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33 2009 Die Thuner Architekten Grütter & Schneider und ihre Zeit Matthias Walter Hotel Beau-Rivage, Pestalozzi-Schulhaus und diverse stattliche Wohn- bauten: Blicken wir vom Thuner Schlossberg über die Altstadtgrenzen hinaus, heben sich mächtige Ziegeldächer aus dem Häusermeer her- vor. Durchstreifen wir die zentrumsnahen Quartiere, verleiht manche ausdrucksvolle Fassade den Strassenzügen ihr Gesicht. Nicht wenige dieser Bauten sind den Architekten Ernst Grütter und Ernst Schneider zu verdanken, die zwischen 1900 und 1930 im Westquartier ein er- folgreiches Baugeschäft betrieben. Ihre Schaffensperiode fällt exakt in die Epoche der Reformarchitektur, die zwischen Historismus und Moderne die Baukunst bestimmt hat und zu der auch der frühe Hei- matstil gezählt wird. Das erste Bauinventar der schützens- und erhaltenswerten Bauten, von der kantonalen Denkmalpflege in enger Zusammenarbeit mit der Stadtverwaltung erarbeitet, wurde 1995 publiziert und umfasst be- reits zahlreiche Bauten der beiden Architekten. Zurzeit ist, erneut in Kooperation mit der Stadt, eine Revision des Bauinventars im Gang, die weitere frühe Einzelbauten ans Licht bringt. Diese für die Ent- wicklung von Grütter & Schneiders Arbeiten bedeutenden Neuentde- ckungen sowie das 100-jährige Bestehen des Pestalozzi-Schulhauses gaben den Anlass, die Werke dieser Baufirma näher zu untersuchen. Wir fragen nach den Themen, die zu dieser Architekturrichtung ge- führt haben und versuchen, die Bauten in einem entwicklungsge- schichtlichen Überblick darzustellen. Wie viele andere, so stützten sich auch Grütter & Schneider auf Vorbildbauten bedeutender Reformar- chitekten, deren Einfluss viel weiter verbreitet ist als die Bekanntheit ihrer Namen. Ähnlichkeiten lassen sich oft bereits mit zeitgleichen stadtbernischen Bauten ausmachen, diese sind aber ihrerseits meist von der Architektur Deutschlands mit Zentren in Karlsruhe, München, Berlin oder Dresden abhängig. Und die Ursprünge für die soziale und kulturelle Haltung für die Reformarchitektur liegen fast ausnahms- los in England, wo die bedeutenden Kulturreformer John Ruskin und William Morris wirksam gegen die Folgen der Industrialisierung und deren Massenproduktion in Kunstgewerbe und Architektur reagiert hatten. Zunächst aber einige historische Notizen: Die Baufirma der beiden Studienkollegen Grütter & Schneider wurde 1902 durch die Übernah-

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Die Thuner Architekten Grütter & Schneider und ihre Zeit

Matthias Walter

Hotel Beau-Rivage, Pestalozzi-Schulhaus und diverse stattliche Wohn-bauten: Blicken wir vom Thuner Schlossberg über die Altstadtgrenzen hinaus, heben sich mächtige Ziegeldächer aus dem Häusermeer her-vor. Durchstreifen wir die zentrumsnahen Quartiere, verleiht manche ausdrucksvolle Fassade den Strassenzügen ihr Gesicht. Nicht wenige dieser Bauten sind den Architekten Ernst Grütter und Ernst Schneider zu verdanken, die zwischen 1900 und 1930 im Westquartier ein er-folgreiches Baugeschäft betrieben. Ihre Schaffensperiode fällt exakt in die Epoche der Reformarchitektur, die zwischen Historismus und Moderne die Baukunst bestimmt hat und zu der auch der frühe Hei-matstil gezählt wird.

