche Va-rianten eines verwandten metaphysischen Systems ausmachen die wahrscheinlichauf verschiedene Quellen zuruumlckgehen Dies versuchte ich in meinem Aufsatz Me-tafysickeacute systeacutemy v theologickeacutem diacutele Maria Victorina in V Hušek L Chvaacutetal J Plaacutetovaacute (Hrsg) Miscellanea patristica Brno 2007 37ndash71 nachzuweisen Vglauch meine Einleitung zur tschechischen Ausgabe des anonymen Parmenides-Kommentars Anonymniacute komentaacuteř k Platoacutenovu Parmenidovi Praha 2009 49ndash69

(Neu-)Platonismus die von der uns bekannten Hauptstroumlmungabweicht und in deren Rahmen verschiedene Versionen einer aumlhn-lichen metaphysischen Auffassung durchdacht wurden

Prag Vaacutec l av N ěmec

205Die Theorie des goumlttlichen Selbstbewusstseins im Parmenides-Kommentar

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urteilen keines der getrennten Sinnesvermoumlgen aber ist imstandedie Gegenstaumlnde quer durch mehrere Wahrnehmungsbereiche ndashz B das Weiszlige und das Suumlszlige ndash zu unterscheiden Da es sich aberimmer um Wahrnehmbares handelt muumlssen auch die Unterschie-de zwischen Wahrnehmungsgegenstaumlnden die in den Kompetenz-bereich verschiedener Sinne fallen durch ein Sinnesvermoumlgen fest-gestellt werden das von den uumlbrigen Sinnen abgegrenzt ist Gera-de dieses eigentuumlmliche Sinnesvermoumlgen nennt Aristoteles sbquodas unterscheidendelsquo (τ κρνον) Wenn es auch nirgends explizit ge-sagt wird scheint er dieses Vermoumlgen mit dem sbquogemeinsamen Sinnlsquo( κοιν αOσθησις) gleichzusetzen18 Diesem sbquogemeinsamen Sinnlsquoschreibt er weitere Funktionen zu wie etwa die Wahrnehmung sbquoge-meinsamer Wahrnehmungsgegenstaumlndelsquo die von mehreren Sinnenzugleich erfasst werden aber auch ein elementares Selbstbewusst-sein das jeden Wahrnehmungsakt begleitet (wie z B mein Sehaktvon dem Bewusstsein begleitet wird dass ich sehe)19

Gerade an diese Motive der aristotelischen Psychologie knuumlpftder Kommentator an mit der Parallele die er zwischen der Sinnes-wahrnehmung und dem Intellekt zieht Aumlhnlich wie die Sinnes -vermoumlgen ist auch der reflexive Intellekt in seine verschiedenen Momente oder Akte aufgespalten von denen jeder seine eigeneFunktion und seinen eigenen Kompetenzbereich besitzt weshalbaber auch keiner imstande ist sich auf die anderen Akte und auf dasvon ihnen Intendierte zu beziehen und sie in ihrer Andersheit undIdentitaumlt zu erkennen Deshalb muss es auch auf der Ebene des In-tellekts ein besonderes Vermoumlgen ndash aumlhnlich dem sbquounterscheidendenlsquooder sbquogemeinsamenlsquo Sinn ndash geben das von allen Vermoumlgen oder Ak-ten des reflexiven Intellekts verschieden ist und uumlber sie hinausgehtGenau wie der sensus communis ist es ein aktiver Keim des Intellektsder alle differenzierten Akte beruumlhrt sie als seine Organe gebrauchtund diese zugleich vereinigt und ihre Selbigkeit stiftet Und ebensowie der sbquogemeinsame Sinnlsquo muss dieser vereinigende Akt uumlber allenAkten ein einziger sein ja er faumlllt mit dem (ersten) Einen zusammen

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18) Zum sbquogemeinsamen Sinnlsquo siehe z B Aristoteles De an 425a27 ZurGleichsetzung des sbquounterscheidenden Sinneslsquo mit dem sensus communis bei Aristo-teles vgl z B A-E Chaignet Essai sur la psychologie drsquoAristote Bruxelles 1966375 378ndash381 Diese Identifikation zieht allerdings D W Hamlyn in Zweifel VglAristotle De Anima Books II and III Translated with Introduction and Notes byD W Hamlyn Oxford 2002 128ndash129

19) Vgl Chaignet (wie Anm 18) 375ndash382

Der Vergleich mit dem sbquogemeinsamenlsquo Sinn wirft ein klaumlren-des Licht auf die vorausgehende Passage (131ndash23) Der Kommen-tator schreibt dem Einen in seinem Bezug auf die Akte des reflexi-ven Intellekts eine aumlhnliche Funktion zu wie sie der sensus com-munis als Organ des elementaren Selbstbewusstseins ausuumlbt dasdie Wahrnehmungsakte begleitet Das Eine begleitet die einzelnenAkte des reflexiven Intellekts und vereinigt sie so alle in sich selbstals in einem einzigen Zentrum Als dieses uumlber-reflexive und Ein-heit stiftende Moment bildet das Eine einen konstitutiven und er-moumlglichenden Grund des reflexiven Selbstbewusstseins des Intel-lekts Auf den ersten Blick scheint der Vergleich insoweit zu hin-ken als die Wahrnehmungsakte ausschlieszliglich auf die aumluszligeren Gegenstaumlnde gerichtet und im Prinzip nicht zu einem Selbstbezugfaumlhig sind waumlhrend durch die Akte des reflexiven Intellekts sichgerade der denkende Selbstbezug vollzieht in dem bdquoder Denkendesich mit dem Gedachten vereinigtldquo Der Kommentator scheintdennoch davon uumlberzeugt zu sein dass die differenzierten Akte desreflexiven Intellekts an sich auszligerstande sind diesen Selbstbezugzu bewirken und zu gewaumlhrleisten Die unabdingbare Grundbe-dingung der Moumlglichkeit des reflexiven Selbstbezuges wie er imdurch die Dreiheit der Akte strukturierten Intellekt realisiert wirdstellt gerade das mit dem Einen identifizierte houmlhere Vermoumlgenoder der vereinigende Akt dar der alle differenzierten Akte beglei-tet und ihre Einheit und Selbigkeit in der Vielheit und Andersheitgarantiert Das Selbstbewusstsein auf der Ebene des reflexiven Intellekts das sich durch die Dualitaumlt des Denkenden und des Gedachten auszeichnet ist so in einem houmlheren oder tieferen nicht-reflexiven oder uumlber-reflexiven Selbstbewusstsein gegruumlndet des-sen Quelle und Subjekt das transzendente Eine selbst ist

Das Eine und die Dreiheit von sbquoExistenz ndash Leben ndash Denkenlsquo

Aus dem Gesagten wird auch ersichtlich dass das Eine von allen Strukturmomenten oder Akten des reflexiven Intellekts ingleichem Maszlige verschieden sein muss und mit keinem von ihnenidentifiziert werden kann Aus diesem Grund ist auch die Inter-preta tion Hadots abzulehnen wonach das Eine schlieszliglich mitdem ersten Glied der Dreiheit von sbquoExistenz ndash Leben ndash Denkenlsquoidentisch sein soll Diese Auslegung gruumlndet sich auf die Annahme

197Die Theorie des goumlttlichen Selbstbewusstseins im Parmenides-Kommentar

die Existenz als einer der Akte des reflexiven Intellekts falle mitdem sbquoSeinlsquo zusammen das im fuumlnften Fragment mit dem Einenselbst gleichgesetzt wurde20 Diese Identifizierung des sbquoSeinslsquo mitder sbquoExistenzlsquo laumlsst sich aber in keinem der erhaltenen Fragmentedes Kommentars belegen und waumlre mit dessen metaphysischemKonzept auch kaum vereinbar Der eigentliche Grund fuumlr HadotsGleichsetzung dieser zwei Termini ist die Tatsache dass sie beidein den theologischen Schriften des Marius Victorinus ndash insbeson-dere in Adversus Arium 1b ndash zusammenzuflieszligen scheinen Geradein der genannten Schrift erhebt Marius Victorinus die Dreiheit vonsbquoSein (bzw Existenz) ndash Leben ndash Denkenlsquo zum zentralen konzeptu-ellen Modell fuumlr seine Eroumlrterung der Wesensgleichheit von VaterSohn und heiligem Geist Im Rahmen seiner Transponierung derchristlich-theologischen Problematik auf den Boden einer (neu-)platonischen metaphysischen Prinzipienlehre fasst Victorinus denGottvater als das transzendente bdquoEine ohne Existenzldquo (inexsisten-tialiter unum) auf dem durch die negative Theologie u a Sein Existenz Seiendes Substanz Denken abgesprochen werden21 dasaber von der affirmativen Theologie zugleich als bdquodreimaumlchtigerGeistldquo (tripotens spiritus) gepriesen wird der die Vermoumlgen desSeins des Lebens und des Denkens in sich einschlieszligt Unter die-sem Gesichtspunkt wird Gottvater primaumlr als das reine Sein (esse)betrachtet das in seiner transzendenten Einheit und Verborgenheitdas Leben und das Denken in ihrer potenziellen Praumlexistenz be-inhaltet22 Der Sohn und der Heilige Geist werden dann geradedem aktualisierten und geaumluszligerten Leben (vita) und Denken (in-

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20) Vgl Hadot Porphyre et Victorinus (wie Anm 2) I 13321) Marius Victorinus Adversus Arium 1499ndash18 (CSEL LXXXIIII 143)

Ante omnia quae vere sunt unum fuit sive unalitas sive ipsum unum antequam sitei esse unum unum ante omnem exsistentiam ante omnem exsistentialitatem ante ipsum ν hoc enim unum ante ν ante omnem igitur essentitatem substantiamsubsistentiam et adhuc omnia quae potentiora unum sine exsistentia sine substan-tia sine intellegentia

22) Marius Victorinus Adv Ar 1501ndash15 (CSEL LXXXIIII 144ndash145) Hicest deus hic pater praeintellegentia praeexsistens et praeexsistentia tripotens inunalitate spiritus tres potentias couniens exsistentiam omnem vitam omnem etbeatitudinem sed ista omnia et unum et simplex unum et maxime in potentia eiusquod est esse hoc est exsistentiae potentia vitae et beatitudinis 1523ndash9 (CSELLXXXIIII 148) Deus potentia est istarum trium potentiarum exsistentiae vitaebeatitudinis hoc est eius quod est esse quod vivere quod intellegere Et quod estesse primum et secundum quod est esse secundum ipsum vivere et intellegere sineulla unitione sed simpliciter simplicitas et istud manifestum

tellegentia bzw sapientia beatitudo) gleichgesetzt die zugleich alszwei Phasen des bdquoHervorgehensldquo (progressio) und der bdquoRuumlckkehrldquo(regressus) begriffen werden durch die das zweite Eine ndash das bdquoEinein der Existenzldquo (exsistentialiter unum) ndash konstituiert wird23 SeinLeben und Denken zeigen sich so als die drei Phasen ndash VerharrenHervorgehen und Ruumlckkehr24 ndash in denen sich die goumlttliche Sub-stanz aus ihrer transzendenten Wurzel in die Vielheit und Anders-heit hinein entfaltet um die urspruumlngliche Selbigkeit mit ihremtranszendenten Grund wiederherzustellen und sich selbst als einreflexiv denkendes Wesen zu konstituieren25 Die substanzielleIdentitaumlt von Sein Leben und Denken wird dabei durch ihr ge-genseitiges Ineinandersein ermoumlglicht Jedes Glied impliziert diezwei anderen auf seine eigene Art und Weise Ihre Differenz ergibtsich dagegen daraus dass in jeder Phase jeweils ein Glied der Drei-heit uumlber die anderen herrscht und in den Vordergrund tritt26

Obwohl man eine konzeptuelle Verwandtschaft zwischenAdversus Arium 1b und dem anonymen Parmenides-Kommentarkaum bestreiten kann ndash diese besteht besonders darin dass in bei-den Texten das erste Eine mit dem reinen Sein identifiziert wirddas sich vom Seienden bzw dem seienden Einen abgrenzt und dassdie Dreiheit sbquoExistenz ndash Leben ndash Denkenlsquo eine zentrale Rolle beider Eroumlrterung der reflexiven Bewegung bzw der Konstitution desIntellekts spielt ndash sind auch einige wesentliche Unterschiede nichtzu verkennen Im anonymen Kommentar kann vor allem keineAnwendung der Dreiheit auf das erste Eine nachgewiesen werdenSein Verfasser setzt zwar das Eine dem reinen Sein gleich das alsreine Wirksamkeit verschieden ist vom substanziellen Seienden

199Die Theorie des goumlttlichen Selbstbewusstseins im Parmenides-Kommentar

23) Marius Victorinus Adv Ar 15110ndash27 (CSEL LXXXIIII 146ndash147)Potentia enim progrediente ista motio nusquam requiescens quippe vita quaesit infinita et ipsa in vivificatione veluti foris apparuit Vita autem filius vita mo-tio a vitali praeexsistentia vita exsistentia Ista igitur exsistentia totius exsistentiaeest vita et iuxta quod vita motus quasi femineam sortita est potentiam hoc quodconcupivit vivificare Sed quoniam ista motio una cum sit et vita est et sapien-tia vita conversa in sapientiam et magis in exsistentiam patricam magis autem retromotae motionis in patricam potentiam et ab ipso viltrgtificata vita recurrens in patrem vir effecta est Descensio enim vita ascensio sapientia Vgl auch 15220ndash35(CSEL LXXXIIII 148ndash149)

24) Marius Victorinus Hymnus 371ndash74 (CSEL LXXXIIII 297) Statusprogressio regressus o beata trinitas

25) Vgl Marius Victorinus Adv Ar 1577ndash21 (CSEL LXXXIIII 155ndash156)26) Vgl Hadot Porphyre et Victorinus (wie Anm 2) I 239ndash246

und er spricht dem Einen auch eine Art uumlber-reflexives Denken zunie aber wendet er die Dreiheit sbquoSein ndash Leben ndash Denkenlsquo auf das erste Eine an nicht einmal im Sinne einer potenziellen und uumlber-substanziellen Praumlexistenz (praeexsistentia ndash praeviventia ndash prae -intellegentia) wie es Victorinus in Adversus Arium 1b und imzweiten Teil von Adversus Arium 4 tut27 oder im Sinne der reinenAkte (esse ndash vivere ndash intellegere) wie es insbesondere im ersten Teilvon Adversus Arium 4 geschieht28 Die Dreiheit erscheint im Kom-mentar nur in substanzieller Form und bleibt der Ebene des Intel-lekts immanent Im fuumlnften Fragment kritisiert der Kommentatorsogar ausdruumlcklich die Chaldaumlischen Orakel oder ihre Auslegerweil sie der houmlchsten Gottheit eine trinitarische Struktur zuwei-sen29 Manche seiner Formulierungen erwecken dabei den Ein-druck dass er bei seiner Kritik ein aumlhnliches theologisches Kon-zept im Auge gehabt haben mochte wie es uns gerade in AdversusArium 1b begegnet Das Eine wird vom Kommentator keineswegsals Ausgangsglied der Dreiheit aufgefasst aus dem das Leben her-vorginge und zu dem das Denken zuruumlckkehrte wie es in Adver-sus Arium 1b begriffen wird Dementsprechend ist das Eine auchnicht sbquoder Gegenstandlsquo des Erkennens des zweiten Einen in demdas zweite Eine zugleich sich selbst in seiner potenziellen undtranszendenten Praumlexistenz erfasst sondern es ist der Akt der inallen drei Akten oder Momenten wirkt der ihre Einheit stiftet undzugleich uumlber sie hinausgeht Auch wenn der Kommentator dasEine mit dem Sein identifiziert setzt er nie das Sein mit der Exis -tenz gleich und nichts scheint davon zu zeugen dass die Existenzmit dem transzendenten Moment des Intellekts (dem ersten Einen)zusammenfallen sollte30 Der Verfasser des anonymen Kommen-tars verwendet im Gegenteil unterschiedliche Ausdruumlcke um dieverschiedenen Tatsachen hervorzuheben Waumlhrend der TerminussbquoSeinlsquo dem ersten Einen als der Ursache oder der sbquoIdeelsquo des intelli-giblen Seienden vorbehalten ist soll das Wort sbquoExistenzlsquo das ersteMoment der reflexiven Bewegung des Intellekts oder des zweiten

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27) Vgl z B Marius Victorinus Adv Ar 42318ndash34 (CSEL LXXXIIII 260)28) Vgl z B Marius Victorinus Adv Ar 464ndash7 (CSEL LXXXIIII 231ndash

232) 489ndash30 (CSEL LXXXIIII 235ndash236) 42126ndash28 (CSEL LXXXIIII 257)29) Vgl Anon in Parm 91ndash1011 (Linguiti 118ndash120)30) Darauf hat schon Andrew Smith hingewiesen Vgl ders Zπόστασις and

0παρξις in Porphyry in F Romano D P Taormina (Hrsg) Hyparxis e hyposta-sis nel neoplatonismo Firenze 1994 33ndash41 hier 41

Einen bezeichnen im Unterschied zum sbquoSeiendenlsquo das als Benen-nung fuumlr die ganze Hypostase dient Im anonymen Kommentarfindet man auch kein Anzeichen fuumlr das Prinzip eines wechsel -seitigen Ineinanderseins (und des Vorherrschens) von Existenz Leben und Denken das eine zentrale Rolle in Adversus Arium 1b3 und 4 ndash und im spaumlteren Neuplatonismus uumlberhaupt ndash spielt

Dialektik der negativen und affirmativen Theologie

Auch die ganze Problematik der sbquoInkommensurabilitaumltlsquo bzwsbquoKommensurabilitaumltlsquo des ersten Einen mit dem zweiten Einen be-handelt der Verfasser des Kommentars anders als Marius Victori-nus in Adversus Arium 1b31 Dem Kommentator zufolge zeigt sichdas Goumlttliche bdquounter dem einen Gesichtspunktldquo (κατF -λλο bzwκατ7 τν πρώτην δέαν) d h bdquoes selbst in sich selbst gesehenldquo alsdas einfache Eine das bdquonicht ausgesprochen und gedacht werdenkannldquo bdquounter dem anderen Gesichtspunktldquo (κατF -λλο) hingegenwird es als der in sich durch Reflexion differenzierte Intellekt be-trachtet der sich in die Vielheit seiner Akte ndash Existenz Leben undDenken ndash hinein entfaltet Wie der Schluss des sechsten Fragmentsbezeugt entsprechen diese zwei Gesichtspunkte der ersten und derzweiten Hypothese des Parmenides Trotz der sbquoontologischen Dif-ferenzlsquo zwischen dem ersten Einen und dem Intellekt (dem zwei-ten Einen) die in den vorausgehenden Fragmenten immer wiederemphatisch hervorgehoben wurde meint also der Kommentatordass sich beide Hypothesen auf eine einzige Gottheit beziehen diedas transzendente Eine und den reflexiven Intellekt als ihre zweiSchichten oder Momente einschlieszligt Der Verfasser des Kommen-tars scheint also die beiden Hypothesen als eine Art sbquodialektischelsquoTheologie zu verstehen die das Goumlttliche unter zwei verschiede-