Das erste Bauinventar der schützens- und erhaltenswerten Bauten, von der kantonalen Denkmalpflege in enger Zusammenarbeit mit der Stadtverwaltung erarbeitet, wurde 1995 publiziert und umfasst be-reits zahlreiche Bauten der beiden Architekten. Zurzeit ist, erneut in Kooperation mit der Stadt, eine Revision des Bauinventars im Gang, die weitere frühe Einzelbauten ans Licht bringt. Diese für die Ent-wicklung von Grütter & Schneiders Arbeiten bedeutenden Neuentde-ckungen sowie das 100-jährige Bestehen des Pestalozzi-Schulhauses gaben den Anlass, die Werke dieser Baufirma näher zu untersuchen. Wir fragen nach den Themen, die zu dieser Architekturrichtung ge-führt haben und versuchen, die Bauten in einem entwicklungsge-schichtlichen Überblick darzustellen. Wie viele andere, so stützten sich auch Grütter & Schneider auf Vorbildbauten bedeutender Reformar-chitekten, deren Einfluss viel weiter verbreitet ist als die Bekanntheit ihrer Namen. Ähnlichkeiten lassen sich oft bereits mit zeitgleichen stadtbernischen Bauten ausmachen, diese sind aber ihrerseits meist von der Architektur Deutschlands mit Zentren in Karlsruhe, München, Berlin oder Dresden abhängig. Und die Ursprünge für die soziale und kulturelle Haltung für die Reformarchitektur liegen fast ausnahms-los in England, wo die bedeutenden Kulturreformer John Ruskin und William Morris wirksam gegen die Folgen der Industrialisierung und deren Massenproduktion in Kunstgewerbe und Architektur reagiert hatten.

Zunächst aber einige historische Notizen: Die Baufirma der beiden Studienkollegen Grütter & Schneider wurde 1902 durch die Übernah-

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1 Nekrolog. In: «Oberländer Tagblatt», 28. Oktober 1930. 2 Maurer, Ursula/Wolf, Daniel. Thun. In: Gesellschaft für Schweizerische Kunst- geschichte (Hg.), Inventar der neueren Schweizer Architektur 1850–1920 (INSA). Bd.

9, Bern 2003, bes. S. 312–315. In dieser Publikation sind die wichtigsten Bauten Grütter & Schneiders auch in Einzelbeschreibungen verzeichnet.

me des Bau- und Zementwarengeschäfts von Fritz Senn (1859–1901) gegründet. Ernst Grütter (1872–1930), offenbar «die treibende Kraft des Geschäfts»,1 stammte aus Seeberg und liess sich zunächst als Zim-mermann, später am Technikum in Burgdorf ausbilden. Vor 1902 war er Bauführer beim bedeutenden Berner Architekturbüro Bracher & Widmer, 1908–1916 wirkte er ausserdem im Thuner Gemeinderat. Ernst Schneider (1879–1962) stammte aus Strättligen, besuchte eben-falls das Burgdorfer Technikum, bildete sich um 1900 in Wien weiter und war vor 1902 ebenfalls in Bern tätig.

Die Firma nannte sich zunächst «Baugeschäft und Cementwaaren-Fa-brikation». Von 1910 an signierte die Firma mit «Architekten Grütter & Schneider, Baugeschäft, Thun». 1921 wurde die Firma in eine Kom-manditgesellschaft umgewandelt und hiess fortan «Grütter, Schnei-der & Cie., Unternehmung für Hoch- und Tiefbau». Grütter starb 1930, Schneider trat 1933 aus dem Geschäft aus und gründete mit dem Ingenieur Adolf Immer eine neue Firma für Hoch- und Tiefbau.2

HÜTTENGEDANKE UND MALERISCHE LEBENDIGKEIT: ERSTE WERKPHASE 1902–1906

Zur Zeit der Gründung der Baufirma herrschte im deutschen Sprach-raum noch der Späthistorismus vor, eine Architekturrichtung, für die Grütter & Schneiders Vorgänger Fritz Senn als typisches Beispiel dienen kann: Er baute nach symmetrischem Entwurf mit simplen Dä-chern und gliederte die Fronten mit Fensterachsen und äusserlichen Merkmalen, die der prunkvollen Architektur abgelauscht sind: Fen-sterrahmungen werden profiliert und verdacht, Zementgussquader täuschen echt gehauenes Steinwerk vor und Ecktürmchen mit Laubsä-gezier erzeugen einen malerischen Gesamtentwurf, ohne dass diesen kostspieligen Elementen ein wesentlicher Wert für den Wohnraum zukommt. Die Reformarchitekten, die sich etwa ab 1900 von dieser Bauweise heftig distanzierten, hätten die Konzeption etwa so aus-gedrückt: Diese Architektur entsteht nicht aus den Notwendigkeiten