201Die Theorie des goumlttlichen Selbstbewusstseins im Parmenides-Kommentar

31) Die Dialektik der sbquoInkommensurabilitaumltlsquo (bdquolrsquoincoordinationldquo) und sbquoKom-mensurabilitaumltlsquo (bdquola coordinationldquo) des Einen betrachtet Hadot als einen der Haupt -zuumlge der sbquoporphyrianischen Metaphysiklsquo Entsprechend seiner Hypothese dass derVerfasser des anonymen Kommentars Porphyrios sei den er zugleich fuumlr die grie-chische Quelle haumllt aus der Marius Victorinus geschoumlpft hat meint er dass der an -onyme Parmenides-Kommentar und die theologischen Schriften des Marius Victo-rinus ndash insbesondere Adversus Arium 1b ndash auch in diesem Punkt uumlbereinstimmenVgl Hadot La meacutetaphysique de Porphyre (wie Anm 2) 131 ff ders Porphyre etVictorinus (wie Anm 2) I 139ndash141 259ndash260

nen Aspekten zum Thema macht Vielleicht koumlnnte man auch uumlbereine Art sbquoDialektik der Kommensurabilitaumlt und Inkommensurabi-litaumltlsquo des Einen selbst sprechen insofern der Gesichtspunkt derzweiten Hypothese deren Gegenstand eigentlich der reflexive Intellekt ist zugleich eine neue Perspektive oumlffnet aus der sich das erste Eine in seiner Bezogenheit auf die differenzierten Aktedes Intellekts zeigt Erscheint das (erste) Eine unter dem ersten Gesichtspunkt als inkommensurabel und relationslos so dass manihm jedwede Beziehung zum Intellekt ndash sogar die der Andersheit ndashverweigern muss32 stellt es sich unter dem anderen Gesichtspunktder die Aufmerksamkeit auf das zweite Eine oder den Intellektlenkt zugleich als der einheitsstiftende Akt uumlber den differenzier-ten Akten des reflexiven Intellekts als der konstitutive Urgrundseines Selbstbewusstseins heraus Freilich ist Hadots Ansichtzuruumlckzuweisen die sbquodialektischelsquo Theologie des anonymen Kommentars sei mit dem entsprechenden Konzept in AdversusArium 1b identisch33 Die theologische Auffassung in AdversusArium 1b kann insofern als sbquodialektischlsquo bezeichnet werden als dasEine unter zwei verschiedenen Aspekten behandelt wird in sichund auf das von ihm Verursachte bezogen Das Eine zeigt sich soeinerseits als inkommensurabel und in seiner absoluten Differenz-losigkeit allen gegenstaumlndlichen Kategorien des menschlichenDenkens enthoben andererseits in Bezug darauf wessen Ursprunges ist als universale Ursache die selbst auf eine transzendente undpotenzielle Weise alles ist was aus ihr hervorgeht Waumlhrend unterdem Gesichtspunkt der negativen Theologie dem Einen u a SeinExistenz Leben und Denken abgesprochen wird erweist es sichunter dem Gesichtspunkt der affirmativen Theologie als erste Phase der Selbstkonstitution der goumlttlichen Substanz bzw des Intellekts und als erstes Glied der Dreiheit von sbquoSein ndash Leben ndashDenkenlsquo Als das Sein selbst enthaumllt es in sich auf transzendenteund potenzielle Weise die beiden anderen Glieder ndash Leben undDenken ndash und vereinigt sie in seiner unterschiedslosen Einheit ImVergleich mit dem anonymen Kommentar faumlllt nun auf dass beiVictorinus beide Gesichtspunkte den Methoden der negativen undaffirmativen Theologie entsprechen die ausschlieszliglich auf das ers -te Eine angewandt werden also auf das Eine der ersten Hypothese

202 Vaacutec l av N ěmec

32) Vgl Anon in Parm 31ndash35 (Linguiti 100ndash102)33) Vgl oben Anm 31

des Parmenides das mit Gottvater identifiziert wird Das zweiteEine d h das Eine der zweiten Hypothese das Victorinus demSohn gleichsetzt wird erst spaumlter zum Thema34 und ist nicht in dieDialektik der negativen und affirmativen Theologie einbezogenIm anonymen Kommentar hingegen entsprechen die beiden Ge-sichtspunkte der ersten und der zweiten Hypothese die das den reflexiven Intellekt (das zweite Eine) und seinen uumlber-reflexivenGrund (das erste Eine) umschlieszligende Goumlttliche in seinen beidenAspekten oder Schichten behandeln Obwohl also sowohl in Ad-versus Arium 1b als auch im anonymen Kommentar eine Art sbquoDia-lektik der Kommensurabilitaumlt und Inkommensurabilitaumltlsquo des Einenvorkommt geht es offensichtlich um zwei verschiedene Variantenderen Unterschiedlichkeit wieder die Differenzen zwischen denbeiden metaphysischen Konzepten klar hervortreten laumlsst35

Schlussfolgerungen

Gerade die erwaumlhnten Unterschiede verwischt nun Hadotum den Inhalt des sechsten Fragments mit seiner Hypothese inEinklang zu bringen dass der Verfasser des anonymen Kommen-tars (naumlmlich Porphyrios) mit der griechischen Quelle der theolo-gischen Schriften des Marius Victorinus identisch sei Dabei pro-

203Die Theorie des goumlttlichen Selbstbewusstseins im Parmenides-Kommentar

34) Marius Victorinus Adv Ar 15022 ff (CSEL LXXXIIII 145)35) Diese sbquoJuxtappositionlsquo oder sbquoDialektiklsquo der negativen und affirmativen

Theologie die das Goumlttliche aus zwei verschiedenen Perspektiven betrachtet wo-bei es sich bald als sbquoinkommensurabellsquo bald als sbquokommensurabellsquo zeigt geht wahr-scheinlich auf die mittelplatonische bzw neupythagoreische Tradition zuruumlck VglJ Mansfeld Compatible Alternatives Middle Platonists Theology and the Xeno -phanes Reception in R van den Broek T Baarda J Mansfeld (Hrsg) Know -ledge of God in the Graeco-Roman World Leiden 1988 92ndash117 Eudoros vonAlexandrien fuumlhrt die beiden Betrachtungsweisen mit aumlhnlichen Ausdruumlcken wieder Verfasser des anonymen Kommentars ein (κατ7 τν νωτάτω λόγον κατF -λλον τρόπον bzw κατ7 τν δεύτερον λόγον) Vgl Simplikios In Aristotelis Physica com-mentaria 15 (CAG IX 18110ndash30) Bei Eudoros geht es dennoch um die spezifischeProblematik der pythagoreischen Prinzipienlehre Er bemuumlht sich die sbquomonistischelsquound sbquodualistischelsquo pythagoreische Lehre zu versoumlhnen indem er das Eine einmal alsdas einzige uumlber alle Gegensaumltze erhabene Prinzip betrachtet einmal als ein Gliedder Grundpolaritaumlt sbquodas Eine ndash die unbestimmte Zweiheitlsquo In Adversus Arium 1bund im anonymen Parmenides-Kommentar wird hingegen dieselbe Methode aufdie Problematik der neuplatonischen houmlchsten Prinzipien angewandt ndash obgleich jeweils auf eine andere Art und Weise

jiziert er das Denkschema von Adversus Arium 1b in den Par-menides-Kommentar hinein und entstellt somit gewissermaszligen das hier enthaltene metaphysische Konzept36 Folglich wurde diebemerkenswerte Theorie des goumlttlichen Bewusstseins wie sie imsechsten Fragment dargelegt ist in ihrer Originalitaumlt bislang kaumuntersucht und nur unzureichend bewertet Auch legen die fest-gestellten Differenzen die Vermutung nahe dass der anonymeKommentar bzw sein Verfasser nicht die direkte Quelle des theo-logischen Werkes von Marius Victorinus ndash oder zumindest seinerSchrift Adversus Arium 1b ndash gewesen sein kann Die Unterschiedelassen sich auch nicht wegdiskutieren wenn man darauf hinweistdass der Kommentar uns nur fragmentarisch erhalten blieb oderVictorinus seine Quelle wesentlich umgedeutet haben koumlnnte um sie seinem christlich-theologischen Anliegen anzupassen Wieschon gezeigt sind mehrere Grundzuumlge der beiden metaphysi-schen Konzepte einfach nicht miteinander kompatibel Und gera-de manche Motive durch die sich das metaphysische Schema inAdversus Arium 1b von dem des anonymen Kommentars abhebtz B das Prinzip des Ineinanderseins (und des Vorherrschens) vonSein Leben und Denken begegnen uns wieder bei den spaumlterenNeuplatonikern freilich mit dem Unterschied dass diese sie aufdie niedrigeren Seinsstufen anwenden ohne das Eine mit einem derGlieder der Dreiheit zu identifizieren Der anonyme Kommentarduumlrfte so wohl auf etwas hindeuten das schon durch die Anwe-senheit verschiedener Varianten eines verwandten metaphysischenKonzepts in den theologischen Schriften des Marius Victorinusdie kaum auf eine einzige Quelle zuruumlckzufuumlhren sind angedeutetwird37 die Existenz einer ganzen Traditionslinie des spaumltantiken

204 Vaacutec l av N ěmec

36) Diese Kritik wird freilich geaumluszligert mit der wesentlichen Einschraumlnkungdass es gerade Hadots groszliges Verdienst war die Eigentuumlmlichkeit und Bedeutungder metaphysischen Lehre des anonymen Kommentars im Rahmen des spaumltantikenPlatonismus erkannt und sie zum ersten Mal detailliert und ndash mit den oben er-waumlhnten Ausnahmen ndash praumlzise rekonstruiert zu haben

37) Im theologischen Werk von Marius Victorinus lassen sich mindestensdrei (bzw vier wenn man auch Candidi epistola 1 dazu zaumlhlt) unterschiedliche Va-rianten eines verwandten metaphysischen Systems ausmachen die wahrscheinlichauf verschiedene Quellen zuruumlckgehen Dies versuchte ich in meinem Aufsatz Me-tafysickeacute systeacutemy v theologickeacutem diacutele Maria Victorina in V Hušek L Chvaacutetal J Plaacutetovaacute (Hrsg) Miscellanea patristica Brno 2007 37ndash71 nachzuweisen Vglauch meine Einleitung zur tschechischen Ausgabe des anonymen Parmenides-Kommentars Anonymniacute komentaacuteř k Platoacutenovu Parmenidovi Praha 2009 49ndash69

(Neu-)Platonismus die von der uns bekannten Hauptstroumlmungabweicht und in deren Rahmen verschiedene Versionen einer aumlhn-lichen metaphysischen Auffassung durchdacht wurden

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Der Vergleich mit dem sbquogemeinsamenlsquo Sinn wirft ein klaumlren-des Licht auf die vorausgehende Passage (131ndash23) Der Kommen-tator schreibt dem Einen in seinem Bezug auf die Akte des reflexi-ven Intellekts eine aumlhnliche Funktion zu wie sie der sensus com-munis als Organ des elementaren Selbstbewusstseins ausuumlbt dasdie Wahrnehmungsakte begleitet Das Eine begleitet die einzelnenAkte des reflexiven Intellekts und vereinigt sie so alle in sich selbstals in einem einzigen Zentrum Als dieses uumlber-reflexive und Ein-heit stiftende Moment bildet das Eine einen konstitutiven und er-moumlglichenden Grund des reflexiven Selbstbewusstseins des Intel-lekts Auf den ersten Blick scheint der Vergleich insoweit zu hin-ken als die Wahrnehmungsakte ausschlieszliglich auf die aumluszligeren Gegenstaumlnde gerichtet und im Prinzip nicht zu einem Selbstbezugfaumlhig sind waumlhrend durch die Akte des reflexiven Intellekts sichgerade der denkende Selbstbezug vollzieht in dem bdquoder Denkendesich mit dem Gedachten vereinigtldquo Der Kommentator scheintdennoch davon uumlberzeugt zu sein dass die differenzierten Akte desreflexiven Intellekts an sich auszligerstande sind diesen Selbstbezugzu bewirken und zu gewaumlhrleisten Die unabdingbare Grundbe-dingung der Moumlglichkeit des reflexiven Selbstbezuges wie er imdurch die Dreiheit der Akte strukturierten Intellekt realisiert wirdstellt gerade das mit dem Einen identifizierte houmlhere Vermoumlgenoder der vereinigende Akt dar der alle differenzierten Akte beglei-tet und ihre Einheit und Selbigkeit in der Vielheit und Andersheitgarantiert Das Selbstbewusstsein auf der Ebene des reflexiven Intellekts das sich durch die Dualitaumlt des Denkenden und des Gedachten auszeichnet ist so in einem houmlheren oder tieferen nicht-reflexiven oder uumlber-reflexiven Selbstbewusstsein gegruumlndet des-sen Quelle und Subjekt das transzendente Eine selbst ist

Das Eine und die Dreiheit von sbquoExistenz ndash Leben ndash Denkenlsquo

Aus dem Gesagten wird auch ersichtlich dass das Eine von allen Strukturmomenten oder Akten des reflexiven Intellekts ingleichem Maszlige verschieden sein muss und mit keinem von ihnenidentifiziert werden kann Aus diesem Grund ist auch die Inter-preta tion Hadots abzulehnen wonach das Eine schlieszliglich mitdem ersten Glied der Dreiheit von sbquoExistenz ndash Leben ndash Denkenlsquoidentisch sein soll Diese Auslegung gruumlndet sich auf die Annahme

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die Existenz als einer der Akte des reflexiven Intellekts falle mitdem sbquoSeinlsquo zusammen das im fuumlnften Fragment mit dem Einenselbst gleichgesetzt wurde20 Diese Identifizierung des sbquoSeinslsquo mitder sbquoExistenzlsquo laumlsst sich aber in keinem der erhaltenen Fragmentedes Kommentars belegen und waumlre mit dessen metaphysischemKonzept auch kaum vereinbar Der eigentliche Grund fuumlr HadotsGleichsetzung dieser zwei Termini ist die Tatsache dass sie beidein den theologischen Schriften des Marius Victorinus ndash insbeson-dere in Adversus Arium 1b ndash zusammenzuflieszligen scheinen Geradein der genannten Schrift erhebt Marius Victorinus die Dreiheit vonsbquoSein (bzw Existenz) ndash Leben ndash Denkenlsquo zum zentralen konzeptu-ellen Modell fuumlr seine Eroumlrterung der Wesensgleichheit von VaterSohn und heiligem Geist Im Rahmen seiner Transponierung derchristlich-theologischen Problematik auf den Boden einer (neu-)platonischen metaphysischen Prinzipienlehre fasst Victorinus denGottvater als das transzendente bdquoEine ohne Existenzldquo (inexsisten-tialiter unum) auf dem durch die negative Theologie u a Sein Existenz Seiendes Substanz Denken abgesprochen werden21 dasaber von der affirmativen Theologie zugleich als bdquodreimaumlchtigerGeistldquo (tripotens spiritus) gepriesen wird der die Vermoumlgen desSeins des Lebens und des Denkens in sich einschlieszligt Unter die-sem Gesichtspunkt wird Gottvater primaumlr als das reine Sein (esse)betrachtet das in seiner transzendenten Einheit und Verborgenheitdas Leben und das Denken in ihrer potenziellen Praumlexistenz be-inhaltet22 Der Sohn und der Heilige Geist werden dann geradedem aktualisierten und geaumluszligerten Leben (vita) und Denken (in-

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20) Vgl Hadot Porphyre et Victorinus (wie Anm 2) I 13321) Marius Victorinus Adversus Arium 1499ndash18 (CSEL LXXXIIII 143)

Ante omnia quae vere sunt unum fuit sive unalitas sive ipsum unum antequam sitei esse unum unum ante omnem exsistentiam ante omnem exsistentialitatem ante ipsum ν hoc enim unum ante ν ante omnem igitur essentitatem substantiamsubsistentiam et adhuc omnia quae potentiora unum sine exsistentia sine substan-tia sine intellegentia

22) Marius Victorinus Adv Ar 1501ndash15 (CSEL LXXXIIII 144ndash145) Hicest deus hic pater praeintellegentia praeexsistens et praeexsistentia tripotens inunalitate spiritus tres potentias couniens exsistentiam omnem vitam omnem etbeatitudinem sed ista omnia et unum et simplex unum et maxime in potentia eiusquod est esse hoc est exsistentiae potentia vitae et beatitudinis 1523ndash9 (CSELLXXXIIII 148) Deus potentia est istarum trium potentiarum exsistentiae vitaebeatitudinis hoc est eius quod est esse quod vivere quod intellegere Et quod estesse primum et secundum quod est esse secundum ipsum vivere et intellegere sineulla unitione sed simpliciter simplicitas et istud manifestum

tellegentia bzw sapientia beatitudo) gleichgesetzt die zugleich alszwei Phasen des bdquoHervorgehensldquo (progressio) und der bdquoRuumlckkehrldquo(regressus) begriffen werden durch die das zweite Eine ndash das bdquoEinein der Existenzldquo (exsistentialiter unum) ndash konstituiert wird23 SeinLeben und Denken zeigen sich so als die drei Phasen ndash VerharrenHervorgehen und Ruumlckkehr24 ndash in denen sich die goumlttliche Sub-stanz aus ihrer transzendenten Wurzel in die Vielheit und Anders-heit hinein entfaltet um die urspruumlngliche Selbigkeit mit ihremtranszendenten Grund wiederherzustellen und sich selbst als einreflexiv denkendes Wesen zu konstituieren25 Die substanzielleIdentitaumlt von Sein Leben und Denken wird dabei durch ihr ge-genseitiges Ineinandersein ermoumlglicht Jedes Glied impliziert diezwei anderen auf seine eigene Art und Weise Ihre Differenz ergibtsich dagegen daraus dass in jeder Phase jeweils ein Glied der Drei-heit uumlber die anderen herrscht und in den Vordergrund tritt26

Obwohl man eine konzeptuelle Verwandtschaft zwischenAdversus Arium 1b und dem anonymen Parmenides-Kommentarkaum bestreiten kann ndash diese besteht besonders darin dass in bei-den Texten das erste Eine mit dem reinen Sein identifiziert wirddas sich vom Seienden bzw dem seienden Einen abgrenzt und dassdie Dreiheit sbquoExistenz ndash Leben ndash Denkenlsquo eine zentrale Rolle beider Eroumlrterung der reflexiven Bewegung bzw der Konstitution desIntellekts spielt ndash sind auch einige wesentliche Unterschiede nichtzu verkennen Im anonymen Kommentar kann vor allem keineAnwendung der Dreiheit auf das erste Eine nachgewiesen werdenSein Verfasser setzt zwar das Eine dem reinen Sein gleich das alsreine Wirksamkeit verschieden ist vom substanziellen Seienden

199Die Theorie des goumlttlichen Selbstbewusstseins im Parmenides-Kommentar

23) Marius Victorinus Adv Ar 15110ndash27 (CSEL LXXXIIII 146ndash147)Potentia enim progrediente ista motio nusquam requiescens quippe vita quaesit infinita et ipsa in vivificatione veluti foris apparuit Vita autem filius vita mo-tio a vitali praeexsistentia vita exsistentia Ista igitur exsistentia totius exsistentiaeest vita et iuxta quod vita motus quasi femineam sortita est potentiam hoc quodconcupivit vivificare Sed quoniam ista motio una cum sit et vita est et sapien-tia vita conversa in sapientiam et magis in exsistentiam patricam magis autem retromotae motionis in patricam potentiam et ab ipso viltrgtificata vita recurrens in patrem vir effecta est Descensio enim vita ascensio sapientia Vgl auch 15220ndash35(CSEL LXXXIIII 148ndash149)

24) Marius Victorinus Hymnus 371ndash74 (CSEL LXXXIIII 297) Statusprogressio regressus o beata trinitas

25) Vgl Marius Victorinus Adv Ar 1577ndash21 (CSEL LXXXIIII 155ndash156)26) Vgl Hadot Porphyre et Victorinus (wie Anm 2) I 239ndash246

und er spricht dem Einen auch eine Art uumlber-reflexives Denken zunie aber wendet er die Dreiheit sbquoSein ndash Leben ndash Denkenlsquo auf das erste Eine an nicht einmal im Sinne einer potenziellen und uumlber-substanziellen Praumlexistenz (praeexsistentia ndash praeviventia ndash prae -intellegentia) wie es Victorinus in Adversus Arium 1b und imzweiten Teil von Adversus Arium 4 tut27 oder im Sinne der reinenAkte (esse ndash vivere ndash intellegere) wie es insbesondere im ersten Teilvon Adversus Arium 4 geschieht28 Die Dreiheit erscheint im Kom-mentar nur in substanzieller Form und bleibt der Ebene des Intel-lekts immanent Im fuumlnften Fragment kritisiert der Kommentatorsogar ausdruumlcklich die Chaldaumlischen Orakel oder ihre Auslegerweil sie der houmlchsten Gottheit eine trinitarische Struktur zuwei-sen29 Manche seiner Formulierungen erwecken dabei den Ein-druck dass er bei seiner Kritik ein aumlhnliches theologisches Kon-zept im Auge gehabt haben mochte wie es uns gerade in AdversusArium 1b begegnet Das Eine wird vom Kommentator keineswegsals Ausgangsglied der Dreiheit aufgefasst aus dem das Leben her-vorginge und zu dem das Denken zuruumlckkehrte wie es in Adver-sus Arium 1b begriffen wird Dementsprechend ist das Eine auchnicht sbquoder Gegenstandlsquo des Erkennens des zweiten Einen in demdas zweite Eine zugleich sich selbst in seiner potenziellen undtranszendenten Praumlexistenz erfasst sondern es ist der Akt der inallen drei Akten oder Momenten wirkt der ihre Einheit stiftet undzugleich uumlber sie hinausgeht Auch wenn der Kommentator dasEine mit dem Sein identifiziert setzt er nie das Sein mit der Exis -tenz gleich und nichts scheint davon zu zeugen dass die Existenzmit dem transzendenten Moment des Intellekts (dem ersten Einen)zusammenfallen sollte30 Der Verfasser des anonymen Kommen-tars verwendet im Gegenteil unterschiedliche Ausdruumlcke um dieverschiedenen Tatsachen hervorzuheben Waumlhrend der TerminussbquoSeinlsquo dem ersten Einen als der Ursache oder der sbquoIdeelsquo des intelli-giblen Seienden vorbehalten ist soll das Wort sbquoExistenzlsquo das ersteMoment der reflexiven Bewegung des Intellekts oder des zweiten

200 Vaacutec l av N ěmec

27) Vgl z B Marius Victorinus Adv Ar 42318ndash34 (CSEL LXXXIIII 260)28) Vgl z B Marius Victorinus Adv Ar 464ndash7 (CSEL LXXXIIII 231ndash

232) 489ndash30 (CSEL LXXXIIII 235ndash236) 42126ndash28 (CSEL LXXXIIII 257)29) Vgl Anon in Parm 91ndash1011 (Linguiti 118ndash120)30) Darauf hat schon Andrew Smith hingewiesen Vgl ders Zπόστασις and

0παρξις in Porphyry in F Romano D P Taormina (Hrsg) Hyparxis e hyposta-sis nel neoplatonismo Firenze 1994 33ndash41 hier 41

Einen bezeichnen im Unterschied zum sbquoSeiendenlsquo das als Benen-nung fuumlr die ganze Hypostase dient Im anonymen Kommentarfindet man auch kein Anzeichen fuumlr das Prinzip eines wechsel -seitigen Ineinanderseins (und des Vorherrschens) von Existenz Leben und Denken das eine zentrale Rolle in Adversus Arium 1b3 und 4 ndash und im spaumlteren Neuplatonismus uumlberhaupt ndash spielt

Dialektik der negativen und affirmativen Theologie

Auch die ganze Problematik der sbquoInkommensurabilitaumltlsquo bzwsbquoKommensurabilitaumltlsquo des ersten Einen mit dem zweiten Einen be-handelt der Verfasser des Kommentars anders als Marius Victori-nus in Adversus Arium 1b31 Dem Kommentator zufolge zeigt sichdas Goumlttliche bdquounter dem einen Gesichtspunktldquo (κατF -λλο bzwκατ7 τν πρώτην δέαν) d h bdquoes selbst in sich selbst gesehenldquo alsdas einfache Eine das bdquonicht ausgesprochen und gedacht werdenkannldquo bdquounter dem anderen Gesichtspunktldquo (κατF -λλο) hingegenwird es als der in sich durch Reflexion differenzierte Intellekt be-trachtet der sich in die Vielheit seiner Akte ndash Existenz Leben undDenken ndash hinein entfaltet Wie der Schluss des sechsten Fragmentsbezeugt entsprechen diese zwei Gesichtspunkte der ersten und derzweiten Hypothese des Parmenides Trotz der sbquoontologischen Dif-ferenzlsquo zwischen dem ersten Einen und dem Intellekt (dem zwei-ten Einen) die in den vorausgehenden Fragmenten immer wiederemphatisch hervorgehoben wurde meint also der Kommentatordass sich beide Hypothesen auf eine einzige Gottheit beziehen diedas transzendente Eine und den reflexiven Intellekt als ihre zweiSchichten oder Momente einschlieszligt Der Verfasser des Kommen-tars scheint also die beiden Hypothesen als eine Art sbquodialektischelsquoTheologie zu verstehen die das Goumlttliche unter zwei verschiede-

201Die Theorie des goumlttlichen Selbstbewusstseins im Parmenides-Kommentar

31) Die Dialektik der sbquoInkommensurabilitaumltlsquo (bdquolrsquoincoordinationldquo) und sbquoKom-mensurabilitaumltlsquo (bdquola coordinationldquo) des Einen betrachtet Hadot als einen der Haupt -zuumlge der sbquoporphyrianischen Metaphysiklsquo Entsprechend seiner Hypothese dass derVerfasser des anonymen Kommentars Porphyrios sei den er zugleich fuumlr die grie-chische Quelle haumllt aus der Marius Victorinus geschoumlpft hat meint er dass der an -onyme Parmenides-Kommentar und die theologischen Schriften des Marius Victo-rinus ndash insbesondere Adversus Arium 1b ndash auch in diesem Punkt uumlbereinstimmenVgl Hadot La meacutetaphysique de Porphyre (wie Anm 2) 131 ff ders Porphyre etVictorinus (wie Anm 2) I 139ndash141 259ndash260

nen Aspekten zum Thema macht Vielleicht koumlnnte man auch uumlbereine Art sbquoDialektik der Kommensurabilitaumlt und Inkommensurabi-litaumltlsquo des Einen selbst sprechen insofern der Gesichtspunkt derzweiten Hypothese deren Gegenstand eigentlich der reflexive Intellekt ist zugleich eine neue Perspektive oumlffnet aus der sich das erste Eine in seiner Bezogenheit auf die differenzierten Aktedes Intellekts zeigt Erscheint das (erste) Eine unter dem ersten Gesichtspunkt als inkommensurabel und relationslos so dass manihm jedwede Beziehung zum Intellekt ndash sogar die der Andersheit ndashverweigern muss32 stellt es sich unter dem anderen Gesichtspunktder die Aufmerksamkeit auf das zweite Eine oder den Intellektlenkt zugleich als der einheitsstiftende Akt uumlber den differenzier-ten Akten des reflexiven Intellekts als der konstitutive Urgrundseines Selbstbewusstseins heraus Freilich ist Hadots Ansichtzuruumlckzuweisen die sbquodialektischelsquo Theologie des anonymen Kommentars sei mit dem entsprechenden Konzept in AdversusArium 1b identisch33 Die theologische Auffassung in AdversusArium 1b kann insofern als sbquodialektischlsquo bezeichnet werden als dasEine unter zwei verschiedenen Aspekten behandelt wird in sichund auf das von ihm Verursachte bezogen Das Eine zeigt sich soeinerseits als inkommensurabel und in seiner absoluten Differenz-losigkeit allen gegenstaumlndlichen Kategorien des menschlichenDenkens enthoben andererseits in Bezug darauf wessen Ursprunges ist als universale Ursache die selbst auf eine transzendente undpotenzielle Weise alles ist was aus ihr hervorgeht Waumlhrend unterdem Gesichtspunkt der negativen Theologie dem Einen u a SeinExistenz Leben und Denken abgesprochen wird erweist es sichunter dem Gesichtspunkt der affirmativen Theologie als erste Phase der Selbstkonstitution der goumlttlichen Substanz bzw des Intellekts und als erstes Glied der Dreiheit von sbquoSein ndash Leben ndashDenkenlsquo Als das Sein selbst enthaumllt es in sich auf transzendenteund potenzielle Weise die beiden anderen Glieder ndash Leben undDenken ndash und vereinigt sie in seiner unterschiedslosen Einheit ImVergleich mit dem anonymen Kommentar faumlllt nun auf dass beiVictorinus beide Gesichtspunkte den Methoden der negativen undaffirmativen Theologie entsprechen die ausschlieszliglich auf das ers -te Eine angewandt werden also auf das Eine der ersten Hypothese

202 Vaacutec l av N ěmec

32) Vgl Anon in Parm 31ndash35 (Linguiti 100ndash102)33) Vgl oben Anm 31

des Parmenides das mit Gottvater identifiziert wird Das zweiteEine d h das Eine der zweiten Hypothese das Victorinus demSohn gleichsetzt wird erst spaumlter zum Thema34 und ist nicht in dieDialektik der negativen und affirmativen Theologie einbezogenIm anonymen Kommentar hingegen entsprechen die beiden Ge-sichtspunkte der ersten und der zweiten Hypothese die das den reflexiven Intellekt (das zweite Eine) und seinen uumlber-reflexivenGrund (das erste Eine) umschlieszligende Goumlttliche in seinen beidenAspekten oder Schichten behandeln Obwohl also sowohl in Ad-versus Arium 1b als auch im anonymen Kommentar eine Art sbquoDia-lektik der Kommensurabilitaumlt und Inkommensurabilitaumltlsquo des Einenvorkommt geht es offensichtlich um zwei verschiedene Variantenderen Unterschiedlichkeit wieder die Differenzen zwischen denbeiden metaphysischen Konzepten klar hervortreten laumlsst35

Schlussfolgerungen

Gerade die erwaumlhnten Unterschiede verwischt nun Hadotum den Inhalt des sechsten Fragments mit seiner Hypothese inEinklang zu bringen dass der Verfasser des anonymen Kommen-tars (naumlmlich Porphyrios) mit der griechischen Quelle der theolo-gischen Schriften des Marius Victorinus identisch sei Dabei pro-

203Die Theorie des goumlttlichen Selbstbewusstseins im Parmenides-Kommentar

34) Marius Victorinus Adv Ar 15022 ff (CSEL LXXXIIII 145)35) Diese sbquoJuxtappositionlsquo oder sbquoDialektiklsquo der negativen und affirmativen

Theologie die das Goumlttliche aus zwei verschiedenen Perspektiven betrachtet wo-bei es sich bald als sbquoinkommensurabellsquo bald als sbquokommensurabellsquo zeigt geht wahr-scheinlich auf die mittelplatonische bzw neupythagoreische Tradition zuruumlck VglJ Mansfeld Compatible Alternatives Middle Platonists Theology and the Xeno -phanes Reception in R van den Broek T Baarda J Mansfeld (Hrsg) Know -ledge of God in the Graeco-Roman World Leiden 1988 92ndash117 Eudoros vonAlexandrien fuumlhrt die beiden Betrachtungsweisen mit aumlhnlichen Ausdruumlcken wieder Verfasser des anonymen Kommentars ein (κατ7 τν νωτάτω λόγον κατF -λλον τρόπον bzw κατ7 τν δεύτερον λόγον) Vgl Simplikios In Aristotelis Physica com-mentaria 15 (CAG IX 18110ndash30) Bei Eudoros geht es dennoch um die spezifischeProblematik der pythagoreischen Prinzipienlehre Er bemuumlht sich die sbquomonistischelsquound sbquodualistischelsquo pythagoreische Lehre zu versoumlhnen indem er das Eine einmal alsdas einzige uumlber alle Gegensaumltze erhabene Prinzip betrachtet einmal als ein Gliedder Grundpolaritaumlt sbquodas Eine ndash die unbestimmte Zweiheitlsquo In Adversus Arium 1bund im anonymen Parmenides-Kommentar wird hingegen dieselbe Methode aufdie Problematik der neuplatonischen houmlchsten Prinzipien angewandt ndash obgleich jeweils auf eine andere Art und Weise

jiziert er das Denkschema von Adversus Arium 1b in den Par-menides-Kommentar hinein und entstellt somit gewissermaszligen das hier enthaltene metaphysische Konzept36 Folglich wurde diebemerkenswerte Theorie des goumlttlichen Bewusstseins wie sie imsechsten Fragment dargelegt ist in ihrer Originalitaumlt bislang kaumuntersucht und nur unzureichend bewertet Auch legen die fest-gestellten Differenzen die Vermutung nahe dass der anonymeKommentar bzw sein Verfasser nicht die direkte Quelle des theo-logischen Werkes von Marius Victorinus ndash oder zumindest seinerSchrift Adversus Arium 1b ndash gewesen sein kann Die Unterschiedelassen sich auch nicht wegdiskutieren wenn man darauf hinweistdass der Kommentar uns nur fragmentarisch erhalten blieb oderVictorinus seine Quelle wesentlich umgedeutet haben koumlnnte um sie seinem christlich-theologischen Anliegen anzupassen Wieschon gezeigt sind mehrere Grundzuumlge der beiden metaphysi-schen Konzepte einfach nicht miteinander kompatibel Und gera-de manche Motive durch die sich das metaphysische Schema inAdversus Arium 1b von dem des anonymen Kommentars abhebtz B das Prinzip des Ineinanderseins (und des Vorherrschens) vonSein Leben und Denken begegnen uns wieder bei den spaumlterenNeuplatonikern freilich mit dem Unterschied dass diese sie aufdie niedrigeren Seinsstufen anwenden ohne das Eine mit einem derGlieder der Dreiheit zu identifizieren Der anonyme Kommentarduumlrfte so wohl auf etwas hindeuten das schon durch die Anwe-senheit verschiedener Varianten eines verwandten metaphysischenKonzepts in den theologischen Schriften des Marius Victorinusdie kaum auf eine einzige Quelle zuruumlckzufuumlhren sind angedeutetwird37 die Existenz einer ganzen Traditionslinie des spaumltantiken

204 Vaacutec l av N ěmec

36) Diese Kritik wird freilich geaumluszligert mit der wesentlichen Einschraumlnkungdass es gerade Hadots groszliges Verdienst war die Eigentuumlmlichkeit und Bedeutungder metaphysischen Lehre des anonymen Kommentars im Rahmen des spaumltantikenPlatonismus erkannt und sie zum ersten Mal detailliert und ndash mit den oben er-waumlhnten Ausnahmen ndash praumlzise rekonstruiert zu haben

37) Im theologischen Werk von Marius Victorinus lassen sich mindestensdrei (bzw vier wenn man auch Candidi epistola 1 dazu zaumlhlt) unterschiedliche Va-rianten eines verwandten metaphysischen Systems ausmachen die wahrscheinlichauf verschiedene Quellen zuruumlckgehen Dies versuchte ich in meinem Aufsatz Me-tafysickeacute systeacutemy v theologickeacutem diacutele Maria Victorina in V Hušek L Chvaacutetal J Plaacutetovaacute (Hrsg) Miscellanea patristica Brno 2007 37ndash71 nachzuweisen Vglauch meine Einleitung zur tschechischen Ausgabe des anonymen Parmenides-Kommentars Anonymniacute komentaacuteř k Platoacutenovu Parmenidovi Praha 2009 49ndash69

(Neu-)Platonismus die von der uns bekannten Hauptstroumlmungabweicht und in deren Rahmen verschiedene Versionen einer aumlhn-lichen metaphysischen Auffassung durchdacht wurden