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heraus, sondern aus Formalismus und Stilmacherei – und die Schuld daran trägt letztlich nicht der Baumeister, sondern die mangelhafte Ausbildung, die Architektur nicht als ganzheitliche Kunst auffasst.Grütter & Schneiders frühestes bekanntes Werk ist ein kleines Wohn- und Geschäftshaus an der Kasernenstrasse 31 von 1902. Es erinnert mit dem zierlichen Riegwerk im Dachgeschoss an ein typisches Sche-ma deutscher Villen der 1890er Jahre und vereinfacht damit einen Bautypen, der trotz dekorativer Gesamterscheinung bereits heimische Rustikalität ausstrahlen will. Diese Architektur entsprang dem Bestre-ben, nach englischem Beispiel ein zeitgemässes «nationales» Haus zu schaffen, das möglichst frei war von akademischer Stilmacherei. Man suchte einen Weg zu einer identitätsstiftenden, funktional und ma-teriell ehrlichen Baukunst, und in Deutschland fand man dieses na-tionale Ideal damals vorwiegend im sächsischen Fachwerkhaus. Das Vorbild fand auch in der Schweiz Widerhall, und Ernst Grütter dürfte das Entwerfen nach diesen Mustern bereits bei seiner Anstellung bei Bracher & Widmer in Bern kennengelernt haben.Im grossen Stil äussert sich diese frühe, noch luxuriös-pittoreske Re-formarchitektur am Hotel Beau-Rivage (1904) und an den Mehrfa-milienhäusern an der Mittleren Strasse 29–35 (1905). Vergleichen wir das Beau-Rivage mit dem ehemaligen Hotel Thunerhof von 1873/75,

Abb. 1: Das Hotel Beau-Rivage (1904/05) zählt zu den Frühwerken Grütter & Schnei-ders. Es zeichnet sich aus durch eine kompakte Grundrissform sowie eine überaus lebendige Gestaltung aller vier Fronten mit Gruppenfenstern, Riegkonstruktionen und allseitig verschiedenförmigen Giebeln. Aus der belebten Dachlandschaft spricht Wärme und Wohnlichkeit. Foto 2009 (Matthias Walter)

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einem typischen Werk des Historismus, so fällt im Architekturver-ständnis ein grundsätzlicher Unterschied auf: Der Thunerhof orien-tiert sich am französischen Palastbau und ahmt diesen nach Möglich-keit nach, das Beau-Rivage hingegen orientiert sich gewissermassen an der «Hütte» und blustert diese durch Kumulierungen und Grössen-übersteigerungen auf. Dabei werden noch keine heimischen Formen aus der Berner Region aufgenommen – gleichartige Bauten standen in ganz Deutschland, symbolisierten aber durch ihre wohnliche Er-scheinung allgemein «Heimat» und wirkten damit besonders einla-dend (Abb. 1).

«EIN BODENSTÄNDIGES STÜCK HEIMAT»: DAS PESTALOZZI-SCHULHAUS

Eine Fortentwicklung des Beau-Rivage bildet Grütter & Schneiders zweiter Grossbau, das Pestalozzi-Schulhaus im Westquartier. Der Ur-heber für den architektonischen Entwurf dieses Grossprojekts, das 1907 in einem Ideenwettbewerb für Thuner Architekten ausgelotet wurde, konnte quellenmässig zwar nicht abschliessend belegt wer-den.3 Bezeichnend für Grütter & Schneiders Architektur ist der Bau allemal, deshalb widmen wir ihm hier unsere besondere Aufmerk-samkeit.