Prag Vaacutec l av N ěmec

205Die Theorie des goumlttlichen Selbstbewusstseins im Parmenides-Kommentar

Page 14: DIE THEORIE DES GÖTTLICHEN SELBSTBEWUSSTSEINS ...Gnosticism and Later Platonism: Themes, Figures, and Texts, Atlanta 2000, 141–177; J.D.Turner, Sethian Gnosticism and the Platonic

die Existenz als einer der Akte des reflexiven Intellekts falle mitdem sbquoSeinlsquo zusammen das im fuumlnften Fragment mit dem Einenselbst gleichgesetzt wurde20 Diese Identifizierung des sbquoSeinslsquo mitder sbquoExistenzlsquo laumlsst sich aber in keinem der erhaltenen Fragmentedes Kommentars belegen und waumlre mit dessen metaphysischemKonzept auch kaum vereinbar Der eigentliche Grund fuumlr HadotsGleichsetzung dieser zwei Termini ist die Tatsache dass sie beidein den theologischen Schriften des Marius Victorinus ndash insbeson-dere in Adversus Arium 1b ndash zusammenzuflieszligen scheinen Geradein der genannten Schrift erhebt Marius Victorinus die Dreiheit vonsbquoSein (bzw Existenz) ndash Leben ndash Denkenlsquo zum zentralen konzeptu-ellen Modell fuumlr seine Eroumlrterung der Wesensgleichheit von VaterSohn und heiligem Geist Im Rahmen seiner Transponierung derchristlich-theologischen Problematik auf den Boden einer (neu-)platonischen metaphysischen Prinzipienlehre fasst Victorinus denGottvater als das transzendente bdquoEine ohne Existenzldquo (inexsisten-tialiter unum) auf dem durch die negative Theologie u a Sein Existenz Seiendes Substanz Denken abgesprochen werden21 dasaber von der affirmativen Theologie zugleich als bdquodreimaumlchtigerGeistldquo (tripotens spiritus) gepriesen wird der die Vermoumlgen desSeins des Lebens und des Denkens in sich einschlieszligt Unter die-sem Gesichtspunkt wird Gottvater primaumlr als das reine Sein (esse)betrachtet das in seiner transzendenten Einheit und Verborgenheitdas Leben und das Denken in ihrer potenziellen Praumlexistenz be-inhaltet22 Der Sohn und der Heilige Geist werden dann geradedem aktualisierten und geaumluszligerten Leben (vita) und Denken (in-

198 Vaacutec l av N ěmec

20) Vgl Hadot Porphyre et Victorinus (wie Anm 2) I 13321) Marius Victorinus Adversus Arium 1499ndash18 (CSEL LXXXIIII 143)

Ante omnia quae vere sunt unum fuit sive unalitas sive ipsum unum antequam sitei esse unum unum ante omnem exsistentiam ante omnem exsistentialitatem ante ipsum ν hoc enim unum ante ν ante omnem igitur essentitatem substantiamsubsistentiam et adhuc omnia quae potentiora unum sine exsistentia sine substan-tia sine intellegentia

22) Marius Victorinus Adv Ar 1501ndash15 (CSEL LXXXIIII 144ndash145) Hicest deus hic pater praeintellegentia praeexsistens et praeexsistentia tripotens inunalitate spiritus tres potentias couniens exsistentiam omnem vitam omnem etbeatitudinem sed ista omnia et unum et simplex unum et maxime in potentia eiusquod est esse hoc est exsistentiae potentia vitae et beatitudinis 1523ndash9 (CSELLXXXIIII 148) Deus potentia est istarum trium potentiarum exsistentiae vitaebeatitudinis hoc est eius quod est esse quod vivere quod intellegere Et quod estesse primum et secundum quod est esse secundum ipsum vivere et intellegere sineulla unitione sed simpliciter simplicitas et istud manifestum

tellegentia bzw sapientia beatitudo) gleichgesetzt die zugleich alszwei Phasen des bdquoHervorgehensldquo (progressio) und der bdquoRuumlckkehrldquo(regressus) begriffen werden durch die das zweite Eine ndash das bdquoEinein der Existenzldquo (exsistentialiter unum) ndash konstituiert wird23 SeinLeben und Denken zeigen sich so als die drei Phasen ndash VerharrenHervorgehen und Ruumlckkehr24 ndash in denen sich die goumlttliche Sub-stanz aus ihrer transzendenten Wurzel in die Vielheit und Anders-heit hinein entfaltet um die urspruumlngliche Selbigkeit mit ihremtranszendenten Grund wiederherzustellen und sich selbst als einreflexiv denkendes Wesen zu konstituieren25 Die substanzielleIdentitaumlt von Sein Leben und Denken wird dabei durch ihr ge-genseitiges Ineinandersein ermoumlglicht Jedes Glied impliziert diezwei anderen auf seine eigene Art und Weise Ihre Differenz ergibtsich dagegen daraus dass in jeder Phase jeweils ein Glied der Drei-heit uumlber die anderen herrscht und in den Vordergrund tritt26

Obwohl man eine konzeptuelle Verwandtschaft zwischenAdversus Arium 1b und dem anonymen Parmenides-Kommentarkaum bestreiten kann ndash diese besteht besonders darin dass in bei-den Texten das erste Eine mit dem reinen Sein identifiziert wirddas sich vom Seienden bzw dem seienden Einen abgrenzt und dassdie Dreiheit sbquoExistenz ndash Leben ndash Denkenlsquo eine zentrale Rolle beider Eroumlrterung der reflexiven Bewegung bzw der Konstitution desIntellekts spielt ndash sind auch einige wesentliche Unterschiede nichtzu verkennen Im anonymen Kommentar kann vor allem keineAnwendung der Dreiheit auf das erste Eine nachgewiesen werdenSein Verfasser setzt zwar das Eine dem reinen Sein gleich das alsreine Wirksamkeit verschieden ist vom substanziellen Seienden

199Die Theorie des goumlttlichen Selbstbewusstseins im Parmenides-Kommentar

23) Marius Victorinus Adv Ar 15110ndash27 (CSEL LXXXIIII 146ndash147)Potentia enim progrediente ista motio nusquam requiescens quippe vita quaesit infinita et ipsa in vivificatione veluti foris apparuit Vita autem filius vita mo-tio a vitali praeexsistentia vita exsistentia Ista igitur exsistentia totius exsistentiaeest vita et iuxta quod vita motus quasi femineam sortita est potentiam hoc quodconcupivit vivificare Sed quoniam ista motio una cum sit et vita est et sapien-tia vita conversa in sapientiam et magis in exsistentiam patricam magis autem retromotae motionis in patricam potentiam et ab ipso viltrgtificata vita recurrens in patrem vir effecta est Descensio enim vita ascensio sapientia Vgl auch 15220ndash35(CSEL LXXXIIII 148ndash149)

24) Marius Victorinus Hymnus 371ndash74 (CSEL LXXXIIII 297) Statusprogressio regressus o beata trinitas

25) Vgl Marius Victorinus Adv Ar 1577ndash21 (CSEL LXXXIIII 155ndash156)26) Vgl Hadot Porphyre et Victorinus (wie Anm 2) I 239ndash246

und er spricht dem Einen auch eine Art uumlber-reflexives Denken zunie aber wendet er die Dreiheit sbquoSein ndash Leben ndash Denkenlsquo auf das erste Eine an nicht einmal im Sinne einer potenziellen und uumlber-substanziellen Praumlexistenz (praeexsistentia ndash praeviventia ndash prae -intellegentia) wie es Victorinus in Adversus Arium 1b und imzweiten Teil von Adversus Arium 4 tut27 oder im Sinne der reinenAkte (esse ndash vivere ndash intellegere) wie es insbesondere im ersten Teilvon Adversus Arium 4 geschieht28 Die Dreiheit erscheint im Kom-mentar nur in substanzieller Form und bleibt der Ebene des Intel-lekts immanent Im fuumlnften Fragment kritisiert der Kommentatorsogar ausdruumlcklich die Chaldaumlischen Orakel oder ihre Auslegerweil sie der houmlchsten Gottheit eine trinitarische Struktur zuwei-sen29 Manche seiner Formulierungen erwecken dabei den Ein-druck dass er bei seiner Kritik ein aumlhnliches theologisches Kon-zept im Auge gehabt haben mochte wie es uns gerade in AdversusArium 1b begegnet Das Eine wird vom Kommentator keineswegsals Ausgangsglied der Dreiheit aufgefasst aus dem das Leben her-vorginge und zu dem das Denken zuruumlckkehrte wie es in Adver-sus Arium 1b begriffen wird Dementsprechend ist das Eine auchnicht sbquoder Gegenstandlsquo des Erkennens des zweiten Einen in demdas zweite Eine zugleich sich selbst in seiner potenziellen undtranszendenten Praumlexistenz erfasst sondern es ist der Akt der inallen drei Akten oder Momenten wirkt der ihre Einheit stiftet undzugleich uumlber sie hinausgeht Auch wenn der Kommentator dasEine mit dem Sein identifiziert setzt er nie das Sein mit der Exis -tenz gleich und nichts scheint davon zu zeugen dass die Existenzmit dem transzendenten Moment des Intellekts (dem ersten Einen)zusammenfallen sollte30 Der Verfasser des anonymen Kommen-tars verwendet im Gegenteil unterschiedliche Ausdruumlcke um dieverschiedenen Tatsachen hervorzuheben Waumlhrend der TerminussbquoSeinlsquo dem ersten Einen als der Ursache oder der sbquoIdeelsquo des intelli-giblen Seienden vorbehalten ist soll das Wort sbquoExistenzlsquo das ersteMoment der reflexiven Bewegung des Intellekts oder des zweiten

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27) Vgl z B Marius Victorinus Adv Ar 42318ndash34 (CSEL LXXXIIII 260)28) Vgl z B Marius Victorinus Adv Ar 464ndash7 (CSEL LXXXIIII 231ndash

232) 489ndash30 (CSEL LXXXIIII 235ndash236) 42126ndash28 (CSEL LXXXIIII 257)29) Vgl Anon in Parm 91ndash1011 (Linguiti 118ndash120)30) Darauf hat schon Andrew Smith hingewiesen Vgl ders Zπόστασις and

0παρξις in Porphyry in F Romano D P Taormina (Hrsg) Hyparxis e hyposta-sis nel neoplatonismo Firenze 1994 33ndash41 hier 41

Einen bezeichnen im Unterschied zum sbquoSeiendenlsquo das als Benen-nung fuumlr die ganze Hypostase dient Im anonymen Kommentarfindet man auch kein Anzeichen fuumlr das Prinzip eines wechsel -seitigen Ineinanderseins (und des Vorherrschens) von Existenz Leben und Denken das eine zentrale Rolle in Adversus Arium 1b3 und 4 ndash und im spaumlteren Neuplatonismus uumlberhaupt ndash spielt

Dialektik der negativen und affirmativen Theologie

Auch die ganze Problematik der sbquoInkommensurabilitaumltlsquo bzwsbquoKommensurabilitaumltlsquo des ersten Einen mit dem zweiten Einen be-handelt der Verfasser des Kommentars anders als Marius Victori-nus in Adversus Arium 1b31 Dem Kommentator zufolge zeigt sichdas Goumlttliche bdquounter dem einen Gesichtspunktldquo (κατF -λλο bzwκατ7 τν πρώτην δέαν) d h bdquoes selbst in sich selbst gesehenldquo alsdas einfache Eine das bdquonicht ausgesprochen und gedacht werdenkannldquo bdquounter dem anderen Gesichtspunktldquo (κατF -λλο) hingegenwird es als der in sich durch Reflexion differenzierte Intellekt be-trachtet der sich in die Vielheit seiner Akte ndash Existenz Leben undDenken ndash hinein entfaltet Wie der Schluss des sechsten Fragmentsbezeugt entsprechen diese zwei Gesichtspunkte der ersten und derzweiten Hypothese des Parmenides Trotz der sbquoontologischen Dif-ferenzlsquo zwischen dem ersten Einen und dem Intellekt (dem zwei-ten Einen) die in den vorausgehenden Fragmenten immer wiederemphatisch hervorgehoben wurde meint also der Kommentatordass sich beide Hypothesen auf eine einzige Gottheit beziehen diedas transzendente Eine und den reflexiven Intellekt als ihre zweiSchichten oder Momente einschlieszligt Der Verfasser des Kommen-tars scheint also die beiden Hypothesen als eine Art sbquodialektischelsquoTheologie zu verstehen die das Goumlttliche unter zwei verschiede-

201Die Theorie des goumlttlichen Selbstbewusstseins im Parmenides-Kommentar

31) Die Dialektik der sbquoInkommensurabilitaumltlsquo (bdquolrsquoincoordinationldquo) und sbquoKom-mensurabilitaumltlsquo (bdquola coordinationldquo) des Einen betrachtet Hadot als einen der Haupt -zuumlge der sbquoporphyrianischen Metaphysiklsquo Entsprechend seiner Hypothese dass derVerfasser des anonymen Kommentars Porphyrios sei den er zugleich fuumlr die grie-chische Quelle haumllt aus der Marius Victorinus geschoumlpft hat meint er dass der an -onyme Parmenides-Kommentar und die theologischen Schriften des Marius Victo-rinus ndash insbesondere Adversus Arium 1b ndash auch in diesem Punkt uumlbereinstimmenVgl Hadot La meacutetaphysique de Porphyre (wie Anm 2) 131 ff ders Porphyre etVictorinus (wie Anm 2) I 139ndash141 259ndash260

nen Aspekten zum Thema macht Vielleicht koumlnnte man auch uumlbereine Art sbquoDialektik der Kommensurabilitaumlt und Inkommensurabi-litaumltlsquo des Einen selbst sprechen insofern der Gesichtspunkt derzweiten Hypothese deren Gegenstand eigentlich der reflexive Intellekt ist zugleich eine neue Perspektive oumlffnet aus der sich das erste Eine in seiner Bezogenheit auf die differenzierten Aktedes Intellekts zeigt Erscheint das (erste) Eine unter dem ersten Gesichtspunkt als inkommensurabel und relationslos so dass manihm jedwede Beziehung zum Intellekt ndash sogar die der Andersheit ndashverweigern muss32 stellt es sich unter dem anderen Gesichtspunktder die Aufmerksamkeit auf das zweite Eine oder den Intellektlenkt zugleich als der einheitsstiftende Akt uumlber den differenzier-ten Akten des reflexiven Intellekts als der konstitutive Urgrundseines Selbstbewusstseins heraus Freilich ist Hadots Ansichtzuruumlckzuweisen die sbquodialektischelsquo Theologie des anonymen Kommentars sei mit dem entsprechenden Konzept in AdversusArium 1b identisch33 Die theologische Auffassung in AdversusArium 1b kann insofern als sbquodialektischlsquo bezeichnet werden als dasEine unter zwei verschiedenen Aspekten behandelt wird in sichund auf das von ihm Verursachte bezogen Das Eine zeigt sich soeinerseits als inkommensurabel und in seiner absoluten Differenz-losigkeit allen gegenstaumlndlichen Kategorien des menschlichenDenkens enthoben andererseits in Bezug darauf wessen Ursprunges ist als universale Ursache die selbst auf eine transzendente undpotenzielle Weise alles ist was aus ihr hervorgeht Waumlhrend unterdem Gesichtspunkt der negativen Theologie dem Einen u a SeinExistenz Leben und Denken abgesprochen wird erweist es sichunter dem Gesichtspunkt der affirmativen Theologie als erste Phase der Selbstkonstitution der goumlttlichen Substanz bzw des Intellekts und als erstes Glied der Dreiheit von sbquoSein ndash Leben ndashDenkenlsquo Als das Sein selbst enthaumllt es in sich auf transzendenteund potenzielle Weise die beiden anderen Glieder ndash Leben undDenken ndash und vereinigt sie in seiner unterschiedslosen Einheit ImVergleich mit dem anonymen Kommentar faumlllt nun auf dass beiVictorinus beide Gesichtspunkte den Methoden der negativen undaffirmativen Theologie entsprechen die ausschlieszliglich auf das ers -te Eine angewandt werden also auf das Eine der ersten Hypothese

202 Vaacutec l av N ěmec

32) Vgl Anon in Parm 31ndash35 (Linguiti 100ndash102)33) Vgl oben Anm 31

des Parmenides das mit Gottvater identifiziert wird Das zweiteEine d h das Eine der zweiten Hypothese das Victorinus demSohn gleichsetzt wird erst spaumlter zum Thema34 und ist nicht in dieDialektik der negativen und affirmativen Theologie einbezogenIm anonymen Kommentar hingegen entsprechen die beiden Ge-sichtspunkte der ersten und der zweiten Hypothese die das den reflexiven Intellekt (das zweite Eine) und seinen uumlber-reflexivenGrund (das erste Eine) umschlieszligende Goumlttliche in seinen beidenAspekten oder Schichten behandeln Obwohl also sowohl in Ad-versus Arium 1b als auch im anonymen Kommentar eine Art sbquoDia-lektik der Kommensurabilitaumlt und Inkommensurabilitaumltlsquo des Einenvorkommt geht es offensichtlich um zwei verschiedene Variantenderen Unterschiedlichkeit wieder die Differenzen zwischen denbeiden metaphysischen Konzepten klar hervortreten laumlsst35

Schlussfolgerungen

Gerade die erwaumlhnten Unterschiede verwischt nun Hadotum den Inhalt des sechsten Fragments mit seiner Hypothese inEinklang zu bringen dass der Verfasser des anonymen Kommen-tars (naumlmlich Porphyrios) mit der griechischen Quelle der theolo-gischen Schriften des Marius Victorinus identisch sei Dabei pro-

203Die Theorie des goumlttlichen Selbstbewusstseins im Parmenides-Kommentar

34) Marius Victorinus Adv Ar 15022 ff (CSEL LXXXIIII 145)35) Diese sbquoJuxtappositionlsquo oder sbquoDialektiklsquo der negativen und affirmativen

Theologie die das Goumlttliche aus zwei verschiedenen Perspektiven betrachtet wo-bei es sich bald als sbquoinkommensurabellsquo bald als sbquokommensurabellsquo zeigt geht wahr-scheinlich auf die mittelplatonische bzw neupythagoreische Tradition zuruumlck VglJ Mansfeld Compatible Alternatives Middle Platonists Theology and the Xeno -phanes Reception in R van den Broek T Baarda J Mansfeld (Hrsg) Know -ledge of God in the Graeco-Roman World Leiden 1988 92ndash117 Eudoros vonAlexandrien fuumlhrt die beiden Betrachtungsweisen mit aumlhnlichen Ausdruumlcken wieder Verfasser des anonymen Kommentars ein (κατ7 τν νωτάτω λόγον κατF -λλον τρόπον bzw κατ7 τν δεύτερον λόγον) Vgl Simplikios In Aristotelis Physica com-mentaria 15 (CAG IX 18110ndash30) Bei Eudoros geht es dennoch um die spezifischeProblematik der pythagoreischen Prinzipienlehre Er bemuumlht sich die sbquomonistischelsquound sbquodualistischelsquo pythagoreische Lehre zu versoumlhnen indem er das Eine einmal alsdas einzige uumlber alle Gegensaumltze erhabene Prinzip betrachtet einmal als ein Gliedder Grundpolaritaumlt sbquodas Eine ndash die unbestimmte Zweiheitlsquo In Adversus Arium 1bund im anonymen Parmenides-Kommentar wird hingegen dieselbe Methode aufdie Problematik der neuplatonischen houmlchsten Prinzipien angewandt ndash obgleich jeweils auf eine andere Art und Weise

jiziert er das Denkschema von Adversus Arium 1b in den Par-menides-Kommentar hinein und entstellt somit gewissermaszligen das hier enthaltene metaphysische Konzept36 Folglich wurde diebemerkenswerte Theorie des goumlttlichen Bewusstseins wie sie imsechsten Fragment dargelegt ist in ihrer Originalitaumlt bislang kaumuntersucht und nur unzureichend bewertet Auch legen die fest-gestellten Differenzen die Vermutung nahe dass der anonymeKommentar bzw sein Verfasser nicht die direkte Quelle des theo-logischen Werkes von Marius Victorinus ndash oder zumindest seinerSchrift Adversus Arium 1b ndash gewesen sein kann Die Unterschiedelassen sich auch nicht wegdiskutieren wenn man darauf hinweistdass der Kommentar uns nur fragmentarisch erhalten blieb oderVictorinus seine Quelle wesentlich umgedeutet haben koumlnnte um sie seinem christlich-theologischen Anliegen anzupassen Wieschon gezeigt sind mehrere Grundzuumlge der beiden metaphysi-schen Konzepte einfach nicht miteinander kompatibel Und gera-de manche Motive durch die sich das metaphysische Schema inAdversus Arium 1b von dem des anonymen Kommentars abhebtz B das Prinzip des Ineinanderseins (und des Vorherrschens) vonSein Leben und Denken begegnen uns wieder bei den spaumlterenNeuplatonikern freilich mit dem Unterschied dass diese sie aufdie niedrigeren Seinsstufen anwenden ohne das Eine mit einem derGlieder der Dreiheit zu identifizieren Der anonyme Kommentarduumlrfte so wohl auf etwas hindeuten das schon durch die Anwe-senheit verschiedener Varianten eines verwandten metaphysischenKonzepts in den theologischen Schriften des Marius Victorinusdie kaum auf eine einzige Quelle zuruumlckzufuumlhren sind angedeutetwird37 die Existenz einer ganzen Traditionslinie des spaumltantiken

204 Vaacutec l av N ěmec

36) Diese Kritik wird freilich geaumluszligert mit der wesentlichen Einschraumlnkungdass es gerade Hadots groszliges Verdienst war die Eigentuumlmlichkeit und Bedeutungder metaphysischen Lehre des anonymen Kommentars im Rahmen des spaumltantikenPlatonismus erkannt und sie zum ersten Mal detailliert und ndash mit den oben er-waumlhnten Ausnahmen ndash praumlzise rekonstruiert zu haben

37) Im theologischen Werk von Marius Victorinus lassen sich mindestensdrei (bzw vier wenn man auch Candidi epistola 1 dazu zaumlhlt) unterschiedliche Va-rianten eines verwandten metaphysischen Systems ausmachen die wahrscheinlichauf verschiedene Quellen zuruumlckgehen Dies versuchte ich in meinem Aufsatz Me-tafysickeacute systeacutemy v theologickeacutem diacutele Maria Victorina in V Hušek L Chvaacutetal J Plaacutetovaacute (Hrsg) Miscellanea patristica Brno 2007 37ndash71 nachzuweisen Vglauch meine Einleitung zur tschechischen Ausgabe des anonymen Parmenides-Kommentars Anonymniacute komentaacuteř k Platoacutenovu Parmenidovi Praha 2009 49ndash69

(Neu-)Platonismus die von der uns bekannten Hauptstroumlmungabweicht und in deren Rahmen verschiedene Versionen einer aumlhn-lichen metaphysischen Auffassung durchdacht wurden

Prag Vaacutec l av N ěmec

205Die Theorie des goumlttlichen Selbstbewusstseins im Parmenides-Kommentar

Page 15: DIE THEORIE DES GÖTTLICHEN SELBSTBEWUSSTSEINS ...Gnosticism and Later Platonism: Themes, Figures, and Texts, Atlanta 2000, 141–177; J.D.Turner, Sethian Gnosticism and the Platonic

tellegentia bzw sapientia beatitudo) gleichgesetzt die zugleich alszwei Phasen des bdquoHervorgehensldquo (progressio) und der bdquoRuumlckkehrldquo(regressus) begriffen werden durch die das zweite Eine ndash das bdquoEinein der Existenzldquo (exsistentialiter unum) ndash konstituiert wird23 SeinLeben und Denken zeigen sich so als die drei Phasen ndash VerharrenHervorgehen und Ruumlckkehr24 ndash in denen sich die goumlttliche Sub-stanz aus ihrer transzendenten Wurzel in die Vielheit und Anders-heit hinein entfaltet um die urspruumlngliche Selbigkeit mit ihremtranszendenten Grund wiederherzustellen und sich selbst als einreflexiv denkendes Wesen zu konstituieren25 Die substanzielleIdentitaumlt von Sein Leben und Denken wird dabei durch ihr ge-genseitiges Ineinandersein ermoumlglicht Jedes Glied impliziert diezwei anderen auf seine eigene Art und Weise Ihre Differenz ergibtsich dagegen daraus dass in jeder Phase jeweils ein Glied der Drei-heit uumlber die anderen herrscht und in den Vordergrund tritt26

Obwohl man eine konzeptuelle Verwandtschaft zwischenAdversus Arium 1b und dem anonymen Parmenides-Kommentarkaum bestreiten kann ndash diese besteht besonders darin dass in bei-den Texten das erste Eine mit dem reinen Sein identifiziert wirddas sich vom Seienden bzw dem seienden Einen abgrenzt und dassdie Dreiheit sbquoExistenz ndash Leben ndash Denkenlsquo eine zentrale Rolle beider Eroumlrterung der reflexiven Bewegung bzw der Konstitution desIntellekts spielt ndash sind auch einige wesentliche Unterschiede nichtzu verkennen Im anonymen Kommentar kann vor allem keineAnwendung der Dreiheit auf das erste Eine nachgewiesen werdenSein Verfasser setzt zwar das Eine dem reinen Sein gleich das alsreine Wirksamkeit verschieden ist vom substanziellen Seienden

199Die Theorie des goumlttlichen Selbstbewusstseins im Parmenides-Kommentar

23) Marius Victorinus Adv Ar 15110ndash27 (CSEL LXXXIIII 146ndash147)Potentia enim progrediente ista motio nusquam requiescens quippe vita quaesit infinita et ipsa in vivificatione veluti foris apparuit Vita autem filius vita mo-tio a vitali praeexsistentia vita exsistentia Ista igitur exsistentia totius exsistentiaeest vita et iuxta quod vita motus quasi femineam sortita est potentiam hoc quodconcupivit vivificare Sed quoniam ista motio una cum sit et vita est et sapien-tia vita conversa in sapientiam et magis in exsistentiam patricam magis autem retromotae motionis in patricam potentiam et ab ipso viltrgtificata vita recurrens in patrem vir effecta est Descensio enim vita ascensio sapientia Vgl auch 15220ndash35(CSEL LXXXIIII 148ndash149)

24) Marius Victorinus Hymnus 371ndash74 (CSEL LXXXIIII 297) Statusprogressio regressus o beata trinitas

25) Vgl Marius Victorinus Adv Ar 1577ndash21 (CSEL LXXXIIII 155ndash156)26) Vgl Hadot Porphyre et Victorinus (wie Anm 2) I 239ndash246

und er spricht dem Einen auch eine Art uumlber-reflexives Denken zunie aber wendet er die Dreiheit sbquoSein ndash Leben ndash Denkenlsquo auf das erste Eine an nicht einmal im Sinne einer potenziellen und uumlber-substanziellen Praumlexistenz (praeexsistentia ndash praeviventia ndash prae -intellegentia) wie es Victorinus in Adversus Arium 1b und imzweiten Teil von Adversus Arium 4 tut27 oder im Sinne der reinenAkte (esse ndash vivere ndash intellegere) wie es insbesondere im ersten Teilvon Adversus Arium 4 geschieht28 Die Dreiheit erscheint im Kom-mentar nur in substanzieller Form und bleibt der Ebene des Intel-lekts immanent Im fuumlnften Fragment kritisiert der Kommentatorsogar ausdruumlcklich die Chaldaumlischen Orakel oder ihre Auslegerweil sie der houmlchsten Gottheit eine trinitarische Struktur zuwei-sen29 Manche seiner Formulierungen erwecken dabei den Ein-druck dass er bei seiner Kritik ein aumlhnliches theologisches Kon-zept im Auge gehabt haben mochte wie es uns gerade in AdversusArium 1b begegnet Das Eine wird vom Kommentator keineswegsals Ausgangsglied der Dreiheit aufgefasst aus dem das Leben her-vorginge und zu dem das Denken zuruumlckkehrte wie es in Adver-sus Arium 1b begriffen wird Dementsprechend ist das Eine auchnicht sbquoder Gegenstandlsquo des Erkennens des zweiten Einen in demdas zweite Eine zugleich sich selbst in seiner potenziellen undtranszendenten Praumlexistenz erfasst sondern es ist der Akt der inallen drei Akten oder Momenten wirkt der ihre Einheit stiftet undzugleich uumlber sie hinausgeht Auch wenn der Kommentator dasEine mit dem Sein identifiziert setzt er nie das Sein mit der Exis -tenz gleich und nichts scheint davon zu zeugen dass die Existenzmit dem transzendenten Moment des Intellekts (dem ersten Einen)zusammenfallen sollte30 Der Verfasser des anonymen Kommen-tars verwendet im Gegenteil unterschiedliche Ausdruumlcke um dieverschiedenen Tatsachen hervorzuheben Waumlhrend der TerminussbquoSeinlsquo dem ersten Einen als der Ursache oder der sbquoIdeelsquo des intelli-giblen Seienden vorbehalten ist soll das Wort sbquoExistenzlsquo das ersteMoment der reflexiven Bewegung des Intellekts oder des zweiten

200 Vaacutec l av N ěmec

27) Vgl z B Marius Victorinus Adv Ar 42318ndash34 (CSEL LXXXIIII 260)28) Vgl z B Marius Victorinus Adv Ar 464ndash7 (CSEL LXXXIIII 231ndash

232) 489ndash30 (CSEL LXXXIIII 235ndash236) 42126ndash28 (CSEL LXXXIIII 257)29) Vgl Anon in Parm 91ndash1011 (Linguiti 118ndash120)30) Darauf hat schon Andrew Smith hingewiesen Vgl ders Zπόστασις and

0παρξις in Porphyry in F Romano D P Taormina (Hrsg) Hyparxis e hyposta-sis nel neoplatonismo Firenze 1994 33ndash41 hier 41

Einen bezeichnen im Unterschied zum sbquoSeiendenlsquo das als Benen-nung fuumlr die ganze Hypostase dient Im anonymen Kommentarfindet man auch kein Anzeichen fuumlr das Prinzip eines wechsel -seitigen Ineinanderseins (und des Vorherrschens) von Existenz Leben und Denken das eine zentrale Rolle in Adversus Arium 1b3 und 4 ndash und im spaumlteren Neuplatonismus uumlberhaupt ndash spielt

Dialektik der negativen und affirmativen Theologie

Auch die ganze Problematik der sbquoInkommensurabilitaumltlsquo bzwsbquoKommensurabilitaumltlsquo des ersten Einen mit dem zweiten Einen be-handelt der Verfasser des Kommentars anders als Marius Victori-nus in Adversus Arium 1b31 Dem Kommentator zufolge zeigt sichdas Goumlttliche bdquounter dem einen Gesichtspunktldquo (κατF -λλο bzwκατ7 τν πρώτην δέαν) d h bdquoes selbst in sich selbst gesehenldquo alsdas einfache Eine das bdquonicht ausgesprochen und gedacht werdenkannldquo bdquounter dem anderen Gesichtspunktldquo (κατF -λλο) hingegenwird es als der in sich durch Reflexion differenzierte Intellekt be-trachtet der sich in die Vielheit seiner Akte ndash Existenz Leben undDenken ndash hinein entfaltet Wie der Schluss des sechsten Fragmentsbezeugt entsprechen diese zwei Gesichtspunkte der ersten und derzweiten Hypothese des Parmenides Trotz der sbquoontologischen Dif-ferenzlsquo zwischen dem ersten Einen und dem Intellekt (dem zwei-ten Einen) die in den vorausgehenden Fragmenten immer wiederemphatisch hervorgehoben wurde meint also der Kommentatordass sich beide Hypothesen auf eine einzige Gottheit beziehen diedas transzendente Eine und den reflexiven Intellekt als ihre zweiSchichten oder Momente einschlieszligt Der Verfasser des Kommen-tars scheint also die beiden Hypothesen als eine Art sbquodialektischelsquoTheologie zu verstehen die das Goumlttliche unter zwei verschiede-

201Die Theorie des goumlttlichen Selbstbewusstseins im Parmenides-Kommentar

31) Die Dialektik der sbquoInkommensurabilitaumltlsquo (bdquolrsquoincoordinationldquo) und sbquoKom-mensurabilitaumltlsquo (bdquola coordinationldquo) des Einen betrachtet Hadot als einen der Haupt -zuumlge der sbquoporphyrianischen Metaphysiklsquo Entsprechend seiner Hypothese dass derVerfasser des anonymen Kommentars Porphyrios sei den er zugleich fuumlr die grie-chische Quelle haumllt aus der Marius Victorinus geschoumlpft hat meint er dass der an -onyme Parmenides-Kommentar und die theologischen Schriften des Marius Victo-rinus ndash insbesondere Adversus Arium 1b ndash auch in diesem Punkt uumlbereinstimmenVgl Hadot La meacutetaphysique de Porphyre (wie Anm 2) 131 ff ders Porphyre etVictorinus (wie Anm 2) I 139ndash141 259ndash260

nen Aspekten zum Thema macht Vielleicht koumlnnte man auch uumlbereine Art sbquoDialektik der Kommensurabilitaumlt und Inkommensurabi-litaumltlsquo des Einen selbst sprechen insofern der Gesichtspunkt derzweiten Hypothese deren Gegenstand eigentlich der reflexive Intellekt ist zugleich eine neue Perspektive oumlffnet aus der sich das erste Eine in seiner Bezogenheit auf die differenzierten Aktedes Intellekts zeigt Erscheint das (erste) Eine unter dem ersten Gesichtspunkt als inkommensurabel und relationslos so dass manihm jedwede Beziehung zum Intellekt ndash sogar die der Andersheit ndashverweigern muss32 stellt es sich unter dem anderen Gesichtspunktder die Aufmerksamkeit auf das zweite Eine oder den Intellektlenkt zugleich als der einheitsstiftende Akt uumlber den differenzier-ten Akten des reflexiven Intellekts als der konstitutive Urgrundseines Selbstbewusstseins heraus Freilich ist Hadots Ansichtzuruumlckzuweisen die sbquodialektischelsquo Theologie des anonymen Kommentars sei mit dem entsprechenden Konzept in AdversusArium 1b identisch33 Die theologische Auffassung in AdversusArium 1b kann insofern als sbquodialektischlsquo bezeichnet werden als dasEine unter zwei verschiedenen Aspekten behandelt wird in sichund auf das von ihm Verursachte bezogen Das Eine zeigt sich soeinerseits als inkommensurabel und in seiner absoluten Differenz-losigkeit allen gegenstaumlndlichen Kategorien des menschlichenDenkens enthoben andererseits in Bezug darauf wessen Ursprunges ist als universale Ursache die selbst auf eine transzendente undpotenzielle Weise alles ist was aus ihr hervorgeht Waumlhrend unterdem Gesichtspunkt der negativen Theologie dem Einen u a SeinExistenz Leben und Denken abgesprochen wird erweist es sichunter dem Gesichtspunkt der affirmativen Theologie als erste Phase der Selbstkonstitution der goumlttlichen Substanz bzw des Intellekts und als erstes Glied der Dreiheit von sbquoSein ndash Leben ndashDenkenlsquo Als das Sein selbst enthaumllt es in sich auf transzendenteund potenzielle Weise die beiden anderen Glieder ndash Leben undDenken ndash und vereinigt sie in seiner unterschiedslosen Einheit ImVergleich mit dem anonymen Kommentar faumlllt nun auf dass beiVictorinus beide Gesichtspunkte den Methoden der negativen undaffirmativen Theologie entsprechen die ausschlieszliglich auf das ers -te Eine angewandt werden also auf das Eine der ersten Hypothese

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32) Vgl Anon in Parm 31ndash35 (Linguiti 100ndash102)33) Vgl oben Anm 31

des Parmenides das mit Gottvater identifiziert wird Das zweiteEine d h das Eine der zweiten Hypothese das Victorinus demSohn gleichsetzt wird erst spaumlter zum Thema34 und ist nicht in dieDialektik der negativen und affirmativen Theologie einbezogenIm anonymen Kommentar hingegen entsprechen die beiden Ge-sichtspunkte der ersten und der zweiten Hypothese die das den reflexiven Intellekt (das zweite Eine) und seinen uumlber-reflexivenGrund (das erste Eine) umschlieszligende Goumlttliche in seinen beidenAspekten oder Schichten behandeln Obwohl also sowohl in Ad-versus Arium 1b als auch im anonymen Kommentar eine Art sbquoDia-lektik der Kommensurabilitaumlt und Inkommensurabilitaumltlsquo des Einenvorkommt geht es offensichtlich um zwei verschiedene Variantenderen Unterschiedlichkeit wieder die Differenzen zwischen denbeiden metaphysischen Konzepten klar hervortreten laumlsst35