Auch im Pestalozzi-Schulhaus – es zählt schweizweit zu den grössten und besterhaltenen Schulbauten dieser Zeit – wird trotz der gross-städtischen Dimensionen versucht, eine Assoziation an heimatliche Freundlichkeit zu wecken, vom gebieterischen Palast abzulenken, die Baumassen aufzulockern und im gebirgsartigen, schirmenden Dach ausklingen zu lassen (Abb. 2). Der Bau gehört einer in der Schweiz damals noch sehr jungen Schul-hausbau-Tradition an. Die Fassaden werden durch rhythmische Ein-heiten der Klassenzimmerbefensterung gegliedert, feine weisse Sprossen unterteilen die grossflächigen Fenster in einem menschlichen

3 Ebenda, S. 412. – Gemeinderatsprotokolle zum Schulhausbau 1907/08 (Stadtarchiv Thun). Die Ausführungspläne fertigte das Stadtbauamt unter Hermann Staub und dem jungen Jacques Wipf an, und an der Ausführung beteiligten sich auch die Bau-firmen der Gebr. Hopf und Johann Matdies. Die stilistischen Betrachtungen und die Kenntnis der beteiligten Architekten schliessen nahezu aus, dass die innovative Idee einer anderen Baufirma zuzutrauen ist als Grütter & Schneider, die wie ihr Konkur-rent Hans Tschaggeny im siegerlosen Wettbewerb den 2. Preis errungen hatten.

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Massstab, grosse Giebel zeichnen den Bau mit seiner gewollten Asym-metrie aus. Trotz der Vielgestaltigkeit harmonieren alle Architektur-motive miteinander, weil sie im gesamten Bau ihre Entsprechungen finden: Ruhige Halbwalmdächer und sanfte Schwellungen an Gie-beln, Turmhelmen und Gauben prägen die Gesamterscheinung, die dadurch als überschaubare Einheit aufgefasst wird. Diese ruhige, monumentale Gesamtwirkung, in der alle Architekturteile aus der inneren Funktion her-vorgehen und höchstens durch gefällige Formung lebendiger gemacht werden, war ein Hauptanlie-gen der Reformarchitektur. Diese Entwurfsstrategie bildete die Gegenbewegung sowohl zum palastar-tigen Historismus, zur aufgeregten Türmchenro-mantik, dem Laubsägestil als auch zum vorwiegend dekorativen Jugendstil, der damals schon weitge-hend überwunden war (Abb. 3).

Abb. 2: Das Pestalozzi-Schulhaus im Westquartier, erbaut 1908/09.Gegenüber dem effekthascherischen Beau-Rivage ist mehr Ruhe eingekehrt: Die Fassaden sind im Sockelbereich mit kräftigen, roh behauenen Quadern gegliedert, in den Ober-geschossen verdeutlicht ein einheitlicher Putzmantel die betont ruhige Wirkung. Foto 2010 (Andrea Zellweger)

Abb. 3: Nebst den bedeutenden Grossbauten haben Grütter & Schneider auch Ladeneinbauten in der Altstadt entworfen. Hier das Schaufenster an der Oberen Hauptgasse 30 von 1906 mit seinen zierlichen Metallrahmungen – eines der wenigen Thuner Werke des Jugendstils, der hierzulande primär ein Dekor- und kein Architekturstil war. Foto 2009 (Andrea Zellweger)

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Schulhäuser dieser Art, die als Wett-bewerbsentwürfe zwischen 1904 und 1907 etwa in der «Schweize-rischen Bauzeitung» abgebildet waren, dürften Grütter & Schnei-der als direkte Vorbilder gedient haben (Abb. 4).4

4 Wichtige Entwürfe für Schulhäuser in St. Gallen (Curjel & Moser 1904), Zürich (Riedtli-Schulhaus, Bischoff & Weideli und Gebr. Pfister 1906), Gymnasium in Biel

(Yonner & Grassi 1907). In: Schweizerische Bauzeitung, Jahrgänge 1904–1907. 5 Die gemeisselten Kinderporträts entstanden nach Fotografien zweier damaliger

‹Schulschätzeli›, wie der dargestellte Knabe und spätere St. Galler Stadttierarzt Curt Ekert im Jahr 1981 mitteilte, s. dazu www.peschu.ch/pp05/stories/curt_ekert.htm (Dez. 2009).

Abb. 4: Das Riedtli-Schulhaus in Zürich, erbaut 1907/08 von den Architekten Bischoff & Weideli, gehört in vielerlei Hinsicht zu den möglichen Vorbildbauten für das Pestalozzi-Schulhaus (aus: «Schweizerische Bauzeitung» 1909, S. 147).

Betrachten wir das Gebäude nä-her und treten ins Innere, so fal-len uns an den Eingängen und in den Treppenhäusern behau-ene Reliefs und Schmiedeeisen-figuren auf, die Pflanzen und Tiere, aber auch Porträts oder Tätigkeiten von Kindern dar-stellen (Abb. 5).5 Abb. 5: Am Ost-Eingang zum Pestalozzi-Schulhaus konzentrieren sich diverse liebevoll gestaltete Kunstwerke wie Kin-derporträts, Jahreszeiten, Pflanzenor-nament, einheimische Tiere (gemeisselt und als Schmiedeeisenfiguren) sowie das Thuner Wappen aus Glasscheiben. Die Darstellungen sind wie das Archi-tekturkonzept volkstümlich und auf die Lust am Beschauen ausgerichtet. Foto 2010 (Andrea Zellweger)

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Seit Jahrhundertbeginn wurde «Die Kunst im Leben des Kindes» durch Ausstellungen und Schriften gefördert, dazu gehörte auch die Schul-hausarchitektur.6 Gleichzeitig setzte man den seriellen Fertigungen des 19. Jahrhunderts eine Handwerklichkeit entgegen, die individuell entstanden ist. All dies ist ein Ausdruck der Reformbewegung, die sich in vielen Lebensbereichen von der Grossstadtindustrie abwandte und auch für gesündere, natürlichere Ernährung und Kleidung eintrat. Zu diesen Reformen gehörte ebenso die Heimatschutzbewegung mit der 1905 gegründeten schweizerischen Vereinigung, der es besonders um die Bewahrung einer Einheit zwischen Landschaft und Bauwerk ging.

Das Pestalozzi-Schulhaus hat nicht eine Vorder- und Rückseite. Für alle Blickachsen wurde dem Bau ein Gesicht gegeben, um ihn effekt-voll in die Stadtlandschaft einzufügen. Der Bau sollte durch seine ver-trauten und einfachen Formen zu einem sozialen Zentrum des Quar-tiers werden und den Bewohnern «ein bodenständiges Stück Heimat» vermitteln.7 Diese Idee entstand bereits Jahrzehnte zuvor in den früh industrialisierten Gebieten Englands und Nordamerikas. Aus diesem Raum drangen auch pädagogische Ansätze wie «Learning by Doing» nach Mitteleuropa, und Bildungsreformer setzten grosse Hoffnungen in die Gesellschaftsgesundung durch eine lebensnahe, auf persön-lichen Eindrücken und Produktivität basierende Schulerziehung – Konzepte, die bis heute nicht veraltet sind! Doch erst durch derar-tige Grundsätze und die moderne malerische Stadtbildplanung nach Theorien des Wiener Architekten Camillo Sitte konnte den Schulen überhaupt diese Bedeutung als dominante Bauten im Stadtraum zu-erkannt werden. Für die Schweiz sehr einflussreich verkörperten diese Bestrebungen die bereits um 1900 errichteten Münchner Schulhäuser des Architekten Theodor Fischer, der – wie hier Grütter & Schneider – auch die Turnhalle als architektonischen Akzent in den Entwurf mit einbezog.8

6 Kerbs, Diethard. Kunsterziehungsbewegung. In: Kerbs, Diethard/Reulecke, Jürgen. Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880–1933. Wuppertal 1998,

S. 369–376, bes. S. 371/372.

7 Für das Schulhaus so ausgedrückt bei Wernly, R. Das moderne Schulhaus. In: Heimatschutz 2, Heft 7 (1907), S. 49–55.

8 Fischer publizierte auch wichtige Anregungen zur künstlerischen Gestaltung des Schulhausbaus, vgl. Nerdinger, Winfried. Theodor Fischer, Architekt und Städtebauer. Berlin/München 1988, S. 40.