Schlussfolgerungen

Gerade die erwaumlhnten Unterschiede verwischt nun Hadotum den Inhalt des sechsten Fragments mit seiner Hypothese inEinklang zu bringen dass der Verfasser des anonymen Kommen-tars (naumlmlich Porphyrios) mit der griechischen Quelle der theolo-gischen Schriften des Marius Victorinus identisch sei Dabei pro-

203Die Theorie des goumlttlichen Selbstbewusstseins im Parmenides-Kommentar

34) Marius Victorinus Adv Ar 15022 ff (CSEL LXXXIIII 145)35) Diese sbquoJuxtappositionlsquo oder sbquoDialektiklsquo der negativen und affirmativen

Theologie die das Goumlttliche aus zwei verschiedenen Perspektiven betrachtet wo-bei es sich bald als sbquoinkommensurabellsquo bald als sbquokommensurabellsquo zeigt geht wahr-scheinlich auf die mittelplatonische bzw neupythagoreische Tradition zuruumlck VglJ Mansfeld Compatible Alternatives Middle Platonists Theology and the Xeno -phanes Reception in R van den Broek T Baarda J Mansfeld (Hrsg) Know -ledge of God in the Graeco-Roman World Leiden 1988 92ndash117 Eudoros vonAlexandrien fuumlhrt die beiden Betrachtungsweisen mit aumlhnlichen Ausdruumlcken wieder Verfasser des anonymen Kommentars ein (κατ7 τν νωτάτω λόγον κατF -λλον τρόπον bzw κατ7 τν δεύτερον λόγον) Vgl Simplikios In Aristotelis Physica com-mentaria 15 (CAG IX 18110ndash30) Bei Eudoros geht es dennoch um die spezifischeProblematik der pythagoreischen Prinzipienlehre Er bemuumlht sich die sbquomonistischelsquound sbquodualistischelsquo pythagoreische Lehre zu versoumlhnen indem er das Eine einmal alsdas einzige uumlber alle Gegensaumltze erhabene Prinzip betrachtet einmal als ein Gliedder Grundpolaritaumlt sbquodas Eine ndash die unbestimmte Zweiheitlsquo In Adversus Arium 1bund im anonymen Parmenides-Kommentar wird hingegen dieselbe Methode aufdie Problematik der neuplatonischen houmlchsten Prinzipien angewandt ndash obgleich jeweils auf eine andere Art und Weise

jiziert er das Denkschema von Adversus Arium 1b in den Par-menides-Kommentar hinein und entstellt somit gewissermaszligen das hier enthaltene metaphysische Konzept36 Folglich wurde diebemerkenswerte Theorie des goumlttlichen Bewusstseins wie sie imsechsten Fragment dargelegt ist in ihrer Originalitaumlt bislang kaumuntersucht und nur unzureichend bewertet Auch legen die fest-gestellten Differenzen die Vermutung nahe dass der anonymeKommentar bzw sein Verfasser nicht die direkte Quelle des theo-logischen Werkes von Marius Victorinus ndash oder zumindest seinerSchrift Adversus Arium 1b ndash gewesen sein kann Die Unterschiedelassen sich auch nicht wegdiskutieren wenn man darauf hinweistdass der Kommentar uns nur fragmentarisch erhalten blieb oderVictorinus seine Quelle wesentlich umgedeutet haben koumlnnte um sie seinem christlich-theologischen Anliegen anzupassen Wieschon gezeigt sind mehrere Grundzuumlge der beiden metaphysi-schen Konzepte einfach nicht miteinander kompatibel Und gera-de manche Motive durch die sich das metaphysische Schema inAdversus Arium 1b von dem des anonymen Kommentars abhebtz B das Prinzip des Ineinanderseins (und des Vorherrschens) vonSein Leben und Denken begegnen uns wieder bei den spaumlterenNeuplatonikern freilich mit dem Unterschied dass diese sie aufdie niedrigeren Seinsstufen anwenden ohne das Eine mit einem derGlieder der Dreiheit zu identifizieren Der anonyme Kommentarduumlrfte so wohl auf etwas hindeuten das schon durch die Anwe-senheit verschiedener Varianten eines verwandten metaphysischenKonzepts in den theologischen Schriften des Marius Victorinusdie kaum auf eine einzige Quelle zuruumlckzufuumlhren sind angedeutetwird37 die Existenz einer ganzen Traditionslinie des spaumltantiken

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36) Diese Kritik wird freilich geaumluszligert mit der wesentlichen Einschraumlnkungdass es gerade Hadots groszliges Verdienst war die Eigentuumlmlichkeit und Bedeutungder metaphysischen Lehre des anonymen Kommentars im Rahmen des spaumltantikenPlatonismus erkannt und sie zum ersten Mal detailliert und ndash mit den oben er-waumlhnten Ausnahmen ndash praumlzise rekonstruiert zu haben

37) Im theologischen Werk von Marius Victorinus lassen sich mindestensdrei (bzw vier wenn man auch Candidi epistola 1 dazu zaumlhlt) unterschiedliche Va-rianten eines verwandten metaphysischen Systems ausmachen die wahrscheinlichauf verschiedene Quellen zuruumlckgehen Dies versuchte ich in meinem Aufsatz Me-tafysickeacute systeacutemy v theologickeacutem diacutele Maria Victorina in V Hušek L Chvaacutetal J Plaacutetovaacute (Hrsg) Miscellanea patristica Brno 2007 37ndash71 nachzuweisen Vglauch meine Einleitung zur tschechischen Ausgabe des anonymen Parmenides-Kommentars Anonymniacute komentaacuteř k Platoacutenovu Parmenidovi Praha 2009 49ndash69

(Neu-)Platonismus die von der uns bekannten Hauptstroumlmungabweicht und in deren Rahmen verschiedene Versionen einer aumlhn-lichen metaphysischen Auffassung durchdacht wurden

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205Die Theorie des goumlttlichen Selbstbewusstseins im Parmenides-Kommentar

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und er spricht dem Einen auch eine Art uumlber-reflexives Denken zunie aber wendet er die Dreiheit sbquoSein ndash Leben ndash Denkenlsquo auf das erste Eine an nicht einmal im Sinne einer potenziellen und uumlber-substanziellen Praumlexistenz (praeexsistentia ndash praeviventia ndash prae -intellegentia) wie es Victorinus in Adversus Arium 1b und imzweiten Teil von Adversus Arium 4 tut27 oder im Sinne der reinenAkte (esse ndash vivere ndash intellegere) wie es insbesondere im ersten Teilvon Adversus Arium 4 geschieht28 Die Dreiheit erscheint im Kom-mentar nur in substanzieller Form und bleibt der Ebene des Intel-lekts immanent Im fuumlnften Fragment kritisiert der Kommentatorsogar ausdruumlcklich die Chaldaumlischen Orakel oder ihre Auslegerweil sie der houmlchsten Gottheit eine trinitarische Struktur zuwei-sen29 Manche seiner Formulierungen erwecken dabei den Ein-druck dass er bei seiner Kritik ein aumlhnliches theologisches Kon-zept im Auge gehabt haben mochte wie es uns gerade in AdversusArium 1b begegnet Das Eine wird vom Kommentator keineswegsals Ausgangsglied der Dreiheit aufgefasst aus dem das Leben her-vorginge und zu dem das Denken zuruumlckkehrte wie es in Adver-sus Arium 1b begriffen wird Dementsprechend ist das Eine auchnicht sbquoder Gegenstandlsquo des Erkennens des zweiten Einen in demdas zweite Eine zugleich sich selbst in seiner potenziellen undtranszendenten Praumlexistenz erfasst sondern es ist der Akt der inallen drei Akten oder Momenten wirkt der ihre Einheit stiftet undzugleich uumlber sie hinausgeht Auch wenn der Kommentator dasEine mit dem Sein identifiziert setzt er nie das Sein mit der Exis -tenz gleich und nichts scheint davon zu zeugen dass die Existenzmit dem transzendenten Moment des Intellekts (dem ersten Einen)zusammenfallen sollte30 Der Verfasser des anonymen Kommen-tars verwendet im Gegenteil unterschiedliche Ausdruumlcke um dieverschiedenen Tatsachen hervorzuheben Waumlhrend der TerminussbquoSeinlsquo dem ersten Einen als der Ursache oder der sbquoIdeelsquo des intelli-giblen Seienden vorbehalten ist soll das Wort sbquoExistenzlsquo das ersteMoment der reflexiven Bewegung des Intellekts oder des zweiten

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27) Vgl z B Marius Victorinus Adv Ar 42318ndash34 (CSEL LXXXIIII 260)28) Vgl z B Marius Victorinus Adv Ar 464ndash7 (CSEL LXXXIIII 231ndash

232) 489ndash30 (CSEL LXXXIIII 235ndash236) 42126ndash28 (CSEL LXXXIIII 257)29) Vgl Anon in Parm 91ndash1011 (Linguiti 118ndash120)30) Darauf hat schon Andrew Smith hingewiesen Vgl ders Zπόστασις and

0παρξις in Porphyry in F Romano D P Taormina (Hrsg) Hyparxis e hyposta-sis nel neoplatonismo Firenze 1994 33ndash41 hier 41

Einen bezeichnen im Unterschied zum sbquoSeiendenlsquo das als Benen-nung fuumlr die ganze Hypostase dient Im anonymen Kommentarfindet man auch kein Anzeichen fuumlr das Prinzip eines wechsel -seitigen Ineinanderseins (und des Vorherrschens) von Existenz Leben und Denken das eine zentrale Rolle in Adversus Arium 1b3 und 4 ndash und im spaumlteren Neuplatonismus uumlberhaupt ndash spielt

Dialektik der negativen und affirmativen Theologie

Auch die ganze Problematik der sbquoInkommensurabilitaumltlsquo bzwsbquoKommensurabilitaumltlsquo des ersten Einen mit dem zweiten Einen be-handelt der Verfasser des Kommentars anders als Marius Victori-nus in Adversus Arium 1b31 Dem Kommentator zufolge zeigt sichdas Goumlttliche bdquounter dem einen Gesichtspunktldquo (κατF -λλο bzwκατ7 τν πρώτην δέαν) d h bdquoes selbst in sich selbst gesehenldquo alsdas einfache Eine das bdquonicht ausgesprochen und gedacht werdenkannldquo bdquounter dem anderen Gesichtspunktldquo (κατF -λλο) hingegenwird es als der in sich durch Reflexion differenzierte Intellekt be-trachtet der sich in die Vielheit seiner Akte ndash Existenz Leben undDenken ndash hinein entfaltet Wie der Schluss des sechsten Fragmentsbezeugt entsprechen diese zwei Gesichtspunkte der ersten und derzweiten Hypothese des Parmenides Trotz der sbquoontologischen Dif-ferenzlsquo zwischen dem ersten Einen und dem Intellekt (dem zwei-ten Einen) die in den vorausgehenden Fragmenten immer wiederemphatisch hervorgehoben wurde meint also der Kommentatordass sich beide Hypothesen auf eine einzige Gottheit beziehen diedas transzendente Eine und den reflexiven Intellekt als ihre zweiSchichten oder Momente einschlieszligt Der Verfasser des Kommen-tars scheint also die beiden Hypothesen als eine Art sbquodialektischelsquoTheologie zu verstehen die das Goumlttliche unter zwei verschiede-

201Die Theorie des goumlttlichen Selbstbewusstseins im Parmenides-Kommentar

31) Die Dialektik der sbquoInkommensurabilitaumltlsquo (bdquolrsquoincoordinationldquo) und sbquoKom-mensurabilitaumltlsquo (bdquola coordinationldquo) des Einen betrachtet Hadot als einen der Haupt -zuumlge der sbquoporphyrianischen Metaphysiklsquo Entsprechend seiner Hypothese dass derVerfasser des anonymen Kommentars Porphyrios sei den er zugleich fuumlr die grie-chische Quelle haumllt aus der Marius Victorinus geschoumlpft hat meint er dass der an -onyme Parmenides-Kommentar und die theologischen Schriften des Marius Victo-rinus ndash insbesondere Adversus Arium 1b ndash auch in diesem Punkt uumlbereinstimmenVgl Hadot La meacutetaphysique de Porphyre (wie Anm 2) 131 ff ders Porphyre etVictorinus (wie Anm 2) I 139ndash141 259ndash260

nen Aspekten zum Thema macht Vielleicht koumlnnte man auch uumlbereine Art sbquoDialektik der Kommensurabilitaumlt und Inkommensurabi-litaumltlsquo des Einen selbst sprechen insofern der Gesichtspunkt derzweiten Hypothese deren Gegenstand eigentlich der reflexive Intellekt ist zugleich eine neue Perspektive oumlffnet aus der sich das erste Eine in seiner Bezogenheit auf die differenzierten Aktedes Intellekts zeigt Erscheint das (erste) Eine unter dem ersten Gesichtspunkt als inkommensurabel und relationslos so dass manihm jedwede Beziehung zum Intellekt ndash sogar die der Andersheit ndashverweigern muss32 stellt es sich unter dem anderen Gesichtspunktder die Aufmerksamkeit auf das zweite Eine oder den Intellektlenkt zugleich als der einheitsstiftende Akt uumlber den differenzier-ten Akten des reflexiven Intellekts als der konstitutive Urgrundseines Selbstbewusstseins heraus Freilich ist Hadots Ansichtzuruumlckzuweisen die sbquodialektischelsquo Theologie des anonymen Kommentars sei mit dem entsprechenden Konzept in AdversusArium 1b identisch33 Die theologische Auffassung in AdversusArium 1b kann insofern als sbquodialektischlsquo bezeichnet werden als dasEine unter zwei verschiedenen Aspekten behandelt wird in sichund auf das von ihm Verursachte bezogen Das Eine zeigt sich soeinerseits als inkommensurabel und in seiner absoluten Differenz-losigkeit allen gegenstaumlndlichen Kategorien des menschlichenDenkens enthoben andererseits in Bezug darauf wessen Ursprunges ist als universale Ursache die selbst auf eine transzendente undpotenzielle Weise alles ist was aus ihr hervorgeht Waumlhrend unterdem Gesichtspunkt der negativen Theologie dem Einen u a SeinExistenz Leben und Denken abgesprochen wird erweist es sichunter dem Gesichtspunkt der affirmativen Theologie als erste Phase der Selbstkonstitution der goumlttlichen Substanz bzw des Intellekts und als erstes Glied der Dreiheit von sbquoSein ndash Leben ndashDenkenlsquo Als das Sein selbst enthaumllt es in sich auf transzendenteund potenzielle Weise die beiden anderen Glieder ndash Leben undDenken ndash und vereinigt sie in seiner unterschiedslosen Einheit ImVergleich mit dem anonymen Kommentar faumlllt nun auf dass beiVictorinus beide Gesichtspunkte den Methoden der negativen undaffirmativen Theologie entsprechen die ausschlieszliglich auf das ers -te Eine angewandt werden also auf das Eine der ersten Hypothese

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32) Vgl Anon in Parm 31ndash35 (Linguiti 100ndash102)33) Vgl oben Anm 31

des Parmenides das mit Gottvater identifiziert wird Das zweiteEine d h das Eine der zweiten Hypothese das Victorinus demSohn gleichsetzt wird erst spaumlter zum Thema34 und ist nicht in dieDialektik der negativen und affirmativen Theologie einbezogenIm anonymen Kommentar hingegen entsprechen die beiden Ge-sichtspunkte der ersten und der zweiten Hypothese die das den reflexiven Intellekt (das zweite Eine) und seinen uumlber-reflexivenGrund (das erste Eine) umschlieszligende Goumlttliche in seinen beidenAspekten oder Schichten behandeln Obwohl also sowohl in Ad-versus Arium 1b als auch im anonymen Kommentar eine Art sbquoDia-lektik der Kommensurabilitaumlt und Inkommensurabilitaumltlsquo des Einenvorkommt geht es offensichtlich um zwei verschiedene Variantenderen Unterschiedlichkeit wieder die Differenzen zwischen denbeiden metaphysischen Konzepten klar hervortreten laumlsst35

Schlussfolgerungen

Gerade die erwaumlhnten Unterschiede verwischt nun Hadotum den Inhalt des sechsten Fragments mit seiner Hypothese inEinklang zu bringen dass der Verfasser des anonymen Kommen-tars (naumlmlich Porphyrios) mit der griechischen Quelle der theolo-gischen Schriften des Marius Victorinus identisch sei Dabei pro-

203Die Theorie des goumlttlichen Selbstbewusstseins im Parmenides-Kommentar

34) Marius Victorinus Adv Ar 15022 ff (CSEL LXXXIIII 145)35) Diese sbquoJuxtappositionlsquo oder sbquoDialektiklsquo der negativen und affirmativen