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MANNIGFALTIGKEIT IN DER EINHEITLICHKEIT: MIETSHÄUSER UM 1910

Von ganz ähnlichen architekto-nischen und städtebaulichen Qua-litäten wurde das Reihenmiets-haus geprägt. Gegenüber den angesprochenen Mietshäusern der Mittleren Strasse von 1905 äussert sich das reformerische Konzept in den Bauten an der Stockhornstrasse von 1909/10: Die-se fast grossstädtisch anmutenden Mehrfamilienhäuser – sie standen in unmittelbarer Nähe des dama-ligen Bahnhofs – sind vor allem in individuellen Etageneinheiten, nicht mehr durch Fensterachsen gegliedert und versuchen damit gleichsam, den Wohnstil des pri-vaten Landhauses in die Stadt he-reinzuholen (Abb. 6).

Ähnlich wie beim Pestalozzi-Schulhaus erkennt man vor allem in den ausgestalteten Dächern und Giebeln eine emotional an-regende, heimatliche Bescheiden-heit mitten im grossstädtischen Ehrgeiz.

Das Ziel dieser konzeptuell fast mittelalterlich anmutenden «Man-nigfaltigkeit in der Einheitlichkeit» entspringt – wie auch die Grunderscheinungen dieser Bauten – den erfolgreichen Mietshaus-bestrebungen in Berlin, woraus gelungene Beispiele monumentaler Stadthausfassaden der Architekten Alfred Messel und Albert Gessner seit etwa 1906 in kaum einer Bauzeitschrift fehlten (Abb. 7).9

Abb. 6: Grütter & Schneiders Entwurf für das Miets- und Geschäftshaus an der Stockhornstrasse 16/18, erbaut 1910. Den grösseren Wohnungsgrundrissen entsprechend sind die Aussenfassaden stärker in horizontalen Einheiten entworfen: Jedes Geschoss zeichnet sich trotz Sparsamkeit durch Eigenheiten aus und vermittelt den Etagenbewohnern Identität. Die Fenster sind gruppiert und lassen viel Licht ein-fliessen, die Dachgeschosse sind individuell und wohn-lich gestaltet (Planarchiv Bauinspektorat Thun, Foto Matthias Walter).

9 Zum Berliner Mietshaus und seinen Reformen im Wohnungsbau s. Posener, Julius. Berlin auf dem Wege zu einer neuen Architektur. Das Zeitalter Wilhelms II.

München 1979, bes. S. 322, 328, 346, 357.

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Wie es dem Heimatstil entsprach, versuchten Grütter & Schneider, den Bewohnern ein be-sonders vertrautes Daheim zu geben, indem sie die Häuser mit ‹bernischen› Laubengeschossen auszeichneten und mächtige Dachlandschaften entwarfen, die sich noch heute in der Umge-bung als stolze Zeichen bürgerlichen Wohnens behaupten. Signiert sind alle Entwürfe dieser Bauten an der Stockhornstrasse von Grütter & Schneiders Mitarbeiter Joseph Kramer (1880–1928) aus Friedrichshafen.

STÄDTEBAULICHE GROSSPLANUNGEN UND RAUMKUNST

Grütter & Schneiders Tätigkeit im Mietshausbau wurde gekrönt durch die beiden dicht beiei-nander stehenden Komplexe südwestlich des Bahnhofs, dem süffig fassadierten Monumen-talbau Seefeldstrasse 10–18/19 (1914–15/1922) und der bemerkenswert frühen Blockrandbe-bauung von Wohn- und Geschäftshäusern an der Frutigenstrasse 1–17 (1923). Die Gruppe an der Seefeldstrasse (Abb. 8, rechts) orientiert sich städtebaulich an einer Platzanlage mit Strassen-gabelung, der sie mit einer gewinkelten, hofbil-denden Häuserfront antwortet.

Abb. 7: Eines der berühmten Berliner Mietshäuser Albert Gessners von 1904/05. Deren Scheibenfassaden mit weit herabgezogenen Dächern, Etagendifferenzierung und Giebelak-zentuierungen wurden (wie auch bei Grütter & Schneider oft in kleinerem Format) gegen 1910 vielerorts aufgenommen und den örtlichen Eigenheiten angepasst. Ruhige durch-gehende Putzflächen, unprätentiöse Eingänge, breite Erker, Loggien und ausgebaute Dachgeschosse prägen die Gesichter der betont individuellen Entwürfe (aus: «Berliner Architektur-welt» 1905, S. 174).

Abb. 8: Die Pläne für die Miets-häuser an der Seefeldstrasse (rechts) wurden 1913 wohl von Max Lutz verfasst. Der Anlage ist anzusehen, dass nebst dem Zusammenspiel von Architektur und Bauplastik die Gestaltung des Aussenraums einen höheren Stellenwert einnimmt. Die ein-heitlichere Reihe an der Frutigen-strasse von 1923 (links) illustriert beispielhaft die gestraffte und vereinfachte Planung nach dem Ersten Weltkrieg, die vom Indi-vidualismus wegführte. Foto 2010 (Andrea Zellweger)

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Für den Entwurf dieser Häusergruppe, 1913 noch prächtiger gep-lant als ausgeführt, ist vermutlich der bei Grütter & Schneider tätige Zürcher Architekt Max Lutz (1885–1954) verantwortlich, der zuvor in Dresden studiert und gearbeitet hat. Dresden hatte sich damals zu einem einflussreichen Kunstzentrum gemausert und war Ausgangs-punkt neuer Konzepte, die unter dem Schlagwort «Raumkunst» Ar-chitektur mit Skulptur und Malerei zu einer harmonischen Einheit verschmelzen sollten. Diese Gedanken, durch Lehre und Werke des dortigen Architekten Fritz Schumacher am klarsten vertreten, äussern sich auch bei Max Lutz’ Zeichungsstudien, und an die gewohnte Stel-le von Architekturmotiven treten im Thuner Mietshaus-Entwurf pla-stische und figürliche Darstellungen.

Demgegenüber nimmt sich die Blockrandbebauung an der Frutigen-strasse demokratischer, diszipliniert und stark vereinfacht aus (Abb. 8, links). Sie schafft keine Heimat-Oase, sondern ist künstlerisch wie verkehrstechnisch stärker vom Prinzip der Strasse aus organisiert. Zwi-schen diesen beiden Planungen liegt der Erste Weltkrieg, ein Ereig-nis, das nebst seinen politischen Auswirkungen auch die Gesellschaft umstrukturierte und die individuelle Behäbigkeit der Architektur zu Gleichförmigkeit und Sparsamkeit trieb. Die identischen Wohnungs-grundrisse, die 1910 noch durch Giebelkompositionen und abgestufte Firste verschleiert worden wären, äussern sich nun auch am Aussenbau als repetitive Einheit. Diese Grundhaltung zu einer Typisierung, meist in einem klassizistisch-barocken Gewand, findet damals im gesamten deutschsprachigen Raum statt. Ausserdem konnte sich kaum jemand dem Einfluss des Architekten Friedrich Ostendorf entziehen, der das Prinzip der Vielgestaltigkeit des englischen Hauses anprangerte und einen vereinfachten Entwurf predigte. Seine Überlegungen wurzel-ten in grosszügigen Planungen nach barockem Vorbild und gingen mit dem Baustil (man nannte ihn «modernen Barock») Hand in Hand.

Einzelne Elemente scheinen ein Rückfall in den Historismus zu sein, sind aber eher als Ausdruck der als moralisch gesund empfundenen Gesellschafts- und Baukultur vorindustrieller Zeit um 1800 zu werten. Diese Bevorzugung einer Epoche als gesamtes kulturgeschichtliches Vorbild entspringt dem damaligen Gedanken, wieder bei der abgeris-senen Tradition (ideell die des Biedermeier) anzuknüpfen, deren na-türlicher Fortgang durch das verlästerte Industriezeitalter im 19. Jahr-hundert unterbrochen worden war.10 Grütter & Schneider nehmen hier ihrerseits Bezug auf die bernischen Landsitze des 18. Jahrhun-derts und drücken einen klar verständlichen, zur Gegend passenden Heimatstil aus, so wie es ihnen auch stadtbernische Architekten vor-

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machten. Die scheinbare Stilwirrnis von Neobarock, Neoklassizismus, «Um 1800», Landhausstil und Heimatstil hat für die meisten Bauten der 1920er Jahre letztlich denselben Nenner und bedeutet vereinheit-lichend die Haltung einer abwartend-konservativen, aber bewährten und einfachen Repräsentation im städtebaulichen oder landschaft-lichen Kontext.