Theologie die das Goumlttliche aus zwei verschiedenen Perspektiven betrachtet wo-bei es sich bald als sbquoinkommensurabellsquo bald als sbquokommensurabellsquo zeigt geht wahr-scheinlich auf die mittelplatonische bzw neupythagoreische Tradition zuruumlck VglJ Mansfeld Compatible Alternatives Middle Platonists Theology and the Xeno -phanes Reception in R van den Broek T Baarda J Mansfeld (Hrsg) Know -ledge of God in the Graeco-Roman World Leiden 1988 92ndash117 Eudoros vonAlexandrien fuumlhrt die beiden Betrachtungsweisen mit aumlhnlichen Ausdruumlcken wieder Verfasser des anonymen Kommentars ein (κατ7 τν νωτάτω λόγον κατF -λλον τρόπον bzw κατ7 τν δεύτερον λόγον) Vgl Simplikios In Aristotelis Physica com-mentaria 15 (CAG IX 18110ndash30) Bei Eudoros geht es dennoch um die spezifischeProblematik der pythagoreischen Prinzipienlehre Er bemuumlht sich die sbquomonistischelsquound sbquodualistischelsquo pythagoreische Lehre zu versoumlhnen indem er das Eine einmal alsdas einzige uumlber alle Gegensaumltze erhabene Prinzip betrachtet einmal als ein Gliedder Grundpolaritaumlt sbquodas Eine ndash die unbestimmte Zweiheitlsquo In Adversus Arium 1bund im anonymen Parmenides-Kommentar wird hingegen dieselbe Methode aufdie Problematik der neuplatonischen houmlchsten Prinzipien angewandt ndash obgleich jeweils auf eine andere Art und Weise

jiziert er das Denkschema von Adversus Arium 1b in den Par-menides-Kommentar hinein und entstellt somit gewissermaszligen das hier enthaltene metaphysische Konzept36 Folglich wurde diebemerkenswerte Theorie des goumlttlichen Bewusstseins wie sie imsechsten Fragment dargelegt ist in ihrer Originalitaumlt bislang kaumuntersucht und nur unzureichend bewertet Auch legen die fest-gestellten Differenzen die Vermutung nahe dass der anonymeKommentar bzw sein Verfasser nicht die direkte Quelle des theo-logischen Werkes von Marius Victorinus ndash oder zumindest seinerSchrift Adversus Arium 1b ndash gewesen sein kann Die Unterschiedelassen sich auch nicht wegdiskutieren wenn man darauf hinweistdass der Kommentar uns nur fragmentarisch erhalten blieb oderVictorinus seine Quelle wesentlich umgedeutet haben koumlnnte um sie seinem christlich-theologischen Anliegen anzupassen Wieschon gezeigt sind mehrere Grundzuumlge der beiden metaphysi-schen Konzepte einfach nicht miteinander kompatibel Und gera-de manche Motive durch die sich das metaphysische Schema inAdversus Arium 1b von dem des anonymen Kommentars abhebtz B das Prinzip des Ineinanderseins (und des Vorherrschens) vonSein Leben und Denken begegnen uns wieder bei den spaumlterenNeuplatonikern freilich mit dem Unterschied dass diese sie aufdie niedrigeren Seinsstufen anwenden ohne das Eine mit einem derGlieder der Dreiheit zu identifizieren Der anonyme Kommentarduumlrfte so wohl auf etwas hindeuten das schon durch die Anwe-senheit verschiedener Varianten eines verwandten metaphysischenKonzepts in den theologischen Schriften des Marius Victorinusdie kaum auf eine einzige Quelle zuruumlckzufuumlhren sind angedeutetwird37 die Existenz einer ganzen Traditionslinie des spaumltantiken

204 Vaacutec l av N ěmec

36) Diese Kritik wird freilich geaumluszligert mit der wesentlichen Einschraumlnkungdass es gerade Hadots groszliges Verdienst war die Eigentuumlmlichkeit und Bedeutungder metaphysischen Lehre des anonymen Kommentars im Rahmen des spaumltantikenPlatonismus erkannt und sie zum ersten Mal detailliert und ndash mit den oben er-waumlhnten Ausnahmen ndash praumlzise rekonstruiert zu haben

37) Im theologischen Werk von Marius Victorinus lassen sich mindestensdrei (bzw vier wenn man auch Candidi epistola 1 dazu zaumlhlt) unterschiedliche Va-rianten eines verwandten metaphysischen Systems ausmachen die wahrscheinlichauf verschiedene Quellen zuruumlckgehen Dies versuchte ich in meinem Aufsatz Me-tafysickeacute systeacutemy v theologickeacutem diacutele Maria Victorina in V Hušek L Chvaacutetal J Plaacutetovaacute (Hrsg) Miscellanea patristica Brno 2007 37ndash71 nachzuweisen Vglauch meine Einleitung zur tschechischen Ausgabe des anonymen Parmenides-Kommentars Anonymniacute komentaacuteř k Platoacutenovu Parmenidovi Praha 2009 49ndash69

(Neu-)Platonismus die von der uns bekannten Hauptstroumlmungabweicht und in deren Rahmen verschiedene Versionen einer aumlhn-lichen metaphysischen Auffassung durchdacht wurden

Prag Vaacutec l av N ěmec

205Die Theorie des goumlttlichen Selbstbewusstseins im Parmenides-Kommentar

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Einen bezeichnen im Unterschied zum sbquoSeiendenlsquo das als Benen-nung fuumlr die ganze Hypostase dient Im anonymen Kommentarfindet man auch kein Anzeichen fuumlr das Prinzip eines wechsel -seitigen Ineinanderseins (und des Vorherrschens) von Existenz Leben und Denken das eine zentrale Rolle in Adversus Arium 1b3 und 4 ndash und im spaumlteren Neuplatonismus uumlberhaupt ndash spielt

Dialektik der negativen und affirmativen Theologie

Auch die ganze Problematik der sbquoInkommensurabilitaumltlsquo bzwsbquoKommensurabilitaumltlsquo des ersten Einen mit dem zweiten Einen be-handelt der Verfasser des Kommentars anders als Marius Victori-nus in Adversus Arium 1b31 Dem Kommentator zufolge zeigt sichdas Goumlttliche bdquounter dem einen Gesichtspunktldquo (κατF -λλο bzwκατ7 τν πρώτην δέαν) d h bdquoes selbst in sich selbst gesehenldquo alsdas einfache Eine das bdquonicht ausgesprochen und gedacht werdenkannldquo bdquounter dem anderen Gesichtspunktldquo (κατF -λλο) hingegenwird es als der in sich durch Reflexion differenzierte Intellekt be-trachtet der sich in die Vielheit seiner Akte ndash Existenz Leben undDenken ndash hinein entfaltet Wie der Schluss des sechsten Fragmentsbezeugt entsprechen diese zwei Gesichtspunkte der ersten und derzweiten Hypothese des Parmenides Trotz der sbquoontologischen Dif-ferenzlsquo zwischen dem ersten Einen und dem Intellekt (dem zwei-ten Einen) die in den vorausgehenden Fragmenten immer wiederemphatisch hervorgehoben wurde meint also der Kommentatordass sich beide Hypothesen auf eine einzige Gottheit beziehen diedas transzendente Eine und den reflexiven Intellekt als ihre zweiSchichten oder Momente einschlieszligt Der Verfasser des Kommen-tars scheint also die beiden Hypothesen als eine Art sbquodialektischelsquoTheologie zu verstehen die das Goumlttliche unter zwei verschiede-

201Die Theorie des goumlttlichen Selbstbewusstseins im Parmenides-Kommentar

31) Die Dialektik der sbquoInkommensurabilitaumltlsquo (bdquolrsquoincoordinationldquo) und sbquoKom-mensurabilitaumltlsquo (bdquola coordinationldquo) des Einen betrachtet Hadot als einen der Haupt -zuumlge der sbquoporphyrianischen Metaphysiklsquo Entsprechend seiner Hypothese dass derVerfasser des anonymen Kommentars Porphyrios sei den er zugleich fuumlr die grie-chische Quelle haumllt aus der Marius Victorinus geschoumlpft hat meint er dass der an -onyme Parmenides-Kommentar und die theologischen Schriften des Marius Victo-rinus ndash insbesondere Adversus Arium 1b ndash auch in diesem Punkt uumlbereinstimmenVgl Hadot La meacutetaphysique de Porphyre (wie Anm 2) 131 ff ders Porphyre etVictorinus (wie Anm 2) I 139ndash141 259ndash260

nen Aspekten zum Thema macht Vielleicht koumlnnte man auch uumlbereine Art sbquoDialektik der Kommensurabilitaumlt und Inkommensurabi-litaumltlsquo des Einen selbst sprechen insofern der Gesichtspunkt derzweiten Hypothese deren Gegenstand eigentlich der reflexive Intellekt ist zugleich eine neue Perspektive oumlffnet aus der sich das erste Eine in seiner Bezogenheit auf die differenzierten Aktedes Intellekts zeigt Erscheint das (erste) Eine unter dem ersten Gesichtspunkt als inkommensurabel und relationslos so dass manihm jedwede Beziehung zum Intellekt ndash sogar die der Andersheit ndashverweigern muss32 stellt es sich unter dem anderen Gesichtspunktder die Aufmerksamkeit auf das zweite Eine oder den Intellektlenkt zugleich als der einheitsstiftende Akt uumlber den differenzier-ten Akten des reflexiven Intellekts als der konstitutive Urgrundseines Selbstbewusstseins heraus Freilich ist Hadots Ansichtzuruumlckzuweisen die sbquodialektischelsquo Theologie des anonymen Kommentars sei mit dem entsprechenden Konzept in AdversusArium 1b identisch33 Die theologische Auffassung in AdversusArium 1b kann insofern als sbquodialektischlsquo bezeichnet werden als dasEine unter zwei verschiedenen Aspekten behandelt wird in sichund auf das von ihm Verursachte bezogen Das Eine zeigt sich soeinerseits als inkommensurabel und in seiner absoluten Differenz-losigkeit allen gegenstaumlndlichen Kategorien des menschlichenDenkens enthoben andererseits in Bezug darauf wessen Ursprunges ist als universale Ursache die selbst auf eine transzendente undpotenzielle Weise alles ist was aus ihr hervorgeht Waumlhrend unterdem Gesichtspunkt der negativen Theologie dem Einen u a SeinExistenz Leben und Denken abgesprochen wird erweist es sichunter dem Gesichtspunkt der affirmativen Theologie als erste Phase der Selbstkonstitution der goumlttlichen Substanz bzw des Intellekts und als erstes Glied der Dreiheit von sbquoSein ndash Leben ndashDenkenlsquo Als das Sein selbst enthaumllt es in sich auf transzendenteund potenzielle Weise die beiden anderen Glieder ndash Leben undDenken ndash und vereinigt sie in seiner unterschiedslosen Einheit ImVergleich mit dem anonymen Kommentar faumlllt nun auf dass beiVictorinus beide Gesichtspunkte den Methoden der negativen undaffirmativen Theologie entsprechen die ausschlieszliglich auf das ers -te Eine angewandt werden also auf das Eine der ersten Hypothese

202 Vaacutec l av N ěmec

32) Vgl Anon in Parm 31ndash35 (Linguiti 100ndash102)33) Vgl oben Anm 31

des Parmenides das mit Gottvater identifiziert wird Das zweiteEine d h das Eine der zweiten Hypothese das Victorinus demSohn gleichsetzt wird erst spaumlter zum Thema34 und ist nicht in dieDialektik der negativen und affirmativen Theologie einbezogenIm anonymen Kommentar hingegen entsprechen die beiden Ge-sichtspunkte der ersten und der zweiten Hypothese die das den reflexiven Intellekt (das zweite Eine) und seinen uumlber-reflexivenGrund (das erste Eine) umschlieszligende Goumlttliche in seinen beidenAspekten oder Schichten behandeln Obwohl also sowohl in Ad-versus Arium 1b als auch im anonymen Kommentar eine Art sbquoDia-lektik der Kommensurabilitaumlt und Inkommensurabilitaumltlsquo des Einenvorkommt geht es offensichtlich um zwei verschiedene Variantenderen Unterschiedlichkeit wieder die Differenzen zwischen denbeiden metaphysischen Konzepten klar hervortreten laumlsst35

Schlussfolgerungen

Gerade die erwaumlhnten Unterschiede verwischt nun Hadotum den Inhalt des sechsten Fragments mit seiner Hypothese inEinklang zu bringen dass der Verfasser des anonymen Kommen-tars (naumlmlich Porphyrios) mit der griechischen Quelle der theolo-gischen Schriften des Marius Victorinus identisch sei Dabei pro-

203Die Theorie des goumlttlichen Selbstbewusstseins im Parmenides-Kommentar

34) Marius Victorinus Adv Ar 15022 ff (CSEL LXXXIIII 145)35) Diese sbquoJuxtappositionlsquo oder sbquoDialektiklsquo der negativen und affirmativen

Theologie die das Goumlttliche aus zwei verschiedenen Perspektiven betrachtet wo-bei es sich bald als sbquoinkommensurabellsquo bald als sbquokommensurabellsquo zeigt geht wahr-scheinlich auf die mittelplatonische bzw neupythagoreische Tradition zuruumlck VglJ Mansfeld Compatible Alternatives Middle Platonists Theology and the Xeno -phanes Reception in R van den Broek T Baarda J Mansfeld (Hrsg) Know -ledge of God in the Graeco-Roman World Leiden 1988 92ndash117 Eudoros vonAlexandrien fuumlhrt die beiden Betrachtungsweisen mit aumlhnlichen Ausdruumlcken wieder Verfasser des anonymen Kommentars ein (κατ7 τν νωτάτω λόγον κατF -λλον τρόπον bzw κατ7 τν δεύτερον λόγον) Vgl Simplikios In Aristotelis Physica com-mentaria 15 (CAG IX 18110ndash30) Bei Eudoros geht es dennoch um die spezifischeProblematik der pythagoreischen Prinzipienlehre Er bemuumlht sich die sbquomonistischelsquound sbquodualistischelsquo pythagoreische Lehre zu versoumlhnen indem er das Eine einmal alsdas einzige uumlber alle Gegensaumltze erhabene Prinzip betrachtet einmal als ein Gliedder Grundpolaritaumlt sbquodas Eine ndash die unbestimmte Zweiheitlsquo In Adversus Arium 1bund im anonymen Parmenides-Kommentar wird hingegen dieselbe Methode aufdie Problematik der neuplatonischen houmlchsten Prinzipien angewandt ndash obgleich jeweils auf eine andere Art und Weise

jiziert er das Denkschema von Adversus Arium 1b in den Par-menides-Kommentar hinein und entstellt somit gewissermaszligen das hier enthaltene metaphysische Konzept36 Folglich wurde diebemerkenswerte Theorie des goumlttlichen Bewusstseins wie sie imsechsten Fragment dargelegt ist in ihrer Originalitaumlt bislang kaumuntersucht und nur unzureichend bewertet Auch legen die fest-gestellten Differenzen die Vermutung nahe dass der anonymeKommentar bzw sein Verfasser nicht die direkte Quelle des theo-logischen Werkes von Marius Victorinus ndash oder zumindest seinerSchrift Adversus Arium 1b ndash gewesen sein kann Die Unterschiedelassen sich auch nicht wegdiskutieren wenn man darauf hinweistdass der Kommentar uns nur fragmentarisch erhalten blieb oderVictorinus seine Quelle wesentlich umgedeutet haben koumlnnte um sie seinem christlich-theologischen Anliegen anzupassen Wieschon gezeigt sind mehrere Grundzuumlge der beiden metaphysi-schen Konzepte einfach nicht miteinander kompatibel Und gera-de manche Motive durch die sich das metaphysische Schema inAdversus Arium 1b von dem des anonymen Kommentars abhebtz B das Prinzip des Ineinanderseins (und des Vorherrschens) vonSein Leben und Denken begegnen uns wieder bei den spaumlterenNeuplatonikern freilich mit dem Unterschied dass diese sie aufdie niedrigeren Seinsstufen anwenden ohne das Eine mit einem derGlieder der Dreiheit zu identifizieren Der anonyme Kommentarduumlrfte so wohl auf etwas hindeuten das schon durch die Anwe-senheit verschiedener Varianten eines verwandten metaphysischenKonzepts in den theologischen Schriften des Marius Victorinusdie kaum auf eine einzige Quelle zuruumlckzufuumlhren sind angedeutetwird37 die Existenz einer ganzen Traditionslinie des spaumltantiken

204 Vaacutec l av N ěmec

36) Diese Kritik wird freilich geaumluszligert mit der wesentlichen Einschraumlnkungdass es gerade Hadots groszliges Verdienst war die Eigentuumlmlichkeit und Bedeutungder metaphysischen Lehre des anonymen Kommentars im Rahmen des spaumltantikenPlatonismus erkannt und sie zum ersten Mal detailliert und ndash mit den oben er-waumlhnten Ausnahmen ndash praumlzise rekonstruiert zu haben

37) Im theologischen Werk von Marius Victorinus lassen sich mindestensdrei (bzw vier wenn man auch Candidi epistola 1 dazu zaumlhlt) unterschiedliche Va-rianten eines verwandten metaphysischen Systems ausmachen die wahrscheinlichauf verschiedene Quellen zuruumlckgehen Dies versuchte ich in meinem Aufsatz Me-tafysickeacute systeacutemy v theologickeacutem diacutele Maria Victorina in V Hušek L Chvaacutetal J Plaacutetovaacute (Hrsg) Miscellanea patristica Brno 2007 37ndash71 nachzuweisen Vglauch meine Einleitung zur tschechischen Ausgabe des anonymen Parmenides-Kommentars Anonymniacute komentaacuteř k Platoacutenovu Parmenidovi Praha 2009 49ndash69

(Neu-)Platonismus die von der uns bekannten Hauptstroumlmungabweicht und in deren Rahmen verschiedene Versionen einer aumlhn-lichen metaphysischen Auffassung durchdacht wurden

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205Die Theorie des goumlttlichen Selbstbewusstseins im Parmenides-Kommentar

Page 18: DIE THEORIE DES GÖTTLICHEN SELBSTBEWUSSTSEINS ...Gnosticism and Later Platonism: Themes, Figures, and Texts, Atlanta 2000, 141–177; J.D.Turner, Sethian Gnosticism and the Platonic

nen Aspekten zum Thema macht Vielleicht koumlnnte man auch uumlbereine Art sbquoDialektik der Kommensurabilitaumlt und Inkommensurabi-litaumltlsquo des Einen selbst sprechen insofern der Gesichtspunkt derzweiten Hypothese deren Gegenstand eigentlich der reflexive Intellekt ist zugleich eine neue Perspektive oumlffnet aus der sich das erste Eine in seiner Bezogenheit auf die differenzierten Aktedes Intellekts zeigt Erscheint das (erste) Eine unter dem ersten Gesichtspunkt als inkommensurabel und relationslos so dass manihm jedwede Beziehung zum Intellekt ndash sogar die der Andersheit ndashverweigern muss32 stellt es sich unter dem anderen Gesichtspunktder die Aufmerksamkeit auf das zweite Eine oder den Intellektlenkt zugleich als der einheitsstiftende Akt uumlber den differenzier-ten Akten des reflexiven Intellekts als der konstitutive Urgrundseines Selbstbewusstseins heraus Freilich ist Hadots Ansichtzuruumlckzuweisen die sbquodialektischelsquo Theologie des anonymen Kommentars sei mit dem entsprechenden Konzept in AdversusArium 1b identisch33 Die theologische Auffassung in AdversusArium 1b kann insofern als sbquodialektischlsquo bezeichnet werden als dasEine unter zwei verschiedenen Aspekten behandelt wird in sichund auf das von ihm Verursachte bezogen Das Eine zeigt sich soeinerseits als inkommensurabel und in seiner absoluten Differenz-losigkeit allen gegenstaumlndlichen Kategorien des menschlichenDenkens enthoben andererseits in Bezug darauf wessen Ursprunges ist als universale Ursache die selbst auf eine transzendente undpotenzielle Weise alles ist was aus ihr hervorgeht Waumlhrend unterdem Gesichtspunkt der negativen Theologie dem Einen u a SeinExistenz Leben und Denken abgesprochen wird erweist es sichunter dem Gesichtspunkt der affirmativen Theologie als erste Phase der Selbstkonstitution der goumlttlichen Substanz bzw des Intellekts und als erstes Glied der Dreiheit von sbquoSein ndash Leben ndashDenkenlsquo Als das Sein selbst enthaumllt es in sich auf transzendenteund potenzielle Weise die beiden anderen Glieder ndash Leben undDenken ndash und vereinigt sie in seiner unterschiedslosen Einheit ImVergleich mit dem anonymen Kommentar faumlllt nun auf dass beiVictorinus beide Gesichtspunkte den Methoden der negativen undaffirmativen Theologie entsprechen die ausschlieszliglich auf das ers -te Eine angewandt werden also auf das Eine der ersten Hypothese

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32) Vgl Anon in Parm 31ndash35 (Linguiti 100ndash102)33) Vgl oben Anm 31

des Parmenides das mit Gottvater identifiziert wird Das zweiteEine d h das Eine der zweiten Hypothese das Victorinus demSohn gleichsetzt wird erst spaumlter zum Thema34 und ist nicht in dieDialektik der negativen und affirmativen Theologie einbezogenIm anonymen Kommentar hingegen entsprechen die beiden Ge-sichtspunkte der ersten und der zweiten Hypothese die das den reflexiven Intellekt (das zweite Eine) und seinen uumlber-reflexivenGrund (das erste Eine) umschlieszligende Goumlttliche in seinen beidenAspekten oder Schichten behandeln Obwohl also sowohl in Ad-versus Arium 1b als auch im anonymen Kommentar eine Art sbquoDia-lektik der Kommensurabilitaumlt und Inkommensurabilitaumltlsquo des Einenvorkommt geht es offensichtlich um zwei verschiedene Variantenderen Unterschiedlichkeit wieder die Differenzen zwischen denbeiden metaphysischen Konzepten klar hervortreten laumlsst35

Schlussfolgerungen

Gerade die erwaumlhnten Unterschiede verwischt nun Hadotum den Inhalt des sechsten Fragments mit seiner Hypothese inEinklang zu bringen dass der Verfasser des anonymen Kommen-tars (naumlmlich Porphyrios) mit der griechischen Quelle der theolo-gischen Schriften des Marius Victorinus identisch sei Dabei pro-

203Die Theorie des goumlttlichen Selbstbewusstseins im Parmenides-Kommentar

34) Marius Victorinus Adv Ar 15022 ff (CSEL LXXXIIII 145)35) Diese sbquoJuxtappositionlsquo oder sbquoDialektiklsquo der negativen und affirmativen

Theologie die das Goumlttliche aus zwei verschiedenen Perspektiven betrachtet wo-bei es sich bald als sbquoinkommensurabellsquo bald als sbquokommensurabellsquo zeigt geht wahr-scheinlich auf die mittelplatonische bzw neupythagoreische Tradition zuruumlck VglJ Mansfeld Compatible Alternatives Middle Platonists Theology and the Xeno -phanes Reception in R van den Broek T Baarda J Mansfeld (Hrsg) Know -ledge of God in the Graeco-Roman World Leiden 1988 92ndash117 Eudoros vonAlexandrien fuumlhrt die beiden Betrachtungsweisen mit aumlhnlichen Ausdruumlcken wieder Verfasser des anonymen Kommentars ein (κατ7 τν νωτάτω λόγον κατF -λλον τρόπον bzw κατ7 τν δεύτερον λόγον) Vgl Simplikios In Aristotelis Physica com-mentaria 15 (CAG IX 18110ndash30) Bei Eudoros geht es dennoch um die spezifischeProblematik der pythagoreischen Prinzipienlehre Er bemuumlht sich die sbquomonistischelsquound sbquodualistischelsquo pythagoreische Lehre zu versoumlhnen indem er das Eine einmal alsdas einzige uumlber alle Gegensaumltze erhabene Prinzip betrachtet einmal als ein Gliedder Grundpolaritaumlt sbquodas Eine ndash die unbestimmte Zweiheitlsquo In Adversus Arium 1bund im anonymen Parmenides-Kommentar wird hingegen dieselbe Methode aufdie Problematik der neuplatonischen houmlchsten Prinzipien angewandt ndash obgleich jeweils auf eine andere Art und Weise

jiziert er das Denkschema von Adversus Arium 1b in den Par-menides-Kommentar hinein und entstellt somit gewissermaszligen das hier enthaltene metaphysische Konzept36 Folglich wurde diebemerkenswerte Theorie des goumlttlichen Bewusstseins wie sie imsechsten Fragment dargelegt ist in ihrer Originalitaumlt bislang kaumuntersucht und nur unzureichend bewertet Auch legen die fest-gestellten Differenzen die Vermutung nahe dass der anonymeKommentar bzw sein Verfasser nicht die direkte Quelle des theo-logischen Werkes von Marius Victorinus ndash oder zumindest seinerSchrift Adversus Arium 1b ndash gewesen sein kann Die Unterschiedelassen sich auch nicht wegdiskutieren wenn man darauf hinweistdass der Kommentar uns nur fragmentarisch erhalten blieb oderVictorinus seine Quelle wesentlich umgedeutet haben koumlnnte um sie seinem christlich-theologischen Anliegen anzupassen Wieschon gezeigt sind mehrere Grundzuumlge der beiden metaphysi-schen Konzepte einfach nicht miteinander kompatibel Und gera-de manche Motive durch die sich das metaphysische Schema inAdversus Arium 1b von dem des anonymen Kommentars abhebtz B das Prinzip des Ineinanderseins (und des Vorherrschens) vonSein Leben und Denken begegnen uns wieder bei den spaumlterenNeuplatonikern freilich mit dem Unterschied dass diese sie aufdie niedrigeren Seinsstufen anwenden ohne das Eine mit einem derGlieder der Dreiheit zu identifizieren Der anonyme Kommentarduumlrfte so wohl auf etwas hindeuten das schon durch die Anwe-senheit verschiedener Varianten eines verwandten metaphysischenKonzepts in den theologischen Schriften des Marius Victorinusdie kaum auf eine einzige Quelle zuruumlckzufuumlhren sind angedeutetwird37 die Existenz einer ganzen Traditionslinie des spaumltantiken

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36) Diese Kritik wird freilich geaumluszligert mit der wesentlichen Einschraumlnkungdass es gerade Hadots groszliges Verdienst war die Eigentuumlmlichkeit und Bedeutungder metaphysischen Lehre des anonymen Kommentars im Rahmen des spaumltantikenPlatonismus erkannt und sie zum ersten Mal detailliert und ndash mit den oben er-waumlhnten Ausnahmen ndash praumlzise rekonstruiert zu haben

37) Im theologischen Werk von Marius Victorinus lassen sich mindestensdrei (bzw vier wenn man auch Candidi epistola 1 dazu zaumlhlt) unterschiedliche Va-rianten eines verwandten metaphysischen Systems ausmachen die wahrscheinlichauf verschiedene Quellen zuruumlckgehen Dies versuchte ich in meinem Aufsatz Me-tafysickeacute systeacutemy v theologickeacutem diacutele Maria Victorina in V Hušek L Chvaacutetal J Plaacutetovaacute (Hrsg) Miscellanea patristica Brno 2007 37ndash71 nachzuweisen Vglauch meine Einleitung zur tschechischen Ausgabe des anonymen Parmenides-Kommentars Anonymniacute komentaacuteř k Platoacutenovu Parmenidovi Praha 2009 49ndash69

(Neu-)Platonismus die von der uns bekannten Hauptstroumlmungabweicht und in deren Rahmen verschiedene Versionen einer aumlhn-lichen metaphysischen Auffassung durchdacht wurden

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des Parmenides das mit Gottvater identifiziert wird Das zweiteEine d h das Eine der zweiten Hypothese das Victorinus demSohn gleichsetzt wird erst spaumlter zum Thema34 und ist nicht in dieDialektik der negativen und affirmativen Theologie einbezogenIm anonymen Kommentar hingegen entsprechen die beiden Ge-sichtspunkte der ersten und der zweiten Hypothese die das den reflexiven Intellekt (das zweite Eine) und seinen uumlber-reflexivenGrund (das erste Eine) umschlieszligende Goumlttliche in seinen beidenAspekten oder Schichten behandeln Obwohl also sowohl in Ad-versus Arium 1b als auch im anonymen Kommentar eine Art sbquoDia-lektik der Kommensurabilitaumlt und Inkommensurabilitaumltlsquo des Einenvorkommt geht es offensichtlich um zwei verschiedene Variantenderen Unterschiedlichkeit wieder die Differenzen zwischen denbeiden metaphysischen Konzepten klar hervortreten laumlsst35

Schlussfolgerungen

Gerade die erwaumlhnten Unterschiede verwischt nun Hadotum den Inhalt des sechsten Fragments mit seiner Hypothese inEinklang zu bringen dass der Verfasser des anonymen Kommen-tars (naumlmlich Porphyrios) mit der griechischen Quelle der theolo-gischen Schriften des Marius Victorinus identisch sei Dabei pro-

203Die Theorie des goumlttlichen Selbstbewusstseins im Parmenides-Kommentar

34) Marius Victorinus Adv Ar 15022 ff (CSEL LXXXIIII 145)35) Diese sbquoJuxtappositionlsquo oder sbquoDialektiklsquo der negativen und affirmativen

Theologie die das Goumlttliche aus zwei verschiedenen Perspektiven betrachtet wo-bei es sich bald als sbquoinkommensurabellsquo bald als sbquokommensurabellsquo zeigt geht wahr-scheinlich auf die mittelplatonische bzw neupythagoreische Tradition zuruumlck VglJ Mansfeld Compatible Alternatives Middle Platonists Theology and the Xeno -phanes Reception in R van den Broek T Baarda J Mansfeld (Hrsg) Know -ledge of God in the Graeco-Roman World Leiden 1988 92ndash117 Eudoros vonAlexandrien fuumlhrt die beiden Betrachtungsweisen mit aumlhnlichen Ausdruumlcken wieder Verfasser des anonymen Kommentars ein (κατ7 τν νωτάτω λόγον κατF -λλον τρόπον bzw κατ7 τν δεύτερον λόγον) Vgl Simplikios In Aristotelis Physica com-mentaria 15 (CAG IX 18110ndash30) Bei Eudoros geht es dennoch um die spezifischeProblematik der pythagoreischen Prinzipienlehre Er bemuumlht sich die sbquomonistischelsquound sbquodualistischelsquo pythagoreische Lehre zu versoumlhnen indem er das Eine einmal alsdas einzige uumlber alle Gegensaumltze erhabene Prinzip betrachtet einmal als ein Gliedder Grundpolaritaumlt sbquodas Eine ndash die unbestimmte Zweiheitlsquo In Adversus Arium 1bund im anonymen Parmenides-Kommentar wird hingegen dieselbe Methode aufdie Problematik der neuplatonischen houmlchsten Prinzipien angewandt ndash obgleich jeweils auf eine andere Art und Weise

jiziert er das Denkschema von Adversus Arium 1b in den Par-menides-Kommentar hinein und entstellt somit gewissermaszligen das hier enthaltene metaphysische Konzept36 Folglich wurde diebemerkenswerte Theorie des goumlttlichen Bewusstseins wie sie imsechsten Fragment dargelegt ist in ihrer Originalitaumlt bislang kaumuntersucht und nur unzureichend bewertet Auch legen die fest-gestellten Differenzen die Vermutung nahe dass der anonymeKommentar bzw sein Verfasser nicht die direkte Quelle des theo-logischen Werkes von Marius Victorinus ndash oder zumindest seinerSchrift Adversus Arium 1b ndash gewesen sein kann Die Unterschiedelassen sich auch nicht wegdiskutieren wenn man darauf hinweistdass der Kommentar uns nur fragmentarisch erhalten blieb oderVictorinus seine Quelle wesentlich umgedeutet haben koumlnnte um sie seinem christlich-theologischen Anliegen anzupassen Wieschon gezeigt sind mehrere Grundzuumlge der beiden metaphysi-schen Konzepte einfach nicht miteinander kompatibel Und gera-de manche Motive durch die sich das metaphysische Schema inAdversus Arium 1b von dem des anonymen Kommentars abhebtz B das Prinzip des Ineinanderseins (und des Vorherrschens) vonSein Leben und Denken begegnen uns wieder bei den spaumlterenNeuplatonikern freilich mit dem Unterschied dass diese sie aufdie niedrigeren Seinsstufen anwenden ohne das Eine mit einem derGlieder der Dreiheit zu identifizieren Der anonyme Kommentarduumlrfte so wohl auf etwas hindeuten das schon durch die Anwe-senheit verschiedener Varianten eines verwandten metaphysischenKonzepts in den theologischen Schriften des Marius Victorinusdie kaum auf eine einzige Quelle zuruumlckzufuumlhren sind angedeutetwird37 die Existenz einer ganzen Traditionslinie des spaumltantiken

204 Vaacutec l av N ěmec

36) Diese Kritik wird freilich geaumluszligert mit der wesentlichen Einschraumlnkungdass es gerade Hadots groszliges Verdienst war die Eigentuumlmlichkeit und Bedeutungder metaphysischen Lehre des anonymen Kommentars im Rahmen des spaumltantikenPlatonismus erkannt und sie zum ersten Mal detailliert und ndash mit den oben er-waumlhnten Ausnahmen ndash praumlzise rekonstruiert zu haben

37) Im theologischen Werk von Marius Victorinus lassen sich mindestensdrei (bzw vier wenn man auch Candidi epistola 1 dazu zaumlhlt) unterschiedliche Va-rianten eines verwandten metaphysischen Systems ausmachen die wahrscheinlichauf verschiedene Quellen zuruumlckgehen Dies versuchte ich in meinem Aufsatz Me-tafysickeacute systeacutemy v theologickeacutem diacutele Maria Victorina in V Hušek L Chvaacutetal J Plaacutetovaacute (Hrsg) Miscellanea patristica Brno 2007 37ndash71 nachzuweisen Vglauch meine Einleitung zur tschechischen Ausgabe des anonymen Parmenides-Kommentars Anonymniacute komentaacuteř k Platoacutenovu Parmenidovi Praha 2009 49ndash69

(Neu-)Platonismus die von der uns bekannten Hauptstroumlmungabweicht und in deren Rahmen verschiedene Versionen einer aumlhn-lichen metaphysischen Auffassung durchdacht wurden

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205Die Theorie des goumlttlichen Selbstbewusstseins im Parmenides-Kommentar

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jiziert er das Denkschema von Adversus Arium 1b in den Par-menides-Kommentar hinein und entstellt somit gewissermaszligen das hier enthaltene metaphysische Konzept36 Folglich wurde diebemerkenswerte Theorie des goumlttlichen Bewusstseins wie sie imsechsten Fragment dargelegt ist in ihrer Originalitaumlt bislang kaumuntersucht und nur unzureichend bewertet Auch legen die fest-gestellten Differenzen die Vermutung nahe dass der anonymeKommentar bzw sein Verfasser nicht die direkte Quelle des theo-logischen Werkes von Marius Victorinus ndash oder zumindest seinerSchrift Adversus Arium 1b ndash gewesen sein kann Die Unterschiedelassen sich auch nicht wegdiskutieren wenn man darauf hinweistdass der Kommentar uns nur fragmentarisch erhalten blieb oderVictorinus seine Quelle wesentlich umgedeutet haben koumlnnte um sie seinem christlich-theologischen Anliegen anzupassen Wieschon gezeigt sind mehrere Grundzuumlge der beiden metaphysi-schen Konzepte einfach nicht miteinander kompatibel Und gera-de manche Motive durch die sich das metaphysische Schema inAdversus Arium 1b von dem des anonymen Kommentars abhebtz B das Prinzip des Ineinanderseins (und des Vorherrschens) vonSein Leben und Denken begegnen uns wieder bei den spaumlterenNeuplatonikern freilich mit dem Unterschied dass diese sie aufdie niedrigeren Seinsstufen anwenden ohne das Eine mit einem derGlieder der Dreiheit zu identifizieren Der anonyme Kommentarduumlrfte so wohl auf etwas hindeuten das schon durch die Anwe-senheit verschiedener Varianten eines verwandten metaphysischenKonzepts in den theologischen Schriften des Marius Victorinusdie kaum auf eine einzige Quelle zuruumlckzufuumlhren sind angedeutetwird37 die Existenz einer ganzen Traditionslinie des spaumltantiken

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36) Diese Kritik wird freilich geaumluszligert mit der wesentlichen Einschraumlnkungdass es gerade Hadots groszliges Verdienst war die Eigentuumlmlichkeit und Bedeutungder metaphysischen Lehre des anonymen Kommentars im Rahmen des spaumltantikenPlatonismus erkannt und sie zum ersten Mal detailliert und ndash mit den oben er-waumlhnten Ausnahmen ndash praumlzise rekonstruiert zu haben

37) Im theologischen Werk von Marius Victorinus lassen sich mindestensdrei (bzw vier wenn man auch Candidi epistola 1 dazu zaumlhlt) unterschiedliche Va-rianten eines verwandten metaphysischen Systems ausmachen die wahrscheinlichauf verschiedene Quellen zuruumlckgehen Dies versuchte ich in meinem Aufsatz Me-tafysickeacute systeacutemy v theologickeacutem diacutele Maria Victorina in V Hušek L Chvaacutetal J Plaacutetovaacute (Hrsg) Miscellanea patristica Brno 2007 37ndash71 nachzuweisen Vglauch meine Einleitung zur tschechischen Ausgabe des anonymen Parmenides-Kommentars Anonymniacute komentaacuteř k Platoacutenovu Parmenidovi Praha 2009 49ndash69

(Neu-)Platonismus die von der uns bekannten Hauptstroumlmungabweicht und in deren Rahmen verschiedene Versionen einer aumlhn-lichen metaphysischen Auffassung durchdacht wurden

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(Neu-)Platonismus die von der uns bekannten Hauptstroumlmungabweicht und in deren Rahmen verschiedene Versionen einer aumlhn-lichen metaphysischen Auffassung durchdacht wurden

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