Die bernischen Landhäuser des 18. Jahrhunderts waren auch Vorbild für Einfamilienhäuser, damals eine blutjunge Baugattung, für die Grütter & Schneider bereits seit 1910 gefragt waren. Den Höhepunkt bilden die Einzel- oder Doppelwohnhäuser an der Hofstetten- und Parkstrasse. Sie wurden von der Bächimattgesellschaft in Auftrag ge-geben, die den schönen Flecken am See-Ende mit seiner grandiosen Aussicht geordnet und qualitätvoll überbauen lassen wollte und der Grütter & Schneider als Projektverfasser angehörten (Abb. 9).11

10 Wichtige Schriften waren diesbezüglich vor allem Paul Schultze-Naumburgs Kultur-arbeiten, die zunächst im «Kunstwart» (hg. von Ferdinand Avenarius) und ab 1902 selbständig erschienen (München, o.J.), sowie Mebes, Paul. Um 1800. Architektur und Kunsthandwerk im letzten Jahrhundert ihrer traditionellen Entwicklung. 2 Bde., 1. Aufl. München 1908.

11 Bau-Terrain «Bächimatte» Thun (Prospekt der Bächimattgesellschaft Thun), Thun o.J. (um 1913). Der Verfasser dankt Daniel Wolf, Bern, für die freundliche Mitteilung.

Abb. 9: Das Bauvorhaben auf der Bächimatte wurde bereits 1913 in Planung gegeben. Während der 1920er Jahre konnten Grütter & Schneider hier ansatzweise eine garten-städtische Gesamtplanung verwirklichen – eines von vielen ambitiösen, für die Zeit typischen Grosspro-jekten, die längst nicht überall realisiert werden konnten (aus: Bau-Terrain «Bächimatte» Thun, 1913).

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Solche Kolonien von Einzelbauten sind Ausdruck der Aufwertung des bürgerlichen Privatlebens und der vollständigen Trennung von Woh-nen und Arbeiten, ein wichtiges Anliegen der Gartenstadt-Bewegung. Einfache Walmdächer, Symmetrie und Regelmässigkeit prägen diese Bauten der 1920er Jahre, und die Fassaden sind durch Treppenturm, Erker oder Veranda bereichert. Diese traditionelle Architekturrich-tung war damals immer noch weit verbreitet und wurde durch die einflussreiche Stuttgarter Hochschule gepflegt. Konservativ erscheint sie nur im Vergleich zu avantgardistischen Projekten, sie verstand sich aber für bürgerliche Bedürfnisse als das einzig Richtige, und die Bau-werke sind ganzheitlich von praktischen Bedürfnissen im Inneren bis über die grosszügigen Gartenanlagen hinaus durchgeplant. Im grös-sten dieser Bächimatthäuser wohnte 1932–1938 übrigens der öster-reichische Komponist Ralph Benatzky, der sich nach dem Erfolg seiner bekannten Operette Im weissen Rössl diese Liegenschaft mit Garten-haus leistete.

SCHLUSS

Grütter & Schneider haben fortschrittliche architektonische und ge-sellschaftliche Strömungen aufgenommen und geschickt in ihre Ent-würfe verarbeitet. Mit wachem Verständnis wurden die Bauten der städtebaulichen Situation und den sozialen Bedürfnissen angepasst. Diese verstärkte Einfühlung und das Bestreben, mit Architektur Orte der Identität zu schaffen, lagen damals europaweit im Zug der Zeit. Wie manche Architekturbüros, die unter ähnlichen Voraussetzungen arbeiteten, förderten Grütter & Schneider das Anerkannte, Solide und Traditionelle mit künstlerischem Geschick. Im Vergleich zu den meisten anderen damaligen Thuner Architekten haben sie moderne Strömungen rasch aufgegriffen und der Stadtsilhouette sehr bewusst manchen Akzent und den Quartieren architektonische Qualität mit ausdrucksvollem Charakter verliehen.